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Die moderne Entwicklungslehre hat die Tendenz, die verschiedenen Funktionen der Seele, die ein selbständiges Leben nebeneinander zu führen schienen, dem Gesamtlebensprozeß einzuordnen. Die Inhalte oder Resultate freilich, die sich aus der ästhetischen oder der intellektuellen, der praktischen oder der religiösen Tätigkeit herstellen, bilden gesonderte, nach je eigenen Gesetzen verwaltete Reiche, jede produziert in ihrer Art, in ihrer Sprache die Welt oder eine Welt; dennoch betrifft diese Souveränität unserer einzelnen Welten nur ihren von ihrer Produktion und ihrem Erleben unabhängig gedachten Inhalt. Und nur indem dieser Inhalt in verselbständigter Abstraktion gedacht und von den realen Energien des seelischen Lebens getrennt wurde, schienen in dem Bilde des letzteren all jene mannigfaltigen Strömungen wie berührungslos nebeneinander zu verlaufen; und demgegenüber ist ihre Zusammenfassung in ein einheitliches System von Herrschen und Dienen ein unzweifelhafter Fortschritt. Freilich wird dieser zum großen Teil wieder dadurch hinfällig, daß diese umfassende Teleologie ausschließlich auf die primitivsten und äußerlichsten Lebensnotwendigkeiten hin orientiert zu werden pflegt: die physiologische Lebenserhaltung und -fürsorge, die Arterhaltung, die ökonomischen Bedingungen pflegen als die »von der Natur selbst« uns gesetzten Zwecke, alle sittlichen, geistigen, ästhetischen Betätigungen als die Mittel für diese zu gelten. Gerade die psychologische Tatsächlichkeit zeigt ein ganz anderes Bild; hier stellt sich die Einheit gerade durch eine Wechselseitigkeit der Verursachung her: gewiß dient die intellektuelle Funktion der ökonomischen, aber dann auch die ökonomische der intellektuellen, gewiß haben die erotischen Triebe unzählige Male ästhetische Bemühungen hervorgerufen, aber ebenso hat der künstlerische Trieb die Kräfte der Erotik sich dienstbar gemacht. Das fremde Nebeneinander dieser Welten, solange sie nach ihrer sachlichen Form, sozusagen nach ihrer Idee betrachtet werden, macht dem Füreinander der Funktionen Platz, in denen die Seele sie erlebt, dem gegenseitigen Zweck- und Mittel-Werden, mit dem sie zu der Einheit des Lebens verwachsen. Diese funktionelle Einheit der Wechselwirkung nun kann zu einem gleichsam substantiellen Begriff kristallisieren, der die Einheit trägt oder ausdrückt, ungefähr wie »der Staat« die politischen Wechselwirkungen seiner Elemente bedeutet, daraufhin aber nun als ein besonderes, jenseits der Einzelnen stehendes, ihre Beziehungen bewirkendes Gebäude auftritt. Eine solche Zusammenfassung der inneren Vorgänge in einen Gesamtzweck, dem nun jeder einzelne untergeordnet ist, zeigt etwa der Begriff des Lebens bei Nietzsche. Hier erscheint das Leben als ein absoluter Wert, der das schlechthin Bedeutsame in den Manifestationen des Daseins ist. Der Wille – und ebenso das Denken oder das Fühlen – ist nur ein Mittel der Steigerung des Lebens, dieses umfaßt in seinem reinen unauflösbaren Begriffe alle unsere benennbaren Einzelfunktionen. Es ist nun für die Struktur des metaphysischen Denkens bezeichnend, daß, wie hier der Lebensprozeß den Willen als sein Organ und Mittel ergreift, so bei Schopenhauer umgekehrt der Wille zu jener absoluten Bedeutung gesteigert ist, in der auch das Leben selbst nur eine seiner Offenbarungen wird, nur ein Mittel, sich zum Ausdruck zu bringen und seinen Weg zu finden. Für Nietzsche wollen wir, weil wir leben, für Schopenhauer leben wir, weil wir wollen. Und bei beiden ordnet sich die intellektuelle Funktion diesen definitiven Bestimmungen unter. Gleichviel welche Selbständigkeit, welchen ideellen Wert die Wahrheit etwa als autonom gewordene Wissenschaft besitze – daß wir sie ergreifen, ist Sache jener praktischen Impulse des Lebens und des Wollens, diese erst durchströmen die Inhalte des Verstandes mit Blut und Wärme; damit freilich verlieren diese ihre Selbstgenügsamkeit, ihren Eigenwert, und werden – bei Schopenhauer – zu Untertanen des Willens; die Willensform unserer Existenz: das Hasten und Drängen, das Ergreifen, um loszulassen, Loslassen, um zu ergreifen, bemächtigt sich unseres Intellekts, um sich mittels seiner zu Einzelzwecken zu gestalten, um sich von ihm die einzelnen Wege jenes formlosen Dranges vorzeichnen zu lassen.
Neben diesem aber lehrt Schopenhauer, daß der Intellekt die Möglichkeit hätte, sich zeitweilig von dem Frondienst des Willens zu befreien; wobei er unter Intellekt keineswegs das logische, verbindende Denken versteht, sondern die Bewußtseinssphäre, in der sich überhaupt das gegenständliche Anschauungsbild der Welt formt. Als eine Tatsache, die er nicht weiter zu begründen versucht, schildert er, wie wir uns in die Anschauung, in die bloße Vorstellung eines Objekts so völlig zu versenken imstande wären, daß alle Regungen, die sich sonst in uns geltend machen und die immer offene oder verhülltere Willensimpulse sind, völlig zum Schweigen kommen. Wir sind in solchem Augenblick der absoluten Kontemplation ganz und gar von dem Bilde des Dinges ausgefüllt, so daß die Bedingung des Willens und seiner Qual: daß das Ich und sein Gegenstand sich noch gegenüberstehen, durch die eigentlich unüberbrückbaren Klüfte räumlicher und zeitlicher Art von einander getrennt sind – daß diese Bedingung verschwindet. Vielmehr, wir fühlen, der Betrachtung einer Erscheinung völlig hingegeben, kein Ich mehr, das von seinem Inhalt gesondert wäre, wir haben uns in diesen »verloren«. Damit fällt aller Egoismus hinweg, denn das Ich, das ihn tragen könnte, ist versunken, alles Haben-Wollen, denn in solcher vollendeten Anschauung haben wir alles von dem Ding, was wir jetzt wollen und wollen können. Glück und Unglück, die Attribute des Willens, bleiben jenseits der Grenze, an der die reine Anschauung beginnt, wo die Dinge nur noch als Vorstellungen, nicht mehr als Reize unseres Begehrens für uns bestehen.
