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1. – 3. Allgemeine Charakteristik der früheren Ethik. 4. Desgl. der des Aristoteles. 5. Die Glückseligkeit. 6. Tugendlehre. Sittlichkeit und Freiheit. Die Freundschaft. 7. Charakter der aristotelischen Ethik. 8. Begriff und Zweck des Staats. 9. Der Staat als Organismus.
1. Wie die theoretische, so muß auch die praktische Philosophie des Aristoteles zum Zwecke ihrer richtigen Würdigung in ihrem genetischen Zusammenhange mit den ihr voraufgehenden Anfängen dieser Wissenschaft betrachtet werden. Eine wirkliche Entwicklung des selbständigen ethischen Denkens beginnt für die Hellenen im fünften Jahrhundert v. Chr., in der Periode, welche man als die der Sophisten zu bezeichnen pflegt. Es ist die Zeit, in welcher die Frage nach dem Wesen des Sittlichen und nach dem Grunde der ihm eigenen Evidenz und Verbindlichkeit zum erstenmal auch in die breiteren Strömungen des Volksbewußtseins getragen wird. Und zwar geschah dies zunächst an der Hand der Erwägung, mit welchem Rechte wohl die überlieferte Sitte und das staatliche Gesetz die anscheinend willenlose Unterordnung des Einzelnen und der Gesamtheit unter ihre Satzungen zu beanspruchen in der Lage sei, insbesondere, mit wie viel oder wenig Berechtigung jene Faktoren dem Individuum es verwehrten, lediglich vermittelst der Bethätigung der eigenen persönlichen Kraft und Befähigung sein Glück zu suchen. In die letztere Richtung wies den Menschen, wie die Anhänger der Sophisten hervorheben, die Natur; Gesetz, Recht und Sitte dagegen beruhten auf Konvention und Uebereinkunft, und noch dazu, wie einer unter ihnen betonte, auf dem Zusammenstehen der vielen Schwachen gegen die wenigen Starken, die auf Grund des Naturrechts ihre persönliche Ueberlegenheit zur Geltung zu bringen suchten. Und wie vor dem politischen Gesetz, so sollte das natürliche Recht des Einzelnen in dem angegebenen Sinne auch vor dem überlieferten Sittengesetz das zu oberst Berechtigte sein, und Gesetz und Sitte ihm gegenüber nur relative Bedeutung haben, d. h. eine solche, die vor der naturgemäßen Bethätigung der kraftbegabten Persönlichkeit zurückzustehen haben.
2. Dem sophistischen Relativismus gegenüber war es nun Sokrates, der einen festen Wertmesser für das Ethische zu begründen suchte, und zwar durch den Hinweis auf die eigenartige Natur und Methode des Wissens. Das begriffliche Wissen ist für ihn die sichere Grundlage auch für das rechte Handeln. Recht oder gut handeln heißt daher bei ihm: auf Grund von Einsicht in das (begrifflich festgestellte) Wesen der Tugend handeln: sei doch jede Tugend nichts anderes als die Verwirklichung eines derartigen bestimmten Wissens, und nur an der Hand eines solchen könne sie auch mitgeteilt und gelehrt (anerzogen) werden, nicht aber durch Tradition und bloße Gewöhnung. Tapfer z. B. sei nicht schon der, welcher im Kampfe blind darauf losgeht, sondern wer die Einsicht erlangt hat von dem, was wahrhaft zu fürchten ist, und was nicht. Die Konsequenz dieser Theorie war der Satz: niemand handelt freiwillig unrecht, sondern jeder immer nur aus Mangel an Wissen, nämlich von dem, was wahrhaft nützt und was nicht. Denn das Gute fällt für Sokrates noch zusammen mit dem Nützlichen, nur daß er den wahren Nutzen in anderer Richtung suchte, als die Menge und die Sophisten, nicht in dem nämlich, was lediglich Behagen schafft, sondern was den Geist im Einklang hält mit sich selbst, in der Einheitlichkeit und Selbständigkeit der Persönlichkeit, gegründet auf das begriffliche Wissen, das von dem Schein, wie er von der unmittelbaren Lage und Umgebung kommt, unabhängig macht. Dieses Prinzip der Sittlichkeit bewährte Sokrates allerdings mehr durch sein eigenes Handeln als durch den Inhalt seiner theoretischen Erörterungen und Gespräche, in denen die Gleichsetzung von Glück, Tugend und Wissen das letzte Wort hat, ohne daß über das positive Wesen des durch dieses erreichbaren Guten oder Glückes selbst etwas Eingehenderes bestimmt würde. Dabei war übrigens der Umkreis des Daseins, auf welchen Sokrates den Blick gerichtet hielt, die gegebene Welt selbst; lediglich innerhalb dieser und für diese hat der Mensch seine durch Erkenntnis geläuterte Persönlichkeit zu erwerben.
Eine Umbildung erfuhr nun seine Theorie einerseits dadurch, daß das, was er für den Inhalt jenes Gutes unausgesprochen ließ und nur durch seine Persönlichkeit vertrat, ausdrücklich in sie hineingetragen wurde. Die Selbständigkeit der Persönlichkeiten interpretierte der eine seiner Schüler, Antisthenes, in dem Sinne der völligen Bedürfnislosigkeit, der Unabhängigkeit von allem, was über die elementarsten Naturbedürfnisse hinausgeht. Er begründet damit das Ideal eines innerhalb der Gesellschaft, selbst künstlich wiederhergestellten Naturzustandes, der mit dem Streben nach Lust und Genuß auch alle Errungenschaften der Kultur von sich wies und sich als »Kynismus« zu der gebildeten Welt mit Bewußtsein in Gegensatz brachte. Ein anderer, Aristipp, erblickte dagegen den Inhalt des höchsten Guts ausdrücklich in der Lust oder dem Genuß, aber allerdings so, wie er durch die innere Selbständigkeit der gebildeten Persönlichkeit vermittelst der Erkenntnis sich darbietet, so daß der Mensch auch in der Lust Herr seiner selbst und damit des feineren und dauernden Genusses versichert bleibt.
