Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Wacker, der Gunder-Widder.

I.

Ich blicke auf ein unebenes, welliges Hochland im fernen Nordwesten der Vereinigten Staaten von Nordamerika. Das Grau und den Purpur seines Felsengrundes unterbrechen reiche, warme Farbentöne, die neugebornen Farben des Hochlandlenzes, des echtesten Lenzes der Welt; denn nur wo es einen echten Winter gibt, kann auch ein echter Lenz seine Stätte finden. Das Dunkel ist der Maßstab für das Licht. So pflegt hier die Natur in einem Lande der langen, bangen Winternacht, wo sie ihre Freuden sechs schwere Monde lang versagt, endlich ihre Schuld zu bekennen und sie auf einmal abzutragen durch eine Frühlingspracht, die reichen Ersatz für die Zeit des Darbens beut. Einen vollen Halbjahrsrückstand an Freude begleicht sie durch eine einzige freigebige Spende, und der Zahltag ist Ende Mai. Dann feiert der Lenz, ein großer, gewaltiger, sechsfacher Lenz, auf jeder Höhe seinen Karneval.

Sogar die öde Gunderspitze, die das Nordende des Höhenrückens durchsticht, gewinnt ein etwas heitereres Aussehen. Mit allen Blumen, die es in den sechs verlorenen Monaten hätte hervorbringen können, schmückt sich jetzt das Hochland, und doch sehen wir nur eine einzige Art. Hier zu unsern Füßen und weiterhin und rechts und links und vor uns, soweit der Blick reicht, in großen, weiten Flächen blüht die purpurne Lupine. In der Nähe bedeckt sie unregelmäßige, abgerissene, zerstreute Flecke, die mit der Entfernung immer breiter und dichter werden, bis die fernen Abhänge mit langen, purpurnen Wolken gleichenden Gürteln gesäumt sind.

Mag es aber auch Ende Mai sein, so geht doch ein kalter Wind, und die Wasserflächen zeugen von nächtlichem Frost. Es weht der »weiße« Wind. Große Wolken steigen auf, und nieder kommt wirbelnder Schnee über die Spitzen, über das Hochland und über die Hochlandsblumen. Düster, grau und weiß wird nun wieder die Landschaft, und eine Blume nach der anderen wird übermalt. Nur die Lupinen mit ihren größeren, steiferen Stengeln können dem Schnee lange standhalten. Sie beugen wohl ihr Haupt unter ihrer Last, dann aber schütteln sie sich frei, wobei ihnen der scharfe Wind selbst nicht wenig hilft, und richten sich trotzig empor, wie es ihrem königlichen Purpur zukommt. Und hört nun das Schneien so plötzlich auf, wie es angefangen hat, so rollt sich der Wolkenvorhang auf, und der blaue Himmel blickt auf eine Hochebene, deren weißschimmernde Schneedecke mit Flecken und Streifen einer lieblichen Purpurblüte besetzt ist.

II.

Und quer hindurch und hinein und hinaus winden sich zwei lange Fährten.

Spätschnee gibt eine gute Fährte, und Scotty Macdonnall holte seine Büchse herunter und klomm die offenen Hügel hinter seiner Hütte Tabak-Creek empor, dem Bergschaf-Höhenzuge zu. Die breite weiße Hochebene mit ihren Lupinenbändern und -flecken hatte für Scottys Augen keinen Reiz; erst als er an die Doppelfährte im Neuschnee kam, wurde er aufmerksam. Auf den ersten Blick konnte er sie lesen: es waren zwei ausgewachsene weibliche Bergschafe, welche, die Nasen am Wind, durch das Gelände zogen. Scotty folgte den Spuren eine kurze Weile und sah, daß die Schafe unruhig, aber nicht ängstlich waren, und daß sie sich nicht einmal eine Stunde voraus befanden. Auf ihrer Wanderung von einer geschützten Stelle zur anderen hatten sie sich ein paarmal eine Minute niedergelegt, nur um wieder aufzustehen und weiterzugehen, aber offenbar nicht vom Hunger getrieben, da das in reichem Maße vorhandene Futter unberührt geblieben war.

Vorsichtig schritt Scotty vorwärts; er maß die Entfernung und behielt die Spur im Auge, ohne ihr zu folgen. Auf einmal sah er, als er um einen Felsvorsprung bog, eine kleine lupinenbestandene Mulde vor sich, aus deren Mitte die beiden Schafe aufsprangen.

Die Büchse flog empor, und im Nu wären eins oder beide gefallen, hätte nicht Scottys Auge, ehe er losdrückte, auf zwei kleine neugeborne Lämmer getroffen, die sich auf ihren langen wackligen Beinen aufrichteten und einen Augenblick im Zweifel zu sein schienen, ob sie zu dem Fremden gehen oder ihren Müttern folgen sollten.

Die Alten warnten ihre Jungen durch schrilles Blöken und kamen im Bogen zurück. Jetzt zögerten die Lämmer nicht länger; sie fühlten, daß sie zu denen gehörten, die ihnen selbst an Aussehen und Geruch glichen, und wandten ruhig ihre unsicheren Schritte, um den Müttern zu folgen.

Selbstverständlich hätte Scotty irgendeins von den Schafen oder auch allesamt schießen können, da das weiteste höchstens zwanzig bis dreißig Meter von ihm entfernt war, aber es liegt im Menschen ein unwillkürlicher Drang, ein leidenschaftliches Verlangen danach, »lebendig zu fangen«; und ohne daran zu denken, was er nachher mit ihnen anfangen könnte, lehnte Scotty, als er sie so sicher in seine Hand gegeben sah, die Flinte an einen Strauch und lief nach den Lämmern. Aber die entsetzten Mütter hatten inzwischen ihren Jungen ein gut Teil ihrer Angst mitgeteilt; die kleinen Dinger waren nicht länger im Zweifel, daß sie sich vor dem Fremden hüten müßten. Und als er vorwärtsstürzte, tat seine plötzliche Annäherung ein übriges; zum erstenmal in ihrem kurzen Dasein wußten sie, was Gefahr heißt, und suchten ihr unwillkürlich zu entgehen. Sie waren noch keine Stunde alt, aber die Natur hatte sie von vornherein mit vielen wertvollen Instinkten ausgestattet. Und obwohl die Lämmer nicht so schnell zu Fuß waren wie der Mann, so zeigten sie doch sofort eine ganz besondere Fähigkeit im Ausweichen, und Scotty glückte es gegen alle Erwartung nicht, sie zu fassen.

Inzwischen umkreisten die Mütter den Fleck, indem sie ganz erbärmlich blökten und die Jungen zur Flucht zu bewegen suchten. Durch das Umhertaumeln Scottys bei seinen Fangversuchen wurden diese immer ängstlicher gemacht und strengten ihre schwachen Gliedmaßen auf das äußerste an, um zu ihren Müttern zu gelangen. Ausgleitend und strauchelnd, vermochte Scotty keins zu fangen, obwohl er mehr als einmal eins mit der Hand berührte. Aber sehr bald war der Schauplatz dieses ernsthaften Haschespiels durch das Bemühen der furchterfüllten Mütter von dem Lupinengrunde wegverlegt, und einmal auf glattem, festerem Boden, waren die Lämmer so sehr im Vorteil, daß dadurch die Müdigkeit, welche sie zu empfinden anfingen, mehr als wettgemacht wurde. Scotty aber, der bald hierhin, bald dorthin stürzte und jagte, merkte gar nicht, daß die Alten bei ihrem Weglocken eine bestimmte Absicht verfolgt hatten, bis der erste Ansatz zum Fuß der Gunderspitze, eine zerrissene, durchbrochene Felsenklippe, erreicht war, auf welche die Mütter sprangen. Da fühlten sich die Kleinen erst in ihrem Elemente, gerade wie die junge Ente, wenn sie ins Wasser gerät. Ihre kleinen schwarzen Gummihufe faßten die glatten Felsen so fest, wie keines Menschen Fuß es zu tun vermöchte, und sie flatterten auf ihren neugefundenen Bergschwingen auf und davon, bis sie von ihren Müttern außer Sicht geführt waren.

Es war ein Glück für sie, daß Scotty seine Büchse beiseite gelegt hatte, denn ein Schaf im Umkreis von ein- bis zweihundert Metern war so gut wie tot, wenn er abdrückte. Jetzt eilte er zurück zu seiner Waffe, aber ehe er ihnen etwas anhaben konnte, floß eine Nebelbank von der Spitze hernieder und lagerte sich dazwischen. Derselbe »weiße« Wind, der den verräterischen Schnee mit seinen Fährten gebracht und die Tiere so ihrem ärgsten Feinde preisgegeben hatte, schickte ihnen nun den Nebel, der sie vor seinem Blicke schirmte.

So blieb Scotty nichts weiter übrig, als die Klippe hinaufzustarren und, halb vor Bewunderung, zu murmeln: »Die kleinen Deibel, die kleinen schlauen Deibel – kann sie nicht kriegen, und sind doch keine Stunde alt.«

Denn jetzt war ihm völlig klar, was das aufgeregte Hin-und-Her-Wandern, das er aus den Führten der Alten herausgelesen hatte, bedeutete.

Den Rest des Tages verbrachte er auf ergebnisloser Jagd und kam abends mit einem kräftigen Hunger heim, den er mit einem Stück fetten Schinken stillte.

III.

Die zerrissenen Felsklippen sind nicht das bevorzugte Heim, sondern vielmehr der sichere und letzte Zufluchtsort der Schafe. Sobald sie sich hier befanden, fühlten die Mütter keine Angst mehr, und fortan, in den folgenden Wochen, trugen sie Sorge, daß sie beim Weiden sich niemals weit von ihrem Bergungsplatz, den Klippen, entfernten.

Die Lämmer waren von derbem Schlag und entwickelten sich so schnell, daß sie in einer Woche stark genug waren, mit ihren Müttern Schritt zu halten, wenn es beim plötzlichen Erscheinen eines Berglöwen galt, das Leben durch die Schnelligkeit der Beine zu retten.

Nach wenigen Stunden war der Schnee des Geburtstages der Lämmer wieder vergangen, und alle Höhen deckte nun ein Teppich von Gras und Blumen.

Der Überfluß an Futter für die Mütter bedeutete eine Fülle vom Besten für die Jungen, und sie wedelten vergnügt mit den Schwänzen, wenn sie sich's schmecken ließen.

Eines von den Lämmern, das als unterscheidendes Merkmal eine ganz weiße Nase hatte, war stämmig gebaut, während sein Spielgefährte, der ein wenig größer war und etwas zarteren Körper besaß, als Eigentümlichkeit binnen wenigen Tagen nach seiner Geburt kleine Hornansätze aufwies.

Sie paßten gut zusammen und hüpften und rannten neben ihren Müttern her oder kämpften miteinander den lieben langen Tag. Das eine huschte fort, und sofort war das zweite hinter ihm her, um es zu stoßen, oder sie kamen zu einer lockenden Anhöhe, wo sofort das uralte weltbekannte Sturmspiel begann.

Das weltbekannte Sturmspiel.

Eines stieg hinauf und hielt den Kameraden im Schach. Mit den Füßen aufstampfend und den kleinen runden Kopf schüttelnd, gab es dem andern zu verstehen, daß es die Burg besitze und den Sturm nicht fürchte. Dann legten sich die hübschen rosa Ohren zurück, die runden Wollköpfe drückten aneinander, und die unschuldig braunen Augen rollten bei dem Bestreben, schrecklich wild auszusehen. Und sie stießen und drängten, bis eines in die Knie sank, sich dann herumschwenkte und mit den Fersen in die Luft stieß, als wollte es sagen: »Was kaufe ich mir für deine alte Burg?« Aber dabei strafte es sich sofort selbst Lügen, indem es sich eine andere Erhöhung aussuchte, mit seinem stolzesten Blick davon Besitz ergriff, stampfte und den Kopf schüttelte, was dasselbe besagen wollte, wie wenn ein Ritter einem andern den Fehdehandschuh hinwarf, worauf sich die frühere Kampfesszene wiederholte.

Bei diesen Raufereien schnitt Weißnase meist am besten ab, weil sein Körpergewicht größer war; beim Wettlauf jedoch triumphierte Hörnchen mühelos. Den ganzen Tag war er unermüdlich in Bewegung, er bockte und sprang vom Morgen bis zum Abend und konnte nicht genug haben.

Nachts schliefen sie gewöhnlich dicht an ihre Mütter gepreßt in einem geschützten Winkel, wo sie den Sonnenaufgang sehen oder, was wichtiger war, fühlen konnten. Und das rastlose Hörnchen war sicher von allen Lämmern zuerst auf. Weißnase neigte zur Bequemlichkeit; er blieb zusammengekauert liegen und erwachte als letzter der ganzen Familie zu neuer Tätigkeit. Seiner schneeigen Nase entsprach ein weißer Fleck hinten, wie ihn alle Dickhornschafe zeigen, nur war seiner ausnahmsweise weiß und groß, und dieser Fleck war so lockend, daß Hörnchen niemals eine gute Gelegenheit zum Angriff darauf vorüberlassen konnte. Es bereitete ihm ein ganz besonderes Vergnügen, wenn er am Morgen seinen Freund durch einen, wie er meinte, ganz fürchterlichen Kopfstoß auf diesen schönen weißen Fleck wecken konnte.

Bergschafe leben in der Regel in Herden; je zahlreicher diese sind, desto mehr Augen erspähen die Gefahr. Aber die Jäger hatten in der Landschaft Kootenay, in der das Lupinenhochland liegt, stark aufgeräumt, und Scotty insbesondere war unermüdlich hinter den Schafen her gewesen. Das Dach seiner Hütte war über und über mit auserlesenen Widderhörnern besät, und innen war der halbe Raum von Schaffellen erfüllt, die des Käufers harrten. So fanden sich statt der früheren großen Herden nur noch wenige zerstreute Rudel von Bergschafen, von denen das größte noch nicht dreißig Stück zählte, während viele, und darunter auch unseres, nur drei oder vier Köpfe umfaßten.

Einige wenige Male war der alte Scotty in der ersten Hälfte des Juni durch die Schafberge gekommen mit der Büchse in der Hand, denn für ihn war das ganze Jahr hindurch Jagdzeit, aber jedesmal sah ihn eine oder die andere von den wachsamen Müttern von fern und machte sich mit den übrigen schnell davon oder warnte die andern durch ein eigentümliches, kurzes pfeifendes Schnaufen, damit sie sich nicht bewegten; dann standen alle still wie von Stein, da eine einzige Bewegung sicheren Tod hätte bringen können. War darauf der Feind außer Sehweite, so begaben sie sich schnell in einen anderen Teil des Höhenzuges.