Dies ist der Kern der ästhetischen Verfassung: daß sich in uns, kurz gesagt, die Welt als Vorstellung gänzlich von der Welt als Wille ablöst, von der sie sonst getragen, durchblutet, getrieben ist; das Dasein der Dinge in unserm Intellekt, sonst den Zwecken des Lebens dienend, reißt sich von dieser Wurzel im Willen los und schwebt als reines Bild in eignem Raume, ohne auch nur dem Ich eine Sonderexistenz zu lassen; auch dieses muß völlig in dem Bilde, in der Vorstellung aufgehen. Dies ist die radikale Wendung des inneren Menschen, die Erlösung durch den ästhetischen Zustand, der sich jedem beliebigen Objekt gegenüber einstellen kann, sobald dessen reiner, vorstellungsmäßiger Inhalt, keinem Willensinteresse mehr dienend, uns erfüllt: was wir schön nennen, sind nur solche Objekte, die uns die von dem Willensgrunde in uns gelöste Betrachtung erleichtern, das künstlerische Genie ist ein Mensch, dem diese vollständiger und umfassender gelingt, als allen andern, das Kunstwerk ist ein Gebilde, das uns gewissermaßen zu ihr zwingt; mit ihm ist der aus allen Verflechtungen mit dem Begehren und dem bloß Praktischen heraus gewonnene Vorstellungsinhalt der Dinge und Geschicke zu einem eignen Dasein geronnen – die Kunst, so drückt er es einmal wundervoll aus, »ist überall am Ziele«. Zwischen dem schöpferischen Genie und dem aufnehmenden Individuum stehend, ist sie die Wirkung wie die Ursache jener Emanzipation des reinen Intellekts vom Willen, aus der sich nun ihre ganze Bedeutung innerhalb der Metaphysik Schopenhauers entfaltet.
Die Wandelung, die sie zunächst im Subjekt erzeugt, habe ich schon angedeutet: die Individualität, die qualitative und raum-zeitliche Besonderheit des Menschen sinkt vor ihr unter. Wie der ästhetische Zustand vor einem Sonnenuntergang der gleiche ist, ob man ihn aus dem Fenster eines Kerkers oder eines Palastes erblickt, so schwebt das Auge, das ein Bild genießt, das Ohr, das sich den Tönen der Musik ergibt, in einem Reiche, in dem es gleichgültig ist, ob dieses Auge, dieses Ohr einem Könige oder einem Bettler angehört. Alles, was der Mensch noch außerdem ist, daß er jetzt dies Objekt sieht und hört, alle seine Qualitäten und Beziehungen, die ihm eine bestimmte, individualisierende Rolle in den zeitlichen, räumlichen, kausalen, gesellschaftlichen Reihen anweisen, kommen jetzt nicht in Betracht; er ist den Verknüpfungen enthoben, die ihn sonst zum Glied oder Durchgangspunkt jener ziel- und endlosen, vom Willen getriebenen Weltreihe machten; alle Relationen, die ihn betreffen und betreffen können, insoweit er als Individuum in Wechselwirkung mit andern individuellen Gebilden steht, sind verschwunden. So bemerkt Schopenhauer sehr schön, daß eben derselbe Vorgang, der, vom Willen getragen und getrieben, Geschlechtsliebe ist, sich durch das Überwiegen des Vorstellungslebens vom Willen lösen kann und damit zum rein objektiven Sinn für den ästhetischen Wert der Menschengestalt wird. Dies also sind die, innerlichst miteinander verbundenen Bestimmungen des Menschen, der nur anschaut, sich nur dem Bilde des Objekts hingibt, wie es zuhöchst dem Kunstwerk, der zum Sondergebilde gewordenen bloßen Vorstellungsseite der Welt, gegenüber möglich ist: daß er seine Bestimmtheit als dieses einzelne, zufällige Individuum verliert und, als Ursache wie als Folge hiervon, aus den Relationen heraustritt, die ihn mit der realen Welt und den Weltelementen außerhalb seiner momentanen Anschauung zusammenknüpfen. Dieser Momentcharakter hindert nicht, daß die ästhetische Anschauung ihrem inneren Wesen nach zeitlos ist: denn auch die zeitliche Relation ist ihr fremd, die den Augenblick durch sein Vorher und Nachher bestimmt, die seine zeitliche Fixiertheit jenseits seines reinen Inhalts für ihn wesentlich sein läßt – während die ästhetische Erhebung von allem Jetzt oder Sonst so unberührt ist wie von dem Hier oder Dort. Dies alles ist nun zunächst psychologisches Ereignis und gewinnt seine Bedeutung für das metaphysische Weltbild erst durch die Besonderheit des Gegenstandes solcher subjektiv ästhetischen Anschauung, durch die Antwort auf die Frage, was wir denn eigentlich von dem Gegenstande wahrnehmen, wenn wir ihn ästhetisch betrachten, im Unterschiede gegen die Wahrnehmung eben desselben innerhalb des gewöhnlichen, praktisch-empirischen Zusammenhanges. Hier ist nun das entscheidende Motiv Schopenhauers dieses: daß eben dieselbe Erlösung aus der Individualität, der raum-zeitlichen Bestimmtheit, den ursächlichen und dem Fluß der Lebenselemente eigenen Relationen, die das Subjekt der ästhetischen Anschauung gewinnt, auch dem Objekt derselben zukommt; in ihr heben wir den Gegenstand aus seinen Verflechtungen mit seinen Umgebungen, die nicht in eben diese ästhetische Anschauung mit eintreten, absolut heraus und wie er so seine Relativität verliert, so auch seine Individualität, die auch ihm nur vermöge der beziehenden Unterscheidung gegen andere, nur vermöge des Bestimmtwerdens durch Elemente außerhalb seiner zukommt. Was aber so übrigbleibt oder entsteht, nennt Schopenhauer, mit Berufung auf Plato, die Idee des Dinges, die den eigentlichen Gegenstand der Kunst (auf die wir uns hier, als auf das gesteigertste Phänomen des Ästhetischen beschränken) ausmacht und deren Verdeutlichung die zentrale Schwierigkeit dieser Theorie ist.