3. In eine ganz verschiedene Richtung weist andrerseits die Fortbildung des sokratischen Moralgedankens bei Platon. Die Selbständigkeit der Persönlichkeit vermittelst des Wissens oder der Erkenntnis ist auch für ihn die Grundlage alles wahrhaft ethischen Verhaltens. Aber dieser Gedanke tritt bei ihm nicht, wie bei den eben Genannten, unter die Wirkung sophistischer, sondern unter die pythagoreischer Motive; er verbindet ihn mit dem Ausblick auf ein übersinnliches Dasein, wozu der Mensch schon in diesem den Zugang zu gewinnen den Beruf habe. Platon lehrt infolgedessen, die wahre innere Selbständigkeit als höchstes Gut gewinne der Mensch erst durch das Wissen von einer überirdischen Wirklichkeit, die er im Aufblick zu der Welt des Idealen in sich selbst finde, und die ihn zu der umgebenden Welt in Gegensatz bringe. Die Vollkommenheit aber wird (nach Platon) erreicht dadurch, dass bei dieser Richtung nach oben die Seele selbst sich eins weiß und eins macht mit dem Wesen Gottes als des Urbildes der Schönheit und Güte. Hieraus ergiebt sich von selbst, daß das Handeln nicht mehr in erster Linie geleitet wird von den Motiven des unmittelbaren Lebensdranges, sondern von dem Streben nach Herausbildung innerer Freiheit und Kraft, die für ihren Träger inmitten der umgebenden Wirklichkeit ein neues, höheres Dasein begründet und zum Ausdruck bringt. Dieses neue Leben ruht aber für Platon, der in diesem Punkte noch ganz Sokratiker ist, ausschließlich auf dem Erwerb der höchsten Erkenntnis, speziell auf der der Ideenwelt, und das Handeln gewinnt seine Normalität eben vermittelst des Aufringens zu dieser, an der Hand des idealen Triebes, der als Liebe (ἔρως) im höchsten Sinne dieses Wortes bezeichnet wird. Die Begierde und überhaupt das Verlangen nach zeitlichen Gütern wird unter der Wirkung dieser Stimmung und Lebenshaltung zurückgedrängt zu Gunsten des idealen Wollens, das dem Menschen als höchsten Preis seines Strebens das rechte Wissen in Aussicht stellt. So ist für Platon das Wissen, die Erkenntnis einer überweltlichen Wirklichkeit, wie sie sich in den Ideen darstellt, zugleich die Bedingung und das Ziel (der Lohn) des Ethischen. Unter der Wirkung dieser Stimmung führt die platonische Ethik den Menschen aus der Welt des konkreten Handelns heraus. Nicht die Vervollkommnung der gegebenen Welt als solcher ist hier das Höchste, sondern die des einzelnen Menschen selbst, oder vielmehr nur einer bevorzugten Minderheit von einzelnen, die über die Wirkung egoistischer Motive hinaus sich aufzuschwingen vermögen zum Genusse der reinen Wahrheit und Schönheit selbst vermittelst der spekulativen Erkenntnis. Seine Vollendung nun erhält der platonische Gedankengang durch den Hinweis auf das jenseitige Leben, zu dem die gegebene Welt für den Weisen die Vorbereitung ist. In der irdischen Welt hat er als solcher nichts zu wollen und zu suchen, als eben den Antrieb, der ihn darüber hinaus hebt.
4. Aristoteles selbst ist nun mit Platon hinsichtlich des ethischen Ideals darin einverstanden, daß als das höchste Gut nicht die Lust im gewöhnlichen Sinne dieses Wortes, also nicht die bloße Behaglichkeit des Daseins anzusehen sei, sondern lediglich die Art von Befriedigung, die der Persönlichkeit erwächst aus dem Bewußtsein und Gefühl der Selbstbehauptung ihres geistigen Wesens gegenüber dem Sinnlichen und Utilistischen. Er hält auch, wie jener, dafür, daß diese Befriedigung im höchsten Sinne nur vermittelst der Erkenntnis, und zwar höchster Art, also der philosophischen, sich erreichen lasse. Aber wie schon in der Ideenlehre, so läßt er auch in der Lehre vom höchsten Gut den für Platon so bedeutsamen Gegensatz der gegebenen Welt zu einer darüber hinausliegenden höhern Wirklichkeit fallen. Jene soll auch hier das letzte Wort haben, d. h. sie soll den Charakter des Idealen nicht, wie bei Platon, in unvollkommener Nachahmung des höheren sondern in und mit ihrem eigenen, allgenugsamen Wesen besitzen. Nicht durch ein fortgehendes Herausringen aus der thatsächlichen Wirklichkeit soll dem Menschen das höchste Gut und der höchste Wert zufallen, sondern in der durch einen höchstwertigen Gesichtspunkt geleiteten unmittelbaren Bethätigung an dem gegebenen Dasein selbst. Die ideale Ausgestaltung des geistigen Wesens vermittelst der Erkenntnis soll die Vollendung der Persönlichkeit lediglich als eines Gliedes dieser Welt bedingen; ein darüber hinausliegendes Ziel fällt für ihn außer Betracht. Das Prinzip und der wesentliche Gehalt der aristotelischen Ethik liegt daher in noch erheblicherem Maße abseits von dem Geiste und der Stimmung des Platonismus, als es in seiner theoretischen Philosophie der Fall ist. Sie bewegt sich weit mehr in einer Richtung, wie sie früher bereits durch Demokrit angebahnt war, der die wahre Glückseligkeit des Menschen in der Ruhe der Seele erblickte, die aus ihrem normalen Verhalten zu der gegebenen Wirklichkeit hervorgeht und hauptsächlich durch das denkende Erkennen bedingt ist. In den Horizont dieser Denkweise wird die Frage von der Bestimmung des Menschen zurückverlegt, und die von Sokrates und Platon neu gewonnenen Gesichtspunkte werden nur mit diesem Vorbehalt anerkannt. War für Platon der Wert des Menschen unabhängig von seinem irdischen Glück, so fällt für Aristoteles dieses letztere in seinem obersten Sinne in eins mit dem obersten Werte des Menschen; das Eine bedingt für ihn unmittelbar das Andere. Die Frage von dem höchsten Gute ist daher hier wieder, wie für Sokrates die Frage von der Glückseligkeit (Eudämonie), und zwar in dem Sinne, wie sie für den Menschen als Glied der umgebenden Wirklichkeit zu haben und zu erstreben ist.