Aber eines Tages, als sie um die Ecke eines Fichtenwaldes herumkamen, witterten sie einen unbekannten Geruch. Sie machten halt, um sich zu vergewissern, was es sei. Da sprang ein großes schwarzes Tier vom Felsen herab und schlug Weißnases Mutter zu Boden.

Voll Schrecken flohen Hörnchen und seine Mutter davon, der Vielfraß aber, denn das war der Feind, machte dem Leben seines Opfers schnell ein Ende; aber ehe er anfing, das Mutterschaf zu verschlingen, sprang er auf den wie erstarrt dastehenden Weißnase und streckte ihn mit erbarmungsvoller Unbarmherzigkeit neben seiner Mutter zu Boden.

IV.

Hörnchens Mutter war ein mittelgroßes, kräftig gebautes Geschöpf. Ihre Hörner waren länger und schärfer als sonst bei Mutterschafen und hatten die Form der sogenannten Spießhörner oder Spießer; auch besaß sie ein gut Teil gesunden Schafverstandes. Nun war die Gegend oberhalb des Tabakcreeks, hauptsächlich infolge Scottys Tätigkeit, von Monat zu Monat gefährlicher geworden; so wurde die Absicht des Mutterschafes auszuwandern nach den tragischen Ereignissen des letzten Tages zu einem endgültigen Entschlusse.

In vollem Lauf ging es den Abhang der Gunderspitze entlang; aber ehe sie eine Bodenerhebung überschritt, machte sie regelmäßig halt und lugte hinüber, vorwärts und rückwärts und blieb, einem moosbedeckten Felsblock gleich, noch eine oder mehrere Minuten starr stehen, während sie die Gegend musterte.

Dabei bemerkte sie einmal eine dunkle Gestalt sich auf der Höhe hinter ihr bewegen. Es war der alte Jäger. Nichts verbarg sie vor seinen Augen, aber sie hielt an sich und regte sich nicht und entging so seiner Wahrnehmung. Als er dann hinter einem Felsen verschwunden war, setzte sie in noch größeren Sprüngen als vorher ihre Flucht fort, während klein Hörnchen hinterher hüpfte. Auf jeder Höhe hielt sie sorgfältig Umschau; da sie aber weder von Feind noch Freund mehr etwas zu Gesicht bekam, mäßigte sie hinfort ihr Tempo etwas, bewegte sich aber beständig den ganzen Tag in derselben Richtung weiter.

Als sie am Abend die nächste größere Wasserscheide erreichte, sah sie auf dem Höhenzuge vorn Gestalten sich bewegen. Nach scharfer Beobachtung kam sie zu dem Schluß, es seien Schafe – Grau mit weiß gestreiften Strümpfen und weißen Flecken vorn und hinten. Sie gingen gegen den Wind. Hörnchens Mutter hielt sich außer Sicht und bewegte sich dabei so, daß sie die Fährte der Fremden kreuzte. Sie fand dort ihre Vermutung bestätigt; es waren Spuren von zwei großen Dickhornschafen; aber die Fährte sagte ihr noch weiter, daß es Widder waren. Gemäß den Sitten der Bergschafe leben nämlich einerseits die Widder in Gemeinschaft miteinander und andererseits die Mutterschafe und Lämmer. Sie dürfen sich nicht untereinandermengen oder einander aufsuchen, außer in der ersten Zeit des Winters, ihrer Festzeit, der Zeit der Liebe und Vereinigung.

Hörnchens Mutter oder die Spießerin, wie wir sie nennen können, war nach Besichtigung der Fährte froh, daß sie in eine Schafgegend kam, und überschritt unbesorgt die Wasserscheide. In der Nacht suchte sie Obdach in einer Höhle, und am nächsten Tage wanderte sie weiter und weidete unterwegs. Jetzt spürte sie einen Geruch, der sie halt machen ließ. Sie ging ihm eine Strecke nach. Andere gleiche Gerüche mischten sich mit dem ersten oder kreuzten ihn, und nun wußte sie, daß sie auf die Fährte einer Herde von Mutterschafen und Lämmern gekommen war. Dieser Spur folgte sie beständig, und Hörnchen trottete nebenher; er vermißte seinen Kameraden sehr und suchte ihn durch eigene doppelte Beweglichkeit zu ersetzen.

Binnen wenigen Minuten bekam die Spießerin die Herde zu Gesicht, alles in allem zwölf Häupter von ihrem Geschlecht. Der obere Teil ihres Kopfes befand sich gerade über einem Felsblock, so daß sie die andern zuerst erblickte; aber als Hörnchen seinen runden Kopf emporreckte, um auch etwas zu sehen, nahm das Auge eines wachsamen Mutterschafes die leichte Bewegung wahr. Auf das pfeifende Signal, das es gab, verwandelten sich alle Glieder der Herde in Bildsäulen, die nach der neuen Erscheinung äugten. Jetzt war die Reihe an der Spießerin; sie trat offen hervor. Hierauf galoppierte die Herde über die Anhöhe, wandte sich aber dahinter im Bogen nach links, während Hörnchen und seine Mutter sich nach rechts bewegten.

Auf diese Weise waren die Windstellungen von vorher umgedreht. Zuerst hatte die Spießerin Witterung von jenen, jetzt war es umgekehrt; und da die fremden schon ihre Bekleidung und Form gesehen hatten, so wußten sie nun, daß soweit alles in Ordnung war. Vorsichtig ging die Spießerin auf die Herde zu, von der sich ein leitendes Muttertier loslöste, um ihr entgegenzutreten. Sie schnüffelten und äugten sich an. Das Leittier stampfte auf, und die Spießerin machte sich kampfbereit. Beide gingen vorwärts, die Köpfe trafen sich hörbar; während sie dann losstießen, drehte die Spießerin ihren Kopf so, daß eine von ihren scharfen Hornspitzen das Ohr des anderen Mutterschafes traf. Dieser Druck wurde sehr ungemütlich für das Leittier; da es merkte, es würde den kürzeren ziehen, schnaufte es, wandte sich und schloß sich kopfschüttelnd wieder den Seinigen an. Die Spießerin ging hinterdrein, während klein Hörnchen, äußerst betroffen über alles, was geschah, sich dicht an die Mutter hielt. Die Herde machte kehrt und rannte davon, kam aber im Bogen zurück, und da die Spießerin nicht von der Stelle wich, so drängten sie sich um sie, und sie wurde in die Gemeinschaft der Herde aufgenommen. Soweit sie selbst in Betracht kam, war die Zeremonie der Aufnahme beendet. Aber Hörnchen mußte auch eine Probe durchmachen. Es waren da sieben oder acht Lämmer, die meist älter und größer als er selbst waren, und gleich manchen anderen Tieren fühlten sie sich getrieben, den Fremdling zu bekämpfen, nur weil er ein Fremder war.

Den ersten Vorgeschmack davon bekam Hörnchen durch ein unerwartetes Bums auf sein Hinterteil. Es hatte ihm immer besonderen Spaß gemacht, wenn er Weißnase in dieser Weise eine Überraschung bereiten konnte, aber jetzt kam ihm die Sache ganz und gar nicht spaßig vor, sondern war einfach widerwärtig. Als er sich aber umwandte, um dem Feind ins Angesicht zu schauen, griff ihn ein anderer von einer anderen Seite an, und wohin er sich auch wenden mochte, immer war ein Lamm bereit, ihn zu bumsen, bis das arme Hörnchen unter seiner Mutter Schutz suchen mußte. Natürlich konnte sie ihn beschützen, aber er konnte doch dort nicht immer bleiben. So war der Rest des Tages für ihn ebenso unglücklich, wie für die anderen Lämmer unterhaltend, von ihrer großen Anzahl und dem plötzlichen Eintritt des Unheils war der Kleine so betroffen, daß er gar nicht wußte, was er tun sollte. Seine Gelenkigkeit half ihm nur wenig.

Hörnchen teilte sich sein Geburtsrecht mit Krinkelhorn.

Am nächsten Morgen wollten offenbar die andern das Spiel auf seine Kosten fortsetzen. Einer von den Quälgeistern, der größte von ihnen, war ein dicker kleiner Widder. Er hatte noch keine Hörner, aber als sie später kamen, waren sie ganz wie er selbst gedrungen und krumm und rauh, so daß wir ihn vorweggreifend Krinkelhorn nennen können. Krinkelhorn kam herüber, und gerade als sich Hörnchen erhob, mit den Hinterfüßen zuerst, wie es Schafsitte ist, da stieß ihn der andere voll und kräftig. Hörnchen überkugelte sich, sprang aber wieder auf die Beine, und von seinem Unmut hingerissen, wandte er sich gegen den Raufbold. Die kleinen Köpfe trafen zusammen; es klang nicht anders, als wenn zwei Stoffbälle aneinanderstoßen, aber beiden war es ernst mit dem Kampfe. Hörnchens Leidenschaft war jetzt erregt, und er stieß nach dem Gegner. Die Köpfe glitten aneinander ab, und nun drückte Kopf gegen Schulter und umgekehrt mit aller Macht. Zuerst mußte Hörnchen zurückweichen, aber bald leisteten ihm seine Hornansätze gute Dienste, und nachdem sie dem Raufbold ein paar kräftige Rippenstöße beigebracht hatten, machte dieser kehrt und rannte davon. Die andern, die im Kranz herumstanden, erkannten nun den Fremdling als geeignetes Mitglied ihrer Gemeinschaft an; sie nahmen ihn auf, und Hörnchens Prüfungszeit war vorüber.

V.

Nicht selten hört man über konventionelle Vorschriften und gesellschaftliche Regeln spotten, als wären es törichte Ausflüsse menschlicher Tyrannei. In Wahrheit sind es wichtige Gesetze, die, wie das der Anziehungskraft, da waren, ehe die menschliche Gesellschaft ins Leben trat, und ihr dann, als sie sich bildete, Gestalt verliehen. Bei allen wilden Tieren sehen wir das Konventionelle sich mit der Zunahme der geistigen Fähigkeiten der Art entwickeln.

Erscheint eine neue Henne oder Kuh auf dem Hofe, so muß sie sehen, wo ihr Platz in der Rangreihe der andern ist. Er bestimmt sich genau nach der Summe ihrer Kräfte. Die vorhandenen Einzelwesen haben schon lange ihre Reihenfolge und Rangordnung festgestellt; keins kann eine oder mehrere Stufen hinaufsteigen, ohne mit denen, über die es sich heben will, um den Vorrang zu streiten. Irgendwo in dieser Stufenfolge muß sich für das neue Individuum ein Platz finden, und bevor dieser nicht feststeht, hören die Kämpfe für den Ankömmling nicht auf.

Zweifellos ist für die Rangordnung in den meisten Fällen Kraft, Mut und Gelenkigkeit entscheidend, aber manchmal sind Klugheit und Sinnenschärfe von größerer Wichtigkeit. Welches ist das Leittier einer Herde wilder Tiere? Nicht notwendigerweise das stärkste und grimmigste. Dieses wird die andern in die Flucht treiben können, sie aber vielleicht nicht zu leiten vermögen. Der Leiter wird nicht förmlich erwählt, wie bei den Menschen, er tritt vielmehr nach und nach als solcher hervor; so wird also dasjenige Einzeltier Führer der andern, das diesen die Vorstellung einzuflößen vermag, ihm oder ihr zu folgen sei für sie am besten, und es beruht die Leitung völlig auf der Zustimmung der Geleiteten. Die Wahl erfolgt einstimmig. Denn wenn sich in der Herde einige finden sollten, die nicht Folge leisten wollen, so steht ihnen dies frei. Bei vielen in Herden lebenden Tierarten ist das Leittier, dessen Mut und Kühnheit sich so oft in allen Proben bewährt hat und das alle übrigen mit Vertrauen in seine geistige Fähigkeit erfüllt, der Regel nach nicht das stärkste Männchen, sondern ein älteres Weibchen. Dies trifft insbesondere zu beim Elch, Büffel, schwarzschwänzigen Hirsch und bei den Sommerherden der Bergschafe.

Die auf der Gunderspitze hausende Schafherde bestand aus sechs oder sieben Mutterschafen mit ihren Lämmern, drei oder vier Jährlingen und einem vielversprechenden jungen, zweijährigen Widder, der soeben anfing, sehr stolz auf seine Hörner zu sein, und sich in dem sogenannten »Steinbockalter« befand. Er war das größte Stück der Herde, aber keineswegs das wichtigste. Die oberste Leitung hatte ein schlaues altes Mutterschaf, nicht das, welches einen Gang mit der Spießerin versucht hatte, sondern ein kleineres Tier mit kurzen, dicken Hörnern, das niemand anders war als Krinkelhorns, des kleinen Raufbolds, Mutter.

Für die Schafe ist ihr Leiter nicht einer, dem man gehorchen muß, sondern einer, dem man mit Ruhe folgen kann, derjenige, der stets am klügsten handelt; und wenn sie sich auch keine Namen geben, so erfüllt sie doch dieser Gedanke. Ich werde die Leiterin daher die Weise nennen.

Die Spießerin war ein sehr lebhaftes Schaf in der ersten Blüte ihres Lebens, besonnen, schlau, scharfsinnig mit Auge, Nase, Ohr, und stets auf der Wacht. Bei jedem dritten Schritte mindestens hob sie ihren Kopf empor, um zu spähen, und bemerkte sie etwas Fremdes oder etwas, das sich bewegte, so hörte sie nicht auf zu äugen, bis sie sich über den verdächtigen Gegenstand klargeworden war, worauf sie weiter weidete; oder sie ließ das lange Schnaufen hören, das alle zu Bildsäulen machte. Natürlich tat sie nichts anderes, als was alle machten, aber sie tat es eben besser als sie. Doch stand ihr die Weise selten nach und übertraf sie manchmal im Erspähen, wobei ihr der Vorteil der Ortskenntnis zugute kam; im ganzen aber gab eine der andern an natürlichen Gaben so wenig nach, daß die Weise bald merkte, es sei ihr in ihrer Eigenschaft als Leittier in der Spießerin eine scharfe Nebenbuhlerin erstanden.

Es fehlte in der Herde auch nicht an Querköpfen. So hatte ein junges weibliches Schaf die müßige Gewohnheit angenommen, auf den Vorderfüßen kniend zu werden, ein Verfahren, das die andern nicht nachmachten in dem unbestimmten Gefühl, daß es nicht gut sei. Die Folge dieser eigentümlichen Haltung war die Bildung großer Schwielenpolster auf den Knien oder, anatomisch richtiger ausgedrückt, auf den Handgelenken. Diese Polster beeinträchtigten nach und nach Fräulein Schwieles Behendigkeit, so daß sie nicht mehr so schnell beiseite und zurück springen konnte wie die andern. Das will wohl für gewöhnlich nicht viel besagen, aber es kommen Zeiten, wo man die größte Beweglichkeit sehr nötig hat. Alle Tiere, deren Heil im Fliehen liegt, bedienen sich der Kriegslist der Zickzacksprünge. Es ist der beste Kniff, den der geduckte Hase anwendet, wenn Fuchs oder Hund ihn aufjagen; es ist das einzige Gegenmittel des schlafenden Kaninchens, wenn ihm die Wildkatze nachstellt; es ist des ruhenden Damwilds einziger Schutz beim Ansprung des Wolfs, und es ist die Methode der vom Sumpfland im Zickzack fortspringenden Schnepfe, um dem geschickten Jäger sowohl wie dem schnellen Habicht zu entgehen, bis sie selbst in vollem Zuge ist.

