Willy Seidel
Der Garten des Schuchân
Willy Seidel

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Der neue Gott

I

In ihrem besten Alter kam eine blonde Pariser Puppe mit changierendem Kleidchen in den Besitz von Klein-Edith, der Tochter eines später emeritierten Kolonialtruppenführers aus der Zeit, da Sansibar englisch wurde. Ein Suaheli stahl sie und verkaufte sie einem Bantu, der einer der ersten, noch schüchternen Expeditionen als Proviantträger zugeteilt war. So gelangte sie, abgegriffen, unter der Plage des Steppensonnenbrandes in das Innere, über Mombassa bis Taweta am Lumi; und hier war es, wo der Häuptling auf dem Kilema, Fumbo, sie erwischte.

Die Kunde dieses Götzen auf dem ziegelroten Parasitenhügel verbreitete sich zauberschnell in den Dschagga-Staaten am südlichen Kilema-Ndscharo. Kleine Wallfahrten wurden unternommen, und selbst der einäugige alte Mandara, der sonst in seinem Dorf auf seinen Privat-Fetisch zu schwören pflegte, schickte eine Deputation zur Anerkennung auf den Kilema. Denn Fumbo hatte mit diesem Gott den Vogel abgeschossen.

Alte Fehden zwischen den verschwägerten Häuptlingen und Grenzstreitigkeiten schienen einzuschlummern. Der gelbhaarige Götze verbreitete Frieden in dem großen Bananengarten. Seine Lippen waren schnippisch gerümpft und seine Glasaugen lächelten. Da aber geschah es, daß die Massai, die im Norden 152 des Großen Berges leben, sich von ihren Weibern weiße Kleckse in die kriegerischen Gesichter pinseln ließen, ihre mannshohen Schilde hervorholten, ihre blattförmigen Lanzen schwangen und zum Zweck des Viehraubes um die Ecke brachen, um den Wadschagga einen Streich zu spielen und den einträglichen Götzen in ihre eigenen Kraale zu schleppen. Denn sie hatten keinen guten Hirsefrühling, und die Tsetse-Fliege war besonders reichlich von den Njiri-Sümpfen herübergeschwärmt. So mußte denn Fumbo darauf bedacht sein, den Götzen zu retten, verbündete sich mit einigen Dorfdespötchen und eilte mit großem Lanzengerassel und Geschrei an den Lumi. Die beiden Parteien tanzten an den Ufern eine große bestialische Quadrille, aus der die Straußfederhelme der Massai hervorblinkten; die Korbschilde wurden mit vergifteten Pfeilen gespickt, und die schiefergrauen Leiber purzelten übereinander. Aber die behäbigen Wadschagga wurden zu Tigern, da es um ihren Gott ging, und zum Schluß jagten sie die Eifersüchtlinge zurück. Unter inbrünstigen Freudegesängen, an denen sich die Weiber mit rhythmischem Refraingekreisch beteiligten, zog man zum Kilema zurück mit dem opferwilligen Vorsatz, dem Gott eine Serie der besten Massaikrieger zu schlachten und den Appetit mit einem wochenlangen Gelage vom Most der Mkindu-Palme anzufeuern. Doch, o Jammer! der Gott war fort.

153 Er war fort. Die Medizinmänner trauten ihm zwar eine ganz besondere Begabung zu: doch daß er selbsttätig fortspaziert sei, war auch ihnen unwahrscheinlich. So mußte er gestohlen sein: und die ganze Bataille war umsonst geliefert. Man suchte ihn fieberhaft und fand ihn nicht. So rückte man denn den abgesetzten früheren Götzen an seine Stelle, der lange Zeit auf einem Ziegendunghaufen ein mißachtetes Dasein gefristet – ein geschnitztes und scheußlich bemaltes Idol, ein phallisches Phantastikum aus Fasern, ockergelb und zinnoberrot –, und gewann ein altes Vertrauen zu ihm, als die Saat ungeschmälert weiterreifte.

Wo aber war er, der Volksbeglücker?