5. In der Beantwortung dieser Frage läßt sich Aristoteles wieder in erster Linie von seinem Blick für die gegebene Wirklichkeit leiten. Er führt aus: für den Menschen, wie er thatsächlich als Gattungswesen ist, muß es eine spezifische Art von Bethätigung gehen, also eine solche, worin seine eigenartige Natur als Mensch sich hervorthut, und in deren reinster Herausarbeitung und Darstellung darum eben auch sein Beruf gesucht werden muß. Nur in der vollkommensten Erfüllung dieses wesentlich menschlichen Berufs kann für den Menschen auch das höchste Gut, also das Glück, liegen. Worin also muß es bestehen? Nicht im Reichtum und Sinnengenuß, denn diese Güter sind zufällig und wandelbar. Wie aber für jede Gattung von Wesen das Wohlbehagen in der Verwirklichung der der Gattung als solcher wesenhaften Thätigkeit liegt, so auch für den Menschen. Daraus folgt zunächst, daß die Glückseligkeit ein Handeln sein muß, kein bloß passiver Zustand. Die Eigenart der spezifisch menschlichen Thätigkeit aber (des ἔργον ἀνθρώπου) kann nur in der Funktion desjenigen geistigen Vermögens liegen, wodurch der Mensch eben Mensch ist, d. h. in seiner Vernunft. Das Glück für den Menschen liegt somit in der vernunftgemäßen Thätigkeit der Seele (ψυχῆς ἐνέργεια κατὰ λόγον) Es besteht lediglich darin, daß diese stetig und in vollkommener Weise von statten geht. Und dieses Ideal der Vernunftbethätigung ist für Aristoteles das theoretisch erkennende und danach handelnde Geistesleben des Denkers, also diejenige Art des Lebens, welche er selbst führte. Und erst von diesem Gesichtspunkt aus kommen nun die sonst gewöhnlich zum Glücke gerechneten oder als das Glück selbst betrachteten Faktoren zur Bestimmung ihres Wertes mit in Betracht. Zuerst die sogenannten äußern Güter, wie Wohlstand, Ehre, Familienleben, Freundschaft u. a. Nicht an letzter Stelle gehört hierher auch die Muße, die freilich nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel zum Zweck, als Erholung und Unterhaltung, die Kraft zur Thätigkeit anfrischt und in Dauer erhält. Sie alle müssen mitgegeben sein, wenn die eben bezeichnete oberste Aufgabe des Menschen in normaler und dauernder Weise geleistet werden soll, nur allerdings so, daß sie nicht aus Förderungen zu Hemmungen dieser Aufgabe werden; d. h. sie müssen in mittlerem Maße vorhanden sein, damit die denkende Betrachtung der Welt wieder unter dem Drucke der Verhältnisse verkümmere, noch unter der ausschließlichen Sorge oder den fortgehenden Ablenkungen durch das Uebermaß jener Faktoren dauernd gehemmt werde. Wo nun alle diese Erfordernisse vereinigt sind, ist dann auch die Grundlage für die Dauer des wahren Glücks gegeben; die Persönlichkeit besitzt dann die zu ihrem Glücke erforderliche Tauglichkeit oder Tugend (ἀρετή), die allein den guten Fortgang der dem Menschenwesen entsprechenden Thätigkeit gewährleisten kann. Man kann daher das höchste Gut auch bezeichnen als die Bethätigung der Seele im Sinne der Tugend (ψυχῆς ἐνέργεια κατ' ἀρετήν).
Der alte Streit darüber, ob das höchste Gut in der Erkenntnis oder in der Lust bestehe, hat auf Grund der hier entwickelten Anschauung für Aristoteles keinen rechten Sinn mehr. Es giebt für ihn keine andere wahre Lust, als eben die Vernunftthätigkeit. Wo diese, und damit das normale Handeln, gut von statten geht, kommt die Lust von selbst dazu, wie bei der Pflanze die Blüte zum Wachstum. Den obersten Wertmesser des Glücks kann hiernach im Sinne des Aristoteles die Lust so wenig abgeben, wie es für Platon der Fall war: Der Wert des Lebens bestimmt sich nicht nach den in ihr erreichten Graden, sondern der Wert der Lust selbst wird bestimmt durch die Art des Lebens oder der Thätigkeit, aus der sie entspringt, und der sie selbst durch ihren belebenden Einfluß wieder Vorschub leistet. Auch die sinnlichen Freuden sind berechtigt, wenn sie der Tüchtigkeit (Tugend) und dem normalen Streben und Wirken keinen Eintrag thun.