Ein anderes eigensinniges Tier war ein unruhiges weibliches Lamm, das in einem Punkt dem Leittier nicht folgen wollte, wenn nämlich der kurze Schnauf alle andern zu Stein erstarren ließ, bewegte sich das Kleine rastlos hin und her, statt der Warnung der Weisen gemäß zu versteinern.

VI.

Einige Wochen vergingen unter häufigem Alarmschlagen und flüchtigem Davoneilen. Aber die Schildwachen taten ihre Pflicht, und alles lief gut ab. Beim Herannahen des Sommers ergriff die Schafe eine eigentümliche fieberhafte Unruhe. Sie standen ein paar Minuten regungslos da, ohne zu weiden oder wiederzukäuen. Dem Anschein nach litten sie an gestörter Verdauung und suchten etwas, ohne zu wissen was. Sobald die Weise die gleiche Rastlosigkeit und den Widerwillen gegen die Nahrung in sich selbst spürte, raffte sie sich zur Tat auf. Sie führte die ganze Herde auf eine tiefer liegende Ebene, hinab ins Gehölz und noch weiter hinunter. Wo ging sie hin? Für die meisten war der Weg neu. Mißtrauisch folgte die Spießerin; immer wieder blieb sie stehen; sie liebte diese tiefen Lagen nicht. Aber das Leittier schritt ruhig weiter, hätte nur eine aus der Herde Neigung gezeigt, stehen zu bleiben und zurückzugehen, die Spießerin hätte es sicher zu einer Spaltung gebracht. Aber alle folgten willig der Weisen, deren ruhige Entschlossenheit Vertrauen einflößte. Als sie weit über die Grenze ihres gewöhnlichen Bezirkes hinausgegangen waren, fing die Leiterin an, die Ohren zu spitzen und vorwärts zu spähen. Die andern folgten ihrem Beispiel. Sie empfanden weder Hunger noch Durst, aber doch war ihnen übel zumute. Jetzt bemerkten sie vor sich einen weiten Abhang, den ein weißes Land säumte. Dorthin führte sie die Weise. Einer Erklärung bedurfte es nicht. Der ganze Boden war weiß von etwas, das die Schafe eifrig aufleckten. Oh, es war das Köstlichste, das sie je gekostet hatten! Sie konnten gar nicht genug bekommen. Und wie sie leckten und immer wieder leckten, wich die Trockenheit von ihrer Kehle, die Hitze von ihrem Auge und Ohr, die Kopfschmerzen hörten auf, ihre fieberhafte Haut wurde kühl, und ihr Magen fühlte sich behaglich, ihre Unruhe war vergangen und ihr ganzes Wesen wie neugeboren. Es war, als hätten sie den köstlichsten Lebensbalsam genossen, und doch war es nur gewöhnliches Salz.

Das hatte ihnen gefehlt – und dies war die große Salzlecke, zu der ihre kluge Leiterin sie geführt hatte.

VII.

Für ein junges Geschöpf gibt es nichts Besseres als Gehorsam. Der Gehorsam gegen die Mutter gewährt ihm die Wohltat der ganzen mütterlichen Erfahrung, ohne daß es dabei irgendwelche Gefahr liefe. Mut ist gut, Schnelligkeit und Stärke sind gut – aber alles, was das Junge an Mut, Schnelligkeit und Stärke aufwenden kann, kommt bei weitem der Leistungsfähigkeit des Muttertieres nicht gleich, die ihm in höchstem Maße zu Gebote steht, wenn es nur gehorchen will. Verstand ist alles wert, aber bei den Lämmern der Dickhornschafe wenigstens kommt die gehorsame Einfalt weit besser weg als das schlaueste, eigenwillige Lamm, das je auf Klippen sprang.

Nachdem sie eine oder zwei Stunden geweilt und das Salz geleckt hatten, bis sie befriedigt waren, wandte sich die Weise, um zur Höhe zurückzukehren. Das Gras im Tal war ungewöhnlich gut, reich, fett und in Fülle, und die Lämmer, die eben anfingen, Grasnahrung zu sich zu nehmen, freuten sich der erlesensten Weide; aber sie befanden sich in der Niederung zwischen dem Gehölz mit allen seinen lauernden Gefahren. Die Weise wie auch die Spießerin trieb es zurück auf den bekannten sicheren Weideplatz. Die erste schritt, wie gewöhnlich, voran, und die übrigen wären, wenn auch ungern, gefolgt, wenn nicht klein Krinkelhorn der Hafer gestochen hätte. Er wollte nicht folgen. Seine Mutter vermißte ihn und kehrte, als er zu blöken anfing, zu ihm zurück. Er weigerte sich nicht geradezu, zu kommen, aber er säumte so lange, daß er seine Mutter eine gute Weile zurückhielt und auch die andern in ihrer Neigung, möglichst lange zu bleiben, bestärkte. So befand sich die Herde beim Anbruch der Nacht noch unterhalb der Waldgrenze und legte sich im Gehölz zur Ruhe nieder.

Wenn der Berglöwe auf Beute ausgeht, macht er nicht viel Geräusch, er bewegt sich wie ein Schatten; so gab auch der große hungrige Puma, der sich dem Gehölz nahte, keinen Ton von sich, bis ein kleiner Kiesel, den sein Samtfuß anrührte, den Abhang hinabrollte. Es war nur ein leises Geräusch, aber die Spießerin hörte es; sie stieß den lauten gedehnten Warnruf aus: Snuuf!, rief klein Hörnchen und stürzte mit ihm trotz der Dunkelheit die Klippen hinauf der sicheren Heimat zu. Auch die andern sprangen auf ihre Füße, aber schon war der Löwe mitten unter ihnen. Die Weise sprang auf mit einem Zeichen gegen Krinkelhorn, er solle folgen. Auch sie bewegte sich in großen Sprüngen der sicheren Gegend zu, doch ihr immer eigensüchtiges Lamm dachte, es wisse einen besseren Weg zur Rettung; da es sich aber einsam fühlte, blökte es: »Mutter!«, und sie vergaß der eigenen Gefahr, eilte wieder hinab, und im Nu hatte sie der Löwe hingestreckt. Ein anderes Schaf hüpfte vorbei und noch eines in der Eile und Verwirrung der Flucht. Nach beiden sprang der Löwe, aber beidemal verfehlte er sein Opfer, das in ganz unglaublicher Weise einen Zickzack nach dem andern machte und so entkam, bis auf die arme Schwiele, die als allerletzte den Bergen zustrebte. Denn als der Löwe nach ihr sprang, vermochte sie das beste Schutzmittel der Bergschafe nicht anzuwenden. Die Fähigkeit, durch die sie sich allein retten konnte, hatte sie lange verloren, und so fiel sie dem grimmen Feinde zur Beute.

Weit den Abhang hinauf setzten die Schafe in tollen Sprüngen der Leiterin nach. Eins nach dem andern holten sie ein, als sie ihre Eile mäßigte, und nun sahen sie, daß die Spießerin sie führte. Die Weise sahen sie nie wieder und wußten bald, daß sie umgekommen sein mußte.

Als sie wieder beisammen waren und zurückschauten, hörten sie von tief unten das schwache Bäh eines Lammes. Alle spitzten die Ohren und warteten. Es ist nicht klug, zu rasch mit der Antwort bereit zu sein; wer weiß, ob nicht ein Feind eine Kriegslist gebraucht. Aber es wiederholte sich – das traute Bäh eines Angehörigen der eignen Herde, und die Spießerin erwiderte auf den fragenden Ruf.

Ein Rasseln von Kieseln, ein Kratzen den Abhang herauf, noch ein Bäh zur Orientierung, und unter den wartenden erschien klein Krinkelhorn, jetzt eine Waise.

Natürlich wußte er das noch nicht, so wenig es die andern sicher wissen konnten. Aber als der Tag vorrückte und auf seine klagenden Rufe keine Mutter kam, und als sein kleiner Magen ebenfalls nach etwas Besserem als Gras und Wasser zu schreien anfing, da kam ihm seine trostlose Verlassenheit immer mehr zum Bewußtsein, und sein Bäh ertönte noch jammervoller als zuvor. Als es Abend wurde, bedrängten ihn Hunger und Kälte; er mußte sich an jemand anschmiegen können oder erfrieren. Niemand kümmerte sich aber viel um ihn außer der Spießerin, welche die neue Leiterin zu sein schien, und die mehrmals auf seinen klagenden Ruf antwortete. Aber schließlich geschah es mehr zufällig, als er sich an ihrer Seite niederlegte und sich an ihr wärmte neben seinem alten Feinde, klein Hörnchen.

Seine Mutter ... war so kalt und still.

Am Morgen schien ihn dann die Spießerin schon fast als ihr eigen Fleisch und Blut anzusehen; wenn er sich an Hörnchen rieb, so roch er wie ihr Kind. Und als dann Hörnchen nach ein paar Sätzen die Kreuz und die Quer sich zum Frühstück warme Milch zu verschaffen wußte, war der arme hungrige Krinkelhorn so frei, auf der anderen Seite die gleiche Quelle zu suchen. So fand sich Hörnchen Nase an Nase mit seinem ehemaligen Feinde und teilte sein Geburtsrecht mit ihm. Aber weder er noch seine Mutter hatten etwas dagegen einzuwenden, und so geschah es, daß Krinkelhorn von der Nebenbuhlerin seiner Mutter adoptiert wurde.

VIII.

Kein anderes Muttertier kam der Spießerin an Scharfsinn gleich. Den ganzen Gebirgszug kannte sie jetzt, und bald war alles einstimmig der Ansicht, daß sie leiten müsse. Ebenso galt Krinkelhorn so gut wie Hörnchen als ihr Lamm. Beide waren in vielem wie Brüder. Aber Krinkelhorn empfand keine Dankbarkeit gegen seine Pflegemutter; auch hegte er stets seinen alten Groll gegen Hörnchen, und jetzt, da sie täglich ihr Mahl teilten, sah er Hörnchen als seinen Rivalen an und offenbarte seine Gefühle bald durch einen neuen Versuch, ihn zu meistern. Aber Hörnchen war jetzt besser imstande, sich seiner Haut zu wehren, als je. Krinkelhorn bekam für seine Mühe nichts als ein paar wohlgezielte Seitenstiche, und damit war ihr gegenseitiges Verhältnis aufs neue geregelt.

Während der Sommer dahinschwand, wuchsen sie nebeneinander auf: Krinkelhorn, gedrungenen Körperbaues und unwirschen Geistes, mit schnell wachsenden, aber dicken und verkrümmten Hörnern, und Hörnchen – nun, es geht nicht mehr an, ihn noch länger Hörnchen zu nennen, da seine Hörner schnell und lang wuchsen; wir wollen ihn hinfort Wacker nennen, ein Name, den er nach Jahren in dem Lande um die Gunderspitze erhielt und unter dem er berühmt geworden ist.

Den Sommer hindurch nahmen Wacker und Krinkelhorn an Verstand wie an Größe zu. Sie lernten alle Lebensregeln, die für die Bergschafe gelten. Sie wußten, wie man den warnenden Pfiff ausstößt, wenn etwas in Sicht kommt, und den gefahranzeigenden gedehnten Schnauf, wenn sichere Gefahr im Anzuge ist. Sie kannten alle Wechsel und hätten, wenn sie wollten, selbst den Weg zu irgendeiner nahen Salzlecke gefunden.

Die Zickzacksprünge, die den verfolgenden Feind aus dem Text bringen, verstanden sie so gut wie das steifbeinige Springen, das sicher glasige, schlüpfrige Abhänge hinaufträgt. Wacker übertraf hierin sogar seine Mutter. So waren sie gut imstande, sich selbst zu ernähren; schon lange konnten sie Gras zu sich nehmen, und es war daher Zeit, daß sie entwöhnt wurden, denn die Spießerin brauchte ihr Fett, um sich im nahenden Winter warmzuhalten. Die beiden Schafjünglinge selbst hätten es nicht so eilig gehabt, ihr angenehmes Frühstück aufzugeben, aber die Quelle fing an, spärlich zu fließen, auch wurden die wachsenden Hörner der Lämmer für die Mutter so unbequem, daß sie sie entschieden und endgültig entwöhnte. Lange ehe das erste Schneegestöber das Hochland grauweiß anstrich, waren daher Wacker und Krinkelhorn daran gewöhnt, sich selbst ihr tägliches Brot zu suchen.

IX.

Unter den Mitgliedern der Herde, deren Geschick in diesem Sommer sich erfüllte, war auch ein zweijähriger Widder. Einen Alters- und Geschlechtsgenossen hatte er nicht, in seiner eingebildeten Überlegenheit fühlte er sich todsicher, und die Folge davon war nur, daß sein Fell den Haufen in Scottys Hütte noch ein wenig vergrößerte. Als der erste Winterschnee niederging, waren die Lämmer entwöhnt und suchten sich allein ihre Nahrung, die Mutterschafe aber waren fett und blühend und hatten, ihrer Muttersorgen ledig, andere Gedanken im Kopfe. Mit den ersten Frösten und den steifen Winden brach die Paarungszeit an, und die Schafe suchten deshalb die Teile des Höhenzuges auf, wo sie am ehesten die Widder zu treffen dachten.

