Walter Serner
Der Pfiff um die Ecke
Walter Serner

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Die Frezzaria

ist die offizielle Hurengasse von Venedig. Sie ist trotzdem nicht schmäler und dunkler als eine Calle und unterscheidet sich tagsüber durchaus nicht von dem herkömmlichen Straßenbild der Lagunenstadt. Nachts jedoch, wenn sowohl der fromme Venezianer sie geflissentlich meidet als auch der soignierte Fremde und nur das unbürgerliche Gelichter der ganzen Welt sich über sie hinschlängelt, wird sie tierisch bis zur Phantastik.

Pinöff, ein Däne, den der rätselhafte Vorname Duri schmückte, reiste, als die Kopenhagener Polizei ihn zu bedrängen begann, kurzweg auf die Frezzaria, die ihn im Alter von siebzehn Jahren so gründlich berauscht hatte, daß er mit Soun, einer broncefarbenen Ägypterin, und Messer Ugo, dem seltsamsten Franzosen, die erste Fahrt ins Abenteuer angetreten hatte.

Daß er der venezianischen Quaestura avisiert worden war, hielt Pinöff für sehr wahrscheinlich, obwohl er auf der ganzen Strecke, weder im Berliner D-Zug noch im Rom-Expreß, irgendetwas Verdächtiges wahrgenommen hatte. Lediglich ein Kellner des Münchner Speisewagens hatte einmal unmotiviert frech geantwortet und ein alter Herr hinter Verona ein wenig zu korrekt um Feuer gebeten. Pinöff, der die Nervosität, welche ihm die Aufmerksamkeit der Polizei verursachte, endgültig loszuwerden wünschte, traf darum für alle Fälle seine Vorkehrungen, als der Zug Mestre verließ und über die lange Mole Venedig sich näherte. Er holte seine beiden Handkoffer, die nichts enthielten als in Lumpen gewickelte Steine, fürsorglich aus dem Netz herunter, überzeugte sich umständlich, ob die Schlösser wohl schlossen, legte Schirm und Plaid bereit, zog seinen dunkelbraunen Macferlane an und wartete, das wachsame Auge auf sein Gepäck gerichtet, stehend die Einfahrt ab. Als der Zug hielt, schrie er, so laut wie nur möglich, nach einem Facchino und folgte ihm, als er mit seinen Koffern beladen vor ihm herwankte, auf den Fersen. Vor den Toiletten hieß er ihn stehen bleiben, zog seinen Mantel aus, warf ihm diesen über die Schulter und betrat vor seinen Augen den Waschraum. Nachdem er abgesperrt hatte, entkleidete er sich hastig, wendete Rock, Weste und Hose, die nun von grüner Farbe sich erwiesen und als ungefüttert, ersetzte den harten Kragen durch einen weichen, wechselte die rötliche Krawatte gegen eine weiße aus, setzte sich eine graue Sportmütze auf statt des weichen Hutes und veränderte sein 118 Gesicht durch eine diskrete Bemalung und eine kleine Grimasse, die es zur Gänze unkenntlich machte. Ohne irgendetwas zurückzulassen, zog er sich ganz hinten vor der Mauer an der Holzwand hoch, ließ sich, nachdem er gesehen hatte, daß er leer war, in den anschließenden Abort niedergleiten und erreichte von diesem aus auf dieselbe Weise den daneben befindlichen, dessen Tür er schnell öffnete und laut zuwarf. Und während er, gemächlich dahinschlendernd, eine Zigarette sich entzündete, verschwand er vor dem Bahnhof in der Menge, die sich gegen den Halteplatz des Vaporetto drängte.

Trotz aller dieser Exaktheit bemerkte Pinöff schon vor der Haltestelle Rialto den alten Herrn aus dem Zug wieder, der ihn um Feuer gebeten hatte. Nichts war zwar näherliegend, als daß ein Ankömmling denselben Vaporetto benützte; was aber bot Pinöff die Gewähr dafür, daß es sich nicht anders verhielt? Augenblicks war er entschlossen, sich Gewißheit zu verschaffen und sein definitives Verschwinden, das er ohnedies der Frezzaria vorbehalten hatte, mit peinlichster Vorsicht zu organisieren. Freilich hing dies zum guten Teil davon ab, ob die alte Keile Chagise noch vor dem Caffè Orientale zu finden war.

