Ossip Schubin
Der Rosenkavalier
Ossip Schubin

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Nachdem sich das ärztliche Konzilium geäußert hatte, wurde der Familienrat einberufen. Meine arme Mutter opferte einen Teil ihrer kleinen Ersparnisse, die sie mühsam im Hinblick auf die Ausstattungen meiner Schwestern gemacht hatte, damit ich mich in einem Badeort erholen könne. Die Ärzte hatten eine Kaltwasserheilanstalt verordnet. Nach langem Hin-und-herzögern wählte ich Wartenberg, ein kleines Nest in Böhmen. Man hatte mir seine hübsche Lage, seine Stille und die gemütliche Einfachheit der Lebensweise gerühmt.

Ich fand alles reichlich bestätigt. Verehrte Freundin! Wenn Sie einmal mit dem lieben Gott allein sein wollen, so gehen Sie nach Wartenberg!

In Turnau hielt mein Zug, von da sollte mich eine kleine Lokalbahn nach meinem Bestimmungsort führen. Als ich hörte, daß man per Achse in dreiviertel Stunden dahingelangen könne, gönnte ich mir einen unerhörten Luxus. Ich mietete mir einen Wagen. Ein recht schofler, alter Phaeton war's, der gewiß seit Menschengedenken bei allen Begräbnissen und allen Kochzeiten in der Gegend mitgetan hatte und hoch in den Rädern hing; ein tiefeingesattelter Brauner mit weihen Haarzotteln um die Hufe und mit an den Hüftknochen durchgeriebenem Fell trabte davor, recht gemächlich, als ob er mir Zeit lassen wollte, die Gegend aufmerksam zu betrachten. Es war nicht viel Beachtenswertes dabei. Stoppelfelder und Rübenfelder und um den Horizont herum Hügel – entweder ganz entwaldet oder auch schon wenigstens bis zur Mitte hinauf durch Felder verunstaltet. Dann aus all der Nüchternheit heraus biegt der Wagen in eine wundervolle alte Allee. Linden, und in der Blüte. Denken Sie sich das für einen Städter, der seit seinem letzten ziemlich unerquicklich zwischen Mücken und vornehmen armen Verwandten in St. Pölten verbrachten Ferien sein enges Zimmer nur durch ein Fenster lüften konnte, das auf einen Wiener Lichthof hinaussah mit einem Kanalgitter in der Mitte. Wie ein übermütiger und uneigennütziger Kuppler (es gibt solche) strich der Hauch des Sommerabends durch die mächtigen Kronen und flüsterte halblaut viele liebe, süße Nichtsnutzigkeiten in die Lindenblüten hinein. Und die Blüten schmiegten sich aneinander und küßten sich und sanken in einem letzten Wonneschauer sterbend auf die Erde nieder. Die ganze Straße war damit bestreut. Dazwischen ein Duft von frischgemähtem Gras aus den Wiesen rechts und links, und in das alles hinein atmend die würzige Herbigkeit der nahenden Wälder. Wie ein erlösendes Gottesgeschenk schwebte die duftende Kühle auf mich nieder. Das zottige braune Pferdchen streckte seinen tiefeingezogenen Rücken gerader und trabte herrschaftlich, so gut es ging.

Prr! – Wir sind angekommen vor dem Marienhaus, wie die Dependance heißt, in der ich untergebracht werden soll, eine häßliche Baracke mit weißgetünchten Wänden unter einem schwarzen Pappdach. Aber ich kann das Wort Marienhaus nicht aussprechen, ohne daß sich einschmeichelnde Schauer an mir niederschleichen. Wissen Sie, wie das ist, verehrte Freundin? Wenn bei der Nennung eines besonderen Wortes, bei dem Einatmen eines besonderen Duftes eine Unruhe in uns entsteht und plötzlich an den Schleiern zupft, die unsre Erinnerungen einhüllen, und dann die Vergangenheit vor uns auftaucht? Ganze Stücke davon zum Greifen deutlich; aber wenn man die Hand danach ausstreckt, wenn man etwas von dem lieben Langentbehrten festhalten möchte, verschwindet's. Das Schicksal zischelt uns sein unerbittliches »Es war« in die Ohren, traurig senkt die Sehnsucht ihre hoffnungsvoll erregten Flügel, und wir fügen uns von neuem in die lieblosen Gleichgültigkeiten des Alltags.