Es war wohl öfters im Sommer vorgekommen, daß sie in der Ferne ein paar große Widder bemerkt hatten, aber Signale von hüben und drüben hatten bald gegenseitig darüber aufgeklärt, welcher Art das Gegenüber war, und man hatte sich infolgedessen gemieden. Als jetzt aber ein paar große Schafe in Sicht kamen und die gewöhnlichen Signale gewechselt waren, schien keine Seite mehr irgendwie den Wunsch zu hegen, der anderen aus dem Wege zu gehen. Als die beiden Fremdlinge näher kamen, ließen ihre Körpergröße, ihre majestätischen Formen und mächtigen Hörnerschnecken keinen Zweifel über ihr Geschlecht, und stolz auf ihre Würde und Kraft schritten die beiden vorwärts. Jetzt wandelte sich aber das Entgegenkommen der Spießerin und ihrer Herde in ausgesprochene Schüchternheit. Sie wandten sich, als wollten sie die Ankömmlinge vermeiden. Das führte zu einer Verfolgung und vielfachem Hinundherwenden, bis die Widder sich der Herde anschließen durften. Dann kam es zum unvermeidlichen Zwist. Bis dahin waren die Widder gut Freund gewesen – offenbar die besten Kameraden; aber Kameradschaft und Rivalität in der Liebe vertragen sich schlecht. Es war die alte Geschichte – der Drang der Eifersucht, das Suchen nach einem Vorwand, die Herausforderung und der Zweikampf. Doch sind diese Duelle nicht immer tödlich. Die Widder rannten aufeinander los, die Hörner stießen zusammen, daß die Splitter flogen; aber nach wenigen Gängen wurde einer von beiden, natürlich der schwächere, rückwärts zu Boden geworfen, worauf er aufsprang und zu entkommen suchte. Der andere folgte ihm ein paar Minuten; da aber der Flüchtling für keinen neuen Waffengang zu haben war, so kam der Sieger stolz zurück und beanspruchte, ohne Widerstand zu finden, die Stellung und die Freuden eines Sultans der Herde.

Wacker wandte sich um, dem Feinde entgegen.

Wacker und Krinkelhorn schenkte man keine Beachtung. Voll Scheu vor dem großen Widder, der jetzt der Gebieter der Herde war, sahen sie, es sei für sie das beste, sich möglichst abseits zu halten, da sie sich sonst ihrer Haut nicht recht sicher fühlten.

In der ersten Hälfte des Winters standen sie unter der Leitung des Widders. Er war stark und stattlich und sorgte hingebend für das Wohl seiner weiblichen Gefolgschaft, doch nicht ohne eine Beimischung männlicher Selbstsucht, die ihn trieb, das beste Futter vorwegzunehmen und scharfen Auslug nach Gefahren zu halten. An Nahrung fehlte es nicht, denn der Widder besaß Ortskenntnis und Erfahrung genug, sie nicht in die mit hohem Schnee bedeckten Täler zu führen, sondern leitete sie hinauf zu den rauhesten Kämmen des Hochlands, wo der scharfe Wind das letztjährige Gras bloßlegt und wo auch kein Feind sich ungesehen nähern kann; so ging alles gut.

X.

Es kam die Frühlingszeit mit ihren aufregenden Klängen und Gefühlen. Ihren alten Regeln gemäß hatten sich der Widder und die Herde im Mittwinter getrennt. Schon seit einer Reihe von Tagen bereitete sich die Trennung vor; die Schafe zeigten immer weniger Neigung, ihm zu folgen, und er trieb sich manchmal stundenlang abseits herum. Eines Tages blieb er ganz weg, und hinfort folgten sie bis zum Ende des Winters der Spießerin wie zuvor.

Die Jungen kamen um den ersten Juni zur Welt. Viele von den Müttern hatten je zwei, aber die Spießerin, jetzt die Weise, hatte wie im Vorjahre nur eins, und dieses Junge schob Wacker in den Augen der Mutter völlig beiseite und nahm ihre ganze Fürsorge in Anspruch. Ja, es hinderte sie sogar in der Erfüllung ihrer Pflichten als Leiterin, und eines Tages, als sie das Kleine nährte und sich an dem glückseligen Wedeln seines Schwänzchen ergötzte, stieß ein anderes Schaf den Warnruf aus. AIle wurden starr, nur Lose nicht, die vor der Weisen vorbeisprang. Da tönte es in der Ferne: Knack! Lose fiel tot zur Erde, und die Spießerin stürzte mit einem erstickten Bäh ebenfalls zu Boden. Aber sie sprang wieder auf; ihres eigenen Schmerzes vergessend und sich wild nach ihrem Lamm umsehend, setzte sie die Höhe hinauf den andern nach. Knack! ertönte die Büchse abermals, und jetzt bekam die Alte auch den Feind zu Gesicht. Es war der Mann, dem früher einmal die Lämmer nur mit genauer Not entgangen waren. Wohl war er noch weit weg, aber die Kugel pfiff ihr um die Nase. Sie sprang zurück, änderte die Richtung, wodurch sie sich von den übrigen trennte, und sprang dann über den Höhenrücken, blökend, damit das Kleine ihr folge, und auch vor Schmerz, denn sie war schwer getroffen worden. Aber doch setzte sie auf steilem Felsenweg, ohne zu schwanken, hinunter und brachte die Höhe zwischen sich und den Jäger. Die Schlucht hinunter ging es und dann wieder hinauf der nächsten Schwellung zu, wobei sie sich so gut außer Sicht zu halten wußte, daß Scotty, obwohl er so schnell wie möglich um die Ecke rannte, sie niemals wieder vor Augen bekam. Er lachte in sich hinein, als er die Blutflecke bemerkte; aber diese hörten bald auf, und nach langem, erfolglosem Bemühen, der Fährte zu folgen, gab er es auf, fluchte über sein Mißgeschick und kehrte zu dem sicheren Opfer zurück.

Weiter flohen die Spießerin und ihr Lamm, die Mutter als Leiterin, aber das Kleine ihr voran. Ihr Instinkt sagte ihr, daß nur die Flucht nach oben Sicherheit gewähren könnte. Die Gunderspitze hinauf mußte sie eilen, ohne jedoch gesehen zu werden. So ging es trotz der brennenden Wunde vorwärts, immer von einer dazwischenliegenden Höhe gedeckt, bis die Arme hinter den nächsten Felsen stehen blieb und sich umschaute, weder von ihren Freunden noch vom Feinde war das geringste zu sehen. Da sie fühlte, daß sie eine tödliche Wunde hatte, mußte sie aus dem Bereich des Verfolgers kommen, ehe ihr die Kraft ausging. Und wieder eilte sie davon, mühsam aufwärts keuchend, während das Kleine tändelnd bald vor ihr, bald hinter ihr war. Empor eilten sie, bis die Waldgrenze erreicht war, und immer weiter noch trieb sie ihr Instinkt.

Ein zweiter Höhenrücken ward überschritten, und dann sah sie einen langen weißen Streifen, eine Schneewehe in einer tiefen Schlucht, vor sich liegen. Dorthin trieb es sie. Ein brennender Schmerz durchdrang ihre Lende, die auf beiden Seiten einen dunklen Fleck aufwies. Nach Kühlung verlangte es sie, und sobald sie den weißen Fleck erreicht hatte, sank sie mit der Wunde auf den Schnee.

Es war bei einer solchen Wunde nur ein Ausgang möglich: noch zwei Stunden, höchstens drei Stunden, und dann – nun, was verschlägt's?

Und das Kleine? Es stand da und schaute sie mit großen, nichtssagenden Augen an; es konnte sich die Sache nicht erklären. Es wußte nur, daß es fror und hungrig war und daß seine Mutter, die ihm bisher alles geboten hatte, Nahrung, Wärme, Leitung, jetzt so kalt und still war.

Es verstand nichts von dem, was es sah, und wußte auch nicht, was ihm bevorstand. Aber wir wissen es, wir denken an das elende Verkümmern und an das unvermeidliche Ende, das früher oder später, wenn die Kraft aus war, kommen mußte, und auch die Raben auf dem Felsen wußten es und warteten. Besser wäre es für das Lamm, weit besser, schneller und erbarmungsvoller, die Kugel hätte es erreicht, wie sie seine Mutter erreicht hatte.

XI.

Wacker war jetzt ein schöner junger Widder, stattlicher als irgendeins von den Mutterschafen, und mit langen gekrümmten Hörnern geschmückt. Auch Krinkelhorn war tüchtig gewachsen, ebenso schwer wie Wacker, aber nicht so hoch, und seine Hörner sahen ganz absonderlich aus, da sie so kurz, dick und verkrümmt waren.

Wacker.

Wieder kam der Herbst und mit ihm der große Widder und zugleich eine neue Entwicklung, die für Wacker überraschend war. Er fing eben an, sich seiner Eigenschaft als Widder bewußt zu werden und sich zu gewissen Schafen in der Herde hingezogen zu fühlen, als der große Widder mit seinen gelockten Hörnern und seinem dicken Stiernacken sich einstellte; und das erste, was er tat, war, daß er daran ging, Wacker aus der Herde fortzutreiben. Wacker, Krinkelhorn und drei oder vier andere von ihrem Alter machten sich aber selbst davon, denn so verlangte es die gute Sitte bei den Schafen. Sobald die jungen Böcke zur Mannheit kommen oder doch nahe daran sind, müssen sie fort, um selbst das Leben kennen zu lernen, gerade wie die jungen Leute in die Lehre oder zur Hochschule gehen müssen. Und in den vier nächsten Jahren führte Wacker mit einem halben Dutzend Gefährten ein unstetes Junggesellenleben. Er wurde der Leiter, denn er hatte die geistigen Eigenschaften seiner Mutter geerbt, und sie wanderten in ferne Gegenden, wo sie neue Weiden, neue Wege und neue Weisheit lernten und immer geschickter wurden, selbst die Väter großer und tüchtiger Familien zu werden, denn das ist der höchste Ehrgeiz eines guten Bergwidders.

Übrigens war es gar nicht Wackers Wunsch, so lange ohne Genossin zu bleiben, sondern eine Folge zufälliger Umstände, gegen die er vergeblich ankämpfte. Aber es war in Wahrheit besser so. Kam es ihm zurzeit hart an, so diente es doch nur zu seiner Vervollkommnung, der er vermochte auf diese Weise seine erstaunlichen Gaben aufs höchste zu entwickeln, ehe sie durch die Verantwortlichkeiten und gemischten Freuden eines Familienvaters beeinträchtigt wurden. Jedes Jahr wurden die einsamen Widder schöner. Selbst Krinkelhorn nahm an Größe und Kraft immer mehr zu, wenn man ihn auch jetzt noch nicht einen schönen Widder nennen konnte. Seine alte Mißgunst gegen Wacker hatte ihn nicht verlassen. Hin und wieder suchte er mit ihm anzubinden; einmal wollte er ihn sogar über eine Klippe stoßen, aber er mußte so schwer dafür büßen, daß er hinfort seinen Milchbruder in Ruhe ließ. Wacker anzuschauen war dagegen eine Lust, wenn er die zerrissenen Klippen hinaufsetzte und, kaum eine Spitze nach der anderen mit seinen geteilten, behufenen Zehen berührend, wie ein Vogel emporflog und aller Feinde spottete, die ihm zu Fuß folgen wollten, und wenn das wechselnde blinkende Spiel der Sonnenstrahlen seinen Nacken traf, dessen Oberfläche sich unter der steten Anspannung des feinen Muskelgewebes beständig änderte – dann erschien er mehr wie etwas Geistiges, das keine Schwere besaß und keine Furcht vor dem Fallen kannte, denn als ein großer dreihundertpfündiger Widder mit fünf Jahresringen an seinen Hörnern!

Und was für Hörner! Die jungen Widder seiner Gefolgschaft hatten verschiedenartige Hörner, die von den Erlebnissen wie von den Gaben des Besitzers Zeugnis ablegten: manche waren fast halbmondförmig, manche dick, manche dünn, Wackers aber krümmten sich in einem großen Schwunge von drei Vierteln eines Kreisrunds, und von den fünf Jahrmarken erzählte, von der Spitze an gerechnet, die erste von seinem Jahre als Lamm, als ihm zwei lange Spieße erwuchsen, die ihm bei seinen Jugendkämpfen so gute Dienste taten. Im zweiten Jahre war ein dickerer und weit längerer Ring entstanden; die nächsten beiden Jahre hatten einen noch kräftigeren, aber kürzeren Ring gezeitigt, während der letzte Ring von einem Jahr voll reicher Nahrung, vollkommener Gesundheit und unvergleichlichen Wachstums zeugte, denn der Zuwachs war länger, breiter und hellhorniger als in irgendeinem früheren Jahrgang.

Unter dem Schutz der vorspringenden Wülste der Hornwurzeln lagen wie kostbare Kleinode, die man nicht preisgeben darf, seine schönen Augen. Dunkelbraun in der Lammzeit, gelbbraun beim Jährling, waren sie jetzt in der ersten Zeit seiner Lebensblüte große Augäpfel von glänzendem Gold oder schimmernde Bernsteinkugeln von dunkler, unergründlicher Tiefe, durch welche die ganze strahlende Gotteswelt in Erscheinung trat und sich in seinem Gehirn spiegelte.

Für etwas, das wahrhaft lebt, gibt es keine größere Lust als die Lebenslust, als das Gefühl, in jedem Zoll und jedem Schritt lebendig zu sein. Es war jetzt eine Lust für Wacker, seine vollkommenen Gliedmaßen in fröhlichem Kampfe mit seinen Freunden zu recken. Es war eine Lust für ihn, die Zehen auf ein schmales Felsenriff zu drücken und dann eine unglaubliche Strecke über einen schwarz gähnenden Abgrund zu einer anderen, ebenso schmalen Felsenspitze zu fliegen, deren Umfang und Entfernung er mit nie fehlender Sicherheit ermaß. Es war eine Lust, den Berglöwen durch ein leichtes Hinundher von Kreuzsprüngen schachmatt zu setzen oder sich zu wenden und die Herde der schwarzschwänzigen Hirsche zurückzutreiben, daß sie in wilder Verwirrung in ihr Gebiet, die tieferen Ebenen, hinabsprangen. Er empfand eine innige Lust bei jeder Bewegung und ein triumphierendes Bewußtsein der Stärke, die am letzten Ende Schönheit bedeutet. Und wurde nun solch ein Geschöpf im frühen Winter vom Feuer der Liebe erfüllt und ganz in Glut versetzt, da war es in der Tat ein Kleinod anzuschauen. Im Übermaß der Kraft und Gewandtheit schwebte er wie ein Ball lange, zerrissene Abhänge hinauf oder hinunter in Sätzen von sechs Fuß Höhe, wo ein Fuß vollauf genügt hätte, wäre nicht das Hochspringen selbst eine Lust gewesen. So strich er suchend, verlangend einher – wonach? Er hätte es selbst nicht sagen können, aber er wußte es, als er es gefunden hatte. Fort galoppte er an der Spitze seiner Schar, bis sie die Fährte einer anderen Herde kreuzten und ihr, vom Instinkt geleitet, folgten. Nach wenigen Meilen kam die andere Herde – es waren Mutterschafe – in Sicht. Sie flohen selbstverständlich; als ihnen aber an einer zerrissenen Felsbank der Weg versperrt wurde, standen sie still und ließen nach gehörigem Parlamentieren die Widder herankommen.