Alle in Zeit und Raum wirklichen Einzeldinge besitzen außer ihren kausalen und sonstigen, ihre Realitäten verbindenden Relationen noch eine Beziehung völlig anderer Art: wir empfinden oft, daß unzählige Individualerscheinungen nur ein Beispiel eines Allgemeinen sind, welches von dem Auftauchen und Verschwinden, dem Oft und Selten, dem Hier und Dort jener Wirklichkeiten nicht angetastet wird, sondern jenseits all dieses eine eigentümliche Bedeutung bewahrt, freilich aber von keiner einzelnen Wirklichkeit in voller, ungetrübter Reinheit dargestellt wird. Am entschiedensten – obgleich keineswegs ausschließlich – tritt dieser Gedanke den Organismen gegenüber hervor, deren Veränderlichkeiten und Entwicklungsmöglichkeiten es besonders nahe legen, daß sie einer vollendeten Form zustreben, die wie mit ideellen Linien in ihnen präformiert liegt. Dies ist keineswegs etwa der »allgemeine Begriff« der Dinge; ein solcher vielmehr ist nur die nachträgliche Zusammenfassung der Einzelerscheinungen, höchstens die intellektuelle Ausgestaltung jenes Ideales oder Urbildes; indem wir dieses aber mit einer besonderen Art von Anschauung in jedem einzelnen Dinge erblicken, erschöpft es sich in diesem einzelnen nicht, sondern bleibt in seiner eigentümlichen Bedeutsamkeit davon ganz unberührt, in welcher Vollständigkeit oder Gebrochenheit es durch die zufällige Verwirklichung hindurchleuchtet, wie häufig oder wie spärlich, wo und wann es zu einer solchen kommt. Indem wir in dem betreffenden Gegenstand nicht nur sein sinnlich unmittelbares Dasein, sondern die Idee wahrnehmen, die seinen Sinn und Bedeutung ausmacht, obgleich es sich ihr nur mehr oder weniger annähert – sehen wir in dem Gegenstand nicht mehr seine bloße Individualität, sondern ein und sein überindividuelles Wesen, dasjenige, was einer unbegrenzten, durch Raum und Zeit verbreiteten Anzahl von Einzeldingen gemeinsam ist, was in jeder ihrer differenzierten Gestaltungen, im Gegensatz zu dem nachträglich gebildeten, bloß logischen Allgemeinbegriff, als die immer gleiche, einheitlich-ideelle Form versteckt und doch für den darauf eingestellten Blick anschaulich ist. Es gibt also Vorstellungsobjekte, welche, sozusagen formal, genau dem Subjekte der ästhetischen Vorstellung entsprechen. Dadurch, daß wir den Gegenstand auf seine »Idee« hin ansehen, die zugleich sein innerstes Wesen und sein nie völlig realisiertes Ideal ist, entheben wir ihn ebenso seiner Einzelheit, der bloßen Relativität seiner zeiträumlichen Stellung, der Verflochtenheit in das physische Sein – wie wir selbst, ästhetisch betrachtend, all diesem enthoben sind. Dies nun begründet für Schopenhauer den Schluß – freilich nur durch eine Art von Indizienbeweis – daß der Gegenstand unserer »ästhetischen Anschauung« eben diese »Idee« ist, dieses durch sie hindurchschimmernde Allgemeine, das wir zwar in dem Einzelnen schauen, das aber seinem Wesen nach gegen diese einzelne Konfiguration ganz indifferent ist. Ästhetisch betrachtend sehen wir in dem individuellen Ding sein Allgemeines – während wir es in dem logischen Allgemeinbegriff nur denken. Das Kunstwerk bedeutet: daß der ideelle Kern, den die ästhetische Betrachtung in jedem Objekt erblickt, wie in reiner Kristallisierung dargestellt wird, sich gleichsam seinen eigenen, keinen fremden Bestandteil mehr tragenden Körper baut. Indem das Objekt durch das geniale Subjekt hindurchgeht und nur seinem Ideenwerte nach aus ihm wieder heraustritt, wird dieser Wert für alle anderen Subjekte um so greifbarer, begreifbarer; was dem Leib die animalische Nahrung leistet, indem sie nämlich schon assimilierte vegetabilische ist, das leistet, nach Schopenhauers Ausdruck, dem Geiste das Kunstwerk. Es müssen sich die gleichen Bestimmungen am Subjekt und am Objekt begegnen, damit es zu einer inhalterfüllten ästhetischen Anschauung komme, Bestimmungen, die in beiden Fällen sich zu widersprechen scheinen, aber – wie es sich noch weiterhin als der eigentliche Nerv der Schopenhauerschen Kunstlehre zeigen wird – gerade durch das Zusammentreffen des scheinbar Sich-Ausschließenden den entscheidenden Punkt festlegen. Es ist nämlich auf der einen Seite der Mensch wie der Gegenstand, wie sie beide zu und in der ästhetischen Anschauung zusammentreffen, von allem gelöst, was nicht sie selbst sind, aus allen natürlichen und historischen Zusammenhängen herausgehoben, die sie aus ihrem reinen, nur sich selbst ausdrückenden Wesen entfernen könnten. Diese Isolierung gegenüber dem Strom des Daseins, der das Subjekt wie das Objekt in ihrer sonstigen Wirklichkeit mit sich reißt, scheint die reine Individualität beider übrig zu lassen; die schlechthin unverwechselbare, auf sich allein ruhende Bestimmtheit jener beiden. Statt dessen aber läßt Schopenhauer diese Wandlung gerade ihre Individualität vernichten, läßt mit ihr gerade das singulare Wesen in ein allgemeingültiges übergehen, läßt in diesem Prozeß ein Typisches, Generelles auftauchen, das unzählige Einzelwesen vertritt, von welchen letzteren jedes, insofern es auf seine Wirklichkeit hin angesehen wird, nur jetzt und nie wieder dasein kann. Es ist die höchste Zuspitzung des Fürsichseins und zugleich dessen vollkommenste Ablehnung, die den ästhetisch Anschauenden und seinen Gegenstand ergreifen – eine Antinomie, deren tiefe Wahrheit freilich jeder Augenblick eines vollkommenen ästhetischen Genießens uns fühlbar macht.
Ihre eigentliche Begründung hat Schopenhauer auf die Seite des Objekts beschränkt, für das er den Widerspruch durch eine besondere metaphysische Kategorie aufhebt. Das bisher dargestellte Weltbild enthielt zwei Elemente: die metaphysische Einheit des Willens, das Absolute des Seins auf der einen Seite, die einzelnen Erscheinungen auf der anderen, die durch unsere Bewußtseinsformen bestimmt und in gegenseitige Verbindungen durch Raum, Zeit und Kausalität gebracht sind. Allein innerhalb dieses fundamentalen Gegensatzes findet eine Tatsache noch keinen Platz: daß nämlich jene Einzelerscheinungen Gruppen mit wesentlich identischem Inhalt bilden, so daß sie intellektuell zu Begriffen zusammenzufassen sind, und, tiefer und weniger willkürlich, in ihrer Individualität als Beispiele jener »Ideen« erscheinen; die Natur bietet den Eindruck, als bestände eine gewisse Zahl von Grundformen oder Schöpfungsgedanken, die die Typen für die unzähligen, den Naturgesetzen gemäß entstehenden und vergehenden Einzelphänomene bilden. Diese sind die schematischen oder prinzipiellen Möglichkeiten, die der metaphysische, das Dasein tragende Wille sozusagen vorfindet, um die singulären Wirklichkeiten der Dinge zu formen. Wenn in diesen letzteren überhaupt der Weltwille sich »objektiviert«, so sind jene typischen idealen Gestalten, in denen sie sich zusammenfassen, nach Schopenhauers Ausdruck, die Stufen dieser Objektivation, – Provinzen eines ideellen Reiches, deren jede für sich eigenartig charakterisiert und in der Realität durch unendlich viele Einzelwesen erfüllt ist, die jenen Grundcharakter ihres Typus deutlicher oder verhüllter, reiner oder gemischter tragen. Diese Objektivationsstufen des Willens bilden eine aufsteigende Reihe, – was übrigens mangels jedes Entwicklungsgedankens bei Schopenhauer keine wichtigeren Folgen hat – von der dumpfesten Art des Willens, sich in der den Erscheinungen zugängigen Sprache auszusprechen, der Materialität und der Schwere, über alle besonderen Stoff- oder Formklassen der Natur hin bis zur Menschengattung; diese ist so mannigfaltig, daß sich kaum die Ganzheit eines Menschen mit der eines anderen einer gemeinsamen Idee einordnet, sondern die Idee, zu deren Verwirklichung eine individuelle Persönlichkeit bestimmt ist, eigentlich nur von dieser einen einzigen erfüllt werden kann.