Mein Zimmerchen ... eine verwöhnte Frau wie Sie hätte wohl allerhand darin entbehrt. Ich fand's wonnig. Ein sauber gescheuerter Bretterfußboden, ein altmodisches hölzernes Bett, ein dazu passender Schrank und ein geschlossener Waschtisch, ein mit schwarzem Glanzleder bezogenes, mit weißen Porzellanknöpfen verunziertes Kanapee, ein Tisch, ein Stuhl. Begeisternd klingt das nicht – aber aus zwei breiten Fenstern sah man in den Wald. Die Fenster standen offen. Der Duft, der mir da entgegenschlug! Waldluft, Moder, frisches Grün, der Geruch von uralten Fichtenstämmen, aus denen sich das Harz löste, und von frischgefällten, die eben erst geschält waren, von Holz und Nadeln, Moos und längst verstorbenem Laub, Lindenblüten dazwischen, und alles das strömte herein über eine liebliche Palisade von Reseden und Nelken, die in den Blumenkästen vor den Fenstern standen. So etwas hatte ich noch nicht erlebt, weder in Wien noch in dem heißen mückendurchschwärmten St. Pölten.

Ich hatte noch gar nicht aufgehört mich zu freuen, als mich eine laute schrille Glocke zur Abendmahlzeit rief.

Im Speisesaal war kein Platz mehr, der ganze Table-d'hôte-Tisch eng besetzt. Ob ich nicht in der Wandelbahn vorliebnehmen wollte? Die Luft sei dort viel besser als im Saal.

Eine recht primitive »Wandelbahn« war's, ein einfaches Bretterdach, auf der einen Seite eine von Fenstern unterbrochene Holzwand, auf der andern nur ein paar Pfosten, um die sich in üppigem Durcheinander blühende Klematis, wilder Wein und Konvolvulus rankten.

Das Fenster neben meinem Tischchen – es stand offen – blickte auf weite, von großartigen Baumgruppen unterbrochene Wiesenflächen. Am westlichen Horizont die untergehende Sonne, groß, tief blutigrot, umgeben von einem Hofstaat von grauen Wolken, die langsam Feuer an ihr fingen, bis der ganze westliche Himmel in Flammen stand. Dann starben die Flammen. Wie Glut in der Asche verglommen sie. Die Wolken wurden wieder grau, nur die Sonne brannte noch am Horizont und verlöschte. Dann wurde der Himmel leer. Ganz blaß, fast grünlichweiß breitete er sich über die Landschaft, in der die Bäume schwarz geworden waren. Ich war dermaßen berauscht von Schönheit, daß ich mein Nachtmahl vergaß.

Der Kellner, ein echt böhmischer Landkellner, der wie ein dienstfertiger Wirbelwind in einem schwärzen Lüsterjackett von einem Tisch zum andern sauste, hielt sich einen Augenblick bei mir auf. »Junger Herr! Sie sollten das Essen nicht kalt werden lassen. Der Nierenbraten ist ausgezeichnet!«

Mir war so gar nicht nach Nierenbraten zumute.

Es war plötzlich kalt geworden, ich fing an heftig zu husten, ohne mir Rechenschaft darüber zu geben, daß ich fröstelte. »Wenzel,« hörte ich plötzlich jemanden sagen, »machen Sie dort das Fenster zu, der junge Herr könnte sich erkälten!«

Nie werde ich den Wohllaut dieser Stimme vergessen. Tief war sie wie die eines Mannes, aber doch mit etwas ganz ausgesprochen Weiblichem darin – voll, üppig. Ich sah mich um. Von wem konnte das freundliche Mahnwort kommen? Die ganze Reihe der Tischchen prüfte ich. An dem ersten hinter mir saß ein junges Ehepaar – verstohlen-zärtlich, zufrieden-sparsam, zerstreut-freundlich. Hochzeitsreisende! Von denen kam die Mahnung nicht. Die zwei hatten viel zu viel miteinander zu tun, als daß sie sich noch darum hätten kümmern können, ob ein armer Schlucker sich unvorsichtigerweise eine Erkältung holte oder nicht. Hinter ihnen saß ein komisches Familientrio – Vater, Mutter und Tochter –, die sich offenbar nichts zu sagen hatten, denn trotz des unangenehmen, aus glanzloser Dämmerung und flackernden Petroleumlampen gemischten Zwitterlichtes war jeder von ihnen in eine andre Lektüre vertieft: der Vater in eine Zeitung, die Mutter in einen illustrierten Roman, die Tochter in eine Broschüre. Hinter dem Lesekränzchen saß ein Mann um die Vierzig herum mit einem blödsinnigen Ausdruck in einem hübsch gewesenen, jetzt aufgedunsenen Gesicht und mit einem harten Filzhut, der sich wie ein geköpfter Zylinder ausnahm – ein »krankheitshalber« suspendierter Pfarrer, wie man mir später mitteilte. Ihm gegenüber ein hochbusiges Frauenzimmer mit zimtfarbigen Kalbhandschuhen. Sie bediente ihn, legte ihm vor und zupfte ihn beim Ärmel, wenn er mit den Augen zu rollen oder zu singen anfing. Die könnt' es entschieden auch nicht gewesen sein. Woher sollte die eine so angenehme Stimme haben? – Angenehm, was sag' ich! Ein mystischer und zugleich schwüler Zauber ging von dieser Stimme aus, ein Zauber, der die höchsten Gefühle im Menschen anregte.