Das Dickhornschaf lebt nicht in Monogamie. Der schönste Widder nimmt alle Mutterschafe in der Herde für sich in Anspruch, und jede Anzweiflung seines Anspruchsrechts muß auf der Stelle in tödlichem Kampfe zurückgewiesen werden. Bis dahin hatten die Widder gute Kameradschaft gehalten, aber das änderte sich jetzt. Als der stattliche Wacker vorsprang und mit wildem Schnaufen alle übrigen zur Bestreitung der von ihm beanspruchten Obmacht herausforderte, da wagte ihm keiner entgegenzutreten, und sonderbar genug, trotz der großen Zahl der Werber kam es zu keinem Kampfe. So blieb für den Rest nichts übrig, als auf sein Geheiß abzuschwenken und ihm die hingebende und bewunderungsvolle Herde zu überlassen.

Wenn Schönheit und Heldentum im tierischen Leben in allen Lagen Trumpf sind, so muß Wacker von seiner Herde vergöttert worden sein. Denn war er unter den Widdern ein Held vor allen gewesen, so machten ihn unter den Mutterschafen seine Kraft, seine Größe und seine gelockten Hörner zum Halbgott, und die beschwingten Herzen und der überschäumende Becher waren sein Teil.

Aber am zweiten Tage der Freude erschienen zwei Widder und kamen nach einigen Winkelzügen näher. Das eine war ein schönes, mächtiges Tier, das Wacker an Körpergewicht nicht nachstand, aber kleinere Hörner hatte als er, und das andere war, ja wirklich, es war Krinkelhorn. Der neue Widder schnaufte herausfordernd, als er näherkam, und stampfte mit den Füßen, als wollte er sagen: »Ich bin ein besserer Widder als du und gedenke dich aus deiner jetzigen glücklichen Stellung zu verdrängen.«

Wackers Augen sprühten Feuer. Sein mächtiger Nacken kräuselte sich, wie ein ungeduldiger Renner warf er sein Kinn auf und nieder, schüttelte seine großen Hörner, als wären es bloße Stümpchen, legte seine Ohren zurück und ging darauf los; und vorwärts sprang auch sein Gegner. Mit heftigem Krachen stießen sie zusammen, aber der Fremde hatte den Vorteil der höheren Stellung für sich, und so verlief der erste Gang ohne Ergebnis.

Die Widder wichen zurück, maßen einander und die Entfernung mit grimmigen Blicken und hielten sich, um festen Fuß fassen zu können, am Rande der Felsbank, dann rannten sie wieder mit Wucht aufeinander, daß die Hörner splitterten, denn beide standen in der Blüte des Lebens. Aber diesmal war der Sieg zweifellos auf Wackers Seite. Er verfolgte seinen Vorteil sofort durch einen zweiten Stoß aus kurzer Entfernung. Indem er sich nun herumdrehte, hakte er sein linkes Horn unter das rechte des Gegners, als er zu seiner Entrüstung von einem unbekannten Feinde einen schrecklichen Stoß in die Seite erhielt. Er wurde herumgedreht und wäre über die Klippe hinabgestürzt, wäre nicht sein Horn mit dem des andern Widders verschränkt gewesen; das war seine Rettung, denn kein Widder hat genügend Widerstandskraft und Gewicht in seinem Hinterteil, um den stürmischen Anprall eines andern auszuhalten. Wacker arbeitete sich wieder auf die Füße und konnte gerade noch sehen, wie der neue Feind, von der Wucht seines eigenen Angriffs fortgerissen, über den Felsrand und in die Tiefe hinabflog.

Erst nach einiger Zeit gab das Geräusch des aufschlagenden Körpers denen auf dem Felsensaum davon Kunde, daß Krinkelhorn eben das Schicksal gefunden habe, das er seinem Pflegebruder zugedacht hatte. Widderkämpfe sollen ehrlich ausgefochten werden. Krinkelhorn aber, der im ehrlichen Kampfe nicht bestehen konnte, versuchte es auf krummen Wegen und brachte sich selbst den Untergang; denn auch ein Bergschaf kann bei einem zweihundert Fuß tiefen Sturz nicht am Leben bleiben.

Jetzt wandte sich Wacker mit doppelter Wucht gegen seinen anderen Feind. Noch ein Stoß, und der Fremde lag überwunden auf dem Boden. Er sprang auf und setzte davon. Eine Strecke weit zwang ihn Wacker auf dieselbe Weise, wie Krinkelhorn ihn einst verfolgt hatte, zu weiterer Flucht, dann kehrte er triumphierend zurück, um hinfort unbelästigt mit seiner Familie zu leben.

XII.

Scotty hatte seinen Aufenthalt am Tabakcreek im Jahre 1887 aufgegeben, denn die Jagdgründe dort herum waren unergiebig geworden. Schafe gab es kaum noch, auch zog ihn die Kunde von neuen Goldfunden im Staate Kolorado nach Süden, und so stand die alte Hütte verlassen. Fünf Jahre gingen dahin, während Wacker der erste Widder in der Gegend war. Es waren fünf Jahre unter einem guten Genius, während der böse Geist in der Ferne weilte, also fünf Jahre des Gedeihens für die Bergschafe.

Wacker führte seine Herde im Geiste seiner Mutter. Er lehrte seine Gefolgschaft, sich von den tiefer gelegenen Ebenen völlig fernzuhalten. Die Wälder da unten bargen Gefahren über Gefahren, und Sicherheit boten nur die offenen, windumtosten Gipfel, wo weder Löwe noch Schützen sich ungesehen anschleichen konnten. Mehr als eine Salzlecke fand er im Hochland, wo sie ihr natürliches Bedürfnis ohne die früher für unumgänglich gehaltenen Wanderungen in die Tiefe befriedigen konnten. Er lehrte die Herde, niemals auf dem Kamm des Höhenzuges zu wandern, sondern immer auf einer Seite, so daß sie hinablugen konnten, ohne selbst so leicht gesehen zu werden. Dazu machte er noch eine eigene Erfindung: das Bergen. Wenn nämlich ein Jäger zufällig auf eine Herde stieß, ehe diese ihn bemerkt hatte, so pflegten die Tiere sich durch eiliges Davonspringen zu retten; das war ein ganz guter Plan zur Zeit der Bogen und Pfeile, meinetwegen auch der Vorderlader, aber bei den Repetiergewehren war es etwas anderes. Wacker lernte selbst sich in diesem Falle zu ducken und völlig stillzuliegen, und lehrte die Seinigen, es ebenso zu machen. In neun von zehn Fällen wird dies, wie Wacker zahllose Male fand, den Jäger täuschen.

Es ist immer ein Gewinn für die Menge, wenn ein Gewaltiger in die Erscheinung tritt; so bedeutete auch Wacker eine höhere Entwicklung für die Bergschafe. Seine Nachkommen waren Legion, sie fanden sich weithin um die Gunderspitze herum und nach Osten bis zum Kintlasee. Sie waren gesünder und weit klüger, als es die Bergschafe früher gewesen waren, und ihre Zahl nahm so noch immer mehr zu.

Der Zeitraum von fünf Jahren war nicht spurlos an Wackers äußerer Erscheinung vorübergegangen, aber sein Leib war massiv und rund und muskelstark wie nur je; seine vollkommenen Beine wiesen dieselbe Form und die gleiche Kraftfülle auf; sein Kopf war noch derselbe mit seinem herzförmigen weißen Fleck auf der Nase, und seine Edelsteinaugen blitzten wie ehemals. Aber seine Hörner, wie hatten die sich geändert! Vorher waren sie ungewöhnlich, jetzt waren sie einzig. Die massiven Bogen, in welche die Geschichte seines Lebens eingegraben war, bildeten nun einen vollen Kreis und ein Viertel dazu; sie kündeten von Jahren der Freude und Jahren der Not, und dort jener schmalgeprägte Ring von dunklem, runzligem Horn erzählte von dem Jahr, wo alle Berge von einer schrecklichen Seuche heimgesucht wurden, wo die Lämmer und ihre Mütter in Scharen umkamen, wo viele starke Widder daran glauben mußten, wo Wacker selbst ergriffen wurde, aber dank seinem stählernen Körper und der angeborenen Kraft sich wieder erholte und nach einer Zeit des Elends keine weiteren Spuren davon aufwies als den kümmerlichen Hornwuchs dieses Jahres. Denn in diesem Jahre (1889) wurde es kaum einen Zoll länger, ein untrügliches Zeichen für die, welche solche Schrift lesen können, ein Denkmal der Zeit der Not.

XIII.

Endlich kam der alte Jäger wieder zurück. Wie alle Bergbewohner in Nordamerika führte er ein Wanderleben und bezog so aufs neue seine alte Hütte am Tabakcreek. Das aus Rasenstücken bestehende Dach war eingefallen, und er hatte keine Neigung, es auszubessern. Jedenfalls wollte er erst einmal sehen, wie die Aussichten jetzt hier ständen. Er nahm die Büchse zur Hand und suchte das ihm bekannte Hochland auf. Da er zwei starke Herden von Dickhornschafen zu Gesicht bekam, entschloß er sich zu bleiben. Zunächst ging er daran, die alte Hütte auszubessern, und damit war für die Tierwelt der Gegend der alte Fluch wiedergekehrt.

Scotty war jetzt ein Mann in höheren Jahren; seine Hand war stark und sicher, aber seine Augen besaßen nicht mehr die alte Schärfe. Während er früher jedes Hilfsmittel zur Unterstützung des Sehens verachtet hatte, benutzte er jetzt einen Feldstecher. In den folgenden Wochen musterte er die Felswände oft genug durch sein Glas, und mehr als einmal ruhte sein Auge auf den Formen des Widders von der Gunderspitze. Als er ihn das erstemal erblickte, rief er aus: »Himmel, was für Hörner!« Dann fügte er hinzu: »Die sind mein!« Und er machte sich auf, das Wort wahrzumachen. Aber die Bergschafe, die Scotty in früheren Jahren gejagt hatte, waren weit unvorsichtiger gewesen als die jetzigen, und Monat um Monat verging, ohne daß er den großen Widder näher zu Gesicht bekommen hätte. Der Widder freilich hatte ihn mehr als einmal auf kurze Entfernung gesehen, doch Scotty wußte nichts davon.

Mehrmals bemerkte er durch sein Glas den alten Wacker auf einer fernen Felsbank; war er aber dann stundenlang herumgestiegen, um ihm näherzukommen, so war das Tier nicht mehr da. Manchmal war Wacker auch wirklich fort, aber öfters befand er sich ganz in der Nähe an verstecktem Platze und beobachtete seinen Feind.

Dann bekam Scotty Besuch von einem Viehzüchter namens Lee, einem großen Sportsfreund und Liebhaber von Hunden und Pferden. Die letzteren waren in der stark gebirgigen Gegend zur Jagd wenig zu gebrauchen, aber seine Wolfshunde, drei schöne Russen, waren seine ständigen Begleiter, und er äußerte zu Scotty, ob er es nicht für einen guten Plan halte, die Hunde gegen die Bergschafe zu verwenden.

Grinsend erwiderte der alte Jäger: »Sie kommen scheint's von unten her. warten Se, bis Se sehn, auf was vorn Platz der alte Wacker sich rumtreibt.«

XIV.

Auf den Bergen südlich von der Gunderspitze entspringt der Yakfluß, der aus einer gewaltigen Felsenschlucht, dem sogenannten Skinklers Loch, hervorkommt. Es ist dies nur ein Riß in der ungeheuren Granitmasse, erstreckt sich jedoch mindestens fünfhundert Fuß tief. Unmittelbar im Süden der Gunderspitze liegt ein unebenes Hochplateau, das an dem Cannon des Yakflusses spitz zuläuft und schließlich als langes Vorgebirge über den in seinem schmalen Bette dahintosenden Strom hinausragt.

Dieses Plateau ist eine gute Schafweide, und der Zufall wollte es, daß Scotty, als er mit Lee und dessen drei Wolfshunden dorthinkam, einen Moment unseren Widder in der Ferne erblickte. Vorsichtig hielten sich die Männer außer Sicht und eilten in gedeckter Lage der Stelle zu. Aber es war die alte Geschichte: von der erhofften Beute keine Spur! Seine große Hufspur fanden sie genau, wo sie ihn bemerkt hatten, es war also keine Einbildung gewesen. Aber auf dem harten Felsengrunde ringsum ließ sich nichts über den weiteren Verbleib des Gesuchten erkennen. Zweifellos hätte Scotty, wie so oft, eine rätselhafte Enttäuschung erfahren, wären nicht die Hunde, die in allen Höhlen und Zwergbirkendickichten ringsum mit ihren feinen Nasen spürten, plötzlich in lautes Gebell ausgebrochen, worauf ein mächtiges graues, mit weißem Stern gezeichnetes Tier aufsprang: es war der Widder, der wunderbare Gunderwidder. Über die niedrigen Büsche, über die zerrissenen Felsen hüpfend, sich schwingend, schwebend, geschmeidig, sicher, glänzend trug er die großen lockigen Wunder auf seinem Haupt so leicht wie eine Dame ihre Ohrringe, und dann sprang hier und da aus gedeckter Stellung seine Herde auf und schloß sich ihm an. An die Wangen flogen die Büchsen, aber im Augenblick jagten die drei großen Hunde hinterdrein und gewährten so unabsichtlich dem einen Opfer Deckung, auf das alle Gedanken gerichtet waren; nicht ein Schuß wurde gehört. Fort eilten sie, der Widder bald wieder an der Spitze und die andern hinterdrein. Über die Hochebene eilten sie fliegend, segelnd, hüpfend und hin und her sich bewegend. Auf glatter Ebene würden die Hunde bald den letzten Flüchtling, vielleicht auch ihre edelste Beute ergriffen haben, aber auf den zerrissenen Felsen waren offenbar die Schafe im Vorteil. Die beiden Männer liefen, der eine rechts, der andere links, um die Jagd besser verfolgen zu können, und Wacker, von dem Gipfel abgeschnitten, stürzte nach Süden zu auf die dem Cannon vorgelagerte Ebene. Nun war es ein regelrechter Wettlauf. Vorwärts ging es, immer vorwärts nach Süden zu. Die Hunde gewannen jetzt an Terrain und waren nahe daran, das hinterste Schaf zu fassen, da blieb auf einmal der Widder zurück und war nun der letzte. Jetzt kam auch wieder eine unebene Strecke, und die Schafe vergrößerten stetig, wenn auch langsam, den Zwischenraum zwischen sich und den Verfolgern. Zwei, vier, sechs Kilometer legten sie zurück, und die wilde Jagd ging an dem Felsensaum entlang, der plötzlich zum Cannon abfällt. Noch eine Minute, und die Schafe hatten den letzten Felsenvorsprung erreicht, von wo es hinuntergähnte zum tiefen engen Tal. Voll Angst drängten sich die gehetzten Tiere aneinander: ringsum der schwindelerregende fünfhundert Fuß tiefe Cannon und hinter ihnen drei blutgierige Hunde und zwei noch blutgierigere Männer. Da erschien nach wenigen Sekunden Wacker. Umgarnt, wie er sich sah, wandte er sich, um zu kämpfen, denn ein wildes Tier ergibt sich nie.