Als der Vaporetto der Haltestelle San Marco sich näherte, drängte Pinöff sich an die Bordseite vor, als wollte er aussteigen. Sobald er jedoch beobachtet hatte, daß auch der alte Herr sich beeilte, aufzubrechen, setzte er sich wieder hin und verkniff nur schwer ein Lächeln, als er den alten Herrn sich bemühen sah, so zu tun, als hätte er sich geirrt.

Vor dem Dogenpalast stieg Pinöff aus und schwenkte sich, die Hände in den Hosentaschen, die Riva degli Schiavoni hinunter bis vor das Caffè Orientale und noch langsamer durch den Gang zwischen den Tischen: Keile Chagise war nirgends zu erblicken. Da das Caffè sich bereits zu leeren begann, durfte er, nach elf Uhr nachts, kaum hoffen, ihr hier noch zu begegnen. Zudem hatte er längst bemerkt, daß den alten Herrn ein kleiner dicker Mann ohne Hut abgelöst hatte. Deshalb ging Pinöff langsam weiter bis zum Hotel de Londres, rannte blitzschnell in eine schmale Seitengasse, dann im Zickzack durch ein halbes Dutzend Durchhäuser, wandte sich endlich nach dem Markusplatz und mischte sich in die noch längs den Kaffeehaustischen promenierende Menge, um in einem günstigen Augenblick gegen das Postamt zu oder über die Fruttarol nach der Frezzaria zu entkommen.

»Duri!« summte es da mit einem Mal neben ihm.

Pinöff hatte die Geistesgegenwart, weder stehen zu bleiben noch 119 auch nur den Kopf zu wenden. Bloß seine Augen hatte es dieser Stimme zugerissen: Keile Chagise, das pockennarbige wächserne Gesicht mit der unheimlichen Vogelnase auf einen schnarchenden Mops gebeugt, den sie auf den Armen hielt, humpelte neben ihm her. »Keile«, sagte er halblaut und ging noch langsamer, um, hinter sie geraten, besser gehört zu werden. »Mußt mich vermoosen.«

Ihre Vogelnase sank noch tiefer auf den Mops, während sie wie im Gebetston leierte: »Geihst in del Fruttarol. Stellst dich an der Bar an der Ecke. Wirst fölgen dem Kind mit hälber Stick Melonen in die Händ und wirst passen auf, wenn du wirst zu haben sein auf der S. Moisè.«

»Keile . . .«

Doch schon war sie um einen Passanten herum nach vorne verschwunden . . .

Bald darauf ließ auf der Salizzada S. Moisè ein Kind eine halbe Melone fallen, über die sogleich ein junger Bursche ausglitt, der, kaum daß er sich aufgerichtet hatte, das Kind beschimpfte und schlug. Von einer älteren Frau deshalb zur Rede gestellt, schimpfte er immer lauter und versetzte ihr schließlich einen Stoß gegen die Rippen. Es dauerte nicht lange, so rauften sie. Und nach wenigen Minuten gab es eine allgemeine Schlägerei, an der mehr als ein Dutzend sehr zweideutiger Männer und Frauen sich beteiligten.

Pinöff, der Keile Chagises Plan sofort begriff, schlug alsbald mit in den Haufen ein und tauchte im Nu unter den Fäusten der Raufenden unter, die sich Schritt für Schritt gegen den Eingang zur Frezzaria wälzten, um, vor deren erstem Haus angelangt, innezuhalten und, von allen Seiten verstärkt, die Straße abzusperren.

An zwei Röcke geklammert, hatte Pinöff alle Kraft und Geschicklichkeit aufbieten müssen, um nicht zu Boden gezerrt und niedergetrampelt zu werden. Jetzt fühlte er, als der Haufen zum Stehen kam, sich miteins vorne am Kragen gepackt und nach unten zu zwischen den stoßenden Beinen hervorgezogen. Sobald er befreit war, wurde er, wobei man ununterbrochen auf ihn einhieb, zwei Häuser weitergehetzt und plötzlich in ein Tor gestoßen, worauf an seiner Statt ein junger Bursche, der im Schatten des Torbogens gewartet hatte, die Frezzaria hinabgeprügelt wurde . . .