Nordöstlich vom Kilema, am Himoflüßchen, hauste ein junger Häuptling namens Mareale und herrschte über die siebenhundert Seelen seines Völkleins im besten Einvernehmen mit sich und der Umgebung. Marangu hieß sein kleiner Staat, und sein Dorf war vorbildlich sauber und friedlich. Diesem jungen Mann war es eingefallen, – wer kann wissen, aus welch dunklen Beweggründen? – die Palisaden seines Heims zu verlassen, auf eine strapaziöse und gefährliche Art allein und unbelauscht zum Kilema hinüberzuhuschen und sich in den Privatbesitz des Gottes zu setzen.

Vorerst wagte Mareale nichts anderes zu tun, als die Puppe unter einer Matte zu verstecken und sich mit seinen Gattinnen darauf zu betten. Denn er traute 154 ihr unerhörte Fruchtbarkeitsbeförderung zu, er, der seinen Leibesstamm sehr zu vermehren gedachte. Das wäre nicht unbedingt nötig gewesen, denn in dem geräumigen Bienenkorb, den er bewohnte, gab es bereits an ein Dutzend kleiner, schiefergrauer Prinzen, die Maiskolben knabberten und an den Eutern der langhaarigen Ziegen schlürften. Diese wolligen Ferkel hätten sein Vaterherz mit Genugtuung füllen sollen; doch Mareale war von dem Ehrgeiz besessen, die Abbilder seiner Person bis an zwanzig oder dreißig aufzurunden; das nahm er sich von Rechts wegen heraus, und kein Mensch konnte es ihm verübeln. Es war vorgekommen, daß eine Seuche kam, ein Kinderhusten oder Euterblattern; und dann – so kalkulierte er – blieben ihm immerhin noch genug Thronfolger zurück, die später berufen waren, ein großes Reich auf verwandtschaftlicher Grundlage zu gründen, in dem er selbst präsidiere. Ja, Mareale war ein Sonderling. Siebenhundert Seelen genügten ihm nicht. Sein Ehrgeiz war geheim und nagte an ihm; er hütete ihn und widmete ihm müßige Zeit. Und er war noch jung, an zweiundzwanzig Jahre!

Er war schön. Er trug sein Haar in Zopfschwänzchen, liebevoll gedrehten Schwänzchen, und steckte bemalte Holzstäbe hinein. Seine Ohrlappen hatte er prächtig mit einem kupfernen Ring auseinandergezerrt, so daß sie ihm schier auf die Schultern baumelten. Seine 155 Haut, schiefergrau in ihrer Grundfarbe, hatte einen bräunlichen Hauch, und er war schlank und stolz gewachsen. Seine Augen waren groß; die pechschwarze, träumerische Pupille, in eine bernsteingelbe Iris gebettet, hatte einen durchdringenden Glanz. Die platte Nase mit herrischen Nüstern nahm einen kleinen Anlauf zu edlerer Biegung, und die wulstigen Lippen pflegten sich zusammenzupressen und nicht schlaff auseinanderzuklaffen, wie die seiner Volksgenossen. Seine Hände waren feucht und warm wie Sammet. Eine Kette von Glasperlen umgab seinen Hals. Er war fürstlich, Mareale.

Am zweiten Tage, nachdem er die Puppe versteckt, hörte er auf einmal während einer Siestastunde einen drollig quarrenden Laut, der ihn mit tiefem Entsetzen erfüllte. Er jagte Weiber und Kinder hinaus und holte den Gott mit zitternden Händen aus dem Versteck hervor. Der Gott hatte gesprochen, hatte sich beklagt. Doch nichts in seiner Miene hatte sich geändert. Mareale setzte ihn hin, ging vor die Tür, schrie mit heiserer Stimme eine eintönige Lautfolge heraus, die so viel bedeutete als: »Laßt mich eine Zeitlang allem, niemand hat Zutritt,« und überließ sich in der dämmerigen Hütte seinen Meditationen.

Seine Phantasie war auf eine unbestimmte Art angeregt. Er betastete die Puppe, roch an ihr, zupfte ihre Kleider auseinander und untersuchte sie mit einem 156 Ausdruck schwermütiger Grübelei. Er hatte sie gestohlen und wollte sie behüten. Er würde sie verteidigen, ihren Besitz mit dem Leben verteidigen. Sie kam ihm sehr kostbar vor; er würde sie nicht um zehnmal zehn Doti, um tausend Armlängen Weißzeug hergegeben haben.

