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Wunder über Wunder

In Begleitung eines jungen Schweizers, dessen Bekanntschaft sie im Hotel gemacht hatten, verließen Rabsborough und Leilah die St. Peterskirche.

»Jetzt weiß ich endlich, Öchsli, was Zimt ist«, sagte Rabsborough sehr leise.

Leilah spitzte süß die scharf gemalten Lippen, trüb meinend: »Aber, aber ... Übrigens ist es in der St. Pauls-Kathedrale in London wärmer, nicht?«

Rabsborough klopfte ihr, den untersten Westenknopf wieder öffnend, auf den Unterarm. »Bitte, auch ich bin nicht ganz ohne Pietät.«

»Jedenfalls ein wüster Geselle.« Leilah zupfte an seiner Krawatte.

Öchsli zog eine schwärzliche Zigarette aus der Westentasche. Er hielt es für nötig, endlich etwas zu äußern, um seine Empörung, aber auch seinen weitaus überlegenen Standpunkt kräftig zu dokumentieren. »Diese Kirche ist ein Wunder. Aber die St. Pauls-Kathedrale ist vielleicht ...« Er verfiel, die Anstrengung nicht mehr aushaltend, doch wieder in sein heimatliches Idiom: »... vülloicht kumfortablr, das rüm öch ün, dach vüle Detoils hür sind in manchr Wüs vül abwachslungsrüchr.«

»Der Knabe sieht aus ...« Rabsborough begab sich zu Leilahs Ohr hinab. »... wie ein Leitfaden durch die biblische Geschichte.«

Leilah sprang lachend die breiten Steinstufen hinunter und lief, den roten Sonnenschirm auf dem Pflaster nachschleifend im Zickzack Über den riesigen Platz.

Öchsli lief ihr nach, wobei er die Zigarette verlor, seine mühsam zusammengeklebte Haltung und einen Zwanziglire-Schein.

Rabsborough hob diesen auf, barg ihn auf seiner Brust und näherte sich, immerhin um einiges fröhlicher, Leilah, die neben einer sehr blonden Dame, welche mitten auf dem Platz unter einem großen gelben Schirm malte, stehengeblieben war.

Öchsli hatte über diesem Ereignis Leilah vergessen. Er beglotzte eifervoll die bepinselte Leinwand und bemühte sich, den Namen Hodler murmelnd, schwere Kennerschaft anzudeuten.

Rabsborough neigte sich nachlässig über das angefangene Bild. Und plötzlich flüsterte er der malenden Dame weich ins Ohr: »Mein liebes Fräulein, Striche machen ist nicht so lukrativ wie der Singular.«

Die junge Dame hielt, langsam dem Sinn dieser Worte nachgehend, einige Sekunden den hübschen Kopf gesenkt. Dann aber sprach sie zornrot empor und flammte Rabsborough ins Gesicht: »Schämen Sie sich! Das wagen Sie einer Dame zu sagen? Und hier ... hier an diesem Ort?«

»Gerade hier.« Rabsborough sah das Blut an ihren Schläfen und stöhnte heiter: »Hier bemerkt man nämlich ganz besonders deutlich, daß die Kunst traurig stimmt. Sie ist sogar traurig. Das ist ihr Todesurteil. Deshalb allein aber hat die schlaue Kirche sich ihrer bemächtigt.«

Die junge Dame nahm Rabsborough nach diesen Worten sofort ernst und fühlte die ethische Pflicht, ihm würdig zu antworten. »Sie irren durchaus, mein Herr. Nicht nur die Kunst im allgemeinen, auch die kirchliche hat einen tiefen Sinn. Daß Traurigkeit manchmal in ihrem Gefolge auftritt oder auch als bewußter Zweck, das ist ...«

Rabsborough legte seine Hand beruhigend auf den zuckenden Arm der jungen Dame, so daß sie, darüber erstaunt, schwieg. Dann räusperte er, als wäre er verlegen. »Ich kenne eine Frau, die sich unterm Isenheimer Altar schwängern ließ. Es war jedoch schwer, zu entscheiden, ob aus Traurigkeit, Leidenschaft oder lediglich zu ihrem Privatvergnügen.«

Die junge Dame blickte hilfesuchend bald Leilah an, die interessiert schwieg, bald Öchsli, der mit seinem Standpunkt kämpfte, schlug sich schließlich Rabsboroughs Hand herunter, stampfte mit dem Fuß und schrie: »Lassen Sie mich in Ruhe! Gehen Sie doch schon! Ich verabscheue Sie!« Tränen erschienen in ihren hellen blauen Augen.

Rabsborough nahm sich Leilas Ann und ging lachend weiter.

Öchsli folgte, gänzlich aus dem Schweizerhäuschen.

