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Dreizehntes Kapitel

Im Garten des Konsuls Rosenberg, neben dem Tennisplatz versteckt hinter einer Hecke von gelbblühenden Berberitzen, war eine Schaukel.

In der Schaukel saß Ruth Rosenberg.

Ihr Bruder Otto, dem das Hamburger Exporthaus, in dem er sein kaufmännisches Einjähriges abdiente, einige Tage Urlaub bewilligt hatte, saß rittlings auf einem Stuhl neben der Schaukel und versuchte krampfhaft, seiner Schwester die neuesten Hamburger Räubergeschichten zu erzählen. Aber er hatte kein rechtes Glück damit. Ruth sagte gelegentlich einmal einsilbig ja, ließ sich auch zu einem kurzen Nein herbei, lachte dann und wann ohne besondere Herzhaftigkeit und schien sich im übrigen weit mehr für die dunklen Kiefern zu interessieren, deren Stämme im Nachmittagssonnenschein rot leuchteten.

»Du bist scheußlich langweilig!« erklärte schließlich der beleidigte Bruder.

»Findest du?«

»Ich finde sehr! Was ist denn eigentlich los mit dir?«

»Nichts.«

»Dumme Gans!« erklärte Bruder Otto mit jener brutalen Offenheit, die die meisten Brüder im Verkehr mit ihren Schwestern haben.

»Du solltest dir diese kräftigen Ausdrücke abgewöhnen!« bemerkte Ruth gemütlich.

»Bist du wieder mal verliebt?«

»Erstens bin ich überhaupt nie verliebt, zweitens bin ich gegenwärtig bestimmt nicht verliebt, und drittens geht dich das gar nichts an!«

Diese geharnischte Erklärung, die in ihren ersten beiden Teilen glatt erlogen war, wie die meisten Dementis, tat Ruth sehr wohl und sie schaukelte vergnügt. Jetzt glaubte sie selbst daran, daß sie nicht verliebt war! Es ist eine eigentümliche Erscheinung, daß sich viele Leute am besten selber etwas vorschwindeln können, wenn sie den Schwindel recht laut und deutlich sprechen! Wie schön doch die Kiefern waren ...

Auf einmal wurde Ruths Gesicht starr.

Sie konnte von der Schaukel aus in das Terrassenzimmer hineinsehen, dessen breite Fenster weit geöffnet waren.

»Otto!« sagte sie.

»Na?«

»Es ist Besuch gekommen.«

»Meinetwegen,« brummte der Bruder. »Ich fühle mich hier sehr wohl!«

»Du, Otto!«

»Was denn?«

»Sei doch mal nett –«

»Ich bin immer nett, und sag mal – was machst du denn für ein Gesicht? Du siehst aus, als hättest du eine Spinne verspeist. Du siehst aus wie der bekannte Bauer, dem die ganze Bescherung verhagelt worden ist. Hm – du hast bei Tisch auch reichlich viel Erdbeeren gegessen! Bauchweh?«

»Mach' doch keine Witze!« bat Ruth ganz sanft, »sondern sei einmal ausnahmsweise nett und liebenswürdig, geh hinein und erkundige dich, was das für ein Besuch ist. Ich – ich habe nämlich Kopfschmerzen und – möchte mich furchtbar gern drücken, wenn es irgendwie geht.«

Bruder Otto stand faul auf.

»Na, meinetwegen,« sagte er. »Weil du's bist.«

Kaum war er gegangen, als Ruth mit einem gewaltigen Satz, der auf den ziemlich engen Rock auch nicht die geringste Rücksicht nahm, von der Schaukel sprang, zur Berberitzenhecke eilte und mit weit aufgerissenen Augen nach dem Terrassenzimmer hinüberspähte.

Das war doch empörend!

Das war doch eine Beleidigung sondergleichen! Das zeigte so recht, daß sie sich diesen törichten Traum aus dem Herzen reißen mußte – und wenn es noch so weh tat!

Sie lachte bitter auf.

Die Ritterlichkeit war nur Mittel zum Zweck gewesen.

