Willy Seidel
Die Himmel der Farbigen
Willy Seidel

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Der Hinkefuß von Port Said

Gelbe Segel hingesprenkelter Fischerboote, schaukelnd in friedlicher Pärcheneintracht; – herübergeirrte Hornisse, zitronengelb schnurrend hinter runder Scheibe des »Stierauges«; zarte Silberstiftstriche dreier Schornsteine, auf weißem Faden aufgereiht! – So meldet sich der Koloß Afrika. Dann kommt dies unendlich klarfarbige und plastische Gewimmel, der äußerste Zipfel des Deltas: Port Said . . . Du hast kaum Anker geworfen, so stürmt dir diese Stadt schon entgegen. Vorläufig sind es Horden von Geldwechslern, Teppichhändlern und solchen, die den Verschleiß von Straußfederfächern zum Daseinszweck erkoren haben.

Du kämpfst dich durch und kommst an Land. Hier wird das Straßenhändlertum, werden die aufdringlichen braunen Hände, die dir phantastisch unnützen europäischen Exportschund unter die Nase stoßen und an deinen Kleidern zupfen, zu einer wahren Pest. Dein Gesicht läuft krebsrot an; kaum kannst du Luft bekommen. Zuviel sind der Verlockungen, der Suggestionen. Schließlich brüllst auch du; und was brüllst du? »Emsch j'allah!«

Bis die nächste frische Horde um die Ecke streicht, hast du für fünf Minuten Ruhe. Sie weichen zurück; sie grinsen breit; du hast gerufen: »Geht mit Gott«; aber du hast es zornig gerufen. Darin liegt Komik, und die arabischen Leichtathleten und Kurzstreckenchampions empfinden das. Es ist erheiternd, wenn man Segenswünsche im Tonfall der Verfluchung äußert. Manche schlagen sich auf die Schenkel, so daß der ganze Kramladen an ihrer Brust ins Klirren kommt, und kopieren dich bellend, grölend, atemlos vor Lachen: »Emsch j'allah!«

Nun aber geschieht mir etwas hier, und das muß ich registrieren. Mein Ägypten von 1913 erkennt mich wieder. Es schickt mir einen Schirmherrn, einen »Abu Nabbut«, einen »Vater des Knüppels« – irgendwoher taucht er auf, magnetisch angezogen von meiner Not. Er ist gar nicht repräsentativ. Ein magerer, gebeugter Fünfziger, blatternarbig, dunkel brennenden Auges, in einer dunkelblauen Kelabije aus ehemals besserem Stoff – So kriecht er wie eine Spannerraupe in der Luftlinie heran. Man wende nicht ein, dieser Vergleich hinke! Er schwingt sich, dieser Bresthafte aus der Hefe, an zwei Krückstöcken herzu, fast zwei Meter deckend bei jedem Anhub; zähneknirschend, hohläugig, mit aller Energie wütendster Servilität . . . Und bei der Gruppe meiner Peiniger angelangt, schreit er wie eine Posaune ein unvergeßliches Wort. Er schreit nicht, auch ihm gebühre ein Plätzchen an der Sonne, am »Herrn Baron« oder »Kapitän«; er nennt sie nicht auf saftiges Vulgär-Arabisch »vor Allah verworfene Abfallprodukte«, »Rinnsteinerzeugnisse«, oder, näherliegend etwa: »Söhne von sechzig Hunden« – nein, während sein Arm mit erhobener Krücke wie ein Fledermausflügel flattert, schreit er mit aufräumender Stimme: »Gehn Se weck!! Ach!! Gehn Se weck!!«

Was? Wie ist das? Höre ich recht? Ägypten selbst, das mir zu Hilfe eilt und sich der Potsdamer Zunge bedient? Deutsch lispelnd, nimmt mich das Tausendjährige ans Herz? – – Und siehe da, es erweist sich: der Alte an den zwei Krücken ist eine Straßenmacht! – Die Kerle grinsen und weichen, die Horde läßt ab, der ganze Kitsch verflüchtigt sich, Augen rollen von mir zu ihm; und noch immer vor mich hingepflanzt, beide Krücken abwechselnd schwingend, gewaltige dunkelblaue Schutz-Fledermaus, bellt er ihnen nach: »Gehn Se weck! – Ach!! Gehn Se weck!«