Dem ratlos verwunderten Gesicht Leilahs sagte Rabsborough endlich: »Sehr einfach. Ich habe dieses liebliche Wesen in einem Atem beleidigt, neugierig gemacht und in seinen heiligsten Grundsätzen getroffen.«

»Das chabe Sü nüt!« Öchslis Manneswürde hatte sich bereits wieder gefaßt. »Das war schlacht von Ühn, söhr schlacht«

Leilah zog zierlich das Mündchen kraus. Auch ihre Finger schienen, das Fichu umspielend, zu spotten. Sie ging rascher.

Rabsborough, sehr vorsichtig, supponierte diesen Spott. »Nicht so schnell, Leilah! Ich bewies dieser Dame ja nur, weshalb ihr Bild schlecht ist.«

Leilah, die lediglich Öchsli über hatte, lächelte breit, auch weil es ihr schmeichelte, daß eine hübsche Frau schlecht malte. Hierauf äußerte sie unnachahmlich: »Kokette Aufregung einer geistig Minderjährigen!«

»Ich verstoh nüt.« Öchsli hustete gewichtig. Dabei huschte sein platter Blick seitlich auf Leilah und Rabsborough, halb verlegen, halb zornig.

»Sie verstohn nüt?« höhnte Rabsborough lax. »Klingeln Sie doch die Neue Züri Zittig an!«

Öchsli japste ein wenig, hob das geschorene Haupt, bedeckte es und schritt mit völlig wiedererlangter Haltung großartig über den Platz.

»Übrigens ist es die Baronesse von Potthammer aus Rudolstadt.« Rabsborough beobachtete Leilah neugierig.

Die zeigte, wirklich überrascht, etliche Sekunden die Zungenspitze ...

Nach dem Diner saßen Rabsborough und Leilah in einer Ecke des Hotel Exzelsior und tranken eine Flasche Marteaux.

»Rom!« Rabsborough unternahm es, alles, was seine Stimme an verachtungsähnlichen Tönen gelernt hatte, in diese komische Silbe zu pressen: »Rom! Ich finde, diese Stadt ist nur eine besonders verfallene Art von Provinz. Wo in anderen Städten Kinos langweilen, stören hier Kirchen. Jeder Mann über dreißig sieht aus wie Garibaldi, darunter wie Theodor Körner oder Alfred de Musset. Aber du kennst, dank deiner instinktiven Haltung, weder den einen noch den andern.«

»Können Sie denn Ihr Lästermaul nicht eine Minute halten?« Die Baronesse von Potthammer, welche ihre Niederlage nicht verschmerzen konnte, hatte es unwiderstehlich in die Nähe ihres Peinigers getrieben.

Rabsborough wandte sich ihr ohne den kleinsten Ausdruck der Verblüffung zu. »Jetzt, meine Gnädige, beginnen Sie mich ernstlich zu interessieren. Wollen Sie uns das Vergnügen machen?«

Die Baronesse ließ sich, nach Sekunden mißlungenen Überlegens, schließlich, nervös lachend, am Tisch nieder. »Sie müssen mich entschuldigen ...« Sie wandte sich an Leilah, die urban grinste, aber doch so, daß man es auch für entzückt halten konnte.

Nicht weit vom Tisch hatte sich ein junger Italiener aufgestellt, der es verstanden hatte, der Wachsamkeit des Portiers zu entgehen. Und plötzlich stieß sein gequälter Tenor eine melodische alte Serenata in die Nacht.

»Trottel!« hauchte Rabsborough.

Leilah beugte sich zur Seite, um den Sänger zu sehen. »Ein sehr netter Junge ...«

»Aber bitte, Leilah! Du weißt doch, daß ich dagegen nie etwas einzuwenden habe.«

Leilah winkte gleichgültig ab. »Warum nur ein singender Mann so entsetzlich blöde wirkt?«

»Weil er ...« Rabsboroughs Augen blitzten lustig drauflos. »Ach, weil er eben zu primitiv exhibitioniert.«

»Sie sind ja ein Monstrum!« Die Baronesse versuchte vergeblich, ein Entsetzen, das sie längst nicht mehr fühlte, zu markieren. »Sie sind ja ganz gräßlich.«

»Wenn Sie mit mir schlafen wollen, müssen Sie mich deutlicher auffordern.« Rabsborough legte seine Pfeife weg und schob seine Manschetten ein wenig zurück.

Leilah, die jedes Wort vernommen hatte, entfernte sich, um dem Sänger eigenhändig fünf Lire zu überreichen.

Die Baronesse trachtete immer noch, eine Antwort zu finden oder eine Geste oder einen Entschluß oder irgend etwas, das ihr den Triumph über Rabsborough gesichert hätte. Aber je länger es dauerte, desto deutlicher fühlte sie, daß sie nichts finden würde. Und schließlich sah sie ein, daß es überhaupt bereits zu spät sei. Sie tat, was man in solch einem Fall fast stets zu tun pflegt: sie lächelte.