6. Tüchtigkeit oder Tugend ist somit für Aristoteles die Grundlage, auf der sich die normale Lebensbethätigung des Menschen, und damit sein Glück zu erheben hat. In der Bestimmung ihres Wesens selbst hat er nun das Verdienst, der Erste zu sein, der hier über den sokratischen Intellektualismus wirklich hinausführte. Er bethätigt dabei wieder seinen geschärften Blick für die Naturgrundlage des Menschen auch hinsichtlich des Ethischen, indem er das Wesen der Tugend nicht mehr ausschließlich als eine Wirkung des rechten Wissens auffaßte, sondern für ihre Betrachtung die eigenartige Bedeutung des Gemüts (ἦθο&ς) in den Vordergrund stellte. Er weist darauf hin, daß die Mehrzahl der Tugenden nicht auf der Vollkommenheit des intellektuellen Faktors, sondern auf der des Willens- und Gefühlslebens beruht, und daß man deshalb zwischen Tugenden des Verstandes und solchen des Gemüts, zwischen dianoëtischen und ethischen Tugenden unterscheiden müsse. Das Gemeinsame für beide Arten liegt nach ihm darin, daß sie dauernde Bestimmtheiten (ἕξεις, habitus) des persönlichen Wesens ausmachen, also Richtungen im Sinne von bleibenden Grundlagen zu bestimmten Arten von Handlungen. Sie unterscheiden sich aber, was Wesen und Grundlage betrifft, dadurch, daß die dianoëtische Tugend aus Erfahrung und Bildung entspringt, die ethische dagegen aus praktischer Gewöhnung an das ihr entsprechende Handeln erwachsen muß. Vorwiegend vom Verstande bedingt, also dianoëtisch, sind unter diesen im Grunde nur zwei, nämlich Weisheit (σοφία) und praktische Klugheit (φρόνησις), je nachdem das normale Handeln mehr aus philosophischer Einsicht oder mehr aus praktischer Erfahrung und Geübtheit hervorgeht. Die Weisheit bekundet sich sowohl als Vernunft, welche die obersten Prinzipien der Dinge erfaßt, wie auch als wissenschaftliches Verhalten, das aus jenen die in den besondern Wissensgebieten enthaltenen Wahrheiten abzuleiten versteht; die praktische Klugheit in den verschiedenen Formen, wie der die gegebenen Verhältnisse auffassende praktische Blick in privaten, wie in öffentlichen Dingen das Richtige und Vernunftgemäße herauszufinden versteht. Die ethische Tugend aber und die Einsicht, wie Aristoteles lehrt, bedingen sich gegenseitig. Zu dem, was die Letztere als das normale Handeln bezeichnet, giebt die Erstere die Richtung vermittelst des Willens. Tugend also und Einsicht entwickeln und fördern sich miteinander, und zwar beide in stetigem Fortschritt, der wesentlich durch Uebung bedingt ist, daher zur Erlangung der Tugend ihre Heranbildung durch Erziehung erfordert wird. Die ethische Tugend besitzt niemand von Natur, weil »kein natürliches Sein durch Gewöhnung verändert wird«; wohl aber liegt in der menschlichen Natur von Haus aus eine Geneigtheit, sie anzunehmen und durch Gewöhnung zu vollenden. Ihr eigentliches Wesen aber besteht in der auf die bezeichnete Weise erworbenen dauernden Unterwerfung der niederen Triebe und Seelenkräfte und der durch sie bedingten Affekte und Handlungen unter dasjenige, was die Vernunft als das Rechte und Gute vorschreibt, also in der Begründung eines Habitus, kraft dessen das erkannte Gute auch stetig gewollt, und lediglich um seiner selbst willen, (also nicht aus selbstsüchtigen Motiven), mit dauernd gewordenem Vorsatz erstrebt wird. Der Wertmesser aber hinsichtlich des Grades der erlangten Eingewöhnung in ein bestimmtes sittliches Handeln wird von der Art des Gefühls gegeben, wovon seine Ausübung begleitet ist; es kommt darauf an, ob z. B. die thatsächliche Enthaltsamkeit gern oder ungern bewährt wird.
Die grundlegende Möglichkeit weiter für die Herausbildung der Tugend in diesem Sinne sieht Aristoteles in der für ihn unzweifelhaften Thatsache der menschlichen Freiheit. Der freie Wille des Menschen besteht, nach seiner Lehre, in der Fähigkeit, die Begierden, die von Haus aus der Vernunfteinsicht widerstreben und doch dazu bestimmt sind, ihr unterworfen zu werden, zu diesem Gehorsam zu bringen. Dies wird ermöglicht vermittelst der durch die Vernunft geleiteten Ueberlegung, d. h. der Besinnung auf das Gute und auf alles, was dessen Verwirklichung in unsre Hand legt. Aus dieser Besinnung entspringt das vorsätzliche Handeln, aus dessen wiederholter, im Sinne des erkannten Guten geleiteten Bethätigung eben die dauernde Gewöhnung an normales Verhalten, d. h. die Tugend, erst erwachsen muß, die dann, zur zweiten Natur geworden, im einzelnen Falle der jedesmaligen besondern Entschließung (d. h. des spontanen Willensaktes) nicht mehr bedarf. Ohne diese ursprüngliche Freiwilligkeit der Tugend gäbe es keine sittliche Zurechnung. Die gegenteilige Ansicht, also den ethischen Determinismus sucht Aristoteles durch eine eingehende Analyse dessen, was in den menschlichen Handlungen als freiwillig, unfreiwillig oder als ein Mittleres zwischen beiden anzusehen sei, zu widerlegen. Er führt aus: man darf, um über Freiwilligkeit oder Unfreiwilligkeit einer Handlung zu urteilen, nicht lediglich (wie einst Sokrates), darauf abstellen, ob der Handelnde das richtige Wissen betreffs des Sachverhalts gehabt habe oder nicht. Denn es giebt, wie die Erfahrung zeigt, vielfach auch einen Besitz des Wissens ohne seine Verwertung und Anwendung, ja sogar ein Handeln wider besseres Wissen; andrerseits ist ein Handeln aus Unwissenheit deswegen nicht immer schon ein blindes und unfreiwilliges. Das entscheidende Moment hinsichtlich jener Beurteilung besteht vielmehr darin, ob der wirkliche Anstoß zum Handeln für den Einzelnen in diesem selbst liegt oder nicht, ob das ausschlaggebende Motiv aus dem eigenen (der vernünftigen Ueberlegung fähigen) Innern kommt oder ob man ohne eine derartige Gegenwirkung gegen die äußern Umstände lediglich deren Zwange unterlegen ist (vgl. S. 93). Aber auch das von außen herantretende Motiv kann einer Handlung den Charakter der Freiwilligkeit geben, wenn die Persönlichkeit des Handelnden es mit Bewußtsein zu dem ihrigen gemacht hat. Daher darf man auch zur Rechtfertigung einer Handlung sich nicht einfach darauf berufen, daß man seinem eignen Wesen und Willen (Charakter) nach nicht anders habe handeln können. Denn die Eigenart der Willensbeschaffenheit ist ihrerseits wieder das Werk eines Jeden selbst; sie bildet sich in der Richtung des Guten oder Schlechten immer erst heraus auf Grund des Umstandes, daß, wer im Besitz des Wissens vom Guten ist, es auch in der Hand hat, seine einzelnen Handlungen nach Maßgabe desselben zu gestalten oder sich dessen zu entschlagen. Auch dem Lasterhaften, der schließlich gar nicht mehr anders kann als schlecht handeln, können und müssen daher seine Thaten immer wieder als sein eigenes Werk zugerechnet werden.