Die Ideen bilden so ein gewisses Mittleres zwischen dem transzendenten Willen und den empirischen Gegenständen, ein drittes Reich, dessen Realitätsgrad Schopenhauer undeutlich läßt – wie überhaupt erkenntnistheoretische Klarheit nicht seine Stärke ist. Vielleicht aber ist der geistige Ort, den er für dieses Reich meinen kann, durch einen Hinblick auf Plato einigermaßen festzulegen. Die platonische Ideenlehre ging von der Entdeckung des Sokrates aus, daß die Wahrheit, weil sie eine dauernde und objektiv gültige sein müsse, ebendeshalb nicht in den flüchtigen, unzuverlässigen, von Subjekt zu Subjekt wechselnden Sinnesbildern der Dinge gefunden werden könne, sondern in den Begriffen des Verstandes, die immer wieder auffindbar sind, und mit denen man wie mit festen Größen rechnen kann. Und nun schloß Plato weiter: Wahrheit einer Vorstellung bedeutet, daß sie mit ihrem Gegenstand übereinstimmt. Der Gegenstand des Begriffs kann aber nicht das sinnlich wahrnehmbare Einzelding sein, da es wegen seiner oben angedeuteten Eigenschaften, die denen des Begriffs ganz entgegengesetzt sind, sich nicht zum Gegenbild für diesen eignet. Folglich muß er ein anderes Objekt haben, ein unsinnliches, dem Zufall der Einzelexistenz enthobenes, in unveränderlicher Gültigkeit über den Dingen schwebend, wie der Begriff über den bloßen Wahrnehmungen der Dinge. Dieses Objekt nennt Plato die Idee, welche also, auf ihren Ursprung angesehen, nicht eine metaphysische Wesenheit wäre, die dann zum Gegenstand unserer Begriffe würde, sondern deren Annahme nur der Forderung entspringt, daß der Begriff, da er nun einmal das Wahre ist, einen Gegenstand haben müsse, der ihm durch seine Übereinstimmung mit ihm eben die Würde der Wahrheit verschaffe. Die Idee des Baumes oder der Schönheit entsteht ihm als metaphysische Realität, weil nicht in der sinnlichen Vorstellung eines Baumes oder eines schönen Menschen die wahre Erkenntnis ihres Wesens ruht, sondern in dem Allgemeinbegriff des Baumes und der Schönheit, und weil, damit dies möglich sei, doch ein ihnen entsprechendes, sie als Wahrheit legitimierendes Objekt vorausgesetzt werden muß. Wie nun Plato ein Objekt für die Begriffe suchte, so Schopenhauer ein Objekt für die ästhetische Anschauung. Er empfand sehr wohl, daß, wenn wir uns einem Gegenstand gegenüber ästhetisch verhalten, wir etwas anderes vorstellen, als wenn wir ihn wissenschaftlich oder praktisch ansehen. Er empfand es als das unvergleichliche Wesen des ästhetischen Objekts, daß es einerseits ein völliges Fürsichsein bewahrt, gelöst von allen Verknüpfungen, Vermischungen, Bedingtheiten, mit denen die Wirklichkeit das Eigenleben der Dinge affiziert – daß es aber andrerseits über die Einzelheit, das bloße Für-Sich-Gelten des Individuellen hinausgreift; es erstreckt sich herrschend, normierend über eine Vielheit, aber innerhalb einer anderen Dimension, als das Neben- und Nacheinander, als die kausalen Reihen der Wirklichkeiten. Was wir also ästhetisch anschauen – indem äußerlich ein bloß Wirkliches vor uns steht – und dessen so charakterisierte Anschauung im Kunstwerk einen selbständigen Körper gewonnen hat, nennt Schopenhauer die Idee des Dinges, d. h. den als Anschauung lebenden Typus, die Formstufe, in deren Umrisse die Wirklichkeit, ihren Gesetzen des raum-zeitlichen Geschehens gemäß, eine Unendlichkeit ihrer Geschöpfe gießt. Diese Stufe selbst, – der Inhalt des ästhetischen Schauens, das Produkt des künstlerischen Bildens ist schlechthin einzig, für sich bestehend, in ihrem Sinne gegen alles Vorher und Nachher und Daneben gleichgültig. Es mag eine endlose Zahl solcher Stufen geben, endlose Möglichkeiten, sie durch die Kunst zu deuten – aber jede kann es nur einmal geben, dieselbe zum zweiten Male würde mit dem ersten Male zusammenfallen; während die einzelnen realen Dinge, die gleichsam nach diesem Muster gebildet sind, in denen als ihre Wesensform jene Stufe der Willensobjektivierung lebt, in unermeßlicher Vielheit nebeneinander und nacheinander existieren. Die Forderung des ästhetischen Gebildes: selbstherrliche Einheit und Einzigkeit, verbunden mit überindividueller Gültigkeit und Normierungskraft für eine Unendlichkeit von Einzelnem – wird durch die metaphysische Konstruktion der Stufen eingelöst, in denen der Wille zu sichtbaren Gestalten wird, so daß der ideale Sinn und Inhalt jeder Stufe nur einmal und in völliger Autonomie existiert, aber durch jedes der zahlreichen Gebilde, durch die die Natur diese Stufen verwirklicht, als ihr nur unvollkommen erreichtes Urbild für den ästhetischen – genießenden oder schöpferischen – Blick hindurchleuchtet.
