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Ein stechender Schmerz weckte Vinicius. Im ersten Augenblicke wußte er nicht, wo er sich befand noch was mit ihm geschehen war. Im Kopfe fühlte er ein Brausen, und vor seinen geschlossenen Augen lag es wie Nebel. Allmählich kehrte jedoch sein Bewußtsein zurück, und endlich erblickte er durch jenen Nebel hindurch drei Personen, die sich über ihn beugten. Zwei erkannte er wieder: die eine war Ursus, die andere jener Alte, den er bei Lygias Entführung zur Seite gestoßen hatte. Die dritte, ihm völlig fremde, hielt seinen linken Arm und betastete diesen vom Ellbogen an bis zur Schulter und zum Schlüsselbein, verursachte ihm aber dabei einen so furchtbaren Schmerz, daß Vinicius in der Meinung, dies sei eine Art Rache, die man an ihm nehme, mit zusammengepreßten Zähnen murmelte: »Tötet mich lieber!«
Die drei achteten jedoch nicht auf diese Worte, sei es, daß sie sie nicht hörten oder für gewöhnliche Schmerzenslaute hielten. Ursus mit seinem schüchternen und dabei finsteren Barbarengesicht hielt ein Stück weißer Leinwand in den Händen, das zu langen Binden zerrissen war; der Alte aber sagte zu dem Manne, der Vinicius' Arm untersuchte: »Glaukos, bist du sicher, daß die Kopfwunde nicht tödlich ist?«
»Ja, würdiger Crispus,« erwiderte Glaukos; »während ich als Sklave auf der Flotte diente, und später, als ich in Neapel wohnte, habe ich viele Wunden geheilt und mit dem Gelde, welches mir meine Kunst einbrachte, mich und die Meinigen losgekauft … Die Wunde am Kopf ist leicht. Als dieser Mann (dabei deutete er mit dem Kopfe auf Ursus) dem jungen Manne das Mädchen entriß und ihn gegen die Mauer schleuderte, streckte dieser offenbar im Fallen den Arm aus; er brach und verrenkte ihn, schützte dadurch aber seinen Kopf und rettete sich das Leben.«
»Du hast schon mehrere Brüder in deiner Behandlung gehabt,« erwiderte Crispus, »und giltst als geschickter Arzt … Daher habe ich auch Ursus zu dir geschickt.«
»Er erzählte mir unterwegs, daß er noch gestern die Absicht gehabt hat, mich zu töten.«
»Mir hat er seine Absicht früher gestanden als dir; ich, der ich aber dich und deine Liebe zu Christus kenne, überzeugte ihn jedoch, daß nicht du der Verräter bist, sondern jener Unbekannte, der ihn zum Morde verleiten wollte.«
»Es war ein böser Geist, den ich aber für einen Engel hielt,« entgegnete Ursus seufzend.
»Du erzählst mir das ein andermal,« sagte Glaukos, »jetzt müssen wir an den Verwundeten denken.«
Bei diesen Worten begann er Vinicius' Arm einzurenken. Trotzdem Crispus ihm das Gesicht mit Wasser bespritzte, fiel der junge Tribun aus einer Ohnmacht in die andere. Es war dies übrigens ein Glück für ihn, denn er fühlte so weder das Einrenken des Gliedes noch das Verbinden des beschädigten Armes, den Glaukos zwischen zwei hölzerne Bretter legte und darauf rasch und fest umwickelte, um jede Bewegung unmöglich zu machen.
Nach Beendigung der Operation erwachte Vinicius von neuem und erblickte Lygia. Sie stand dicht bei seinem Lager und hielt eine Metallschüssel mit Wasser in ihren Händen, in die Glaukos von Zeit zu Zeit einen Schwamm tauchte, um das Haupt des Kranken damit zu befeuchten.
Vinicius sah dies und glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Es kam ihm vor, als sei es ein Traum oder als ob das Fieber ihm das teure Bild vor die Augen zaubere – und nach langer Zeit erst flüsterte er: »Lygia!«
Beim Klange seiner Stimme zitterte die Schüssel in ihrer Hand, aber sie wandte ihm die traurigen Augen zu.
»Friede sei mit dir!« entgegnete sie leise.