Er stopfte sich seine primitive Pfeife voll junger, in der Sonne gedörrter Tabakblätter und entwickelte einen ätzenden Gestank. Sein Hirn war voll von ungeborenen Spekulationen. Wenn man wüßte, daß er diesen Gott besitze, würde man überall in Aufruhr geraten. Segen über Segen ging von seiner Hütte aus; sein war die Macht, sein der geheime Schatz. Er hatte gesprochen, dieser Gott; »Mjä – mjä« hatte er gesprochen. Ein Gott, der sprach, war eine Rarität; sein Stamm würde blühen, solange er den Gott besitze. – Er spekulierte, daß seine Brauen schier einen Krampf bekamen, so tiefstirnig zog er sie herab. Seine weichen Wimpern bedeckten die großen Augen zur Hälfte; er sah und hörte nichts. Er schüttelte sich vor Vergnügen, dieser Sonderling. Dann spie er einen Nikotinspritzer auf den Boden, packte die Puppe an ihrem flachsgelben Haar und schob sie wieder unter die Matte. – Und als es Nachmittag war, ging er auf den Dorfplatz und hielt große Reden, die verzückt klangen und nach »Medizin« rochen. Aber mit keinem Worte tat er seines Geheimnisses Erwähnung, wiewohl die 157 Tempelschändung auf dem Kilema der Schwatzhaftigkeit reichste Nahrung bot.

Die Unterhaltung drehte sich ausschließlich darum. Die Leute hockten, bis zur Nasenwurzel in ihre Gewänder gewickelt, im Halbkreis um ihn herum und schnitten, da ihr Gestenspiel dadurch behindert ward, die beweglichsten Grimassen. Mareale, in einer wunderlichen Erregung, übernahm den Hauptteil, und seine Rede war mehr polternd als fließend. Er schöpfte mächtig Atem, bevor er ansetzte, und der Satz fuhr ihm ohne Interpunktionen aus der Kehle. Er sang und gestikulierte; er schlug mit einem Holzklöppel den Takt. Alle schwiegen, da nur jeweilig einer zu reden pflegte. Wenn Mareale anhob, wiesen sie den vorherigen Sprecher dadurch zur Ruhe, daß sie mit den Zungen nach dem Häuptling bleckten. Nachdenkliche Pausen entstanden, die nur durch ein Ziegenmeckern – wie durch hämisches Gelächter – oder Gackern von Hühnern unterbrochen wurden. Die Weiber saßen im Hintergrund und mahlten Hirse in Steinpfannen. Mareale war heute sehr splendid; er hatte ein Schwein für seine Räte ausgeworfen.

Er hatte überhaupt mancherlei geäußert, was den Grauköpfen nachdenkenswert erschien. Dergleichen Gesprächstöne hatten auch die Gäste aus Rombo und Useri noch nicht vernommen, die vor den Massai nach Marangu geflüchtet waren, sich aber vorerst noch nicht 158 von den Fleischtöpfen des beschaulichen und gastlichen Völkchens zu trennen vermochten. Mareale entwickelte revolutionäre Ideen. Die allgemeine Lethargie, die über dem Dorfleben lastete, war hinweggescheucht. »Gut!« schrie Mareale. »Dem Fumbo ist der Gott gestohlen. Was braucht Fumbo einen Gott? Dieser Gott war zu gut für seine Yams-Wurzeln und Bataten. Der Gott ist nicht gestohlen, denn wer stiehlt einen Gott? Die Wadschagga sind blind. Es ist ein besonderer Gott. Er ist von selbst auf und davon gegangen. Er ist auf den Kibo gestiegen. Ich sah ihn. Ich, Mareale!«

Den Grauköpfen stockte der Atem. Kaum hatte Mareale seine lebhafte Rede geendet, als sie unisono einfielen: »Er hat den Gott gesehen! Er, Mareale!« Sie sangen und modulierten diesen Satz, denn er war erstaunlich; er zog hart und überwältigend in ihre Köpfe ein.

Als das Geschrei verhallt war, blieb Mareales Stimme wiederum zurück. Er ergriff den Klöppel und hieb nach jedem Satz zur Bekräftigung auf den Boden.

»Er ist vom Kibo, dieser Gott. Seine Farbe ist Schnee-Farbe, und sein Haar ist Mais-Haar. Was brauchte er auf dem Kilema zu sitzen? Er geht umher, wann er will. Er lachte, als ich ihn sah. Er ist mir wohlgesinnt. Er bleibt nicht bei Fumbo und nicht bei 159 Mandara von Modschi. Er will uns wohl und wird unsere Felder segnen.«

Mareale schlug sich mit der flachen Hand auf die Brust.