Vergeblich suchte ich nach der Persönlichkeit, die zu der Stimme gepaßt hätte ... da, aus dem Schatten der entferntesten Ecke der Wandelbahn erhob sich eine Dame. Nur für einen Augenblick streifte das Licht ihre Erscheinung, dennoch prägte sie sich sofort unvergeßlich meiner Seele ein.

Sie war von hohem Wuchs. Eine ältere Frau mit grauem Haar, das in bauschiger Rokokofrisur Stirn und Schläfen umrahmte. Dunkle Brauen zogen sich über große längliche Augen. Kennen Sie den schönen slawischen Typus – ich weiß, daß es auch einen häßlichen gibt, aber denken Sie an den schönen! –, einfache, griechische Linien, der vornehmen lateinischen Schärfen entbehrend, ein Meisterwerk, das in der Skizze steckengeblieben ist, aber vielleicht infolgedessen einen besonderen Zauber hat und meistens stark auf die Sinne wirkt. Den Typus hatte die Fremde. Der Mund mußte ehedem einen hinreißenden Reiz gehabt haben. Jetzt waren seine Umrisse unbestimmt, die Winkel senkten sich tief. Ich habe nie etwas Traurigeres gesehen als diesen Mund, er verriet keine Bitterkeit, keine Auflehnung oder Anklage, nur Melancholie, Ekel und eine entsetzliche Müdigkeit.

Um ihre Schultern hing eine breite Zobelboa, aus ihren Ohrläppchen blitzten mit fast unheimlichem Feuer zwei große Brillantboutons; auch an der Hand, mit der sie das Pelzwerk unter ihrem Kinn zusammenhielt, blitzte und flimmerte es. Es war eine sehr schöne Hand, bleich, schmal, sehr gepflegt, von ungewöhnlicher Vornehmheit. Nur einen Moment erblickte ich sie, aber als sie bereits durch eine der dichtumrankten Bogenöffnungen der Wandelbahn entschwunden war, hörte ich sie noch seufzen.

Nachdem ich meine Mahlzeit schlecht und recht beendet hatte, trat ich auf den Promenadenplatz hinaus. Der Himmel war nicht mehr blaß, er hatte sein nächtliches Prachtgewand angezogen. Die Mondsichel stand dazwischen, blank wie poliertes Silber und scharf wie geschliffenes Eisen. Groß und weiß hob sich das alte Kurhaus gegen den dunklen Hintergrund der Wälder ab.

Durch die Wälder ging ein sattes, sich willenlos preisgebendes Rauschen, um mich herum in den zu flachen Kuppeln verstutzten Linden wisperte es leise, und das Brünnlein, das inmitten des Platzes sein klares Wasser unermüdlich in ein blumenumblühtes Becken rinnen ließ, murmelte eintönig sein altes Schlummerlied.

Die Laternen blitzten auf. Zugleich tönte eine schrill lustige, scharf rhythmisierte Blechmusik mitten zwischen die weichen Stimmen der Sommernacht. Eine Musikbande spielte den »Sir Roger de Coverley«. Jauchzendes Leben tönte dazwischen. Ich trat näher. Um einen hübschen jungen Mann – den Leiter der Kaltwasserheilanstalt, wie ich später erfuhr – war eine Schar von allerliebsten kleinen Mädchen versammelt. Sie zwitscherten alle auf einmal: tschechisch – ich verstand es so ziemlich.

Die Kinder wollten einen »Sir roger« tanzen, aber es fehlte an Tänzern. Dabei fiel immer wieder der Name eines jungen Menschen, den das kleine Volk ins Herz geschlossen zu haben schien und der erst kürzlich Wartenberg verlassen hatte. »Ach, wenn der Vessely da wäre – ja, wenn der Vessely da wäre!« seufzte ein meterhohes Dämchen mit sehr hübschen nackten Beinchen und einem tiefgegürtelten Kleide. Sie hielt die Händchen auf die Hüften gestemmt und blickte gedankenvoll vor sich hin. Offenbar fungierte sie als Vorbeterin des kindlichen Kreises, der jetzt einstimmig wiederholte: »Ja, wenn der Vessely da wäre!«

Der junge Wasserdoktor schüttelte lachend den Kopf. »Ihr könnt euch beruhigen,« sagte er, »selbst wenn er da wäre, der hätte doch nicht mit euch getanzt.«

»Und warum nicht?« riefen etwas ärgerlich die Kinder.