Daß die Idee, der Gegenstand der ästhetischen Anschauung, nicht in Zeit und Raum ist, könnte angesichts des Zeitverlaufs in Drama und Erzählung, angesichts der Raumdarstellung in der bildenden Kunst, ganz unbegreiflich erscheinen. Wenn Schopenhauer in Bezug auf die Unräumlichkeit des Ästhetischen sagt: »Nicht die mir vorschwebende räumliche Gestalt, sondern der Ausdruck, die reine Bedeutung derselben, ihr innerstes Wesen – ist die Idee und kann ganz dasselbe sein, bei großem Unterschied der räumlichen Verhältnisse der Gestalt« – so offenbart sich darin allerdings sein Abstand von der modernen Auffassung der Kunst, die er sonst vielfach antizipiert. Gewiß hat er für seine Kunstphilosophie ein intimeres Verhältnis zur Anschaulichkeit mitgebracht, als vielleicht irgend ein Philosoph vor ihm; allein der Goethesche Klassizismus auf der einen Seite, die – trotz aller prinzipiellen Klarheit über den Gegensatz von Begriff und Idee – noch bestehende abstrakt-intellektuelle Färbung der Idee auf der anderen hinderten ihn an der rein artistischen Auffassung der Kunst, welche zwar eine weitere und metaphysische Ausdeutung durchaus zuläßt, aber nicht das Eingreifen dieser in den immanenten Zusammenhang des Ästhetischen, so wenig wie in den der Naturwissenschaft. Dennoch handelt es sich zwischen ihm und uns nur noch um eine genauere Differenzierung. Daß die Räumlichkeit ein absolut wesentlicher Inhalt des Bildwerkes ist, läßt sich mit seiner Erhebung aus der realen räumlichen Bestimmtheit durchaus vereinen. Denn wenn auch der Raum im Kunstwerk ist, so ist doch das Kunstwerk nicht im Raume. Die Leinwand mit ihrem Farbenauftrag oder das Stück Marmor steht zwar im Raume. Aber der Raum, den das Bild darstellt, die räumliche Konfiguration der Gestalt, die den Inhalt der Plastik bildet – diese sind durchaus nicht realer Raum, sind durchaus nicht von den Grenzen umfaßt, die die Leinewand und den Marmor als Materienstücke im realen Raum umfassen und bestimmen. Mit dem Zeitbegriff steht es ersichtlich ebenso: die Zeit, in der das Drama verläuft, ist eine rein ideelle, und völlig damit verträglich, daß es der Zeit als einer Form des realen Erlebens gänzlich entrückt ist. Der Raum und die Zeit, in denen wir leben, umgeben jedes Ding und jedes Schicksal, machen es dadurch zu einer bloß individuellen Existenz, geben ihm Grenzen von außen her. Das Kunstwerk aber hebt nur den reinen Inhalt jener heraus und stellt diesen ganz jenseits jeder Stelle, die ihm von einer Begrenzung durch Anderes kommen könnte. Der Raum und die Zeit, die in einem Kunstwerk in die Erscheinung treten, werden also tatsächlich gar nicht von anderen Räumen und Zeiten begrenzt, sondern ein jedes von ihnen bildet seine Welt – die des betreffenden Kunstwerkes für sich allein. Vom Standpunkt der Realität aus gesehen bleibt also das Kunstwerk völlig unräumlich und unzeitlich, auch wenn es selbst zeitliche und räumliche Bestimmungen einschließt, die aber nicht weniger als alle seine sonstigen in der Sphäre der Idee leben. Daß Schopenhauer diese beiden Räume nicht unterscheidet: den Raum innerhalb des Kunstwerkes, der seiner Idee als Element zugehört, und den Raum um das Kunstwerk herum, von dem jener überhaupt nicht berührt wird – läßt ihn zu dem aussichtslosen Versuche greifen, den Raum aus dem Kunstwerk als etwas dafür Irrelevantes hinwegzudeuten.
Hier bedarf es also nur einer graduellen Ausdehnung seines Prinzips: der Einbeziehung von Zeit und Raum, jenseits ihrer Realitätsbedeutung, in jene ideale Welt – um Schopenhauers Diskrepanz gegen die moderne Kunstauffassung zu lösen. Eine tiefere aber besteht zwischen beiden in Hinsicht des allgemeinen Gegenstandes der Kunst. Mit großer Entschiedenheit lehnt er ab, was wir heute Naturalismus und Impressionismus nennen. Alle Nachahmung der Wirklichkeit habe mit Kunst nichts zu schaffen; man kann seine Argumente dafür so zusammenfassen, daß die bloße Nachahmung uns nur das gäbe, was wir ja so wie so schon haben, und daß ihr deshalb die Erlösung und der Übergang zu einer anderen Welt, die uns die Kunst schafft, nicht gelingen kann. Ebensowenig aber wie ein herausgeschnittenes Stück Natur könne eine Zusammensetzung natürlicher Elemente – die in der Wirklichkeit an viele individuelle Erscheinungen verteilt sind – den eigentlichen Gegenstand der Kunst ausmachen. Denn ein solcher Empirismus der Kunst würde seine eigene Voraussetzung unerklärt lassen: das Kriterium nämlich, nach dem unter den einzelnen, von der Natur dargebotenen Erscheinungen, die Auswahl der Teile getroffen werde, aus denen das Kunstwerk erwachsen soll. Auf den Wegen des Naturalismus und des Empirismus ist also das Wesen der Kunst nicht zu finden, weil sie nicht ein Gegebenes aufzunehmen und weiterzugeben hat, sondern einerseits durch das Gegebene gleichsam hindurchgreifend, von der Idee lebt, andrerseits die tieferen Schichten unseres Seins jenseits der bloß rezeptiven und erfahrungbildenden in Tätigkeit setzt.