Jetzt war er so weit von den nachstürmenden Hunden entfernt, daß zwei Büchsenkugeln heranschwirrten. Vor den Hunden hatte er keine Furcht, aber die Büchsen bedeuteten sicheren Tod. Da gab es keine Möglichkeit des Entrinnens. Die Granitmauern des Gebirges konnten nicht härter und unbarmherziger sein als der menschliche Feind. Nur noch tausend Fuß trennten ihn jetzt von den Hunden, schönen, mutvollen Geschöpfen, kampflustig und todesmutig, und nicht viel mehr von den unerbittlichen und schon triumphierenden Jägern. Sicherer Tod winkte dort und eine zweifelhafte Lebenshoffnung hier. Es galt, keine Zeit zu verlieren; er, der Leiter, mußte handeln. Er wandte sich zum Rand und sprang hinunter – hinunter, nicht auf den Grund des Cannons, nicht blind. Dreißig Fuß weiter unten, mitten in dem schwindligen Abgrund, war eine einzige Felsennadel, nicht umfangreicher als seine Nase – die einzige Spitze, die sich dem Blicke bot. Aber Wacker erreichte sie gut. Einen Herzschlag nur weilte er, dann hatten seine funkelnden Augen blitzschnell einen anderen Punkt, seine einzige Hoffnung, auf der anderen Seite erspäht, dort unter dem überhängenden Felsen, von dem er abgesprungen war. Seine geschmeidigen Lenden und sehnigen Glieder bogen sich, stießen ihn ab und trugen ihn hinüber, wo sich ein weiterer Anker für das Schiff seiner Flucht bot. So ging es weiter, vorwärts und rückwärts, rechts und links, manchmal nur auf eine kleine Unebenheit des Felsens, auf der seine aus Horn und Gummi gebildeten Hufe einen Augenblick hafteten, um dann einem anderen Punkte zu abzuprallen. Dann fünfzehn Fuß nach der Seite hin und hinab, immer weiter hinab, bald so, bald so einen neuen Stützpunkt gewinnend, bis er mit einem letzten Satz von zwanzig Fuß tief unten einen sicheren Saum erreichte.

Und von seinem Beispiel angefeuert, folgten die andern schnell: ein langer Wasserfall von Schafen. Hätte er nur einmal sein Ziel verfehlt, es wäre um alle geschehen gewesen. So aber kamen sie eins hinter dem andern glücklich hinunter. Es war ein köstliches, ein erhebendes Schauspiel. Bald nahmen sie zehn, bald zwanzig Fuß, eins wie alle springend, fliegend, schwebend von Spitze zu Leiste, von Leiste zu Spitze, mit meisterlicher Beherrschung von Muskel und Huf und mit wunderbarer Bewahrung des Gleichgewichts.

Aber gerade, als das letzte Schaf den zweiten schmalen punktartigen Absatz erreicht hatte, da wirbelten drei weißgelbe Geschöpfe mit erstickten Schreckenslauten durch die Luft, um unten ihr Schicksal zu besiegeln. Die ungestümen, furchtlosen Hunde, die niemals gezaudert hatten, wenn es galt, einem Feinde zu folgen, ahnten nicht, daß dieser ganz andere Gaben für solchen Fall besaß als sie, bis es zu spät war. Tief unten, fast am Rande des Wassers, machte Wacker endlich halt, weit oben hörte er die Jäger schreien und pfeifen, und unten im kochenden Wasser des Yak sah er eine unförmliche weißgelbe Masse treiben.

Lee und Scotty standen verblüfft am Rande des Vorsprungs. Schafe und Hunde waren verschwunden, beide schienen rettungslos verloren. Scotty stieß wilde, lästerliche Verwünschungen aus. Lee hatte ein erstickendes Gefühl in der Kehle, und seine Empfindungen kann nur der verstehen, dem plötzlich auf tragische Weise ein Rassehund verloren gegangen ist.

»Bran! Rollo! Ida!« rief er, obwohl er kaum noch zu hoffen wagte; aber die einzige Antwort war das Ächzen und Pfeifen des Westwindes, der Skinklers Loch hinabfuhr.

XV.

Lee war ein junger warmherziger und leicht erregbarer Wann. Ein paar Tage schlich er niedergeschlagen bei der Hütte herum. Der Verlust seiner drei Freunde ging ihm sehr nahe; er wollte nichts mehr von der Bergjagd wissen. Aber nach ein paar Tagen heiterte sich seine Stimmung unter dem Einfluß eines erfrischenden Windes auf, und er war einverstanden, als Scotty eine kleine Jagd vorschlug. Als sie die Hochebene erreicht hatten, rief Scotty, der mit seinem Glas von Zeit zu Zeit die Hügelzüge musterte; plötzlich aus:

»Zum Deibel, wenn das nich der alte Gunder-Widder is! Dachte, der läge mausetot in Skinklers Loch.« Und er mußte sich auf den Boden setzen, so stark erregte ihn die überraschende Wahrnehmung. Lee nahm das Glas zur Hand und erkannte den wundervollen Widder an seinen herrlichen Hörnern. Das Blut schoß dem jungen wann ins Gesicht. Jetzt winkte ihm Ruhm und Rache in einem. »Armer alter Bran! Guter Rollo, gute Ida!«

Es gibt nur wenige Tiere, die schlau genug sind, einer Kombination von Verfolgung und Hinterhalt zu entgehen. Scotty waren die Landschaft und ebenso die Gewohnheiten des Widders wohlbekannt.

»Er wird nich mit'm wind laufen und wird auch nich aus d'n Felsen rausgehen. Das heißt, er wird'n Gunderberg raufgehn, wenn er sich rührt; und er muß hier gehn oder da. Er wird nich nach Westen gehn, wenn ich mich mal da zeige. So gehn Se nach Osten; zwei Stunden haben Se, bis Se sich aufstellen. Ich denk' mir, er wird die Spur bei der Leiste da kreuzen.«

Lee machte sich nach der angewiesenen Stellung auf den Weg. Scotty wartete zwei Stunden, dann begab er sich auf einen Bergrücken, schwenkte weithin sichtbar seine Arme und ging ein paarmal hin und her. Wenn er auch den Widder nicht bemerkte, so wußte Scotty doch, daß dieser ihn sah. Dann schlängelte sich der alte Bergjäger in guter Deckung nach Süden zu und näherte sich über die Höhenzüge hinüber der Stelle, wo der Widder gewesen war. er erwartete nicht, daß ihm der alte Wacker zu Gesicht kommen, wohl aber, daß jener ihn bemerken werde. Lee war auf seinem Posten und sah nach kurzer Frist den großen Widder selbst, der in leichten Sprüngen eine zwei Kilometer entfernte Schwellung herabkam und hinter sich drei Mutterschafe hatte. Sie verschwanden in einer fichtenbestandenen Mulde, und als sie auf der nächsten Erdwelle sichtbar wurden, liefen sie in großer hast und mit zurückliegenden Ohren, und hinter ihnen her kam nicht, wie es Lee erwartet hatte, das Knallen von Scottys Büchse oder sein lautes Hallo, sondern das Geheul eines Rudels jagender Wölfe. Auf felsigem Grunde fiel es den Schafen nicht schwer, diesem Feinde durch die Flucht zu entgehen, aber im Gehölz oder auf flacher Ebene, wie sie jetzt vor ihnen lag, waren die Wölfe im Vorteil; und nach einer Minute kamen sie in Sicht – fünf große zottige Tiere. In wirbelnder Eile flogen Verfolgte und Verfolger über die Ebene dahin. Die Schafe, die um ihr Leben rannten, liefen je nach der Schnelligkeit hintereinander: weit voran der große Widder, hinter ihm in Abständen von je zehn Metern die drei Mutterschafe, und vierzig Meter hinter dem letzten die fünf grimmigen Wölfe, die mit jedem Satz näher kamen. Jahrelange Erfahrung und häufige Todesnot hatte die Schafe gelehrt, in den Felsen ihr Heil zu suchen, und dorthin lenkte auch der Widder seine Schritte. Aber schon war die drohende Gefahr dem hintersten Schaf ganz nahe gekommen, und das geängstete Tier stieß ein klagendes Bah aus. Die Wölfe waren fast in Sprungweite, als Wacker den Felsenkragen, der am Abhang entlanglief, erreichte. In dem Moment, wo der Klagelaut des Mutterschafes sein Ohr traf, wandte sich Wacker auf dem schmalen Saume um und trat dem Feind entgegen. Er drückte sich an die Felswand, damit die Mutterschafe an ihm vorüber den Weg zur Rettung nehmen konnten.

Da rückten auch schon die Wölfe mit triumphierendem Geheul heran. So manches Schaf hatten sie niedergerissen, und nun, wußten sie, stand ihnen bald ein Schmaus bevor. Ohne zu zögern, rückten sie vor, aber bei der Enge des Saumes nur einzeln. Der vorderste sprang an, aber seine todbringenden Zähne und seine Krallen stießen nur auf eine feste Hornmasse, und dahinter war eine Kraft, die seinen Kopf zurück auf seinen Körper und diesen gegen den ihm folgenden Kameraden mit solcher Wucht stieß, daß beide über die Klippen einem elenden Tode entgegenflogen. Jetzt stürzten die andern vor. Dem Widder fehlte die Zeit, zu einem regelrechten Vorstoß einen Schritt zurückzugehen, aber es genügte ein kräftiges Schwenken des mächtigen Hauptes. Die wieder wie in seiner Lammjugend nach vorn stehenden Hornspitzen nahmen den nächsten Wolf auf und schleuderten ihn beiseite und dann den nächsten, und nun konnte Wacker zurücktreten, um sich zu vollem Kräfteansatz zu sammeln. Nur ein toller Wolf konnte die Warnung in den Wind schlagen, aber auch der letzte stürzte darauf los, und Wacker, von wilder Kampfeswut erfüllt, ließ den lebenden Blitz, das heißt sich selbst, niederschmettern und traf die letzte von den zottigen Bestien mit einem Stoß, der sie an den Felsen nagelte; dann hob er sie wie einen Lappen auf die Hörner und schleuderte sie weit weg in den Abgrund, in dem sie, sich überschlagend und drehend, verschwand.

Der große Widder hob sein strahlendes Haupt, ein gedehntes kräftiges Schnauben wie von einem Streitroß tönte aus seinen Nüstern, und einen Augenblick schaute er um sich, ob nicht noch mehr Feinde kämen; dann wandte er sich und setzte in leichten Sprüngen den Mutterschafen nach, die er so herrlich beschützt hatte.

Von seinem Versteck aus verfolgte der junge Lee die ganze Szene, die sich nur fünfzig Meter von ihm abspielte, mit eifrigen, blitzenden Augen.

Wacker bot ein leichtes Ziel, nur fünfzig Meter weit und in voller Ruhe; er bot ein prächtiges Ziel, wie sich's der alte Scotty in seinen kühnsten Träumen nicht vorzustellen wagte. Aber Lee war Zeuge einer Tat gewesen, die sein Blut wallen ließ. Er empfand nicht den Wunsch, diesem Leben ein Ende zu machen, sondern saß mit glänzenden Augen da und sagte ergriffen: »Du trefflicher alter Kämpe. Ich frage nicht danach, ob du meine Hunde umgebracht hast. Du hast's in ehrlichem Kampfe getan. Ich werde dir gewiß nichts tun; vor mir kannst du ruhig sein.«

XVI.

Es gab einmal einen Elenden, der, weil er sich auf keine andere Weise glaubte einen Namen machen zu können, dieses Ziel durch Zerstörung des schönsten Gebäudes auf Erden erreichen wollte. Ähnlich ist es beim jagenden Sportsmann. Je edler das ist, das er zerstört, desto größer ist die Tat, desto größer ist sein Vergnügen und desto größer sein Anspruch auf Ruhm.

Während der folgenden Jahre erblickte mehr als ein Jäger den großen Widder und weidete seine begehrlichen Augen an dessen unvergleichlichen Hörnern. Bis in die Städte drang sein Ruhm. Raritätenhändler boten fabelhafte Preise für den Kopf, der jene Hörner trug, setzten ein Blutgeld auf das Leben, das sie geschaffen hatte; und viele kamen und versuchten ihr Heil, und keiner kam zum Ziel. Dann wurde Scotty, der immer in Not war, durch ein noch größeres Geldangebot angefeuert; er machte sich mit einem Gefährten auf, und sie fanden den Widder inmitten seines Harems. Aber in drei Tagen hartnäckiger Verfolgung bekamen sie ihn nicht einmal wieder zu Gesicht. Da meinte der Gefährte, man könne auf andere Weise sein Geld leichter und besser verdienen, und kehrte heim.

In Scottys düsteren grauen Augen flammte jedoch das Feuer unauslöschlicher Hartnäckigkeit, das seine Volksgenossen in mancher Beziehung zu Herren des Erdballs gemacht hat. Er suchte wie der andre seine Hütte auf, aber nur, um Vorbereitungen für eine lange und unermüdliche Jagd zu treffen. Seine Büchse, seine Decke, seine Pfeife nebst Streichhölzern, Tabak, ein Topf, ein Päckchen gedörrten Fleisches und drei oder vier Pfund Schokolade war alles, was er mit sich nahm. Am nächsten Tage kehrte er allein zu der Stelle zurück, wo er die Fährte des Widders verlassen hatte, und folgte ihr im Schnee, wo sie sich in Windungen fortzog, oft verdunkelt von den Spuren der anderen Herdenglieder, aber immer wieder durch ihre Größe bemerkbar. Mehrmals kam Scotty an Stellen, wo sich die Herde gelagert hatte, und von Zeit zu Zeit suchte er mit seinem Glas die Ferne ab. Über er konnte nichts von ihnen bemerken. Nachts lagerte er auf der Fährte und nahm sie am nächsten Tage wieder auf. Nach stundenlanger Verfolgung kam er an eine Stelle, wo der Widder offenbar halt gemacht hatte, um ihn von ferne zu beobachten; er wußte also, daß er verfolgt wurde, von nun an bestand die Fährte der Herde eine lange Strecke weit nur aus einer einzigen Linie, die zu einer fernen Weide hinführte.

Scotty war unablässig hinterdrein; den ganzen Tag lang folgte er, und nachts kroch er in irgendeine kleine Höhle wie ein wildes Tier, nur mit dem Unterschied, daß er ein Feuer hatte und als Kulturmensch seine Pfeife rauchte. Um Morgen wanderte er weiter wie am Tage zuvor, hin und wieder, aber sehr selten, sah er die Schafe in weiter Ferne ihren Marsch nach Süden fortsetzen. Der nächste Tag verging, und die Schafe wurden dem Südende der Yakhöhe zugetrieben, direkt an das Nordende des Weißfischsees.