Sie stand mit ausgestreckten Armen und einem Antlitz voll Liebe und Schmerz vor ihm.
Er betrachtete sie, als wolle er seine Augen mit ihrem Anblick sättigen, damit ihr Bild ihnen vorschwebe, selbst wenn er sie geschlossen hätte. Er betrachtete ihr Antlitz, das noch blasser und zarter war als zuvor, ihre dunklen Locken, das ärmliche Arbeiterinnenkleid; er betrachtete sie so unverwandt, daß sich ihre schneeweiße Stirn unter dem Einflusse seines Blickes zu röten begann. Zuerst gedachte er daran, daß er sie ewig lieben werde, und sodann, daß diese ihre Blässe und Armut sein Werk seien, daß er sie aus dem Hause vertrieben habe, wo sie geliebt und von Reichtum und Behaglichkeit umgeben gewesen war, daß er sie in diese elende Wohnung verstoßen und sie gezwungen habe, sich in diesen ärmlichen Mantel aus dunkler Wolle zu hüllen.
Und doch hatte er sie mit den kostbarsten goldgestickten Gewändern kleiden und mit allen Edelsteinen der Welt schmücken wollen. Er wurde von Staunen, Angst, Mitleid und so tiefem Schmerze hingerissen, daß er zu ihren Füßen gefallen wäre, hätte er sich zu bewegen vermocht.
»Lygia,« sagte er, »du gabst nicht zu, daß man mich tötete.«
Sie entgegnete in sanftem Tone: »Gott gebe dir deine Gesundheit zurück!«
Für Vinicius, den das Bewußtsein sowohl von dem Unrecht das er ihr früher zugefügt hatte, wie von dem, was er ihr jetzt wieder hatte antun wollen, quälte, lag in diesen Worten Lygias ein lindernder Balsam. Er vergaß in diesem Augenblicke, daß aus ihrem Munde möglicherweise die christliche Religion sprach; er fühlte nur, daß das geliebte Mädchen sprach und daß in ihrer Antwort eine ungemeine Zärtlichkeit und übermenschliche Güte liege, die ihm seine Seele bis auf das tiefste erschütterte. Wie früher vor Schmerz, so fiel er jetzt vor Rührung in Ohnmacht. Es ergriff ihn eine Schwäche, die unwiderstehlich und doch zugleich angenehm war. Er hatte die Empfindung, als stürze er in einen Abgrund, fühle sich aber dabei wohl und glücklich. Er glaubte im Augenblick des Hinabstürzens, eine Gottheit stehe neben ihm.
Inzwischen war Glaukos mit dem Waschen der Kopfwunde fertig geworden und strich eine heilende Salbe darauf. Ursus nahm Lygia die Schüssel aus den Händen; diese ergriff einen auf dem Tische stehenden mit einer Mischung aus Wein und Wasser gefüllten Becher und hielt ihn dem Verwundeten an die Lippen. Vinicius trank gierig und empfand sodann eine große Erleichterung. Nach Beendigung der Operation hatte der Schmerz fast gänzlich aufgehört. Die Wunde und das verrenkte Glied begannen sich zu beruhigen, und das volle Bewußtsein kehrte ihm zurück.
»Gib mir noch mehr zu trinken,« bat er.
Lygia begab sich mit dem leeren Becher in das anstoßende Zimmer, während Crispus, nachdem er einige Worte mit Glaukos gewechselt hatte, ans Bett trat und sagte: »Vinicius, Gott hat nicht zugelassen, daß du eine böse Tat vollführtest, sondern hat dich am Leben erhalten, damit du in dich gehst. Er, vor dem der Mensch nur Staub ist, hat dich schutzlos in unsere Hände gegeben, aber Christus, an den wir glauben, befiehlt uns, selbst die Feinde zu lieben. Deshalb verbanden wir deine Wunden und werden, wie Lygia sagte, zu Gott beten, daß er dir deine Gesundheit zurückgebe. Aber wir können dich nicht länger pflegen. Bleibe daher in Frieden und denke darüber nach, ob es sich für dich geziemt, Lygia noch länger zu verfolgen. Du hast sie ihrer Freunde und uns des Obdachs beraubt, die wir dir Böses mit Gutem vergolten haben.«
»Wollt ihr mich verlassen?« fragte Vinicius.