»Weil er zu alt für euch ist!«

»Wie alt?« fragte die kleine Vorbeterin.

»Oh, sehr alt, eine ganze Menge Jahre,« versicherte der Doktor mit einer humoristisch entmutigenden Handbewegung, »gewiß schon neunzehn.«

»Neunzehn Jahre! Schon so alt!« riefen die Kinder fast feierlich, und dann seufzten sie, als ob sie begriffen hätten, daß da nichts zu machen sei. »schon so alt – so alt!« wiederholte eine tiefe Stimme.

Ich blickte auf. Neben mir stand die grauhaarige Frau mit den müden Lippen.

Als sie meinen Blick fühlte, zuckte sie zusammen und zog sich tiefer in den Schatten zurück. Dann, mitten zwischen dem von neuem aufjauchzenden Kinderlachen hörte ich den schleppenden Rhythmus ihres traurig davonschleichenden Schrittes, jenes Schrittes der gänzlich Entmutigten, der kein Ziel mehr sucht und an allem vorübergeht.

Nur ein armer Student, der einmal dem Stadtleben entronnen ist, weiß, was das heißt, so plötzlich von Luft und Duft umgeben zu sein, des Nachts das Fenster offenlassen zu können und die ganze Köstlichkeit des Waldes einzuatmen, sich im Einschlafen auf den Morgen zu freuen und, kaum daß man von den Sonnenstrahlen geweckt worden ist, auf den ganzen Tag!, sich Gesicht und Glieder mit kühlem Wasser zu erfrischen, in seine Kleider hineinzufahren, in den Wald zu eilen und immer wieder neue Wunder zu entdecken.

Je tiefer ich eindrang, um so höher wurden die Bäume, strebten bald aus jahrhundertealtem Moder, bald aus kniehohem Heidekraut empor, und zwischen ihnen ragten die kuriosesten Steinbildungen auf. Felsen mit kolossalen Tier- und Menschenfratzen, Felsen, die wie verächtlich grinsende, grausam drohende indische Gottheiten aussahen. Ich war selig. Nur eins tat mir leid: die Frau mit der schönen tiefen Stimme und dem traurigen Gesicht war verschwunden.

Indessen hatte ich mich müde gelaufen in den Wäldern, und an die Schönheit meiner Umgebung hatte ich mich gewöhnt. Ein wundes Einsamkeitsgefühl beschlich mich. In der Stadt hatte ich immer nur das Gefühl gehabt, den Menschen um jeden Preis ausweichen zu wollen – hier sehnte ich mich danach, mich jemandem anzuschließen. Aber die Befangenheit des wohlerzogenen, weltunkundigen Burschen hielt mich zurück.

Einmal gegen Abend fragte ich den Kellner, der indessen mein Freund geworden war und mir, da ich bei den Mahlzeiten jetzt einen kolossalen Appetit entwickelte, eine geradezu sträfliche Protektion angedeihen lies, ob's denn nicht ein Lesezimmer mit Zeitungen gäbe. O ja! In dem Blockhause, zwischen dem Walde und dem Marienhause, da gäb's Zeitungen, so viel ich nur wünschte, und ich könne ganz ungestört lesen, denn dort sei niemand, erwiderte er mir.

Es war allerdings niemand dort, aber was die Journalistik anlangte? Ein paar abgegriffene böhmische Witzblätter, ein drei Wochen altes Exemplar der Neuen freien Presse, das irgend jemand hier vergessen haben mußte – das war alles. Aber etwas andres erblickte ich zu meiner freudigen Überraschung: ein Klavier, noch obendrein einen Bösendorfer. Es stand schon in reiferen Jahren, aber ich war nicht verwöhnt und stürzte mich darauf wie ein Wolf auf ein junges Lamm. So con amore hatte ich noch nie musiziert, Beethoven, Brahms, Mozart und Chopin, alles untereinander aus dem Gedächtnis, nicht nach dem Gehör wie der Artillerist. Ich schwelgte in Musik.

Der Saal hatte Fenster von beiden Seiten. An der einen Seite standen sie offen, dem Walde zu, nur durch die Straße von ihm getrennt, und aus dem Walde strebten die Schatten und wurden lang und immer länger und streckten sich über die Straße und warfen ihre Schleier in den Saal hinein. Es war fast dunkel geworden, nur undeutlich sah ich die Tasten.

Endlich zog ich die Hände vom Klavier. Da hörte ich jemand mit einem Streichholz kratzen. Das Streichholz flackerte auf, und ich erblickte eine hohe Gestalt. – Sie war's.

»Bitte, ziehen Sie die Lampe ein wenig herab,« sagte sie.