Die letzte Frage hinsichtlich des Wesens der Tugend und Sittlichkeit ist die nach dem Kennzeichen, wovon ihr Besitz sich im praktischen Handeln nach außen zu Tage legt. Ihre Beantwortung ergiebt sich aus der Einsicht in die durchgreifende Art und Weise, wie die Vernunft sich in der Regelung und Beherrschung der verschiedenartigen Begierden zur Geltung bringt. Die Begierden, wo sie ungehemmt wirken, geben dem Handeln die Richtung zum Extrem, und die Herrschaft der Vernunft über sie bewährt sich in einer hierauf bezüglichen Hemmung. Das Wesen der Tugend nun, sofern es in dieser Herrschaft der Vernunft über das Begehren liegt, bekundet sich immer als das Einhalten der richtigen Mitte (μεσότης) zwischen den Extremen des Zuviel und des Zuwenig: sie erscheint als Ebenmaß im Gegensatz zu Uebermaß und Mangel, oder genauer: jede einzelne Tugend ist der Mittelweg zwischen zwei entgegengesetzten Untugenden, welche sich ihrerseits wie das Ueberschreiten des richtigen Maßes zum Zurückbleiben hinter ihm verhalten. Tapferkeit z. B. (wahren Mut) zeigt derjenige, der sich gleich weit entfernt zu halten weiß von Tollkühnheit und Verzagtheit; Selbstbeherrschung ist die richtige Mitte zwischen Genußsucht und geistigem Stumpfsinn, Hochherzigkeit die Mitte zwischen Aufgeblasenheit und Kleinmut, Sanftmut die zwischen Jähzorn und Indolenz u. s. w. Die eingehendste Erörterung ist unter den einzelnen Tugenden der Gerechtigkeit gewidmet. Sie erscheint, im weiteren Sinne gefaßt, als die Zusammenfassung aller Tugenden in Bezug auf das Verhalten des Einzelnen gegen seine Mitmenschen, im engeren ist sie die Durchführung des Prinzips der Gleichheit als der Grundlage und des Zusammenhalts für das Gemeinwesen. In diesem letzteren Sinne ist sie zugleich die Einhaltung der richtigen Mitte in der Zuteilung von Vorteilen und Nachteilen; sie läßt in dieser Hinsicht jedem das zukommen, was ihm gebührt, Je nachdem es sich hierbei weiter (positiv) um Zuerkennung bürgerlicher Vorteile und gemeinsamen Besitzes oder (negativ) um Verhütung von Rechtsverletzungen handelt, erweist sie sich entweder als austeilende oder als ausgleichende Gerechtigkeit. Beide Arten beruhen auf dem Gesetze der Gleichheit, und zwar in dem Sinne, daß bei der Verteilung von Gütern nicht jeder gleichviel, sondern nur so viel zu beanspruchen hat, als er verdient, bei Rechtsverletzungen dagegen, sowie im Falle von Verträgen jeder, der Unrecht that, so viel Nachteil zu erleiden hat, als er sich unberechtigten Vorteil zu verschaffen wußte. Bei der Anwendung dieser Grundsätze auf den öffentlichen Rechtszustand macht sich außerdem der Unterschied des natürlichen und des gesetzlichen (thatsächlich bestehenden) Rechtes geltend. Das letztere beruht auf Satzung, also auf Vereinbarung über besondere gegebene Verhältnisse, das erstere dagegen ist überall von gleicher Geltung und unabhängig von der Meinung und den dadurch bedingten Schwankungen. Es tritt in Wirksamkeit, wo es sich im konkreten Falle um Ergänzung von Lücken und um Ausgleichung von Unbilligkeiten im bestehenden gesetzlichen Recht handelt; die Gerechtigkeit bewährt sich unter seinem Einflüsse als Billigkeit. In dieser Erörterung des Verhältnisses zwischen dem natürlichen und satzungsmäßigen Recht sucht der Philosoph den ursprünglichen Gegensatz dieser beiden Begriffe, der ehedem zuerst von Seiten der Sophistik, und zwar lediglich negativ, d. h. zu Ungunsten des historisch erwachsenen Rechts hervorgekehrt wurde, auf eine im positiven Sinne fruchtbare Formel zu bringen.