So sehr nun mit alledem abgelehnt ist, daß die Kunst die Schleppenträgerin der Wirklichkeit sei, so ist dennoch ihre Autonomie im Sinne der modernen Auffassung damit noch nicht erreicht; denn es erhebt sich ihr Verhältnis zur »Idee« zu den vor aller Kunst gegebenen und bestehenden Objektivationsstufen des Willens doch als eine vielleicht nicht geringere Abhängigkeit. Niemand wehrt sich mehr als Schopenhauer dagegen, daß die Kunst einen »Zweck« habe. Und nun hat sie doch einen Zweck: die Idee darzustellen, von der ihr Reiz und Bedeutung kommt; denn solange wir im rein Ästhetischen bleiben, mag die Idee nur ein Name für den Gegenstand der Kunst sein; innerhalb des metaphysischen Weltbildes Schopenhauers aber ist sie eine selbständige Wirklichkeit und die Kunst nur ein Mittel, sie darzustellen. Hätte die Menschheit etwa Formen zur Verfügung, die Idee adäquater auszudrücken, als durch die Kunst, so müßte Schopenhauer diese konsequenterweise für überflüssig erklären. Mag Kunst nicht anders denkbar sein, als indem die Ideen ihren Inhalt bilden – die eigentümliche Art, in der gerade die Kunst ihn formt, besitzt für das moderne Gefühl einen Wert und einen Sinn, der von dem Wert und dem Sinn dieses Inhalts unabhängig ist; wie vielleicht der Reiz des menschlichen Körpers ein ganz anderer oder minderer wäre, wenn er nicht der Träger einer Seele wäre, aber nun doch als dieses eigentümliche Gebilde einen Wert für uns hat, der bestehen bliebe, auch wenn die Seele sich etwa in anderen Gestaltungen viel adäquater ausdrücken könnte. Es ist sehr schwierig, bei zwei in der Tatsächlichkeit unbedingt verbundenen Elementen das Sonderrecht des einen herauszustellen, das er freilich nur in der Verbindung mit dem andern realisieren kann; aber es bleibt das Verdienst der Formel des l'art pour l'art, die Eigenbedeutung der Kunstform als solcher zu pointieren, gleichviel ob sie historisch, psychologisch, metaphysisch nur mit, vielleicht nur an andersartigen Bedeutsamkeiten besteht. Man mag mit Recht subjektiv ein l'art pour le sentiment, objektiv ein l'art pour l'idée fordern; jene erste Formel aber bezeichnet ein Drittes, das der Kunst erst ihr eigenes Reich zuweist, wie die Erkenntnis, wie die Religion, wie die Moral solche besitzen, so sehr jedes tatsächlich nur in der Verflechtung mit Werten außerhalb seiner spezifischen Domäne in die Erscheinung treten mag. Die Idee hat ihre metaphysische Wirklichkeit, ohne Rücksicht darauf, ob sie ästhetisch erscheint, künstlerisch verkörpert wird; ruht nun der Wert der Kunst ausschließlich auf der Idee, die in ihr zum Ausdruck gelangt, ist sie, wie Schopenhauer will, in eben dem Maße vollkommen, in dem sich die Idee in ihr reiner und vollständiger darstellt – so bleibt sie ein bloßes an sich indifferentes Mittel, und die Trennung ihrer Eigenbedeutung von allem, was nicht Kunst ist, ist trotz allem nicht gelungen. Auch nicht dadurch, daß Schopenhauer ihr Wesen in die Form setzt, da alle Materie das schlechthin Einzelne, nur einmal Vorhandene sei, während die Form für eine Unendlichkeit von Wesen als die immer identische gelten kann. Denn nach dieser Ablösung der künstlerisch indifferenten Stofflichkeit der Dinge bleibt keineswegs die Form als der alleinige Bestand der Kunst übrig; sondern es gibt noch ein Drittes außer Materie und Form: das, was man den Inhalt nennen kann. An einer menschlichen Erscheinung z. B. fällt für den Sinn der Kunst zunächst die Materialität fort; was dann noch besteht, ist freilich ihre Form, aber noch nicht die Kunstform ihrer, sondern die Form ihrer bloßen Wirklichkeit, welche erst ihrerseits in die nun spezifischen Kunstformen der Malerei, der Plastik, bzw. der verschiedenen Stilisierungsarten zu gestalten ist. So liefert die Wirklichkeit, nach Abzug ihrer Materialität, dem Kunstwerk ihre Form, die für dieses und seine Gestaltungskräfte zum Inhalt wird. Und nun erst erhebt sich die eigentlich entscheidende Frage: ob die Darstellung dieses Inhaltes oder die Darstellung dieses Inhaltes den Sinn und Wert des Kunstwerkes ausmacht; ob die Umformung, die der Inhalt der Wirklichkeit erfährt, um Inhalt des Kunstwerkes zu sein, nur an der ihr gelingenden Verdeutlichung dieses an sich interessierenden Inhaltes ihren Zweck hat, oder ob sich an sie selbst ein Interesse heftet, das, obgleich nur an einen Inhalt anknüpfbar, doch von sich aus allein die Existenz der Kunst rechtfertigt. Diese Frage hat Schopenhauer nicht in solcher Schärfe aufgeworfen, aber er hat sie entschieden: so, daß das Kunstwerk um seines Inhaltes – nämlich der Idee – willen besteht, daß alles, was man das Funktionelle der Kunst nennen könnte: die Stilgebung, die Verwendung der technischen Mittel, der Ausdruck der künstlerischen Individualität, die Lösung der spezifischen, nur der einen und keiner anderen Kunst zufallenden Aufgaben – daß alles dies sein Interesse nur von dem Interesse an der Idee zu Lehen trägt, die den jeweiligen Inhalt des Werkes bildet. Ich will eine Stelle anführen, die die ganze Unversöhnlichkeit seines Gesichtspunktes mit dem eigentlich artistischen kraß beleuchtet. Der »eigentliche« Zweck der Malerei, sagt er, wäre die Auffassung der Ideen, wobei wir geistig in den Zustand des willensfreien Erkennens versetzt würden; außerdem aber komme ihr noch eine »davon unabhängige und für sich gehende Schönheit zu, durch die bloße Harmonie der Farben, das Wohlgefällige der Gruppierung, die günstige Verteilung des Lichts und Schattens und den Ton des ganzen Bildes. Diese untergeordnete Art der Schönheit befördert den Zustand des reinen Erkennens und ist in der Malerei das, was in der Poesie die Diktion, das Metrum und der Reim ist: nämlich nicht das Wesentliche, aber das zuerst Wirkende.« Es ist leider kein Zweifel: er hat damit einen erheblichen, vielleicht den erheblichsten Teil jener reinen, nur ihren inneren Gesetzen gehorsamen Kunstform als ein nur subjektiv wirksames Reizmittel denunziert; wogegen, wenn die Kunst wirklich als Kunst, als eine besondere Gestaltung der Daseinsinhalte, Selbstzweck ist, all diese »untergeordneten« Elemente gerade einen objektiven Wert haben und mit den nicht im gleichen Maße sinnlichen Elementen zu der absoluten Einheit der künstlerischen Formgestaltung zusammengehen, aber keineswegs als deren Schrittmacher »für sich gehen«. Nachdem Schopenhauer die Selbstherrlichkeit der Kunst siegreich aller Unmittelbarkeit des Erlebens und allem begrifflich ausdrückbaren Inhalt abgerungen hat, beugt er sie nun doch zur Dienerin, wenn auch nur eines metaphysisch bedeutsamen Inhaltes herab.