Wieder, wie mit einem geheimnisvollen Zauber, berührte mich der Klang ihrer Stimme. Ich griff nach der Hängelampe. Sie hielt das Streichholz über den Brenner. Es wurde hell.

»Spielen Sie doch weiter – Sie spielen sehr schön!« sagte sie.

»Ich spiel' nur für mich allein. Sobald ich weiß, daß mir jemand zuhört, patz' ich fürchterlich,« entschuldigte ich mich.

»Das ist ganz natürlich, weil Sie sich nicht sicher fühlen. Sie haben keine disziplinierte Technik, aber einen so schönen Anschlag, wie ihn nur gottbegnadete Dilettanten haben – oder die allergrößten Künstler.«

Sie hatte ihre Boa abgestreift und stand nun in einer gestickten weißen Batistbluse und kurzem Tuchrock vor mir. Sie war ziemlich stark, aber trotz ihrer Jahrs noch von gutem Wuchs. Am schönsten waren ihre Augen. Sie hatten das getrübte Blau eines Stück Himmels, das sich in einem Sumpf spiegelt, dabei einen Blick von unendlicher Schwermut. Wenn ihr Gang den Eindruck machte, an allem vorüberzugehen, kein Ziel mehr zu suchen, so war es mit ihrem Blick ganz ähnlich. Er schweifte gleichgültig an den Dingen vorbei, ohne irgendwo länger zu haften. Auch mich berührte er erst nur flüchtig, nahm mich so mit, als ob ich zu der Zimmereinrichtung gehöre.

Plötzlich aber blieb er stehen. »Sie sind der junge Mann, den damals in der Wandelbahn gefröstelt hat?« bemerkte sie.

»Ja, Gnädigste, und Sie waren so gütig, sich meiner anzunehmen.«

»Ja, jetzt erinnere ich mich. Ich vergesse so schnell – wenigstens manches ... andres« – sie seufzte –, »ach, wenn man nur mehr vergessen könnte! Es ist gut, vergessen zu können, sonst wäre das Leben ganz unerträglich. Wozu dran denken, man sollte nie denken. Man muß sich zerstreuen!« Einen Augenblick hielt sie sich die Hand an die Stirn, dann fing sie an, in den Notenfetzen auf dem Klavier zu kramen, und mir einen davon auf das Pult legend, fragte sie mich: »Wollen Sie mich begleiten?« Es war das unsterbliche Lied von Brahms, das sie mir vorlegte:

Dein süßer Schall.
O Nachtigall,

Mir stocke der Atem. Gott, diese Stimme! Ein Strom von Gold, von einem schwülen Schatten gedämpft. Es ging einem durch Mark und Bein, und war einem doch unsäglich wohl dabei – wohl und wehe, wie bei jedem Übermaß des Empfindens. Die Stimme klang wie die von allen Empfindungen eines reichen Menschenlebens vibrierende G-Dur-Seite einer Amatigeige, und neben dem hinreißenden Wohllaut des Materials die tiefe Tragik des Ausdrucks. Eine suchende Unruhe erfaßte meine Seele. Wo ... wo hatte ich die Stimme schon gehört?

Als sie meine tiefe Ergriffenheit merkte, legte sie noch zwei Lieder auf das Notenpult, Schumanns Junges Grün und die Alten Laute. Diesmal liefen mir die Tränen über die Wangen.

Sie legte mir leicht die Hand auf die Schulter. »Armer Bursch,« flüsterte sie, »wie stark Sie fühlen! Das Leben wird Ihnen sehr weh tun. – War's schön?«

»Schön! Schön ist kein Wort dafür – man müßt' erst ein Wort erfinden, um zu sagen, wie das war!« Und dann mit der Dreistigkeit höchster Empfindungsüberspannung: »Wer sind Sie, gnädige Frau?«

Sie zuckte mit den Achseln und schwieg mehrere Sekunden lang. Dann sehr heiser, sehr bitter: »Ich bin eine müde alte Frau,« und leiser: »Ich war ... die Selvaggini.« Ohne die Wirkung ihrer Worte abzuwarten, wendete sie sich um und verließ den Saal. –

Die Selvaggini! –

Die Selvaggini – nun, ich hab's Ihnen ja schon früher gesagt, was der Name für mich bedeutete. Ich erschien mir gewachsen, ich flößte mir selber Respekt ein. Meine Begleitung hat ihr gefallen, sie wird mir noch mehr vorsingen, jauchzte es in mir.

Die schrille Tischglocke gellte in meine Phantasien hinein. Ich eilte in die Wandelhalle, wobei ich hoffte, sie diesmal wieder aus der Ferne beobachten zu dürfen. Aber ihr Platz blieb leer. »Kommt die Dame heute wieder nicht?« fragte ich endlich den Kellner.