Und auch Rabsborough lächelte. »Sie wirken Wunder, meine Gnädige.«

»Wieso.« Die Baronesse fand nicht einmal mehr die Kraft, darüber zu erstaunen, daß sie danach fragte.

»Ihr Lächeln hat mich auf – Minuten aus meiner Absicht geworfen.«

»Aus welcher Absicht ...?«

Rabsborough ergriff seine Pfeife. »Gestatten Sie mir eine kleine Abschweifung, die es gleichwohl aber nur scheinbar ist ... Ich hörte einmal, irgendwo in Deutschland, durchaus zufällig, ich versichere Ihnen, jemanden sagen, daß die Wunder der Erde die Gesetze des Himmels seien. Und habe mich augenblicklich sehr gewundert, daß es im Himmel noch nicht – unordentlicher zugeht. Ich bin vielmehr eher geneigt, zu glauben, daß die Erde ein schlechter Witz des Himmels ist und dieser ein Bluff des lieben Gott, der ja, da ihm nichts anderes übrig bleibt, als an sich selber zu glauben, ein großer Halunke sein muß. Die Erde sieht ihm fast noch ähnlicher als der Himmel. Vielleicht bin ich sogar fromm, wenn ich mein Lästermaul auf tue.«

Die Baronesse, längst von Rabsborough dunkel begeistert, warf ein Bein über und schien zu übersehen, daß ihr Rock den Knien um vieles zu nahe zu liegen gekommen war. »Sie phantasieren.«

»Wirke ich nicht bereits Wunder?« Rabsborough kniff, um zu erregen, sich in die Hand. »Übrigens phantasiert man immer. Aber man braucht diesen faulen Zauber, je fauler, desto süßer, um sich in die erforderliche Stimmung für das süßeste Wunder zu bringen, für das oberste Gesetz des Himmels: das Zusammenkommen von Mann und Weib.«

»Wirklich, wenn Sie so Ihre Resultate präsentieren, könnte man glauben, daß Sie zaubern.« Die Baronesse lächelte bereits ein Versprechen.

»Sehr richtig. Ich bin sogar der Auffassung, daß man dem großen Weltenschieber nur deshalb nicht hinter seine Schliche kommen kann, weil er nur das Resultat präsentiert und sich selber fürsorglich im Verborgenen hält. Sollte er fürchten, entlarvt und gelyncht zu werden?«

»Dafür, daß er Sie auf dem Gewissen hat, würde er es bereits verdienen.«

»Sie geben mir also recht. Das tröstet mich über den – Minutenverlust von vorhin, der dadurch entstand, daß Ihr Lächeln mich veranlaßte, mir Ihre Gunst nicht zu erzwingen, sondern zu holen. Jenes war meine Absicht. Dieses ist das Wunder.«

Leilah trat schnell neben den Sessel Rabsboroughs und flüsterte ihm, jedoch so, daß die Baronesse es hören mußte, in den Kragen: »Ich fahre noch ein bißchen auf den Pincio. Die Nacht ist so warm und der gute Junge so wundervoll blöde.« Sie schlüpfte davon, scheinbar die Baronesse gänzlich vergessend.

Diese, im Banne einer nie noch gekannten Lockerung sämtlicher Lebensgewohnheiten, sagte leise: »Wie hätten Sie denn aber meine Gunst sich erzwingen wollen?«

»Ach.« Rabsborough winkte jemandem mit der Pfeife. »Ich werde es Ihnen, lediglich zu Ihrer Erheiterung, vorführen.« Worauf er dem zögernd und ungelenk an den Tisch tretenden Öchsli seinen Zwanziglire-Schein unter die Nase hielt und, mit der andern Hand auf die Baronesse weisend, behauptete, diese hätte gesehen, wie er ihr die Banknote aus dem Handtäschchen stahl.

Öchsli, der zum Überfluß an einem Kaffeefleck seinen bereits schmerzlich vermißten Schein wiedererkannt hatte, geriet dermaßen in Wut, daß er Miene machte, sich auf die Baronesse zu stürzen.

Rabsborough versetzte ihm, gerade als seinen speichelspritzenden Lippen das Wort »Chaibe ...« sich entrang, rechtzeitig einen wohlgezielten Uppercut, der ihn auf den Boden legte, von wo zwei rasch herbeigestolperte Kellner ihn bestürzt entfernten.

Die Baronesse, die abwechselnd erbleicht und errötet war, suchte, naturgemäß resultatlos, ihr Bewußtsein in Ordnung zu bringen. »Aber ... was ... soll ... denn ... das ... was ...«

»Das bedeutet, daß nach diesem Skandal jeder, ausnahmslos jeder im Hotel Sie für meine Geliebte hält. Es ist also durchaus unmöglich, sich äußerlicher Gründe wegen mir noch weiterhin zu versagen.«

»O Sie ...«, stammelte die Baronesse unterwühlt.

»Du!«

»Wie heißt du eigentlich?«

»Fritz Hasemann, mein Täubchen.«


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