Die bescheidene Selbstverleugnung war weiter nichts als der wohlberechnete Einsatz für ein größeres und an Erträgnissen reicheres Spiel. Sie hätte sich würgen mögen vor Ekel. Da stand er, ihr Ritter. Da stand Herr Emil Schnepfe im Empfangszimmer ihres elterlichen Hauses! Das war wohl die erste Vorbereitung zu einer neuen Auflage seiner beliebten Spezialität: dem Heiratsschwindel! Da stand er, wie er leibte und lebte! Ein Irrtum war nicht möglich. So lachte er, so sprach er, so verbeugte er sich ...

»Aber ich werde Ihnen die Suppe versalzen, Herr Emil Schnepfe!« keuchte Ruth. »Für mich sind Sie Luft!«

Sie überlegte blitzschnell.

»Mich bekommen Sie nicht zu sehen, mein bester Herr Schnepfe! Und da Sie nicht dumm sind, so werden Sie wohl merken, daß Ihr neuestes Projekt schon in zartesten Anfängen mißglückt ist. Sollten Sie das aber nicht merken, mein lieber und unternehmungslustiger Herr Schnepfe, so werde ich das tun, was ein vernünftiges Mädel unter solchen Umständen tut, und meinem Vater die ganze Geschichte erzählen! Wozu hat man denn schließlich einen Vater?«

Auf einmal schrak sie von neuem zusammen.

Was war denn das?

Neben diesem – diesem Emil Schnepfe stand jetzt der Rittmeister von Umbach und dieser Rittmeister benahm sich, als sei ihm Herr Emil Schnepfe Freund und Bruder und gottweiß was sonst noch. Er klopfte ihm auf die Schulter – er schob den Arm unter den seinen – er erzählte offenbar ihrer Mutter etwas über diesen Schnepfe – Nein, dieser Umbach war ja ein furchtbar guter Mensch, aber doch entsetzlich dumm! Da hatte er, der Mann, der Offizier, sich nun von diesem Spitzbuben hineinlegen lassen! Was mochte der ihm wohl alles vorgeschwindelt haben!

Wo er ihn wohl kennen gelernt hatte?

Und Ruth starrte und starrte und hämmerte ihre arme, kleine Seele zusammen zu härtestem Stahl.

Unerbittlich wollte sie sein!

Brutal!

Da kam Bruder Otto.

»Die alte Dame sagt, du sollst mal reinkommen,« berichtete er. »Umbach ist da. In den bist du übrigens ja auch verliebt. Und er hat einen Freund mitgebracht. Interessanter Mensch. War früher deutscher Offizier, hat aber seinen Abschied genommen, weil er eine große Erbschaft gemacht hat und nun den vielen Mammon verwalten muß. Minen in Brasilien –«

»Was?«

»Na, Bergwerke in Brasilien – weißt du nicht, was eine Mine ist. Schaf? Kolossale Bergwerke. Ist aber wirklich auch ein sehr netter Mensch. Umbach hat eben erzählt, oder er selber hat erzählt, daß er erst vor kurzem aus Brasilien zurückgekommen ist –«

»Aha!« sagte Ruth.

»Wie meinst du?«

»Ach nichts.«

»Na, dann unterbrich mich doch nicht immer. Das ist ja ekelhaft. Er ist also eben erst aus Brasilien zurückgekommen und ist ein sehr netter Mensch, und nun komm gefälligst mal rein!«

»Wie heißt der Herr?« fragte Ruth.

»Armbrüster.«

»Wie?«

»Armbrüster. Vornamen habe ich nicht verstanden. Jedenfalls ist er Freiherr. Freiherr von Armbrüster. Frag' doch nicht so gräßlich viel. Jetzt komm rein!«

»Das ist mir ganz unmöglich,« erklärte Ruth hoheitsvoll. »Ich habe rasende Kopfschmerzen und bin gänzlich außerstande, mich mit fremden Menschen zu unterhalten. Bitte, sei doch so freundlich, lieber Otto, und entschuldige mich bei der Mama. Es ist mir wirklich ganz unmöglich!«