»Der Gott lachte und sprach. Welcher Gott spricht? Er sprach zu mir und sagte: Mareale, du wirst viele Kinder bekommen, du wirst gedeihen, du sollst auf mich rechnen, Mareale! Du bist schön, du bist großartig! Ich gehe nicht zu den Massai, die Massai sind lächerlich. Alles soll dir gehören, Mareale! Alles sollst du bekommen!!«

Nachdem der Häuptling sich so geäußert, saß er still da und begann zu essen, indem er das Schwein mit einem Lanzenblatt tranchierte. Auch die Greise und die übrige Korona griffen zu, und aller Mäuler schmatzten. Sie dachten angestrengt über diesen unerhörten Fall eines sprechenden Gottes nach und blinzelten vor Ehrfurcht und Erstaunen. Sie waren aufgeblasen und vergnügt, denn Mareale hatte sie überzeugt, daß er ein kostbarer und einzigartiger Häuptling sei. Nach der Mahlzeit floß der Most, und die tönernen Gefäße leerten sich. Das Ende dieser Idylle ging in einem großen, kriegerischen Stimmengewirr unter.

Mareale indessen stand auf und wandelte umher, denn das Blut war ihm zu Kopf geschossen. Ein Palissadenzaun gewährte einen Durchblick: da konnte er hinuntersehen. Er stand da und blinzelte geblendet über die 160 Palmblätter hinweg, die, noch zerschlissen von der Regenzeit, groteske Büschel in die Luft hoben oder neue grüne Rollen auseinanderspreizten, blanke Rollen, die sich wollüstig der Sonne boten.

Der Himmel war tiefblau, von weißlichem Metallglanz; und die Konturen aller Dinge waren von diesem köstlichen Blau filigranfein gerändert. Der Mawensi-Krater, der duftumsponnen ferne wie ein zarter Schatten über dem oberen Urwald schwebte, ward von warmen Lüftchen gekitzelt, und ein Teil des Schnees rutschte in die Farren- und Dracänen-Zone herab. Und der Lumi! Mareale konnte ihn ferne sehen, wie er blitzte; sein Rinnsal strotzte; es war frisch genährt. Mareale folgte ihm in Gedanken bis zur Quelle. Durch grünes Dunkel von Papyrus und Euphorbien stieß und schnob der junge Fluß; pfeilschnelle und phantastisch gefärbte Falter blitzten über ihn dahin. Er bohrte sich, übermütig drängend, durch einen Wust winterlicher Luftwurzeln, und zum Schluß, nach fröhlichen Gefällen, zog er bedächtig in den Dschibe-See, um die Köpfe von Flußpferden zu schaukeln und Schwärme von Störchen und Flamingos zu spiegeln, den Vögeln von der Farbe der ersten Frühe.

So tat der Lumi, und so taten alle Wässerlein, deren Wiege an der Urwaldgrenze steht; sie rumorten und füllten drunten die Mulden und Kanälchen; Tabak, Hirse und Mais schossen ungebärdig ins Kraut; die 161 Zuckerrohrstecklinge streckten ihre Knoten, wie Meß-Stäblein auseinanderdringend, mit schmalem, hellgrünem Blattgefieder . . . es war eine gesegnete Zeit.