Um diesen unversöhnlich auseinanderstrebenden Auffassungen der Kunst dennoch eine Einheit unterzubauen, ohne eine von ihnen aus ihrer Richtung zu biegen, müßte man zu einem Motiv greifen, das bei Schopenhauer allerdings anklingt, dessen volle Entfaltung sich aber durch seinen Pessimismus unterbunden zeigen wird. Vielleicht besteht nämlich doch zwischen den rein inneren artistischen Normen des Kunstwerkes und seiner Fähigkeit, einen Weltinhalt zu offenbaren, eine Harmonie; derart, daß man nur jener immanenten Gesetzlichkeit des bloß künstlerischen Interesses ohne jede andere Rücksicht und unabgelenkt nachzugehen brauchte, um schließlich auch den nicht-anschaulichen Sinn des dargestellten Inhaltes auf das Vollkommenste zu offenbaren, daß beide Bestrebungen sich von einem gewissen Vollendungsmaße an treffen, ohne daß eine um der anderen willen ihrer eigenen Richtung untreu geworden wäre. An diesem Punkte kreuzen sich die letzten Probleme der verschiedenen Künste: die Aufgabe der Porträtkunst, ein malerisch wertvolles Ganzes zu schaffen, das doch zugleich das Modell völlig getreu darstellt – während es doch rein zufällig erscheint, ob die Wirklichkeit des Modells den Reizen und inneren Forderungen des malerischen Kunstwerks Raum gibt; der Doppelanspruch an das Gedicht, die Bedeutsamkeit, Anschaulichkeit und Gefühlswert seines Inhaltes vermöge der für sich lebenden Reize seiner Form und seines Klanges herauszuholen; die Aufgabe der Architektur und der Gerätekunst, die inneren Verhältnisse des Materials: Schwere und Biegsamkeit, Spannung und Starrheit, organische Struktur und Tragfähigkeit durch den Bau des Ganzen zur entschiedensten Nachfühlung und beruhigenden Ausgleichung zu bringen und dies nun in Formen, die rein als Oberflächengestaltung, als Licht und Farbenverteilung, als geometrische Struktur bedeutsam und für sich befriedigend sind, usf. Das tiefste Glück, das die Kunst bereitet, liegt in diesem überraschenden und sozusagen unverdienten Zusammenklang von Werten, die in der sonstigen Gestaltung und Auffassung der Welt beziehungslos auseinanderliegen; gegenüber der Zufälligkeit, mit der das unmittelbare Dasein die Wertreihen bald harmonisch, bald dissonierend verlaufen läßt, gewährt die Kunst die Ahnung und das Pfand dafür, daß eine Notwendigkeit, freilich nur von diesem Blickpunkt aus sichtbar, sie dennoch in ihrer letzten Tiefe zusammenbindet. Diese äußerste Gefühlsbedeutung der Kunst, die ihren artistischen und ihren auf den Inhalt gegründeten Wert nicht nur vereint, sondern gerade in solche Vereinigung den ganzen Sinn der Kunst verlegt – zu dieser hat Schopenhauer sich nicht entschließen können, weil sie ein Moment positiven – sozusagen: synthetischen – Glückes an der Kunst enthält und dies mit dem radikalen Pessimismus nicht verträglich wäre. Das Glück, das uns von der Kunst kommen kann, darf ihm, wie alles andere Glück, nur negativen Sinn haben: es besteht ausschließlich in der Befreiung vom Willen und seiner Qual. Infolgedessen muß die bloße Konzentration des Interesses auf die reine Vorstellungsseite der Welt den ganzen Sinn der Kunst ausmachen, die Flucht in die einzige Welt, in die die Wirklichkeit, d. h. der Wille und das Leiden, nicht hineinreicht; indem wir uns von diesem letzteren abwenden, besteht in solcher Negation, solchem Frei-Werden, solchem Nicht-Mehr-Leiden das ganze Glück, das uns die an die Stelle der Willenswelt tretende Kunst gewähren kann. Dadurch wird verständlich, daß Schopenhauer der Kunst kein synthetisches Grundmotiv zusprechen kann, aus der eine positive, von jener bloßen Abwendung vom Willen unabhängige Beglückung quellen müßte; ganz allein die Tatsache, daß im ästhetischen Zustand der Inhalt der Dinge – im Unterschied gegen ihr Sein, das immer unser Willensinteresse engagiert – uns erfüllt, kann der Träger des ästhetischen Glückes sein, wenn es, als Glück, im bloßen Nicht-Wollen bestehen soll. Wie der pessimistische Absolutismus ihm die Gefühlsbedeutung des Wollens gefälscht hatte, indem er ihm den eudämonistischen Wert der Annäherungen an das definitive Ziel verbarg, so hat er ihm auch die spezifischen Bedeutungen der Kunst verborgen, die einen eudämonistischen Wert ganz über das bloße Verstummen des Willens hinaus entfalten.
Dennoch wäre es unrecht, in Schopenhauers Ästhetik, weil sie subjektiv auf die Alleinherrschaft des vorstellenden Bewußtseins, objektiv auf den reinen Ideengehalt der Dinge gegründet ist, einen Intellektualismus zu sehen. Es ist vielmehr von seinem Begriff der Kunst – dem vieldeutigsten Element dieser sonst so eindeutigen Philosophie – noch eine Auffassung möglich, die die Degradierung der Kunst zum bloßen Vortragsmittel für die Idee, als für das allein Wertvolle und Interessierende, doch einigermaßen mildert. Man kann dies so formulieren: das Wesentliche und Beglückende an der Kunst sei nicht nur, daß sie die Ideen ausdrückt, sondern daß sie die Ideen ausdrückt. Diese beiden Motive gehen bei Schopenhauer nebeneinander her. In der Hauptsache klingt es so, als ob es nur auf das Bewußtwerden der Ideen ankäme, gleichviel auf welche Weise wir dazu gelangen; dann aber hört man doch heraus, es komme eben doch darauf an, daß die Ideen sich an sinnlichem Stoff, an einer Einzelerscheinung offenbaren. Er müßte zugeben, daß die Idee an und für sich nicht »schön« ist; schön vielmehr ist das Ding, das die Idee in einer gewissen Deutlichkeit und Vollständigkeit sichtbar macht, und zwar mehr oder weniger schön in dem Maße, in dem es diese Funktion besser oder schlechter ausübt, uns mehr oder weniger sicher zur Auffassung der Ideen veranlaßt. Was wir häßlich oder unkünstlerisch nennen, wäre dann ein Wesen oder ein Werk, dessen sich darbietende Erscheinung uns keinen klaren Blick in ihre Idee gestattet, in die Seinsstufe, zu deren Darstellung diese Erscheinung bestimmt ist. Diese negative Instanz des Häßlichen interpretiert vielleicht die fragliche Auffassung des Ästhetischen am klarsten. Daß die Schönheit doch nicht an der Idee haftet und die sinnliche Form der an sich indifferente Träger für sie ist, zeigt sich daran, daß umgekehrt das bloße Nicht-Dasein der Idee doch nichts Häßliches sein kann – häßlich ist nur das Sinnending, insoweit es der Idee entbehrt oder vielmehr insoweit es nach seiner Struktur und der unserer Seele es uns erschwert, die in ihm