»Rede, wie dir der Schnabel gewachsen ist!« schrie der Bruder. »Mit mir kannst du so etwas nicht machen, verrückte Schraube! Haste nun wirklich Kopfschmerzen?«

»Sonst würd' ich's nicht sagen, dummer Junge!«

»Na also – das kann man wenigstens verstehen. Ich werde also melden, daß du Kopfschmerzen hast. Persönlich glaube ich allerdings – es sind die Erdbeeren! Na, ich geh wieder rein.«

»Du, Otto!«

»Ja?«

»Und dann bitte Herrn von Umbach, er möchte doch mal zu mir herauskommen.«

»Für den hast du keine Kopfschmerzen?«

»Nein!« brüllte Ruth und stampfte mit dem Fuß auf.

Worauf Bruder Otto flüchtete, denn er kannte seine Schwester.

Ruth aber stand sehr nahe vor einem Tränenerguß.

Solch eine Frechheit!

Und wenn er ihr auch zehnmal einen großen, einen sehr großen Dienst erwiesen hatte, dann durfte er sich doch nicht in das Haus ihres Vaters einschleichen; nein, das durfte er nicht! Und wenn ihm etwas an ihr lag, dann mußte er arbeiten, mit Riesenkraft und eiserner Beharrlichkeit arbeiten, bis er die Vergangenheit gesühnt, bis er sich ein neues Leben errungen hatte und es dann wagen durfte, sie heimzuführen, und wenn sie auch beide darüber weiße Haare bekommen sollten und wenn es zwanzig Jahre dauerte –

Ruth fand diesen Gedanken so schön, daß sie beinahe geheult hätte vor Rührung!

– aber das durfte er nicht!

Da kam Umbach.

»Grüß Gott, liebes Fräulein Ruth,« begrüßte er sie. »Kommen Sie denn nicht zu uns?«

»Nein – ich habe Kopfschmerzen.«

»Ach, wie schade! Ich habe mir erlaubt, einen Freund in Ihrem Hause einzuführen, und ich möchte gern, daß Sie ihn kennen lernen.«

»So?«

»Ja. Er ist ein interessanter Mensch, aus bester Familie.«

»Wie heißt er denn?«

»Dorival von Armbrüster. Er war längere Zeit in Brasilien –«

»Ja, das hat mir Otto schon erzählt.«

»Hören Sie mal, liebes Fräulein Ruth, ich finde, daß Sie heute gar nicht nett sind!«

»Man kann nicht immer nett sein.«

»O doch, man könnte!«

»Weshalb haben Sie diesen Freund mitgebracht?«

»Weil ich ihn in Ihrer Familie einführen wollte.«

»So? Lieber Herr von Umbach, seien Sie mir nicht böse, wenn ich Ihnen eine Bitte ausspreche. Und wenn ich Ihnen für diese Bitte nicht die geringsten Gründe angebe. Ihr Freund gefällt mir nicht. Ich will ihn nicht sehen. Sie können ihm meinetwegen das sogar sagen. Und ich erwarte von Ihnen, daß Sie keinen Versuch mehr machen, ihn in unser Haus zu bringen.«

»Donnerwetter!« sagte Umbach.

»Es ist eine ernste Sache für mich,« fuhr Ruth fort, »und ich verlasse mich auf Ihre Freundschaft, lieber Umbach. Sie sind doch mein Freund, nicht wahr? Und unter Freunden kann man doch eine Bitte aussprechen, ohne eine ewig lange Geschichte zur Begründung erzählen zu müssen. Also – ich verlasse mich auf Sie, Herr von Umbach!«

Und weg war sie.

Umbach sah nur, daß sie schnurstracks auf das kleine Kiefernwäldchen im Park zulief. Er starrte ihr entgeistert nach. Sein ehrliches Gemüt versuchte vergebens zu ergründen, was das sonderbare Mädel wohl hatte, und welch eigentümlicher Laune er diesen bösen Hereinfall zu verdanken hatte. Das war ja niedlich! Und wenn er nur wenigstens wüßte, wie er Dorival diese Geschichte beibringen sollte!