II

Mareale fühlte den Frühling; irgend etwas keimte in ihm auf und bedrängte ihn. Er ward übermütig und ging in seinen Bienenkorb. Als es Nacht geworden war, zog er die Puppe hervor, nahm sie in den Arm und trug sie auf den stillen Dorfplatz. Hier setzte er sie zwischen die Wurzelkanten des ehrwürdigen Baobab, der wie ein schwarzer Koloß im schwachen Sternenlicht vor ihm stand, und holte sodann seinen Federkopfputz, seinen Fellmantel und seine Beinringe hervor. Er trat leise heraus, mit den Bewegungen eines Diebes, und stellte sich steif und kerzengerade vor dem Baume auf. Flatternden Blättern ähnlich, umschwebten ihn riesige graue Spinner; ein endloses Insektengesurr ging von den Zweigen aus. Mareale begann sich rhythmisch zu bewegen; und dann umtanzte er den Baum. Seine Beinringe klirrten leise. Der Gott nahm die Huldigung entgegen. Als die Ekstase dieser schweigsamen Andacht ihren Höhepunkt erreicht hatte, warf er seinen Putz und seinen Mantel hinweg, löste die Spangen von den Waden, ergriff den Gott und sprang über den Palissadenzaun. Hier unten 162 durchschlich er die Kulturen. Er ließ den Gott viele Keime betasten, mit der kleinen, halbzerbrochenen Hand streicheln und berühren. Er sprang über Wassergräben und Mulden; er eilte durch Mimosenhaine, wand sich durch Dornsträucher, deren gelbe Blüten einen Veilchenduft ausströmten, und die Aloë wetzte ihre messerscharfen Blätterspieße an seinem nackten Bein. Und als der Gott alle Fruchtarten, die in Dschagga gezogen wurden, persönlich berührt hatte, ging Mareale, mit einem Blick auf den schneeflimmernden Kibo, tänzelnd wieder zurück.

Da es nun Sommer war, zogen die Hartebeest-Antilopen in das Gestrüpp, und die Löwen machten die Nächte laut. Der Sommer war schwer wie Blei; eine Hitzwelle trieb von der Nika-Steppe in die grüne Zone hinaus. Aus dem Dorfplatz lag die Sonne; weißer Staub hob sich in Pulverwölkchen, wenn sich die Schafe mit ihren Fettbeuteln an der Kehle oder die schiefgehörnten Ziegen nach Futter regten.

Ein schwerer, ungreifbarer Duft war aufgequollen; alle Kreatur verdaute den Segen des Sommers. Die Hütten knisterten vor Hitze und entsandten zuweilen kleine Rauchfäden: dann wimmelte die blanke, nackte Jugend aus ihnen hervor und spritzte fauliges Zisternenwasser auf die glimmenden Stellen. Die Leute hockten vor den Hütten. Sie kauten Blätter, ohne sie zu essen; sie hatten die mageren Schenkel gespreizt, und 163 ihre Schädel, an der Wölbung haarlos, glänzten wie poliert. Irgendwo stank ein halbzernagter Fleischrest, und ein kleiner, blauhalsiger Geier hackte mit eintönigem Geräusch darauf los.

Mareale saß zusammengezogen auf seiner Bastmatte. Er trug den alten Ausdruck schwermütiger Bekümmernis. Er war verändert.

Was war in dieser letzten Nacht geschehen?

Er hatte wochenlang mit dem Gotte Konferenzen gepflogen. Er hatte ihn hervorgezogen und ohne Aufhören betrachtet, und sein Auge war träumerisch davon geworden, und sein Hirn verwüstet.

Es wäre gut gewesen, wenn er den alten fratzenhaften Fetisch, seiner eigenen Hände Werk, weiter verehrt hätte. Diese Puppe aber hatte ihn allgemach zu Vergleichen angeregt, und das war eine Geistesbetätigung, die völlig erschöpfte und auf fremde Bahnen brachte.

Und in der Nacht, da war es seltsam über ihn gekommen, so daß er seine eigene Haut und sein eigenes Gesicht mit musternden Händen absuchte; seine wulstigen Lippen, seine platte Nase, seine prächtige Tätowierung und anderes mehr, was ihn sonst entzückte und in eine großartige Eitelkeit einwiegte, eine übermenschliche Eitelkeit, baumfest begründet und von seinen siebenhundert Seelen jederzeit anerkannt. Dieses Selbstgefühl hatte einen Riß bekommen. Mareale war unglücklich. Er wünschte sich, so schön zu sein wie 164 dieser Gott; er wünschte sich Schnee-Farbe und Mais-Haar, wie es die Puppe besaß, die mit ihren schnippischen Lippen in einer unerreichbaren Vollkommenheit lächelte und mit ihren seelenvollen Augen zu dem kegelförmigen Hüttendach emporstarrte.