Nachdem er solchergestalt Beweise seiner Macht gegeben, entblättert ein unsagbar dreckiges Stück Papier, auf dem vermerkt steht: »Take this man. He cheats you less than the others.« Mit dem Stempel eines – offenbar nicht unsachlichen und unwitzigen – englischen Bureaubeamten. Er sieht mich voll fanatischen Selbstvertrauens an. Er weiß: »Dies Papier ist gut. Superlative stehen nicht drin, Allah weiß es. Aber auf die Ingliz wirkt es wie Zauber.« – Mit einem Schlag wird mir klar, woher die Straßenmacht kommt. Offiziell beglaubigte Tugend ist's, die diesem Einäugigen unter Blinden die Segel bläht. In dieses Stück Papier ist das Schicksal seines früheren und zukünftigen Lebens verwoben; sein Amulett ist's, seine magere, doch stetig anzapfbare Stallziege, sein moralischer »mascot« und Neutralitätswimpel; und in diesen von Fliegendreck, Kaftanschweiß und fettigen Medikamenten besudelten Fetzen Kanzleipapier ist er hineinverbissen wie eine Dogge. Ich kann mir die von Diebesangst schwangeren Nächte denken, wenn er ihn in den Turban hineinpraktiziert, unter die gestickte Kappe vielleicht, eng an seinen armen, trüben Fellachenschädel. Er kann, wie sich herausstellt, leidlich gut Englisch; doch den finsteren Humor des Schriebs, das »Vonhintenherum« der Lobeserhebung – das schiebt er aus seinem Verständnis fort. Es gibt andere beglaubigte Fremdenführer, gewiß, die haben schöne lange Zeugnisse, die von Ausdrücken wie: »excellent« und »reliable« nur so strotzen. Er sticht sie aus. Er weiß den Grund nicht, die Tatsache genügt ihm für seine alten Tage.

Ich lache also und nicke. Der Imperator der Gasse hierauf schreit hohlen Tons und voll; der Laut zerspaltet sich an vier Ecken, und schon ist eine Gummidroschke zur Stelle. Der Berberiner Kutscher zieht das Maul schief, als er das wandelnde Gewissen seiner Kaste sieht, und der »Vater der Ehrlichkeit« klettert an seinen Krücken zu ihm auf den Bock hinauf, ohne daß jener sich zur Hilfeleistung rührt. Eine strenge Taxameteruhr des lieben Gottes bist du, empfinde ich gerührt; und dann bin ich wieder unterwegs auf der alten, rauschartig gleitenden, traumähnlichen Zweistundenfahrt in langsamem Trab, gewiegt von Brisen und Gerüchen, vorbei an endlosen, schwarz starrenden Augenpaaren und den Flüsterwellen halbheller Basare.

*

Mit allen Fibern sauge ich in dieser modernen, unechten Hasenstadt, in der sich doch das uralte Treiben niederließ wie ehedem und immerdar, diesen Orient wieder in mich ein. Geblähte Gesichtsschleier, weiß gekalkte Moschee im intensivsten Kristallblau . . . Daud am Schöpfrad, den ich hier erlebt, Hassan-Bey-Muharram, der Diener der Verworfenen, sie werden wieder in mir lebendig und lächeln über zwölf Jahre hindurch ihr altes, etwas eitles, gleichbleibendes östliches Lächeln – über zwölf von ödem Gepolter, blechernen Schlagwörtern und trüber Zersetzung erfüllte Jahre! . . . Sie gehen, kleiner Schuhputzer und Straßentaschenspieler, kindlich die Hemden gerafft, oder als feiste, guttural schwatzende Herren im Tarbusch, plastisch und doch schemenhaft an mir vorbei. Oh, über die weisen Opportunisten und sonnigen Tagediebe! – Und mitten unter ihnen, die Faust im Starrkrampf schier vor nervösem Behauptungsdrang und kahlem Machtwillen, die Sperbernase witternd im Schatten des Tropenhelms: England . . . Mit Konzessionen pflastert es seinen Weg, Zugeständnis über Zugeständnis macht es an die sonnigen Opportunisten, an die ägyptischen Parlamentarier, an diese empfindlichen, umhergescheuchten, immer hoffnungsfrohen, immer enttäuschten Herren: doch sie drehn ihm lächelnd und schmeichelnd jetzt manches aus der Hand, denn nie war eine Überzeugung reifer und brünstiger als die des Zaglul!