»Ach, die Dembitzka,« sagte der Kellner. Zum erstenmal erfuhr ich, daß die Selvaggini einen Alltagsnamen hatte. »Nein, es war schon für sie gedeckt, aber sie hat sich ihr Essen aufs Zimmer bestellt. – Sie will morgen früh abreisen.«

Morgen früh! Der Atem versagte mir. »So ganz plötzlich?«

»Ja, plötzlich! Bei der ist alles plötzlich. Einmal so – einmal so, wie ihr's gerade durch den Sinn fährt. Eigentlich hat sie ein gutes Herz, aber manchmal kommt es über sie, daß sie sich gebärdet wie eine närrisch gewordene Kaiserin – kommandiert herum, wie eine, die gewohnt ist, alle Launen durchzusetzen. Man sagt, sie sei ehemals eine berühmte Sängerin gewesen. Ob's wahr ist, weiß ich nicht.«

Abreisen! Morgen! Mir war's, als stünde ich im Begriff, etwas Unersetzliches zu verlieren, nachdem ich es eben erst entdeckt hatte. Dabei quälte mich der Gedanke, daß ich die Künstlerin am Ende selbst vertrieben habe, und zwar dadurch, daß ich sie veranlaßt hatte, ihr Inkognito zu lüften.

In meinem Kopf reifte ein Plan. Durch meinen Freund, den Kellner, hatte ich erfahren, daß die Selvaggini – unter keinen Umständen konnte ich mich entschließen, sie Frau Dembitzka zu nennen, als welche sie im Fremdenbuch verzeichnet stand – den Wagen für neun Uhr bestellt habe. Den Abend legte ich mich gar nicht zu Bett, aus Angst, zu lange zu schlafen.

Um vier Uhr früh stapfte ich schon tapfer durch die alte Lindenallee, die den Bindestrich macht zwischen der Poesie von Wartenberg und der Prosa der Umgebung. Der Staub schlief auf der Straße. Der Nachtwind hatte die gestrigen Fußspuren verweht. Die Lindenblüten dufteten, die gelben frischen in den alten Baumkronen und auch die blassen welken am Straßenrand. Fächerförmig streckten sich die Sonnenstrahlen über die Wiesen, auf denen funkelnd, duftend Morgentau lag. In der Luft war etwas Herbes, Unverfälschtes.

Wenn man sich einmal aus irgendeinem zwingenden Grunde entschlossen hat, an einem Julitage früh aufzustehen, dann fragt man sich, warum man nicht jeden Morgen so früh aufsteht und lieber den Tag verschläft. – Ja, und den nächsten Morgen schläft man doch wieder so lange wie gewöhnlich. Ich war jung und ging schnell. In Fünfviertelstunden hatte ich Turnau erreicht und bald darauf die berühmte Kunstgärtnerei gefunden. Es war noch so früh, daß ich sehr lange läuten mußte, ehe mir ein Gärtnerbursche öffnete.

Bald darauf machte ich mich mit einem wunderhübschen Rosenstrauß in der Hand auf den Heimweg. Ich lief wie verrückt, damit die Blumen nicht zu lange der jetzt rasch aufsteigenden Hitze preisgegeben würden, und auch weil ich Angst hatte, die Selvaggini zu versäumen.

Allerdings hatte ich Eile. Der schönste Mietwagen, über den das Bade-Etablissement gebot, ein schwerfällig stattlicher Landauer, stand bereits vor dem alten Kurhause. Ich stürzte durch das offene Portal und begegnete der Diva auf der Treppe. Als ich ihr mit meinem Strauß in der Hand entgegentrat, fuhr sie zusammen. Ihre Augen waren groß und leuchtend.

»Gnädige Frau,« rief ich, »ich wollte Ihnen nur danken für die schönste Stunde in meinem Leben.« Und dabei vergaß ich, ihr den Strauß, den ich krampfhaft in der Hand hielt, anzubieten.

»Sind die für mich?« fragte sie belustigt, indem sie die Hand nach den Blumen ausstreckte. »Was für wunderschöne Rosen!«

»Wenn ich länger hätte wählen können, hätte ich schönere gebracht,« versicherte ich, »aber ich hatte so schreckliche Angst, Sie zu versäumen, gnädige Frau.«

»So, so! Wirklich?« Sie lächelte, ihr Gesicht verjüngte und verschönte sich von einer Sekunde zur andern. »Für mich sind die grad schön genug,« murmelte sie. Dabei atmete sie langsam die schwermütige, herbgewürzte Süßigkeit des Rosenduftes ein. »Haben Sie herzlichen Dank. Sie haben mir eine große Freude gemacht. – Adieu!«

Nachdem ich ihre mir dargebotene Hand andächtig mit meinen Lippen berührt hatte, fragte ich beklommen dreist: »Warum reisen Sie, gnädige Frau?«

»Warum?« Sie zuckte mit den Schultern. »Weil ich's nirgends lang mehr aushalte. Ich bin wie die Kranken, die sich immerfort im Bette herumdrehen, um sich einen Platz zu suchen, wo sie ihre Schmerzen weniger quälen.«

»Ach, bleiben Sie doch!« rief ich. »Hier ist's ja so wunderschön!«

»Wirklich?« Wieder das müde Zucken der Schultern.