Pinöff war, da die Hiebe, die er erhalten hatte, fast so echt waren wie die Fußtritte, völlig erschöpft zusammengebrochen, als er an die Mauer geflogen war. Er kam erst wieder zu sich, als es ihm kalt auf den Augen wurde.

»Steihst auf, Duri, Jingl.« Keile Chagise steckte den nassen Schwamm ein, legte sich einen Arm Pinöffs um die Schultern und 120 schleppte ihn so durch den engen Gang in einen stockfinsteren Hof, wo sie ihn über einer Kellerfalltür an die Wand lehnte. »Wirst herunterkömmen, Jingl, und wirst sein weich und vermoost, Duri.« Sie klopfte mit der Faust zweimal auf die Falltür, die fast gleichzeitig langsam nach unten wich. Pinöff glitt, eine runde müde Masse, schnell hinab und tat einen kurzen Fall auf eine Matratze . . .

Nach etwa fünf Minuten wurde er von vier Armen hochgezogen und fortgetragen. Zwei Türen gingen. Und alsbald befand er sich in einem niedrigen, von einer grünlichen schmutzigen Kristallampel schlecht beleuchteten Keller und wurde auf eine mit Decken und Fellen überladene Ottomane niedergelegt. Als er versuchte, seine Helfer zurückzuhalten, humpelte Keile Chagise herein, ihren Mops wieder auf den Armen. »Addio. Bringts was zu essen mit! Auch Mozarella, zwei Stick. Und den Vaterlaus und Peppo. Avanti! Avanti!«

»Wer sind die?« Pinöff rieb sich die schmerzhaftesten Stellen und strich sich die Haare aus der Stirn.

»Wer werden se schon sein. Unsrige.« Keile Chagise legte behutsam ihren Mops in ein altes zerschlissenes Lederfauteuil und setzte sich hierauf dicht neben Pinöff. »Duri, redst jetzt. Sagst der alten Chagise. Sagst ihr.« Sie reichte ihm von einem Sessel ein Glas Chianti.

Pinöff ließ sich ihre welke knöcherne Hand auf der seinen gefallen. »Riecht ja nach Jasmin hier.« Er leerte gierig das Glas.

Keile Chagise lächelte unterwürfig, wobei ihre Nasenspitze die Oberlippe berührte, so daß es aussah, als spalte sie sich in zwei Teile. »Die Signora Rus hät gegeben. Hät gehört, daß ein Guter von die Unsrigen is gekömmen.« Sie griff hinter die Ottomane und drückte Pinöff einen großen Strauß blühenden Jasmins auf den Bauch. »Geihst eben zwei bis drei Tage mit ihr, Duri. Sie verdients. Wie lang hät sie gehabt deine Soun? Unsere gebenschte Soun? Drei Jahre. Drei Jahre.«

»Soun? Wo ist sie? Ist sie hier?« Pinöff ließ den Strauß fallen und packte ihre Arme. Seine Augen wurden klein und naß.

»Joi, joi, joi, was für ein Gewure!« Keile Chagise stand, die Hände auf die Knie gestützt, mühsam auf und humpelte zu einem halboffenen Schrank, aus dem sie eine alte Priesterstola nahm. »Schaust her, Jingl. Mit dem traifen Fetzen da is se gekömmen, hät ihm verkehrt umgewickelt gehäbt und hät vor den lebendigen Augen der alten Chagise herausgezogen. Immer wieder herausgezogen. Was se herausgezogen hät? Was wird se schon 121 herausgezogen zu haben? Gelder. Schwere Gelder. Alles englisches Papier.« Sie legte ihm feierlich die Stola auf die Knie.

Pinöff hörte und sah nichts. »So sag doch schon, was mit ihr los ist. Ist sie hier?«

»Wie kann se hier sein, wenn se is in Kairo? Erster Klasse im Hotel Nil? Wärste gekömmen vor fünf Wochen, häste se gesehen gekennt bei der Signora Rus.« Keile Chagise schlug sich, mit einem Mal ohne jeden Übergang heiser lachend, auf die dürren Schenkel. »Häste se gehalten für die jingere Schwester von der Signora Rus. Drei Jahre is se hier herumspäziert und hät gebaut an einer Sache, joi, joi, joi.«

»Und was macht sie jetzt in Kairo? Ist Messer Ugo mit?« Pinöff fieberte vor Ungeduld. Seine Stimme klang fast zornig.