Und wir, die Parias unter den Weißen? Die diskreditierten Halbbrüder, gegen die man Farbige hetzte . . .? »Gehn Se weck! – Ach!! Gehn Se weck!« schreit Mohammed-abul-Sikr und wedelt mit beiden Krücken . . . Dieser Pascha der Gasse nimmt uns in Schutz, umzirkelt uns, krückenschwenkend: »hands off!« – Wen ich heranlasse, den läßt auch er heran. Stelle ich mich taub (er belauert meine Miene), so stempelt er das feilschende Geschöpf zum Auswurf. Polizisten grinsen. Er hat mich gepachtet. Er setzt sich, pompös auf seine Krücken gestützt, an den Nebentisch. Er verwaltet meine Einkäufe; läßt es sich nicht nehmen, unter blumigster Inanspruchnahme des höchsten Wesens und Hineinbeziehung seiner Mutter, meine Pakete selbst zu schleppen und zu bewachen. Er drückt die Preise erbarmungslos, fanatisch glühenden Blickes. Ummurrt vom Pöbel, dem er das Geschäft verdirbt, thront er bei gespendeten Zigaretten und Kaffee, als habe ich ihm einen lebenslangen Vertrauensposten samt Altersversorgung geschenkt. Bei Engländern, das weiß er, kriegt er Fußtritte und herbes Nasenpusten als Entgelt. – Bei Deutschen nicht. Die lassen ihn leben und mitverdienen; sein Gebresten ist ihnen nicht gleichgültig. In seinen tiefliegenden Augen liegt eine schattenhafte Erkenntnis dessen, was uns von jenen trennt . . .

Nun aber röchelt die Schiffssirene; man muß an Aufbruch denken. Diesmal geht es zu Fuß zur Pier zurück, und der »Vater des Knüppels« mit großen, schwingenden Hopsern, bahnt mir eine Bresche. Ich habe mir, trotz seines finsterergebenen Protestes, selbst einen Teil der Pakete aufgeladen; er läßt es nur geschehen, weil es im Hinblick auf seine Bresthaftigkeit geschieht. »Toktok«, sagte seine gehöhlte Zungenspitze mit Schnalzlauten am Gaumen – »ein edles Herz hat dieser Effendi . . .« Schier bedauernd blickt er mich an, doch es gibt eine Brücke, die sich von krankem Alter schlagen läßt hinüber zu beschwingten Jahren, und die hat nichts mit Hautfarbe oder Kaste zu tun . . . So akzeptiert er's; seine Ärmel flattern; seine Krücken krachen rhythmisch aufs Pflaster . . . Am Motorboot bekommt er die ausgemachten zwei Schilling.

Nun ein letztes Erstaunliches: gibt man einem Araber hier einen unter Beteuerungen und Unterbietungen der anderen vorher vereinbarten Tip, so meint er selbst, und der Effendi meint es im Grund auch – das Doppelte. Sonst wird das Geld zu heiß in der braunen Hand; sie schlenkert es zurück, und es kühlt nur ab, wenn es mehr wird. Dieser jedoch nimmt die zwei Schilling ohne Gezeter, ohne Schreckschüsse; nimmt sie still und selbstverständlich. Er bekommt einen draufgelegt; ei, da freut er sich.

Ich seh' ihn am Kai stehen, den alten, rissigen Mund wie flötend gespitzt, hingerissen auf die Stütze beider Krücken, denn die andere Hand vollführt das Salaam. Ich höre noch die dringliche Frage in schlechtem Englisch, wann ich wiederkomme; dann sei er wiederum mein Mann.

Fern, als Silhouette gegen das staubige Abendrot, voll grotesker Krümmungen und Streckungen, entschwindet er.


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