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§. 67.

Wir haben gesehen, wie aus der Durchschauung des principii individuationis im geringern Grade die Gerechtigkeit, im höhern die eigentliche Güte der Gesinnung hervorgieng, welche sich als reine, d. h. uneigennützige Liebe gegen Andere zeigte. Wo nun diese vollkommen wird, setzt sie das fremde Individuum und sein Schicksal dem eigenen völlig gleich: weiter kann sie nie gehen, da kein Grund vorhanden ist, das fremde Individuum dem eigenen vorzuziehen. Wohl aber kann die Mehrzahl der fremden Individuen, deren ganzes Wohlseyn oder Leben in Gefahr ist, die Rücksicht auf das eigene Wohl des Einzelnen überwiegen. In solchem Falle wird der zur höchsten Güte und zum vollendeten Edelmuth gelangte Charakter sein Wohl und sein Leben gänzlich zum Opfer bringen für das Wohl vieler Anderen: so starb Kodros, so Leonidas, so Regulus, so Decius Mus, so Arnold von Winkelried, so Jeder, der freiwillig und bewußt für die Seinigen, für das Vaterland, in den gewissen Tod geht. Auch steht auf dieser Stufe Jeder, der zur Behauptung Dessen, was der gesammten Menschheit zum Wohle gereicht und rechtmäßig angehört, d. h. für allgemeine, wichtige Wahrheiten und für Vertilgung großer Irrthümer, Leiden und Tod willig übernimmt: so starb Sokrates, so Jordanus Brunus, so fand mancher Held der Wahrheit den Tod auf dem Scheiterhaufen, unter den Händen der Priester.

Nunmehr aber habe ich, in Hinsicht auf das oben ausgesprochene Paradoxon, daran zu erinnern, daß wir früher dem Leben im Ganzen das Leiden wesentlich und von ihm unzertrennlich gefunden haben, und daß wir einsahen, wie jeder Wunsch aus einem Bedürfniß, einem Mangel, einem Leiden hervorgeht, daß daher jede Befriedigung nur ein hinweggenommener Schmerz, kein gebrachtes positives Glück ist, daß die Freuden zwar dem Wunsche lügen, sie wären ein positives Gut, in Wahrheit aber nur negativer Natur sind und nur das Ende eines Uebels. Was daher auch Güte, Liebe und Edelmuth für Andere thun, ist immer nur Linderung ihrer Leiden, und folglich ist was sie bewegen kann zu guten Thaten und Werken der Liebe, immer nur die Erkenntniß des fremden Leidens, aus dem eigenen unmittelbar verständlich und diesem gleichgesetzt. Hieraus aber ergiebt sich, daß die reine Liebe (αγαπη, caritas) ihrer Natur nach Mitleid ist; das Leiden, welches sie lindert, mag nun ein großes oder ein kleines, wohin jeder unbefriedigte Wunsch gehört, seyn. Wir werden daher keinen Anstand nehmen, im geraden Widerspruch mit Kant, der alles wahrhaft Gute und alle Tugend allein für solche anerkennen will, wenn sie aus der abstrakten Reflexion und zwar dem Begriffe der Pflicht und des kategorischen Imperativs hervorgegangen ist, und der gefühltes Mitleid für Schwäche, keineswegs für Tugend erklärt, – im geraden Widerspruch mit Kant zu sagen: der bloße Begriff ist für die ächte Tugend so unfruchtbar, wie für die ächte Kunst: alle wahre und reine Liebe ist Mitleid, und jede Liebe, die nicht Mitleid ist, ist Selbstsucht. Selbstsucht ist der ερως; Mitleid ist die αγαπη. Mischungen von beiden finden häufig Statt. Sogar die ächte Freundschaft ist immer Mischung von Selbstsucht und Mitleid: erstere liegt im Wohlgefallen an der Gegenwart des Freundes, dessen Individualität der unserigen entspricht, und sie macht fast immer den größten Theil aus; Mitleid zeigt sich in der aufrichtigen Theilnahme an seinem Wohl und Wehe und den uneigennützigen Opfern, die man diesem bringt. Sogar Spinoza sagt: Benevolentia nihil aliud est, quam cupiditas ex commiseratione orta. (Eth. III, pr. 27, cor. 3, schol.) Als Bestätigung unseres paradoxen Satzes mag man bemerken, daß Ton und Worte der Sprache und Liebkosungen der reinen Liebe ganz zusammenfallen mit dem Tone des Mitleids: beiläufig auch, daß im Italiänischen Mitleid und reine Liebe durch das selbe Wort pietà bezeichnet werden.