Weiter im Süden lag die Halbmondprärie, im Osten unebenes Terrain, das sich nach der Nordgabel des Flachkopfs hinstreckte, und im Norden drohte der unermüdliche Todfeind. Die Schafe waren jetzt im Zweifel, und als der alte Wacker die niederen Felsenbänke des östlichen Abhangs entlang zurückschleichen wollte, hörte er ein Knacken, und etwas Stechendes traf das eine Horn und riß ihm das Haar von der Schulter.

Der Anprall einer Flintenkugel auf das Gehörn eines Widders pflegt eine mehr oder minder betäubende Wirkung auszuüben, und Wacker gab in seiner momentanen Verwirrung das Signal, das in unserer Sprache lauten würde: »Rette sich, wer kann!« So zerstreute sich die Herde; die einen liefen hierhin, die andern dorthin, und zwar manche fast ohne Deckung.

Aber Scottys einziger Gedanke war der alte Wacker. Was kümmerten ihn die andern? Und als der Widder sich in östlicher Richtung den Hügel hinabwandte, nahm Scotty seine Spur wieder auf und folgte ihr fluchend und keuchend.

Der Flachkopffluß war nur einige Kilometer entfernt. Der Widder kreuzte über das Eis und bewegte sich den ganzen Tag, möglichst auf unebenem Terrain und indem er stets mit dem Winde ging, in nordöstlicher Richtung fort, während ihm der hartnäckige Jäger folgte. Am fünften Tage kamen sie bei Terrys See vorbei. Scotty kannte die Gegend gut. Der Widder ging nach Osten und kam, wie der Jäger wußte, bald an eine Stelle, wo in weiter Ausdehnung Holzfäller tätig waren; dann mußte er umkehren, denn der sackartige Cannon, in den er geriet, hatte nur einen Ausweg. Scotty ließ die Fährte im Stich, wandte sich nordwärts zu dem Engpaß, den der Widder herunterkommen mußte, und wartete. Der Westwind, der sogenannte Chinookwind, hatte sich erhoben, der einzige feuchte Wind für die Felsenberge, der Schneebringer für die Hügellandschaft, und wie er sich aufmachte, fingen die Flocken an zu fliegen, und nach einer halben Stunde herrschte ein blendender Schneesturm. Nicht zwanzig Meter weit konnte man sehen. Aber es dauerte nicht lange; in ein paar Minuten war das Schlimmste vorüber, und in zwei Stunden strahlte der Himmel wieder klar und heiter. Scotty wartete noch eine Stunde, aber da er nichts sah, so verließ er seinen Posten, suchte nach irgend einem Merkmal und fand es auch – eine schwache Fährte, vom Neuschnee fast verdeckt, aber an einer Stelle unter einem Felsenvorsprung klar hervortretend. Der Widder war unbemerkt vorbeigekommen, er war dem Verfolger dank dem Schneesturm entwischt.

O Chinook! Mutter Westwind! Die du die Frühlingsschauer und den Schneesturm des Winters bringst, die du das Gras wachsen läßt auf diesen mächtigen welligen Hochebenen, die du das Gras nährst und damit alles Fleisch, das vom Gras lebt, die du dieses Hochland selbst geschaffen hast und alles, was auf ihm atmet – bist du nur ein Lufthauch oder bist du, wie es uns die Griechen wie auch die Indianer gelehrt haben, etwas Besseres, ein lebendes, denkendes Wesen, das zuerst schafft und dann seiner Hände Werk schützt und hütet? Warum bist du an jenem Tage gekommen und hast dem blutdürstigen Mann deinen Schleier um die Augen geworfen? Geschah es nicht, damit er dein prächtiges Geschöpf nicht sehe und verletze?

Und war es nicht deine Hand, die die beiden an jenem lange vergangenen Tage, als der Widder das Licht erblickte, zusammengeführt hat?

XVII.

Nun sagte sich Scotty, der Widder müsse bei seinem ungestümen Drängen nach der Ostseite des Flachkopfs ein bestimmtes Ziel im Auge gehabt haben, und dieses Ziel müsse das Hügelland um den Kintlasee sein, wo er bewandert und oft gesehen worden war. Wahrscheinlich hielt er den ganzen Tag, solange der Chinook wehte, die westliche Richtung bei, wandte sich aber sicher ostwärts, wenn sich der Wind in der Nacht drehte. So mühte sich Scotty nicht weiter, der Spur zu folgen oder die Westspitze des Kintlarückens zu erreichen, sondern wandte sich gerade nach Norden über die Wasserscheide dem See zu. Der Wind schlug in der Nacht um, und als Scotty am nächsten Tage durch sein Glas die gewaltige Ausdehnung zwischen sich und dem See musterte, bemerkte er da unten einen Fleck, der sich bewegte. Schnell suchte er für seine Person Deckung und eilte vorwärts, um den einsamen Wanderer abzufangen. Als er sich aber der Stelle, der er zustrebte, näherte und vorsichtig ausschaute, siehe, da stand der Widder fünfhundert Meter entfernt auf dem nächsten Höhenzuge. Beide konnten einander mit voller Muße betrachten.

Scotty stand eine Minute still und schaute schweigend hinüber. Dann rief er laut: »Nu, alter Wacker, du kannst den Totenkopf und die gekreuzten Knochen auf meiner Flinte sehen. Ich bin der Tod auf deiner Fährte, du kriegst mich nich mehr los! Die Hörner da müssen mein werden. Und nu, auf gut Glück!« Er hob die Büchse und feuerte, aber die Entfernung war zu groß. Der Widder stand unbeweglich, bis er das Rauchwölkchen sah; dann wich er schnell beiseite, und die Kugel schlug nicht weit von seinem ersten Standpunkt in den Schnee.

Jetzt wandte sich der Widder ostwärts am Rande des zerrissenen Südufers des Sees entlang der Hauptwasserscheide zu, und Scotty, der eine Zeitlang weit zurückblieb, trottete beständig und unfehlbar hinterdrein. Denn zu seiner unermüdlichen Zähigkeit gesellte sich das angelsächsische Erbteil blindwütiger Ausdauer, sinnloser, unmenschlicher Hartnäckigkeit – die unbeugsame Entschlossenheit, die an dem Erstrebten festhält, wenn Vernunft, Verstand und Ehre schon lange den Versuch aufgegeben haben, die gegen eigenes Unheil blind macht und selbst den Unterliegenden noch einen schwachen Streich ausführen, ja ihn noch das letzte Restchen Kraft in toller Wut gegen den Überwinder anwenden läßt, der ihn dafür, wie er weiß, sofort vernichten wird.

Weiter ging es, weiter den ganzen Tag; dann ein Nachtlager und am Morgen wieder auf. Manchmal war der Fährte leicht zu folgen, manchmal hatte sie Neuschnee getilgt oder doch verwischt. Aber Tag für Tag folgte einer dem andern. Ab und zu bekam Scotty den Preis, dem er so hartnäckig nachjagte, zu Gesicht, aber niemals in großer Nähe. Es schien, als wüßte der Widder, daß fünfhundert Meter die äußerste Tragweite der Flinte seien, und ließ den Jäger so weit, bis an die Sicherheitsgrenze, kommen. Nach einiger Zeit machte es sogar den Eindruck, als sei es ihm viel lieber, den Verfolger dort zu haben, offenbar, weil er dann wußte, wo sich dieser befand. Einmal überrumpelte ihn Scotty und hätte einen Nahschuß tun können, aber der verhängnisvolle Westwind brachte Wacker die Witterung und warnte ihn noch zur rechten Zeit; doch das war im ersten Monat der unerbittlichen, furchtbaren Jagd. Nach einiger Zeit kam der Widder nie mehr außer Sicht.

Warum floh er denn nicht davon und ließ den Jäger für immer hinter sich? Weil er seinem Futter nachgehen und weiden mußte. Der Mensch hatte sein Dörrfleisch und seine Schokolade, Vorrat für lange Zeit, und war der verbraucht, so konnte er einen Hasen oder eine Gans schießen, hastig kochen und davon den ganzen Tag leben. Aber der Widder mußte stundenlang das spärliche Gras unter dem Schnee suchen. Die lange Verfolgung war nicht spurlos vorübergegangen. Wohl glänzten seine Augen so hell wie je, wohl griffen seine schön geformten Glieder so sicher aus wie sonst, aber sein Unterleib zog sich zusammen, und der Hunger, der entkräftende Hunger, gesellte sich als neuer Feind zu dem alten.

Fünf lange Wochen hatte die Jagd gedauert, und die einzige Erholungszeit für den Gunderwidder trat ein, wenn ein Schneesturm von Westen ihm seinen Schleier lieh.

Dann kamen zwei Wochen, in denen sie sich keinen Tag aus den Augen verloren. Am Morgen erhob sich Scotty von seiner frostigen Lagerstätte und schaute zu dem gejagten Wild hinüber, als wollte er sagen: »Auf, Wacker, 's ist Zeit, weiterzugehen!« Und der Widder auf seinem fernen Höhenzuge stampfte trotzig mit den Füßen, dann hob er die Nase in den Wind und bewegte sich vorwärts, bald schnell, bald langsam, aber immer den sicheren Fünfhundertmetergürtel wahrend. Setzte sich Scotty, so fing der Widder an zu grasen Versteckte sich Scotty, so rannte der Widder besorgt an eine Stelle, wo eine unbemerkte Annäherung unmöglich war. Blieb Scotty eine Weile unbeweglich, so beobachtete ihn der Widder scharf und ebenso unbeweglich. So wanderten sie herum, bis elf Wochen ohne besonderes Ereignis sich langsam erfüllt hatten. Dabei hatte sich ein eigentümliches Verhältnis zwischen den beiden herausgebildet. Der Widder gewöhnte sich so an den Schweißhund auf seiner Spur, daß er ihn als ein unvermeidliches, fast als notwendiges Übel hinnahm; und eines Tages, als Scotty sich erhob und den Norden nach Wacker durchmusterte, hörte er einen lauten schnarchenden Ton hinter sich und sah, als er sich umwandte, den alten Widder ganz ungeduldig warten. Der Wind hatte sich gedreht und mit ihm auch Wacker seine Richtung geändert. Einmal hatte Scotty bald nach seinem Aufbruch am Morgen zwei Stunden lang schwer zu tun, um über einen Fluß zu gelangen, über den Wacker mit einem Sprunge gesetzt hatte. Als er das andere Ufer erreichte, hörte er wieder das Schnarchen, und wie er sich umblickte, fand er, daß der Widder neugierig zurückgekommen war, um zu sehen, wo er bliebe.

O Wacker, o Gunderwidder! Wie stellst du dich zu deinem unversöhnlichen Feinde! Was spielst du mit dem Tode? Sind all die hundert Warnungen von Mutter Wind vergeblich gewesen? Vorwärts, vorwärts! Tu dein Bestes, daß sie dich noch zu retten vermögen, aber spiele nicht! Bedenke, daß der Schnee, der dich retten sollte, dich noch verraten kann!

XVIII.

So durchmaßen sie den Winter hindurch das ganze Hauptgebirge, die Kootenayfelsen, Spur hinter Spur, bis hinauf zum Krähennestpaß. Dann wandte das rastlose Paar dem weißen Wind entgegen seine Schritte westwärts, dann südwestlich nach der Macdonaldhöhe und empor bis zum Galtomzuge. Tag für Tag dasselbe Spiel: zwei dunkle Flecke, die sich auf dem ungeheuren Schneetuch fortbewegen. Manchmal kreuzte ihre Fährte die anderer Schafe und anderen Wildes. Einmal trafen sie Bergarbeiter, die von Scotty und seiner Jagd wußten und ihn hänseln wollten, aber er starrte sie verständnislos an, achtete ihrer nicht und ging weiter. Oftmals suchte der Widder seine verräterischen Fußspuren in den Fährten anderer Herden zu verbergen, aber Scotty ließ sich nicht täuschen, seine Jagd war ihm sein Leben geworden. Nichts konnte ihn hinters Licht führen, und jetzt gab es auch weniger Unterbrechungen, denn die Schneestürme schienen aufzuhören; der weiße Wind ruhte, und die Natur gebot den beiden kein Halt mehr.

Fort ging es, fort, immer in der Entfernung eines reichlichen halben Kilometers voneinander, und auf beide, schien es, hatten Zeit und Tod ihre Hand gelegt. Beide waren hohläugig und wurden jeden Tag hagerer. Des Jägers Haar war gebleicht, seit er die unselige Hatz begonnen hatte, und Kopf und Schultern des Widders waren ebenfalls ergraut; nur seine Juwelenaugen und seine herrlich geschwungenen Hörner waren die gleichen und wurden mit dem gleichen Stolze getragen, wie am ersten Tage der Jagd.

Jeden Morgen erhob sich der Mann steif, halb erfroren und abgemergelt, aber auf seinen Plan versessen wie ein Tollhäusler, und schlich sich vorwärts, um einen Nahschuß tun zu können. Aber regelmäßig wurde Wacker zur rechten Zeit aufmerksam, sprang von seinem Lager in die Höhe und führte die Jagd wie am Tage zuvor. Endlich, im dritten Monat, kreuzten sie wieder von der Galtom- zur Tabakkette, dann östlich zurück zur Gunderspitze – der Widder voran und der unerbittliche Schweißhund auf seiner Fährte. Hier, in der Geburtsgegend des Widders, saßen sie eines Morgens, um auszuruhen, der Widder auf einem Kamm und Scotty sechshundert Meter entfernt auf dem nächsten. Zwölf lange Wochen hatte ihn der Widder durch den Schnee über langgestreckte Bergketten fast tausend Meilen zerrissenen Gebirgslandes weit geführt.

Und jetzt waren sie wieder am Ausgangspunkt angelangt, und beide hatten in dieser kurzen Spanne die Hälfte ihres Lebens darangesetzt. Scotty ließ sich nieder und zündete seine Pfeife an, der Widder fing eilig an zu grasen. Solange der Mann da drüben in Sicht blieb, so lange wich auch der Widder nicht von seiner Weide. Das wußte Scotty gut, denn er hatte es hundertmal erfahren. Da fuhr, wie er so saß und rauchte, ein böser Geist in ihn und heckte einen schlauen Plan aus. Der Jäger leerte seine Pfeife bedächtig und legte sie weg, dann schnitt er von der Zwergbirke hinter sich ein paar Stöcke ab und trug einige Steine zusammen, während ihn der mächtige Widder von fern beobachtete. Scotty bewegte sich zum Rand des Kammes und errichtete mittels Stöcken, ein paar Steinen und den irgend entbehrlichen Kleidungsstücken ein Trugbild seiner selbst. Dann kroch er, indem er sich sorgfältig und genau dahinterhielt, rückwärts über die Felsenkante und verschwand. Nachdem er sich hierauf eine ganze Stunde lang kriechend und schleichend fortbewegt hatte, gelangte er auf die Bergwelle hinter dem Widder.