7. Zur Charakteristik und Würdigung der aristotelischen Ethik im Allgemeinen sind namentlich zwei ihrer Eigentümlichkeiten im Auge zu behalten. Die eine liegt in dem Unterschiede des Wertes, den er zwischen den dianoëtischen und ethischen Tugenden aufstellt, sofern er jene diesen gegenüber als die höheren und am meisten beglückenden kennzeichnet. In Gemäßheit der Ansicht, daß unter den verschiedenen seelischen Seiten des menschlichen Wesens die Vernunft die vornehmste sei, ist ihm die »Theorie«, d. h. das wissenschaftlich-theoretische Verhalten als dauernde Bestimmtheit des persönlichen Wesens das Edelste, was es giebt: sie wird rein um ihrer selbst willen (ohne Rücksicht auf äußere Vorteile u. dgl.) bewährt; sie ist als Thätigkeit die anhaltendste und am wenigsten ermüdende, und vor allem: sie erhält den Menschen unabhängiger und selbständiger als jede andere zum Beruf oder Lebenszweck erhobene Beschäftigung und bringt überhaupt den Menschen dem reinen Glück, der ungetrübten Seligkeit, wie sie vollständig nur der Gottheit zukommt, am nächsten. Die andere charakteristische Haupteigenschaft dieser Ethik liegt in der Bestimmung des Wesens der ethischen Tugend als der Mitte zwischen zwei Extremen und der darauf gegründeten Beschreibung der einzelnen Tugenden selbst. Die aristotelische Lebensanschauung im großen Ganzen steht unter dem Gesichtspunkte des juste milieu, des Wandelns in der »richtigen Mitte«. Von hier aus ergiebt sich die richtige Abschätzung ihres Wertes. Aristoteles sagt zwar ausdrücklich, die Tugend in der hier bezeichneten Bedeutung sei nichts Leichtes, weil es überall schwer sei, das Mittelmaß im Handeln zu treffen und einzuhalten. Aber die Ideale selbst, die seine Tugendlehre aufstellt, sind in der Hauptsache doch geistige Annehmlichkeiten, und für den Begriff vom Werte des Lebens, von dem sie getragen ist, ist nicht in erster Linie der Kampf und das Ringen wesentlich, sondern die geistige Energie in der Form verständiger Benutzung und Verwertung eines begabten Naturells und behaglicher äußerer Verhältnisse. Auch die Lehre von der Freiheit des Handelns hat letzten Endes nur die Bedeutung, die Möglichkeit eines derartigen Verhaltens als des Ideals menschenwürdiger Lebensführung ins Licht zu setzen. Denselben Eindruck gewinnt man, wenn man das mit feinem, zugleich psychologischem und weltmännischem Verständnis aufgestellte Verzeichnis von ethischen Tugenden bei Aristoteles in Augenschein nimmt: Mut, Selbstbeherrschung, Liberalität und vornehmer Sinn, Ehrgefühl, Gelassenheit, Verträglichkeit, geselliger Takt, Redlichkeit und Gerechtigkeit. Diese Aufzählung umschreibt das Ideal der gesellschaftlichen Ehrbarkeit (und zwar ausschließlich im Hinblick auf die männliche Hälfte der menschlichen Gemeinschaft), und läßt erkennen, daß der letzte maßgebende Wertunterschied für den Philosophen durch die Einteilung der Menschen in edle und gemeine Naturen gegeben ist. Sie betont insbesondere die Vornehmheit der Gesinnung als das Durchgreifende in aller besondern Tugend. Dagegen fehlt eine Anzahl von Vorzügen, wodurch das innere Leben, dessen Selbständigkeit und Kraft gegenüber den äußeren Einflüssen Aristoteles überhaupt, abgesehen von der »Theorie«, erheblich unterschätzt hat, erst seinen rechten Wert erhält, Eigenschaften, wie Menschenliebe, Selbstverleugnung, Demut und Vertrauen. Aristoteles ist eben in dieser Beziehung der Vertreter des Hellenentums im vierten Jahrhundert, welches über der Freude an seinen ästhetischen Idealen die tieferen Schatten der gegebenen Wirklichkeit nicht mehr zu sehen verlangt oder in ihnen lediglich die unerfreuliche Existenz des Gemeinen und Niedrigen zu erblicken vermag, und überhaupt Ideale nur kennt für eine begünstigte Minderheit. Das Ideal der Liebe wird bei Aristoteles vertreten durch das der Freundschaft, deren feinsinniger und liebenswürdiger Darstellung er zwei Bücher seiner Ethik gewidmet hat. Teilweise als Ersatz für jenes Ideal erscheint sie dort, sofern sie gefaßt wird, nicht als bloße Stimmung und Gesinnung, sondern als dauernde Thätigkeit und gegenseitiges lebendiges Wirken; sie wird bezeichnet als die Ausdehnung der Selbstliebe auf den Andern und die ideale Selbstliebe aufgefaßt als Vernunftliebe und auf Grund dessen als ein Wirken aus Vernunftzwecken, also für das Allgemeine. Hierher gehören auch Aeußerungen wie die, daß gerade der Glückliche der Freundschaft bedürfe, um wohlthun zu können; dem Empfangenden gegenüber sei der Gebende und Helfende immer im Vorteil, weil er den Vorzug habe, etwas wirken zu können, ähnlich wie der Künstler im Verhältnis zu seinem Werke; ferner, was die Gerechtigkeit fordere, das gewähre (freiwillig) im höchsten Maße die Freundschaft. Unter den drei Arten der Freundschaft, die sich ergeben, je nach dem als Ziel und Zusammenhalt der Gemeinschaft das Gute, das Nützliche oder das Angenehme heraustritt, wird die auf das Gute gerichtete am höchsten gestellt. Der Unterschied aber zwischen den beiden bezeichneten Standpunkten tritt heraus in dem Hinweise darauf, daß zur Freundschaft gegenseitige Gleichheit oder wenigstens Aehnlichkeit in Bezug auf innere Vorzüge gehöre, sodaß beide Teile an Wert einander gleichstehen; ferner daß sie sich nicht auf viele ausdehnen könne; daß jeder Teil von dem andern an Liebe und Freundschaft so viel zu beanspruchen habe, als er ihm wert sei u. a. –