»Ich will's Ihnen zeigen, gnädige Frau, wie schön es hier ist!«

Und dann klopfte mir das Herz. Wer war ich, daß ich mir erlauben konnte, so zu ihr zu sprechen – zu der Selvaggini! Sie aber schien an meiner Dreistigkeit keinen Anstoß zu nehmen. Ihre Brauen hoben sich. »Wollen Sie mir wirklich zeigen, wie schön das Leben noch sein kann?« fragte sie.

»Wenn sich die Gnädige nicht beeilt, versäumt sie den Zug,« mahnte die Kammerjungfer, eine alte Person mit einem kaffeebraunen Gesicht unter weißen Haaren, mit aufmerksam beobachtenden schwarzen Augen und einem großen, festgeschlossenen Mund.

»Ich reise nicht! Sie können die Koffer wieder hinaufschaffen lassen, Resi!« Dann, sich zu mir wendend: »Und jetzt könnten wir frühstücken!«

Wie ich sie verehrte, vergötterte! Sie war aber auch anbetungswürdig. Eine alte Frau – eine wundervolle Ruine – voll geheimnisvoller Vergangenheitspoesie. Die Selvaggini, die große Selvaggini hatte die unerhörte Güte, sich zu mir herabzulassen, sich aufs mütterlichste mit meiner unwesentlichen Persönlichkeit zu beschäftigen.

Aufs mütterlichste. Ja! Etwas andres fiel mir nicht ein. In meinem Alter und ganz besonders in den spießbürgerlichen Kreisen, in denen ich aufgewachsen war, kam man nicht auf den Gedanken, daß sich weibliche Regungen noch melden könnten bei einer Frau, die die Fünfzig überschritten hatte; ebenso gut hätte sie in den Siebzigern stehen können.

Sie war eine unermüdliche Fußgängerin und Bergsteigerin. Kein Hügel in der Umgebung war vor ihr sicher. Ich durfte sie begleiten. Und obwohl mich ihre ausgedehnten Spaziergänge manches Mal anstrengten, boten sie mir doch einen großen Genuß.

Ich sah alles mit schönheitskundigeren Augen, genoß die Landschaft mit künstlerisch verfeinertem Geschmack, wenn ich mit ihr zusammen war. Niemand hat ja mehr Sinn für Naturschönheiten gehabt als sie. Immer wieder machte sie mich auf einen malerischen Eindruck, ein stimmungsvolles Moment in der Umgebung aufmerksam, an dem ich stumpf vorübergegangen war. Aber eine unangenehme und für solch robuste Bergsteigerin merkwürdige Eigenschaft hatte sie; sie litt an Schwindel. An irgendeiner steilen Bergsenkung vorüberzugehen, war für sie eine Qual. Infolgedessen wichen wir meistens allen Abhängen und Abgründen aus, gegen welche die Straße nicht mit dem festesten Geländer gesichert war. Einmal bei einer sehr weit ausgreifenden Bergpartie verirrten wir uns und standen eine halbe Stunde vor Wartenberg vor der Wahl, entweder den ganzen weiten Weg zurücknehmen zu müssen oder an einem sehr steilen, gänzlich freiliegenden Abhang vorbeizuwandern.

Zum Umkehren war's zu spät. Mir graute vor dem, was mir bevorstand. Der einzige Ausweg war, ihre Aufmerksamkeit von dem Abhang abzulenken.

Ich verwickelte sie in ein sehr fesselndes Gespräch, über ihre russischen Tourneen fragte ich sie aus, erkundigte mich nach dem und jenem, plauderte in einem fort, und da ich an der Abhangseite, sie an der geschützten ging, hatte sie's nicht einmal gemerkt, an welchen Abgründen ich sie vorübergeleitet hatte, ehe wir darüber hinaus waren.

Dann, aufatmend, blieb ich stehen, und hinter mich deutend, sagte ich: »Da, sehen Sie, was Sie überstanden haben!«

Sie wurde totenblaß und zitterte am ganzen Körper. »Und Sie haben mich darüber hinweggetäuscht!« rief sie. »Dafür verdienen Sie ein Lied ... oder einen Kuß?« fügte sie schelmisch hinzu.