Da stand er, majestätisch wie ein Büffelstier, anmutig wie ein Damwild, mit seinen Hörnern, die sich um seine Brauen rollten wie Donnergewölk um die Bergesspitze. Neugierig starrte er beständig auf den Strohmann, erstaunt über die lange Unbeweglichkeit seines Verfolgers. Scotty war etwa dreihundert Meter von ihm entfernt. Hinter dem Widder lagen ein paar niedere Steinbrocken, aber sonst war nichts zwischen ihm als die öde Schneefläche. Scotty legte sich nieder und bedeckte sich den Rücken mit Schnee, bis er ganz weiß aussah; dann fing er an, zweihundert Meter weiterzukriechen, ohne den Kopf des großen Widders einen Augenblick außer acht zu lassen, und bewegte sich dabei so schnell vorwärts, wie er es nur irgend zu tun wagte. Immer noch starrte der alte Wacker auf die Puppe und stampfte schon ungeduldig mit den Füßen. Einmal sah er sich scharf um, und er hätte den todbringenden Kriecher im Schnee bemerkt, wäre nicht sein Horn selbst, sein großes rechtes Horn, zwischen sein Auge und seinen Feind gekommen und ihm so die letzte kleine Hoffnung des Entrinnens genommen worden. Näher, immer näher an die deckenden Felsentrümmer heran kroch der Böse. Dann, als er sie am Ende glücklich erreicht hatte, machte er halt, knapp ein halbes hundert Meter entfernt. Zum erstenmal in seinem Leben sah er die berühmten Hörner ganz nahe. Er sah die großen, breiten Schultern, den schön gekrümmten Nacken, alles noch markig, obwohl sich die Spuren der langen Entbehrung nicht verkennen ließen; er sah dieses prächtige Mitgeschöpf den heißen Lebensatem aus den im Sonnenlicht zitternden Nüstern blasen, und es kam ihm auch ein Schimmer von dem Lebenslicht in den funkelnden Bernsteinaugen zu Gesicht; doch er hob langsam das Gewehr.

O Mutter Weißwind, blase doch! Laß es nicht geschehen! Ist denn deine ganze Macht dahin? hängt denn nicht eine Million Tonnen Schnee unnütz an jeder Bergesspitze, deiner harrend? Und eine einzige schon, nur eine ist genug; ein schwebendes Schneegewebe kann ihn noch retten. Das edelste lebende Wesen auf allen diesen Hügeln, muß es niedergeschmettert werden, um so der niedrigsten Menschenlust zu frönen? Muß ein einziger Irrtum ihn dem Untergange weihen?

Aber nie war die Luft stiller. Manchmal warnen auch die Bergelstern die Schafe, ihre Freunde, aber kein Vogel weit und breit, und noch immer steht der Gunderwidder wie gebannt und blickt unverwandt auf seinen unbeweglichen Feind da drüben.

Zur Wange fliegt die Büchse, die niemals gefehlt. Aber die Hand, die nicht einmal gezittert hat, obwohl ihr zwanzig Menschenleben zum Opfer gefallen sind, sie schüttelt sich jetzt wie im Fieber.

So sprachen doch zwei Seelen in seiner Brust? Ja.

Aber die Hand wurde stet und des Jägers Antlitz ruhig und hart. Die Büchse klang, und Scotty – barg sein Haupt, denn ihr vertrauter Knall tönte ganz anders als je zuvor. Er hörte ein Rasseln auf fernliegenden Steinen, dann ein langgezogenes Snuuf! Aber er blickte nicht auf, regte sich nicht. Nach zwei Minuten war alles still, und er hob furchtsam seinen Kopf. War er fort? Oder was war sonst?

Da, auf dem Schnee, lag eine mächtige graubraune Gestalt, und an einem Ende, einer zusammengerollten Zwillingshydra gleich, lagen die Hörner, die bildnerische Urkunde über das glanzvolle Leben eines glanzvollen Geschöpfes, die seine fünfzehn Lebensjahre vor dem Beschauer auf einmal entrollte; dort die jetzt abgetragenen Spitzen, die ihm einst in den Lammkämpfen den Sieg gebracht hatten; dort die Jahre kräftigen Wuchses mit ihren langen Ringen; hier das Jahr der Krankheit und dort der Splitter im fünften Jahresring, der sein erstes Liebesduell bezeichnet. Die Spitzen hatten jetzt den Kreis vollendet, und an ihnen hing – hätte man's nur sehen können – das Leben vieler Grauwölfe, die ihm das seinige hatten rauben wollen. Und so gaben die Ringe weiter Bericht als lebendige Urkunde eines Daseins, dessen hoher Wert gerade die Ursache seines gewaltsamen Endes war.

Langsam schritt Scotty zu der Stelle und schaute in betroffenem Schweigen nicht auf die teuer erkauften Hörner, sondern auf die ruhigen gelben Augen, die offen und nicht vom Tode umdüstert waren. Eiskalt war er und konnte sich selbst nicht verstehen. Er wußte nicht, daß dies der plötzliche Absturz von der steilen Wand war, auf die er sich Monate hindurch selbst hinaufgezwängt hatte. Er setzte sich zwanzig Meter entfernt nieder mit dem Rücken nach den Hörnern hin. Dann steckte er eine Prime Tabak in den Mund, aber der Mund war trocken, und er spuckte sie wieder aus. Er verstand sich selbst nicht mehr. Worte spielten in seinem Leben nur eine geringe Rolle, und aus seinen Lippen ergoß sich nur eine Flut schauerlicher und lästerlicher Flüche.

Nach langem Schweigen sagte er sodann: »Könnt' ich, ich gäb's 'm wieder.«

Er starrte in die Ferne. Seine Augen fielen auf seinen Rock, den er ausgezogen hatte, und da er sich bewußt wurde, daß ihn friere, ging er hinüber und holte sich seine Sachen. Dann kehrte er zu den Hörnern zurück, und über ihn kam die wilde unmenschliche Lüsternheit nach dem Leibe seines Opfers, von der er seine Kameraden hatte reden hören, die er aber vorher nie begriffen hatte – der eigentümliche Rückschlag, der den Panther das zu Boden gerissene Damwild streicheln und liebkosen läßt. Er zündete ein Feuer an, dann machte er sich in etwas gesammelterer Stimmung daran, den Nacken seines Opfers abzuhäuten und den Kopf abzuschneiden. Dies war für ihn eine gewohnte Tätigkeit, die er ganz mechanisch ausführte; auch schnitt er sich dabei genügend Fleisch herunter, um seinen Hunger stillen zu können. Hierauf beugte er seine Schultern unter der Last seiner Trophäe, einer Last, die er vor drei Monaten kaum gespürt hätte, und wandte sich, ein alter, ausgemergelter, ergrauter und müder Mann, langsam der Hütte zu, die er vor zwölf Wochen verlassen hatte.

XIX.

»Nein! Für Geld sind sie nich feil!« murmelte Scotty und wandte sich stumm ab, um der Verhandlung mit dem Präparator ein Ende zu machen. Dann legte er die fünfhundert Kilometer bergigen Weges in sein einsames Heim zurück. Er entfernte die Hülle und hing den Kopf auf, wo er das beste Licht hatte. Der Präparator hatte seine Arbeit gut gemacht: die Hörner waren unverändert; die wundervollen goldenen Augen waren gut erhalten, und wenn ein Lichtschimmer ihnen einen Blick zu verleihen schien, so erneuerten sich im Herzen des Bergjägers die Gefühle, die er damals auf dem Hügelrücken gehabt hatte, und er verhing den Kopf wieder.

Seine besten Bekannten sagen, er habe ihn stets verhüllt gelassen und niemals davon gesprochen. Nur einer erklärte: »Ja, ich habe einmal gesehen, wie er ihn aufgedeckt und ganz sonderbar angesehen hat.« Die einzige Bemerkung, die er je darüber machte, war: »'s sind meine Hörner, aber er wird noch mit mir quitt werd'n.«

Vier Jahre vergingen. Scotty, der jetzt nur noch der greise Scotty hieß, hatte keine Büchse mehr angerührt. Durch die lange tolle Jagd war er ganz heruntergekommen. Er lebte nur von oberflächlichem Goldschürfen, sah kaum je einen anderen Menschen und galt für schwachsinnig. Eines Tages – es war im Spätwinter – klopfte ein alter Weidgenosse an seine Hütte. Ihre Unterhaltung beschränkte sich auf weniger als einen Satz in der Stunde.

»Ich hab' g'hört, du hast'n Gunderwidder g'schossen.«

Scotty nickte.

»Kann ich'n seh'n?«

»Da is'r,« und der Alte zuckte mit dem Kopf nach dem verhängten Gegenstand an der Wand. Der andere zog das Tuch weg, worauf sich die gewöhnlichen Ausrufe des Erstaunen hören ließen, die Scotty stumm anhörte; doch wandte er sich um und schaute selbst hin. Das Herdfeuer brach sich in den gläsernen Augen und verlieh ihnen einen roten, zornigen Schein.

»Häng'n wieder zu, wenn de fertig bist,« sagte Scotty, wandte sich ab und nahm seine Pfeife wieder auf.

»Sage, Scotty, warum verkaufst 'n nich, wenn'r dich so ärgert? Der von Neuyork hat m'r gesagt, ich soll d'r sagen, er will d'r ...«

»Zur Hölle mit Euern Neuyorker! Ich wer'n nie verkaufen – ich wer'n nie los. Ich bin so lange bei'm geblieben, bis's alle war mit'm, und er wird bei m'r bleiben, bis er mit m'r quitt is. Die vier Jahre lang hat'r mir's zurückgegeben. Auf unsrer Tour dazumal hat'r mich niedergebrochen; er hat mich zum Greis gemacht; er hat mich halb blöde gemacht. Er zieht m'r nu's Leben raus. Aber er is noch nich fertig mit m'r. 's is noch mehr von'm hier, wie sein Kopf. Ich sag' d'r, wenn d'r alte Chinook das Tal runterbläst, hab' 'ch Stimmen gehört, die kann der Wind nich machen. Es hat ganz so geklungen, wie da, wo er sein Leben durch die Nase ausgeblasen hat und ich auf'm Gesicht vor'm lag. Ich lieg' wieder drauf und werd's hier noch ausmachen.«

Der weiße Wind blies in jener Nacht in hohem Ton und zischte und heulte um Scottys Hütte. Sonst wäre es dem Fremden wohl nicht aufgefallen, aber mehrmals klang über der Tür ein langes Uuf herein, das um den Riegel rasselte und heftig an dem Vorhang vor dem Kopf zerrte. Scotty warf seinem Freunde einen wilden, entsetzten Blick zu; zu sagen brauchte er kein Wort, des Fremden Züge waren weiß.

Am Morgen schneite es, aber der Fremde machte sich trotzdem auf den Weg. Diesen ganzen Tag hindurch wehte der weiße Wind, und der Schnee kam immer dichter hernieder. Höher und immer höher häufte er sich auf allen Gegenständen an. Die niedrigeren Spitzen waren unter der dicken Schneehülle abgerundet und die Mulden ausgeglichen. Und immer mehr ging noch hernieder, nicht treibend, sondern sich aufhäufend, schwer, weich, anschmiegend, den ganzen Tag lang, immer tiefer, schwerer, runder. Und als die Nacht kam, blies der Chinook nur noch heftiger. Von Spitze zu Spitze sprang er mit gewaltigem Satze – kein Lufthauch, sondern ein lebendes Wesen, wie die Griechen und die Indianer es in gleicher Weise aufgefaßt haben, ein Wesen, das Geschöpfe ins Leben ruft, sie liebt und hegt. Wie eine mächtige Gottheit kam er, wie ein Engel des Zorns, die Posaune in der Hand, mit einer furchtbaren Botschaft vom Westmeer her – einer Kriegesbotschaft; denn er sang ein wildes, triumphierendes Schlachtlied, dessen Kehrreim lautete:

Die Mutter bin ich, der weiße Wind,
Der Schnee und der Hügel ist mein Kind.
Jetzt beugt sich alles meiner Macht;
Sie müssen mir dienen diese Nacht.

Und hier und dort, wie der Befehl erging, ereignete sich Gewaltiges in den Bergesgipfeln. Ungeheures schuf der Augenblick. Hier wurden Seen gebildet, dort verwüstet; Boten des Lebens wie des Todes wurden ausgesandt. Von der Purcellspitze ging eine Lawine hernieder; sie riß in den Flanken tiefe Wunden und deckte lange Goldadern auf; eine andere, die der weiße Wind gesandt, staute einen Strom und ließ sein sonst unnützes Wasser auf ein durstiges Land sich ergießen – ein Bote der Barmherzigkeit. Aber von dem Gipfel der Gunderspitze wirbelte eine ungeheure Masse – ein Sendling der Rache. Nieder, nieder, nieder ging sie mit lautem Uuf, sie floß herab von der Schulter, vom Saum, von der langgedehnten Seite, jetzt tilgt sie einen Wald aus, der ihr den Pfad versperrt, jetzt kracht sie, springt sie, rollt sie, schmeißt sie über Riff und Bank in immer reißenderem Fluge. Nieder, nieder, schneller, toller in einem schrecklichen Sprung und Sturz: und Scottys Hütte mit allem, was darin lebte, ist zerschmettert und vernichtet. Der Jäger hatte sein Geschick vorhergefühlt. Des Widders eigene Mutter Weißwind war vom Westmeer hergekommen; lange hatte sie gezögert, aber endlich war sie doch erschienen.

Über dem felsigen Hochland dämmert der Frühling, auch dort über der Ebene des Tabakcreeks. Leise wäscht der Westregen den gewaltigen weißen Haufen des Schneesturzes weg. Langsam kommt die zerbrochene Hütte zum Licht, und dort in der Mitte ganz unversehrt, sieh, ruht der Kopf des Gunderwidders. Seine Bernsteinaugen unter dem Schirm der wunderbaren Hörner glänzen so hell wie ehemals, und darunter liegt zerbrochenes Gebein mit einigen Fetzen und mit Büscheln ergrauten Menschenhaars.

Der alte Scotty ist vergessen, aber der Kopf des Widders hängt jetzt in einem Prunkschrein an der Wand eines Palastes, ein Kleinod unter Kleinoden; und wenn die Besucher die Wunderhörner staunend betrachten, so erzählen sie einander noch von den Taten des ruhmreichen Widders von der Gunderspitze.


 << zurück weiter >>