8. Wie aus allem Bisherigen hervorgeht, ist Aristoteles darüber im Klaren, daß die Heranbildung des Menschen zur Sittlichkeit darauf beruht, daß sein Wesen von Natur auf Gemeinschaft angelegt ist. Darum ist ihm auch die organisierte Gemeinschaft die naturgemäße Einrichtung zur Erreichung des moralischen Zweckes, und die Theorie seiner Ethik hat dementsprechend ihren Gipfelpunkt in der Politik oder Lehre vom Staat. Den sophistischen und verwandten Ansichten gegenüber, welche im Wesen des Staates nur die Beschränkung der persönlichen Freiheit erblicken und ihn daher entweder für ein notwendiges Uebel oder gar für das halten, was besser nicht wäre, vertritt er mit Entschiedenheit die Einsicht, der Staat entspringe einem im Wesen des Menschen liegenden Entwicklungsgesetz und sei das vollkommenste Organ zur Erfüllung des obersten Lebenszwecks, wie er sich denn auch naturgemäß von der Familie und der Gemeinde aufwärts zu seinem diese selbst wieder umfassenden Bestande ausgebildet habe. Zum genauen Verständnis dieser und der daran anschließenden Theorie ist allerdings von vornherein zu bemerken, daß der Begriff des Staats für Aristoteles sich im wesentlichen deckt mit dem eines nicht zu kleinen, selbständigen städtischen Gemeinwesens, und keineswegs mit dem der Nation identisch ist. Zu dem, was als der Zweck des Staates und betreffs der Möglichkeit seiner Erreichung ausgeführt wird, ist außerdem darauf hinzuweisen, daß für Aristoteles, wie für den Hellenen überhaupt, die Bestimmung und der Wert des wahren Staatsbürgers nicht in der Arbeit im gewöhnlichen Sinne dieses Wortes liegt, sondern in der Muße, die ihm gestattet, seine Persönlichkeit im Verkehr, in der Wissenschaft und nicht zum mindesten im Anteil am Staatsleben und den Staatsgeschäften zur Wirksamkeit und Geltung zu bringen. Insbesondere setzt die Staatstheorie des Aristoteles das Bestehen eines Sklavenstandes als der arbeitenden und als solche nicht unmittelbar unter dem Zwecke des Staates stehenden Klasse voraus. In Konsequenz dieser Anschauung weigert sie, – und zwar wieder in Uebereinstimmung mit der allgemeinen hellenischen oder wenigstens athenischen Stimmung – die Anerkennung als Vollbürger auch denjenigen freien Mitbürgern des Staats, welche überhaupt von der Arbeit ihrer Hände leben, und unter diese als »Banausen« werden selbst die Künstler gerechnet.
Der Zweck des Staates ist nun nach Aristoteles nicht ausschließlich der Schutz oder der Nutzen seiner Bürger: der Staat ist vielmehr das konkrete Mittel zur Verwirklichung des ethischen Ideals für möglichst viele Individuen zugleich. Sittlichkeit für den Einzelnen und die Gesamtheit gilt ihm überhaupt nicht für erreichbar ohne direkte Mitwirkung des Staats; insbesondere die Tugend der Gerechtigkeit sei an das Bestehen des Staates gebunden. Denn das Hauptmittel zur Tugend sei Gewöhnung, und diese nicht erreichbar ohne eine vernunftgemäße Autorität, die zugleich die Gewalt habe, zu dem Erforderlichen zu zwingen.
9. Ganz im Sinne ferner seiner genetischen Denkweise ist für Aristoteles der Staat das höchste der organisch naturgemäßen Gebilde. Ausdrücklich wird auch für ihn der oberste metaphysische Grundsatz alles organischen Werdens als gültig hingestellt, daß das, was der Entstehung nach das Spätere, der Idee und dem Wesen nach das Frühere sei (s. o. S. 41). Der Zug nach Staatenbildung liegt hiernach im Menschen von Natur; (der Mensch als solcher ist ein ζῶον πολιτικόν); der Staat ist seine Bestimmung, und dieses Wesensgesetz in der menschlichen Natur treibt dann auf Verwirklichung des Staatsgebildes hin. Zum vollen Verständnis dessen ist nun wiederum eins nicht zu übersehen, nämlich daß bei Aristoteles im Begriff und der Aufgabe des Staats noch manches enthalten ist, was heute selbständig ihm gegenüber, wenn auch immer zu ihm in irgend welcher festen Beziehung steht: soziale und religiöse Ordnungen, Erziehungseinrichtungen u. a. Und mit diesem Punkt hängt es denn weiter auch zusammen, daß Aristoteles den Staat in seiner Verwirklichung als ein dem Umfange nach sehr beschränktes Gemeinwesen betrachtet.