»Ein Lied,« jauchzte ich, »ein Lied!«

Fast jede andre alternde Frau hätte es mir verargt, daß ich mich nicht für den angebotenen Kuß entschied, und es ist ebenso merkwürdig wie bezeichnend für die Selvaggini, daß sie ruhig darüber hinwegging. Beweist doch diese eine Tatsache, die man nie vergessen darf, wenn man sie objektiv beurteilen will, daß bei ihr die Künstlerin maßgebender war als das Weib, weshalb ihre zahllosen Liebesabenteuer (Herr Gott, wenn mir damals jemand irgend etwas Ähnliches angedeutet hätte!) für sie ebensosehr eine zwingende Notwendigkeit wie etwas Nebensächliches waren. Sie schlug ihrem Temperament keine Befriedigung ab, nach der es ihm verlangte, beschäftigte sich aber nicht weiter mit diesen Episoden.

Es war die Künstlerin in ihr, die immer neu schaffen, sich immer glänzender betätigen, die bewundert, verstanden werden wollte, und was sie damals am höchsten bei mir anschlug, war eben meine grenzenlose Begeisterung für ihre große Kunst.

Drum, ohne irgendeine Empfindlichkeit zu bekunden, erklärte sie: »Sie sollen gleich drei Lieder haben – ja! Gleich auf der Stelle!«

Und sie hub an. Eigentlich hat es etwas Lächerliches, wenn ein Mensch so im Freien plötzlich anfängt zu singen. Es erinnert an Handwerker auf der Wanderschaft, an Landpartien und angeheiterte Turnvereine. Aber sie besaß ein nie versagendes Stilgefühl und wählte Lieder, die in die waldumsäumte Wiesenlandschaft hineinpaßten: drei Volkslieder, ein deutsches »In einem kühlen Grunde«, dann das bekannte tschechische Sehnsuchtlied »Neni tu« und schließlich ein polnisches, den »Sterbenden Kosaken« von Moniuszko. Sie sang weich, halblaut, jeder Ton eine traurige Liebkosung. Ein Zauber ging von den Liedern aus. Es war, als hielten die dunklen Wälder den Atem an, um zu lauschen.

Die Dämmerung begann zu sinken, die Dämmerung, die alle Ruinen in Schutz nimmt. Sie beschönigte den Verfall des bereits leicht durchfurchten Gesichts. Nur die edlen Linien der Züge blieben unverwischt. Die tiefliegenden großen Augen schimmerten wundervoll traurig.

Ich sah sie nicht mehr, wie sie war, ich sah sie, wie sie in ihrer Blütezeit gewesen sein mußte. Und als sich ihre vollen Lippen in einem geheimnisvollen Lächeln teilten und mich flüsternd übermütig fragten: »War's recht so?«, da kniete ich vor ihr nieder und faßte ihre beiden Hände und drückte sie an die Lippen.

Ihre Hände waren eiskalt, als ich sie berührte; mit einemmal fingen sie an, wie im Fieber zu brennen.

In das feierliche Schwingen der Natur drang plötzlich ein schwacher, ängstlich schaudernder Laut. Eine Schwalbe flatterte knapp an der Erde hin. Der Zauber war gebrochen. Ich sprang auf, sah mich um. Die Wolken hingen so tief, daß sie den Kamm der Berge zu streifen schienen, die Dämmerung verdüsterte sich zu einem bläulichen Purpur.

»Wir haben die größte Eile,« rief ich, »sonst werden wir von dem Gewitter überrascht.«

»Ja ... die größte Eile,« wiederholte sie.

Aber die Eile nützte nichts mehr. Wenige Minuten darauf goß es in Strömen. Da sie wie gewöhnlich nur eine leichte weiße Bluse trug und somit gänzlich dem Unwetter preisgegeben war, zog ich meinen Rock aus und warf ihn ihr um die Schultern. Todmüde von einem dreistündigen Marsch und stark erhitzt, gab ich hierbei meine Gesundheit preis, und sie, die im allgemeinen rücksichtsvoll und von ungemessener Herzensgüte war, ließ es ruhig geschehen. Wenn sich's um ihre Stimme handelte, legte sie eine unerhörte Selbstsucht an den Tag. Und nicht nur, daß sie es gar nicht merkte, wie ich mit den Zähnen klapperte, während sie, fest in meinen Rock eingeknöpft, nach Hause hastete – nein, sie zankte den ganzen Weg über mit mir und machte mir Vorwürfe wegen des Spazierganges, den sie auf meinen Rat hin unternommen zu haben vorgab, obgleich ich mich weiß Gott nur ihrem Wunsche untergeordnet hatte. Die Erregung, zu der sie sich entrüstete, half meinem Rock, sie warm zu halten, so daß die Dusche spurlos an ihr vorüberging.


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