»Wir wollen dieses Haus verlassen, in dem uns die Verfolgung des Stadtpräfekten erreichen könnte. Dein Gefährte ist getötet worden, du, der du unter deinen Landsleuten einen hohen Rang einnimmst, bist verwundet. Es geschah nicht durch unsere Schuld; aber dennoch trifft uns die Schwere des Gesetzes …«
»Fürchtet keine Verfolgung,« sagte Vinicius. »Ich schütze euch!«
Crispus wollte ihm nicht erwidern, daß es sich nicht nur um den Präfekten und die Polizei handle, sondern daß er auch zu ihm kein Vertrauen habe und daher Lygia vor seiner ferneren Verfolgung sicherstellen wolle.
»Herr,« sagte er, »dein rechter Arm ist gesund, hier sind Schreibtäfelchen und ein Griffel; schreibe deinen Dienern, daß sie dich heut abend mit einer Sänfte abholen und nach deinem Hause tragen, in dem du dich behaglicher fühlen wirst als inmitten unserer Armut. Wir wohnen hier bei einer armen Witwe, die binnen kurzem mit ihrem Sohne zurückkehren wird; dieser Knabe wird deinen Brief bestellen. Wir aber müssen alle einen anderen Zufluchtsort suchen.«
Vinicius erblaßte; denn er sah ein, daß man ihn von Lygia zu trennen wünschte und daß, wenn er sie jetzt verliere, er sie möglicherweise nie mehr in seinem Leben wiedersehen werde … Zwar erkannte er, daß sich entscheidende Tatsachen zwischen sie und ihn gestellt hätten, infolge deren er neue Mittel und Wege, sie zu gewinnen, suchen mußte; über diese letzteren nachzudenken, hatte er aber noch keine Zeit gefunden. Ebenso erkannte er, daß, was er auch diesen Leuten sagen mochte, wenn er ihnen auch zuschwur, Lygia zu Pomponia Graecina zurückzubringen, sie ein Recht hätten, seinen Worten nicht zu glauben, und ihnen auch tatsächlich nicht glaubten. Er hätte dies ja schon früher tun können; er hätte, anstatt Lygia zu verfolgen, zu Pomponia gehen und ihr zuschwören können, von der Verfolgung abzulassen; in diesem Falle würde Pomponia selbst das Mädchen aufgesucht und wieder nach Hause gebracht haben. Nein! er fühlte, daß keine seiner Versprechungen sie zurückzuhalten und daß kein Eid sie von seiner Aufrichtigkeit zu überzeugen vermöge, um so weniger, als er nicht Christ war und so nur bei den unsterblichen Göttern schwören konnte, an die er selbst nicht mehr fest glaubte und die sie für böse Geister hielten.
Er bemühte sich jedoch verzweiflungsvoll, sowohl Lygia wie ihren Beschützer – auf irgendwelche Weise – von ihrem Irrtum zu überzeugen, aber dazu brauchte er Zeit. Es kam ihm auch darauf an, sie, wenn auch nur noch wenige Tage sehen zu können. Wie ein Ertrinkender von jedem Stück Holz, von jedem Ruder Rettung hofft, so glaubte er in diesen wenigen Tagen das Wort finden zu können, das ihn ihr näher bringen würde, etwas ausdenken, einen Ausweg ersinnen zu können.