Die Behandlung des Staatsbegriffs unter dem Gesichtspunkte des Organischen ergiebt weiter die Anschauung, daß die verschiedenen Berufe innerhalb desselben sich zu einander verhalten, wie die Teile des Körpers. Wie bei diesem (nach Aristoteles) zwei spezifisch verschiedene Bestandteile einander zugeordnet sind, gleichteilige und ungleichteilige (s. o. S. 70), und zwar so, daß die einen die Unterlage bilden für die Funktion der andern, – so ist auch für die Existenz des Staates die Ungleichheit seiner Bestandteile eine Lebensbedingung, der Unterschied nämlich zwischen der Masse der Gehorchenden und der Auslese derer, welche die Regierung haben. Der vorhin bezeichnete Gesichtspunkt von dem Wert und dem gegenseitigen Verhältnis der Arbeit und der Muße modifiziert nun das Verhältnis dieser beiden Klassen selbst in der Weise, daß die Regierungsfähigkeit lediglich auf seiten der nicht »Arbeitenden«, d. h. der lediglich intellektuell sich Bethätigenden gesucht wird.
Wie für die Natur, so gilt nun bei Aristoteles auch für den Staat, daß das in ihm waltende organische Naturgesetz das Beste, worauf es hinstrebt, nur beim vollständigen Vorhandensein der günstigen Bedingungen erreichen kann: Nicht jeder Staat kann daher die beste Verfassung haben, sondern nur derjenige, dessen Menschenmaterial hierfür am besten geeignet ist. Und dies wird der sein, bei dem, wie bei dem besten Körper, das Gleichgewicht und die Symmetrie zwischen den Funktionen der verschiedenen Teile am vollkommensten ist. Von diesem Gesichtspunkte aus ergiebt sich für Aristoteles die Art der Würdigung für die historisch entwickelten Staats- und Verfassungsformen. Charakteristisch ist dabei außerdem, daß die Normalformen der Staatsverfassung als Erweiterungen der normalen Familienverhältnisse erscheinen. Als gute Staatsformen gelten das Königtum, die Aristokratie und die (nichtdemokratische) Republik oder »Politie«. Sie entsprechen hinsichtlich des Verhältnisses von Regierenden und Regierten (in der angegebenen Reihenfolge) dem Verhältnisse zwischen Vater und Sohn, zwischen Mann und Frau, zwischen Geschwistern untereinander. Als innormale Gegenbilder aber dieser, oder als »Ausschreitungen« (παρεκβάσεις) werden aufgeführt die Tyrannis, Oligarchie und die Demokratie, deren bezügliche Beschaffenheiten nach der gleichen Analogie (von innormalen Familienverhältnissen her) sich müssen veranschaulichen lassen. Die drei letzteren fallen für Aristoteles aus dem normalen Gleichgewicht der staatsbildenden Faktoren heraus, weil die erstgenannte die Person des Herrschers über den Zweck des Staates als solchen setzt, die Oligarchie für die Staatsleitung ausschließlich die Klasse der Reichen bevorzugt, die Demokratie aber die Idee der individuellen Freiheit und damit das Wohlergehen der großen Masse über das ihr zukommende Maß hinaus zum Normgebenden für die Verfassung macht. Alle drei verstoßen sonach auch gegen die Idee der Gerechtigkeit. Die rechte Mitte zwischen Oligarchie und Demokratie und zugleich die beste Grundlage für den gesicherten Bestand des Staatswesens erblickt Aristoteles in der Herrschaft und dem numerischen Vorwiegen des Mittelstandes, als dessen solideste Repräsentation er übrigens die ackerbauende Bevölkerung mit Einschluß des Großgrundbesitzes betrachtet. Wie in seiner Ethik, so gilt auch für seine Politik die Mitte zwischen zwei Extremen für den beseelten Gesamtorganismus als das normale Verhalten und als die Gewähr des Bestandes.
Das eigentliche Staatsideal selbst, wie es durch diese Voraussetzungen bedingt ist, findet übrigens Aristoteles unter den historischen Formen, die ihm vorlagen, bei keiner ausreichend verwirklicht, wenn auch nicht zu verkennen ist, daß die athenische Verfassung seiner Zeit ihm den Ausbau in der normalen Richtung annähernd darzubieten scheint. Vgl. W. Oncken, die Staatslehre des Aristoteles (Lpz. 1875) II, 72. Er ist ein entschiedener Vertreter der Volkssouveränität, weil nach seiner Ansicht in einem hierauf begründeten Staate jeder Einzelne am besten in der Lage ist, nach Maßgabe seiner Befähigung zum Gedeihen des Ganzen beizutragen; in der Beurteilung des wahrhaft Rechten und Nützlichen, meint er, mag der Einzelne als solcher im gegebenen Falle immerhin hinter dem Kenner zurückstehen; alle zusammen haben aber dennoch entweder ein besseres oder wenigstens kein schlechteres Urteil als dieser. Nur soll die Art, wie jene Souveränität sich bethätigt, bestimmt sein durch die Rücksicht auf den obersten Zweck des Staates und durch das Prinzip der ausgleichenden Gerechtigkeit; das gegenseitige Zusammenwirken der Bürger eines staatlichen Gemeinwesens wird geradezu unter den Begriff und Gesichtspunkt der Freundschaft gestellt, was bei der vorausgesetzten relativen Kleinheit der einzelnen Staaten ja auch weniger utopisch erscheint, als es angesichts moderner Verhältnisse der Fall sein würde. Außerdem soll das Volk als solches zwar an Beratung und Beschlußfassung Anteil haben, nicht aber (von Ausnahmefällen abgesehen) an der Exekutive; und dies alles noch unter der (freilich sehr dehnbaren) Voraussetzung, daß es als Ganzes selbst schon ein höheres Kulturniveau erreicht habe. Das Staatsideal des Aristoteles ist daher trotz seines Vertrauens auf das souveräne Volk doch eben nicht die Demokratie, sondern eine geläuterte Aristokratie, eventuell eine Monarchie, nur nicht eine solche, worin die Vornehmheit der Geburt den Zutritt zur herrschenden Klasse verleiht, sondern der persönliche Wert, der sich bekundet in der Vereinigung der bürgerlichen mit der sittlichen Tugend.