Daran, daß Mareale klar gefühlt hätte, was er sich wünschte, ist kein Gedanke, weil er überhaupt mit Vergleichsvermögen nur andeutungsweise ausgestattet war. Der arme schwarze Kerl plagte sich mit etwas Höherem ab; er hatte eine Art Ideal, das sich tückisch in sein Negerhirn einzuschmuggeln verstand, ohne daß er es bewußt mit sich in Verbindung setzte. Das Ende und der Höhepunkt dieser seltsamen Versunkenheit, dieses Versuches, bei sich einzukehren, war, daß er zu sich sprach, »mimi menyewe« – »ich selbst« – und sich mit Furcht und Schauder eine ganz kurze Zeitspanne hindurch isoliert fühlte.

So trug er Groll im Herzen, Groll gegen das unschuldige Ding aus Werg und Porzellan. Und wenig fehlte, er hätte die Hand tätlich dagegen erhoben. Dazu kam noch, daß er es verstecken mußte, daß es sein Geheimnis war; und dies Geheimnis wurde ihm bei seinem sozialen Empfinden mit der Zeit sehr unbehaglich und unbequem.

Wenn man einen großen Sprung tut, so steht man zunächst betäubt da und hat keine Empfindung von der Umgebung. So ging es auch Mareale, der 165 plötzlich den gewaltigen Satz ins bewußte »Ich« hinübermachen durfte, und der eine dunkle Anwandlung spürte, zu fragen: Was bin »ich«? Wodurch unterscheide »ich« mich von »anderen«? – Was macht die Köstlichkeit dieses Gottes aus? Warum kann »ich« nicht so sein wie »er«? – Diese kindlichen Fragen erregten ihn; es war das erste philosophische Problem, das er zu knacken hatte, seit er, zehnjährig, auf das Faulbett seiner bevorzugten Stellung gekommen war. Er versuchte, der Sache näherzukommen, doch wollte sein Verstand nicht mit, und er scheuchte die Gedanken mit einer resignierten Bewegung der flachen Hand aus der Hütte.

Aber sie kamen wieder. Sie umkreisten summend seinen Kopf. Mareales sechzehnjährige Favoritin, die hundert Rinder gekostet hatte, mußte es sich gefallen lassen, daß er sie heftig anraunzte und hinauswarf. Die älteren Jahrgänge, die draußen in einer Reihe vor sich hindämmerten, grinsten breit und gedankenlos. Sie saßen wie die Hühner, und ab und zu machte eine Alte, die ihre lederne Haut wohlgefällig an der Sonne röstete, eine kurz gackernde Bemerkung, die ein murmelndes Echo fand. – Doch die Gedanken des einsamen Mareale wollten nicht weichen. Unter der Decke ragte der halbzerkrümelte Beinstumpf des Gottes hervor, als strecke er ihn neckisch und verhöhnend in die Höhe. »Ich bleibe immer dasselbe,« schien das 166 Bein zu sagen. »Ich bin weiß, appetitlich und überhaupt anbetungswürdig. Und du bist ein dummes, phlegmatisches Geschöpf, Mareale.« Mareale drückte die Puppe ein wenig auf den Bauch. »Mjä, mjä,« sagte die Puppe. Er schrak sehr zusammen. Doch die Weiber hatten nichts gehört; keiner der Köpfe hatte sich in dem Eingangsloch der Hütte gezeigt.

Mit der Zeit bekam Mareale einen tiefen Grimm. Er ließ den Gott mehrmals schreien und freute sich innig darüber. Offenbar besaß der Gott doch nicht die Kraft, ihn abzuhalten. Da wuchs der Mut des Häuptlings; er spannte die Puppe auf eine Tortur, zog ihr den Werg aus dem Beinstumpf und warf sie auch einmal in die Höhe, daß sie wie ein bunter Fallschirm wieder herunterfiel. Mareales Eitelkeit war wiederhergestellt. Er wiegte sich in seinem Machtbewußtsein – ha, er, Mareale, mißhandelte den Gott, er spielte mit dem Gott, um den sich die Massai und die Wadschagga blutige Köpfe geholt! Er war großartig, er, Mareale!

Seine gute Laune wuchs. Er ward fröhlich; er ward unheimlich vergnügt. Er stopfte die Puppe wieder unter die Decke und fühlte sich als Despot. Und da ihm so wohl war, schrie er mit heiserer Stimme wiederum eine unendliche Lautfolge heraus, die er vor innerlichem Behagen zur Hälfte wiederholte und mit verzierenden Vokalen ausstattete; es ging alles auf 167 Kosten eines einzigen Atemzuges, den sich nur ein so breiter Brustkasten gestatten konnte, wie ihn Mareale besaß. Er grinste und zeigte seine elfenbeingelben, ausgefeilten Schneidezähne dabei; und der Harem am Hütteneingang schrak auf und wackelte herein.