Nach reiflicher Überlegung sagte er daher: »Hört mich an, ihr Christen. Ich war gestern mit euch zusammen im Ostrianum und lernte eure Lehre kennen; aber wenn ich sie auch nicht kennte, so würden eure Taten mir doch beweisen, daß ihr redliche und gute Menschen seid. Sagt daher jener Witwe, die dieses Haus bewohnt, daß sie hier bleiben soll, bleibt auch ihr und gestattet mir ebenfalls zu bleiben. Laßt diesen Mann (dabei blickte er auf Glaukos), der Arzt ist oder sich wenigstens auf die Behandlung von Wunden versteht, sagen, ob man mich heut wegbringen kann. Ich bin krank und habe einen gebrochenen Arm, der noch einige Tage unbeweglich bleiben muß. Und daher erkläre ich euch, daß ich dieses Hauses nicht verlassen werde, es sei denn, daß ihr mich mit Gewalt fortbringt.«
Hier hielt er inne, denn seiner wunden Brust ging der Atem aus; Crispus aber erwiderte: »Nein, Herr, du sollst nicht gegen deinen Willen mit Gewalt fortgeschafft werden, wir wollen nur unseren Kopf in Sicherheit bringen.«
Bei diesem Widerspruche, an den der junge Patrizier nicht gewöhnt war, zog er die Brauen zusammen und antwortete: »Laßt mich etwas zu Atem kommen.«
Nach einer Weile begann er von neuem: »Nach Kroton, den Ursus tötete, wird niemand fragen; er sollte heut nach Benevent gehen, wohin ihn Vatinius berufen hatte. Alle werden somit glauben, er sei dahin gereist. Als ich mit Kroton dieses Haus betrat, hat uns außer einem Griechen, der mit uns im Ostrianum war, niemand gesehen. Ich werde euch sagen, wo er wohnt; bringt ihn zu mir – ich werde ihm Schweigen gebieten, denn er ist von mir bezahlt. Auch in mein Haus will ich einen Brief schicken, daß ich ebenfalls nach Benevent gegangen bin. Wenn der Grieche dem Präfekten schon Anzeige erstattet hat, so werde ich ihm erklären, daß ich Kroton selbst getötet habe und daß er mir den Arm gebrochen hat. Dies werde ich tun bei dem Schatten meines Vaters und meiner Mutter! Daher könnt ihr ruhig hier bleiben, da keinem von euch ein Haar gekrümmt werden soll. Holt mir rasch den Griechen her, er heißt Chilon Chilonides.«
»So soll Glaukos bei dir bleiben, Herr,« sagte Crispus, »und dich gemeinschaftlich mit der Witwe pflegen.«
Vinicius runzelte die Brauen noch stärker.
»Höre, Alter, was ich dir sage,« entgegnete er, »ich bin dir Dank schuldig. Du scheinst ein guter und ehrlicher Mensch zu sein, aber du sprichst nicht offen aus, was du denkst. Du fürchtest, ich könnte meine Sklaven holen lassen und ihnen befehlen, Lygia zu entführen? Ist es nicht so?«
»Ja,« erwiderte Crispus mit tiefem Ernst.
»Dann wisse, daß ich in eurer Gegenwart mit Chilon sprechen, daß ich ebenfalls vor euch allen einen Brief nach Hause schreiben will, daß ich nach Benevent gegangen bin und daß ich mich anderer Boten, als ihr es seid, auch später nicht bedienen werde … Überlege dir das und reize mich nicht länger.«
Er geriet in Aufregung, und sein Gesicht nahm einen zornigen Ausdruck an; dann fuhr er mit erhobener Stimme fort: »Glaubst du, ich leugne es, daß ich hier zu bleiben wünsche, um sie sehen zu können? Ein Narr müßte dies merken, selbst wenn ich es nicht Wort haben wollte. Aber mit Gewalt werde ich sie nicht mehr entführen. Dir aber will ich etwas anderes sagen. Wenn sie nicht hier bleibt, so reiße ich mir mit dieser meiner gesunden Hand den Verband vom Arme und nehme weder Speise noch Trank zu mir – und dann mag mein Tod auf dich und deine Brüder fallen. Warum hast du mich denn gepflegt, warum hast du mich nicht umbringen lassen?«
Er erblaßte vor Zorn und Kraftlosigkeit. Lygia, die in dem anderen Zimmer das ganze Gespräch mitangehört hatte und die überzeugt war, Vinicius würde seine Drohungen wahr machen, erschrak über seine Worte. Sie wünschte seinen Tod nicht. Verwundet und hilflos, wie er war, erregte er nur noch ihr Mitleid, nicht mehr ihre Furcht. Seit ihrer Flucht unter Leuten weilend, die in beständiger religiöser Begeisterung dahinlebten und nur an Selbstaufopferung, Heiligung und unbegrenzte Nächstenliebe dachten, hatte sie diese neue Anschauungsweise sich selbst schon in einem Maße zu eigen gemacht, daß sie ihr Haus, Familie, das verlorene Glück ersetzte und aus ihr eine jener wunderbaren Jungfrauen machte, die später die alte Welt in ihrem Innersten umgewandelt haben. Vinicius hatte zu tief in ihr Schicksal eingegriffen und ihr zuviel aufgebürdet, als daß sie ihn hätte vergessen können. Ganze Tage lang hatte sie an ihn gedacht und oft zu Gott gefleht, es möchte die Zeit kommen, wo sie den Geboten ihrer Religion zufolge ihm Böses mit Gutem, Verfolgung mit Liebe vergelten, ihn überwinden, für Christus gewinnen und retten könne. Und eben jetzt glaubte sie, sei dieser Augenblick gekommen und ihr Gebet erhört worden.