Auch ist hier die Stelle zur Erörterung einer der auffallendesten Eigenheiten der menschlichen Natur, des Weinens, welches, wie das Lachen, zu den Aeußerungen gehört, die ihn vom Thiere unterscheiden. Das Weinen ist keineswegs geradezu Aeußerung des Schmerzes: denn bei den wenigsten Schmerzen wird geweint. Meines Erachtens weint man sogar nie unmittelbar über den empfundenen Schmerz, sondern immer nur über dessen Wiederholung in der Reflexion. Man geht nämlich von dem empfundenen Schmerz, selbst wann er körperlich ist, über zu einer bloßen Vorstellung desselben, und findet dann seinen eigenen Zustand so bemitleidenswerth, daß, wenn ein Anderer der Dulder wäre, man voller Mitleid und Liebe ihm helfen zu werden fest und aufrichtig überzeugt ist: nun aber ist man selbst der Gegenstand seines eigenen aufrichtigen Mitleids: mit der hülfreichsten Gesinnung ist man selbst der Hülfsbedürftige, fühlt, daß man mehr duldet, als man einen Andern dulden sehen könnte, und in dieser sonderbar verflochtenen Stimmung, wo das unmittelbar gefühlte Leid erst auf einem doppelten Umwege wieder zur Perception kommt, als fremdes vorgestellt, als solches mitgefühlt und dann plötzlich wieder als unmittelbar eigenes wahrgenommen wird, – schafft sich die Natur durch jenen sonderbaren körperlichen Krampf Erleichterung. – Das Weinen ist demnach Mitleid mit sich selbst, oder das auf seinen Ausgangspunkt zurückgeworfene Mitleid. Es ist daher durch Fähigkeit zur Liebe und zum Mitleid und durch Phantasie bedingt: daher weder hartherzige, noch phantasielose Menschen leicht weinen, und das Weinen sogar immer als Zeichen eines gewissen Grades von Güte des Charakters angesehen wird und den Zorn entwaffnet, weil man fühlt, daß wer noch weinen kann, auch nothwendig der Liebe, d. h. des Mitleids gegen Andere fähig seyn muß, eben weil dieses, auf die beschriebene Weise, in jene zum Weinen führende Stimmung eingeht. – Ganz der aufgestellten Erklärung gemäß ist die Beschreibung, welche Petrarka, sein Gefühl naiv und wahr aussprechend, vom Entstehen seiner eigenen Thränen macht:

I vo pensando: e nel pensar m' assalo
Una pietà si forte di me stesso,
Che mi conduce spesso,
Ad alto lagrimar, ch' i non soleva.
Indem ich gedankenvoll wandele, befällt mich ein so starkes Mitleid mit mir selber, daß ich oft laut weinen muß; was ich doch sonst nicht pflegte.

Auch bestätigt sich das Gesagte dadurch, daß Kinder, die einen Schmerz erlitten, meistens erst dann weinen, wenn man sie beklagt, also nicht über den Schmerz, sondern über die Vorstellung desselben. – Wann wir nicht durch eigene, sondern durch fremde Leiden zum Weinen bewegt werden; so geschieht dies dadurch, daß wir uns in der Phantasie lebhaft an die Stelle des Leidenden versetzen, oder auch in seinem Schicksal das Loos der ganzen Menschheit und folglich vor Allem unser eigenes erblicken, und also durch einen weiten Umweg immer doch wieder über uns selbst weinen, Mitleid mit uns selbst empfinden. Dies scheint auch ein Hauptgrund des durchgängigen, also natürlichen Weinens bei Todesfällen zu seyn. Es ist nicht sein Verlust, den der Trauernde beweint: solcher egoistischer Thränen würde man sich schämen; statt daß er bisweilen sich schämt, nicht zu weinen. Zunächst beweint er freilich das Loos des Gestorbenen: jedoch weint er auch, wann diesem, nach langen, schweren und unheilbaren Leiden, der Tod eine wünschenswerthe Erlösung war. Hauptsächlich also ergreift ihn Mitleid über das Loos der gesammten Menschheit, welche der Endlichkeit anheimgefallen ist, der zufolge jedes so strebsame, oft so thatenreiche Leben verlöschen und zu nichts werden muß: in diesem Loose der Menschheit aber erblickt er vor Allem sein eigenes, und zwar um so mehr, je näher ihm der Verstorbene stand, daher am meisten, wenn es sein Vater war. Wenn auch diesem durch Alter und Krankheit das Leben eine Quaal und durch seine Hülflosigkeit dem Sohn eine schwere Bürde war; so weint er doch heftig über den Tod des Vaters: aus dem angegebenen Grunde Hiezu Kap. 47 des zweiten Bandes. Es ist wohl kaum nöthig zu erinnern, daß die ganze §§. 61-67 im Umriß aufgestellte Ethik ihre ausführlichere und vollendetere Darstellung erhalten hat in meiner Preisschrift über die Grundlage der Moral..


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