Zwei Stunden mochten verflossen sein, da hörte er draußen ein vielstimmiges Geschrei und sah den Zauberer auf dem Dorfplatz tanzen, in großem Ornat, als ein wahres wandelndes Fellmagazin, mit klapperndem Muschelstab und das Gesicht von Lateritrot und Ocker bis zur farbigsten Unkenntlichkeit verschmiert. Der Zauberer ging zu den Feldern hinab, und alles folgte ihm mit beschwörenden Gebärden und unendlichem Geschrei.

Denn der Himmel hatte sich verdunkelt. Ein Schatten fiel auf die Flanke des Großen Berges; er kam von Ugueno und den Ngovi-Bergen, streifte Msai und Mwika und wanderte langsam auf Marangu zu. Es war ein großer Schatten, der die Sonne verfinsterte; keine Gewitterwolke, denn die Bergspitzen waren klar, und keinerlei Schwüle lag in der Luft. Auf einmal jedoch erhob sich ein schwacher Wind, ein flauer Luftzug, der einen gewissen penetranten Inhalt barg: und zugleich steuerte der Schatten schräg über das Feld. Dann löste sich ein Fetzen, ein anderer folgte: und ein endloses Rascheln erhob sich wie von trockenem Schilf, das ein rascher Windstoß beugt. Und eh die 168 Maranguleute sichs versahen, war der große Schatten verschwunden. Der Boden war meilenweit verfärbt, bis zu einem Fuß Höhe bedeckt von Heuschrecken, gierig fressenden Heuschrecken. Sie sprangen durcheinander, daß man schier Schwindel bekam, wenn man ihnen zusah; sie schmausten zu Millionen darauf los, mit einem leisen, knirschenden Geräusch; sie waren fingerlang, gelblich, von jugendlichstem Appetit. Ganz Marangu hatten sie mit Beschlag belegt, und wenn sie sich erhöben, würde der Boden kahlgefressen sein wie eine Tenne.

Die Leute waren zu konsterniert, um ihrer Verzweiflung Ausdruck zu geben. Sie wateten durch die wimmelnde Überschwemmung, die ekelhaft zäh an ihren Sohlenballen klebte, ins Dorf zurück, und der Zauberer ging als letzter; trübselig hingen ihm seine zahllosen Attribute vom Leib. Dort, auf dem Dorfplatz, setzten sie sich hin und gröhlten ein Klagelied, unermüdlich, Strophe um Strophe, und das Klagelied wanderte mit dem Wind in fremde Kraale, sodaß alle es wußten:

Die Heuschrecken sind bei den Marangu!!

Die Heuschrecken sind bei den Marangu!!

Und Mareale?

Er hatte den Gott beleidigt und mißhandelt; darum waren nun die Heuschrecken gekommen. Das war folgerichtig und im Grunde so einfach zu verstehen, daß 169 Mareale fast zufrieden war, trotzdem die Ernte in fremde Mägen gewandert war. Ja, Mareale nickte mit dem Kopf, als er die Kerbtiere kommen sah; es war ein Riesenschwarm, sie würden alles fressen, alles. Erst später kam auch über ihn die Verzweiflung; er warf sich glatt auf den Boden und hämmerte mit der Stirn darauf, wobei er jedesmal die Finger spreizte und die Kniee streckte. Durch diesen Kraftaufwand wurde seiner Empfindung endlich Genüge getan; er erhob sich mit dumpfem Kopf und hatte ein längeres Zwiegespräch mit dem Gotte. Zuerst bat er ihn um Entschuldigung, und der Gott gewährte sie. Dann zupfte er ihn mit spitzen Fingern wieder zurecht, ja statt des ausgerissenen Wergs stopfte er Tabak in das offene Bein. Und als der Gott wiederhergestellt war, fing Mareale an zu heulen, denn nun müßten sie alle bei den Mwika und Useri betteln gehn, bis ein neuer Hirsefrühling erblühe. Der Gott blieb mit einem unergründlichen, etwas schadenfrohen Schmunzeln auf der Bastdecke sitzen. Doch das stand fest: er würde wieder gut sein, und Mareale würde ihn hegen, verehren und ihm schmeicheln, damit er nie seine Macht wiederum hervorzukehren brauche. Wahrhaftig! Mareale hatte eine ehrliche und tiefe Furcht vor ihm.