Sie näherte sich daher Crispus mit begeistertem Blick und sagte in einem Tone, als wenn eine andere Stimme aus ihr spräche: »Crispus, laß ihn bei uns bleiben, und wir wollen bei ihm ausharren, bis Christus ihn wieder gesund macht.«
Der alte Presbyter, gewöhnt, in allem den Wink Gottes zu sehen, glaubte, als er ihre Erregung bemerkte, eine höhere Macht spreche aus ihr, und im Herzen erschreckend, neigte er sein Haupt.
»Es soll geschehen, wie du sagst,« erwiderte er.
Auf Vinicius, der Lygia die ganze Zeit über nicht aus den Augen gelassen hatte, machte Crispus' rasches Nachgeben einen wunderbaren und tiefen Eindruck. Es kam ihm vor, als sei Lygia unter den Christen eine Art Sibylle oder Priesterin, der Verehrung und Gehorsam gebühre. Und auch er brachte ihr, wenn auch widerwillig, Verehrung dar. Zu der Liebe, die er für sie empfand, gesellte sich jetzt etwas wie Scheu, der gegenüber ihm seine Liebe mitunter fast als Anmaßung erscheinen wollte. Doch konnte er sich nicht in den Gedanken finden, daß ihr beiderseitiges Verhältnis jetzt gerade umgekehrt war, daß sie jetzt nicht von ihm, sondern er von ihrem Willen abhänge, daß er hier krank, mit zerbrochenen Gliedern liege, daß er ausgehört habe, die angreifende, siegreiche Macht zu sein und daß er wie ein hilfloses Kind auf ihre Pflege angewiesen sei. Für seine stolze, eigenwillige Natur wäre ein solches Verhältnis zu jeder anderen Person geradezu demütigend gewesen – hier empfand er jedoch keine Demütigung, sondern war ihr dankbar als seiner Königin. Solche Gefühle waren bei ihm unerhört, den Tag vorher hätten sie in seiner Brust noch keine Stätte gefunden und hätten ihn sogar jetzt noch in Erstaunen gesetzt, wenn er imstande gewesen wäre, sich klare Rechenschaft von ihnen abzulegen. Aber er grübelte jetzt nicht über die Gründe dieser Umwandlung nach, die ihm als die natürlichste Sache von der Welt vorkam; er fühlte sich nur glücklich, daß er bleiben durfte.
Er wollte ihr danken – außer der Dankbarkeit empfand er noch ein anderes Gefühl, das ihm bis dahin völlig unbekannt gewesen war, daß er nicht zu benennen wußte – denn es war geradezu Unterwürfigkeit. Die vorhergehende Erregung hatte ihn so angegriffen, daß er kein Wort hervorbringen und ihr nur mit den Augen danken konnte, in denen die Freude strahlte, daß er bei ihr bleiben, sie morgen, übermorgen, vielleicht lange Zeit sehen durfte. Zu der Freude gesellte sich nur eine so große Furcht, wieder zu verlieren, was er gefunden hatte, daß er, als Lygia nach einiger Zeit ihm von neuem Wasser zu trinken gab und ihn das Verlangen ankam, ihre Hand zu ergreifen, er sich nicht getraute, es zu tun. Er getraute sich nicht – er, derselbe Vinicius, der beim Feste des Caesars mit Gewalt ihre Lippen geküßt hatte und der sich nach ihrer Flucht zugeschworen hatte, sie an den Haaren ins Cubiculum zu schleifen oder sie peitschen zu lassen.