»Nee – Frauenzimmer sind doch 'ne komische Gesellschaft!« orakelte er – »ich bleibe ledig!«

*

Der Rittmeister hatte Dienst vorgeschützt und den Besuch im Hause Rosenberg schleunigst beendet, denn der weiche Klubsessel, auf dem er saß, war ihm vorgekommen, als sei er mit glühenden Nadeln gepolstert. Auf dem Rückweg hatte er zunächst eine Viertelstunde in qualvoller Ueberlegung verbracht, wie er Dorival die unerklärliche Abneigung der schönen Ruth servieren sollte, und war dann schließlich recht plump damit herausgeplatzt.

Darauf war Dorival mitten auf der Straße stehengeblieben und hatte laut herausgelacht!

Hatte auch keinerlei Neugierde gezeigt, Einzelheiten zu erfahren, sondern sich so benommen, als ob ihn diese dumme Geschichte gar nicht weiter wunderte. Worauf sich der Rittmeister an der nächsten Ecke empfohlen hatte! Daraus sollte der Teufel klug werden! Aber bei der nächsten Gelegenheit wollte er die schöne Ruth gründlich ins Gebet nehmen –

Dorival aber saß trübselig zu Hause, rauchte eine tröstende Zigarette und lachte nicht mehr.

Er kam sich sehr schlecht behandelt vor.

Tatsache war und blieb doch jedenfalls, daß er dieser hochmütigen Ruth einen sehr wertvollen und sehr gefährlichen Dienst erwiesen hatte. Da hätte sie doch wenigstens anhören können, was er ihr zu sagen hatte, und hätte ihm nicht auf beleidigende Weise bedeuten lassen dürfen, daß er im Hause ihrer Eltern nichts zu suchen habe. Sie war doch wirklich gescheit und hätte sich sagen müssen, daß der Räuberhauptmann doch wahrscheinlich triftige Gründe hatte, wenn er es wagte, das Haus im Grunewald aufzusuchen. Sie hätte wenigstens nach diesen Gründen fragen können. Sie hätte doch –

»Unsinn!« sagte er.

Er überlegte:

Das Naheliegende war, fein säuberlich einen langen Brief zu schreiben und Fräulein Ruth auseinanderzusetzen, daß der Emil Schnepfe, den sie für diesen Emil Schnepfe hielt, nicht derjenige Emil Schnepfe war. Daß der Freiherr von Armbrüster zwar Emil Schnepfe gespielt hatte, aber dabei doch der Freiherr von Armbrüster blieb. Daß die verwickelte Geschichte mit einigem guten Willen auseinandergewickelt werden konnte! Daß eine einfache Erkundigung bei dem Rittmeister von Umbach die interessantesten Ergebnisse zeitigen würde! Daß hier das Leben wieder einmal bewiesen hatte, daß die getreuen Ritter schöner Damen doch noch nicht ganz ausgestorben sind!

»Quatsch!« sagte er.

Wo blieb denn die ganze schöne Romantik?

Nein, da wollte er doch lieber das Spiel noch ein wenig weiter spielen und in seiner Doppelgängereigenschaft als Spitzbube vergnüglich der Dinge warten, die ohne Zweifel kommen würden.

Vielleicht – schreibt – sie – mir! dachte er.

Dieser Gedanke war ein Beweis dafür, daß das ruhige Abwarten dem Herrn von Armbrüster doch durchaus nicht so vergnüglich war, wie er sich das einbildete.

*

Dorival rauchte weiter und dachte noch an einige andere Dinge. An die fehlende Legitimationskarte zum Beispiel. Die war und blieb verschwunden.

»Die Sache ist ganz klar,« sagte er sich scharfsinnig. »Mein – nee, Herr Emil Schnepfe, benützt natürlich meine Legitimationskarte als das geeignete Mittel, um ungefährdet auf Reisen gehen zu können. Wenn er klug ist, schüttelt er den Staub Europas von seinen Füßen. Ich gönne ihm von Herzen, daß er durchkommt. Aber neugierig bin ich, in welche Geschichten das Fehlen der Legitimationskarte mich nun wieder hineinbringt!«


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