»Was wird se schon machen in Kairo? Guten Eindruck auf die Hotelgäste. Schad, daß es nix is geworden mit der großen Sache in der Pensione Hering. Du weißt doch, in der Calle dell Angelo.« Keile Chagise stieß plötzlich einen dunklen Pfiff aus. Es war wie ein Vogelruf. »Was ich vergeß! Vergeß ich die Hauptsach! Wart, Duri, Jingl, wirst haben Freud an deiner Soun und Freud an deiner alten Chagise.« Sie zerrte sich einen Tisch heran, zog sich an ihm hoch und humpelte in eine Ecke, wo sie in einem hohen Haufen Plunder und Fetzen herumwühlte.

Pinöff streichelte geistesabwesend die Stola auf seinen Knien: Soun war weit weg. Das war alles, was ihn im Augenblick bewegte.

»Da, du Schweden-Goj, da haste was von deiner Soun.« Keile Chagise riß, heranhumpelnd, einer mittelgroßen Gliederpuppe den Porzellankopf herunter.

Während Pinöff mit zitternden Fingern durch den Hals in das Stroh des Puppenleibes griff, stand Keile Chagise, die mageren Arme faul hängen lassend, mit leise schaukelndem Körper vor ihm und schaute mit einem unsäglich erfahrenen Lächeln seinen Händen zu.

»Fünfzehnhundert Pfund«, sagte Pinöff gepreßt.

»Messer Ugo weiß nix davon. Auf dich is se scharf gewesen zu sein, Duri.«

»Ich Esel, ich Esel, . . .« Pinöff lächelte häßlich. »Ist sie mit ihm?«

»Messer Ugo macht sich in Smyrna. Is gut, daß se getrennt sind. Was wird schon sein mit dem Jingl? Mit dem Jettatore? Macht er sich mit die wilden Augen und mit dem gefährlichen Ponim? Nicht macht er sich.« Keile Chagise ließ sich zu Boden rutschen. »Ruhst dich aus hier, Duri, und dann fährst herunter zum Nil.«

122 »Nimm!« Pinöff hielt ihr einen Hundertpfund-Schein hin, den sie schweigend zusammenfaltete, bis er so groß war wie ein Spielwürfel.

Da kamen Schritte an die Tür.

Pinöff steckte die Scheine schnell in die innere Westentasche.

Keile Chagise stopfte den ihren in eine halb ausgehöhlte Semmel, die sie wieder unter die Schürze schob.

Vier junge Männer traten einer nach dem andern ein. Zuletzt die Signora Rus, eine noch hübsche Frau unbestimmten Alters.

Zwei der jungen Männer legten Eßwaren auf den Tisch, drückten hierauf gleich den andern Pinöff fest die Hand und blieben schweigend stehen, wo sie gerade standen.

»Das ist er also«, sagte die Signora Rus mit einem gezierten Lächeln.

»Zucca, daher kommst!« rief Keile Chagise und streckte die langen Finger ihrem Mops entgegen, der sich widerwillig auf den Boden plumpsen ließ und schwerfällig heranwankte. »Der Große mit den Coteletten is der Vaterlaus. Der Kleine mit dem roten Schnauzer is Peppo. Raniero und Victor, das sind noch junge Porser . . . So setzts euch doch auf die Ärsche!«

Pinöff, der gleichgültig sitzen geblieben war, hob rasch den Jasminstrauß auf und roch an ihm. »Und Sie sind die Signora . . .«

»Si.« Die Signora Rus leckte sich einladend die vollen Lippen, so daß Pinöff ärgerlich den Jasminstrauß neben sich auf die Ottomane legte und die Stola darauf.

»Hab ich das Jingl vermoost?« Keile Chagise wackelte mit den Fingern an einem ihrer letzten Vorderzähne. »Vermoost hab ich ihn.«

Und während man allmählich ins Gespräch kam und ins Erzählen, drang von oben her, von der Frezzaria, dumpfes Brummen und Getrappel und zuweilen die schrillen Pfiffe der Spitzel. 123

 


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