Was die Puppe des weiteren noch zu berichten wüßte, 170 wenn sie reden könnte, ist das Folgende (und das hat mir Mr. Gray, ihr letzter Besitzer, selbst erzählt). Mr. Gray, der Hochtourist, hatte in Modschi Station gemacht, um den Kibo zu ersteigen. Das sollte ihm nicht beschieden sein. Denn während des Aufstieges gelangte er westlich, nach Marangu. Mareale, der sich keines solchen Besuches versah, saß tiefsinnig in der Hütte, verrichtete vor seiner Puppe eine der gewohnten grübelnden Andachten und kettete mühselige Vergleiche aneinander. Er ließ sich daher vollständig überraschen.

Mr. Gray mußte lächeln; und die Suaheli-Träger, die es auch besser wußten, ließen sich von einer zwanglosen Heiterkeit übermannen, die sie nach dem mühsamen Marsch wohltätig erfrischte. Und als sich Mr. Gray die Puppe gar ausbat, und Mareale – halbtot vor Schreck – (er hatte noch keinen Europäer gesehen) – sie ihm überlassen hatte, verstärkte sich die Fröhlichkeit bis zu schallendem Gelächter: besonders da die Puppe, in der Mitte gedrückt, einen unwilligen und kläglichen Quarrlaut von sich gab.

Es mag dahingestellt sein, ob die Suaheli den hohen Rang, den der Gegenstand hier einnahm, ahnen konnten; jedenfalls war es unvorsichtig von ihnen, Tauschgeschenke und Flinten auf den Boden zu legen. Denn jetzt verfärbte sich Mareale, soweit ihm das möglich war. Seine ausgefeilten Eckzähne knirschten; er war 171 schwer beleidigt, und seine Augäpfel verkehrten sich für einen Augenblick ins Bläuliche. Dann tat er einen schrillen Schrei, und im Nu wimmelte es aus den Hütten hervor. Wäre der Engländer nicht zur rechten Zeit auf die Gefahr aufmerksam gemacht worden, so hätte ihn ein Regen von vergifteten Pfeilen getroffen. So aber gelang es ihm, das flintenlose Völklein durch eine schnelle Salve in die Flucht zu schlagen; sie ließen alles fallen und nahmen Reißaus. Einige waren angeschossen und wälzten sich, wie Schweine quiekend, auf dem Dorfplatz umher; unter ihnen befand sich die Favoritin, die hundert Rinder gekostet hatte. Es war das erste Mal, daß Gewehrschüsse in dieser Gegend erschallten, und die Wirkung war betäubend.

Mareale war zurückgesunken. Obwohl man es nicht auf ihn abgesehen hatte, war seine Brust von einem Zufallsschuß durchlöchert worden; und seine Augen waren voll tödlicher Betroffenheit, da er nicht wußte, wie ihm geschehen sei. Er konnte nicht schreien, etwas würgte ihn. In seinem Hirn wurde es purpurn, und seine Seele entflog auf den Kibo, wo seine Ahnen unter Affenbrotbäumen, groß wie Wolken, ihre ewigen Ratsversammlungen hielten. – Kurz zuvor machte er noch eine hilflose Gebärde nach seinem Gotte hin, die den Engländer flüchtig erschütterte. Er gab ihm die Puppe und hatte Mühe, sie aus den schnell erstarrten Fingern zu lösen.

172 Dann jedoch mußte sich Mr. Gray beeilen, aus dem Dschagga-Distrikt herauszukommen. Die Schießerei hatte überall ein kriegerisches Echo geweckt, sodaß der weiße Mann knapp entrinnen konnte, zugleich mit dem Kuriosum, auf das man eifrig fahndete.

So gelangte denn diese Pariser Puppe wieder nach Europa zurück.

Möge Gott, der ihr kurze Zeit seine Stellvertretung bei einem Einäugigen unter Blinden und seiner dumpfen Seele gönnte, ihr einen ruhigen Lebensabend in der Pietät hübscher arischer Kinder gewähren!


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