so gut wie in dem »Schönen« lebendige Idee wahrzunehmen. An und für sich müßte jeder Gegenstand genau so »schön« sein wie jeder andere, da es keinen gibt, der nicht das Beispiel einer Idee wäre; für einen Intellekt, der sich dieser objektiven Beschaffenheit der Dinge genau anpaßte, wäre Kunst nicht nötig, ja, nicht möglich. Da nun aber unser menschlicher Geist ein unvollkommenes, zufälliges, variables Verhältnis zu den Ideen hat, so ersteht für ihn die Erscheinung des Schönen durch die Verschiedenheit des Maßes, in dem die Erscheinungen gerade ihm ihre Ideen offenbaren – denn für jenen absoluten Geist, dem alles gleichmäßig schön ist, wäre ersichtlich nichts schön, weil Schönheit ihren Sinn verliert und unempfindbar wird, wenn sie an jedem Punkte des Daseins in absolut gleicher Höhe haftet. Wenn gewisse Tiere uns immer häßlich erscheinen, so beweist dies nicht den objektiven Mangel der Idee in ihrer Erscheinung, sondern meistens nur, daß sie durch unvermeidliche Gedankenassoziationen uns Ähnlichkeit mit andern Gebilden aufdrängen – z. B. der Affe mit dem Menschen, die Kröte mit Kot und Schlamm – die uns an der reinen Auffassung des an sich auch ihnen zukommenden ideellen Wesens hindern. Es ist also ein eigentlich unvollständiger, äußerst leicht mißzuverstehender Ausdruck Schopenhauers, daß die Kunst nur der Offenbarung der Ideen diene. Denn wäre das genau richtig, so würde das erreichte Ziel sich selbst illusorisch machen: wären uns alle Ideen der Dinge gleichmäßig und restlos zugängig gemacht, und bedeutete dies die Schönheit, so würde es keine ästhetischen Wertunterschiede und also überhaupt keine ästhetischen Werte mehr geben. Was die Kunst leistet, ist konsequenterweise dies, daß sie die Idee an einer Materialität, in einer Sondergestalt ausdrückt, die ihr noch einen gewissen Widerstand entgegensetzen, an denen das, was nicht Idee ist, nicht ganz verschwunden ist. Die Idee würde dann für die Kunst in demselben Sinne und derselben Bedingtheit bedeutsam sein, wie die seelische Beschaffenheit eines Menschen es für die geschlechtliche Liebe ist, die auf Grund jener entstanden ist. Diese Liebe mag ihre Wärme, ihren Sinn, ihre ganze Substanz von der Sympathie für jene Seele zu Lehen tragen, von der geheimnisvollen, erlösenden, beglückenden Reaktion auf ihr Dasein – dennoch würde sie als Liebe nicht oder nicht so bestehen, wenn die Seele nicht mit einem Körper verbunden wäre. Dieser Körper mag für sich allein durchaus keine erotische Anregung gegeben haben, ja er mag dem tiefsten seelischen Bedürfnis als Hemmnis, als ein eigentlich zu Überwindendes erscheinen, das den reinen Strahl der Seele bricht und überschattet – so scheint die Seele doch nur, indem sie sich in dieser trübenden Herabsetzung offenbart und die Durchseelung ihrer Hülle nie völlig erreicht, die spezifische Energie des Geliebtwerdens zu entfalten. Vielleicht ist dies ein sehr allgemeiner Typus des menschlichen Verhaltens: daß das Interesse für ein Objekt ausschließlich einer bestimmten Seite oder Bedeutung desselben gilt, aber einer rein abgelösten, abzugslosen Darstellung dieser dennoch nicht gelten würde; vielmehr nur dem ganzen Objekt, in dem jener Wert sich in bloßer Mischung und nie ganz gelingender Durchdringung einer Materie, einer an sich interesselosen Realität darstellt. Auf diese Weise wäre es allerdings durchaus kein Widerspruch, daß die Kunst ihren Wert und Sinn nur von den Ideen entlehnt, die sie an den Erscheinungen sichtbar macht, und dennoch dieser Wert nicht an den Ideen haftet, sondern nur daran, daß eine Einzelerscheinung, deren greifbare Materialität an sich der Idee völlig fremd ist, von ihr durchdrungen ist. Dadurch erst wird die Kategorie des Schönen in der Kunst eine völlig originäre, auf keine Komponenten zurückführbare: denn sobald die Idee und die Einzelerscheinung auseinandertreten, ist an keiner von ihnen der ästhetische Wert auffindbar, den die erstere der andern mitteilt und den sie nur geben, aber nicht haben kann.
Es lohnte, das Schopenhauersche Prinzip zu dieser Formulierung zu bringen, weil es sich mit ihr als ein sehr reines Beispiel des eigentlich metaphysischen Denkens darbietet. Hier ist nicht mehr die Rede von einer tatsächlichen Beschreibung oder von einer psychologischen Analyse der Kunst, sondern von einer Deutung ihrer, die mit jeder solchen Behandlungsweise, so besonders oder so korrigierbar sie sei, zu vereinigen ist, weil die Kategorie, innerhalb deren die Metaphysik sich abspielt, sich mit denen der Wirklichkeit oder des seelischen Vorgangs oder der gesetzmäßigen Geltung überhaupt nicht berührt. Wenn man von der Metaphysik gesagt hat, daß sie Kunst sei, weil sie aus den Elementen des gegebenen Daseins Gebäude aufführe, die nicht mehr der Struktur dieses Daseins selbst, sondern den spontanen Forderungen eines bloß idealen wirklichkeitsfremden Triebes entsprechen – so ist daran nur das Negative richtig, daß sie wie die Kunst in einer ganz anderen Ebene liegt, als in der der Berechnung und der Analyse des Objekts; aber sie hat auch der Kunst gegenüber ihre Ebene für sich. So arm an selbständigen Kategorien ist unsere Seele nicht, daß jedes Bild der Dinge, das nicht Wissenschaft ist, nur noch Kunst sein könnte. In der Metaphysik handelt es sich um die Reaktion einer individuell charakterisierten Intellektualität auf die Totalität des Lebens (die sich natürlich, wie hier, auch an Sonderproblemen ausdrücken kann). Solche Reaktion wird, weil sie dem Ganzen gilt, sich nur in der Form sehr allgemeiner Begriffe vollziehen: eine Hauptattraktion aller bedeutenden Philosopheme liegt gerade in der Spannung zwischen der persönlichen Leidenschaft, mit der das Leben, das Verhältnis der Seele zum Grunde der Dinge, der Wert des Wirklichen und des Unwirklichen gefühlt wird – und der kühlen Begriffsmäßigkeit, der sublimierten Abstraktion, in der dieses Gefühl sich ausgestaltet. Die exakte Wissenschaft wie die Kunst fügen diese Elemente in anderen Kombinationen zusammen; jene ist zwar abstrakt-allgemein, aber nicht individuell; diese zwar individuell, aber nicht abstrakt-allgemein. Die Metaphysik allein sucht für eine individuelle – aber darum noch nicht subjektive – Stimmung die Ausgestaltung in begrifflichen Abstraktionen. Dahin gehört z. B. die Zurückdeutung alles Daseins auf Stoff und Form und die Ordnung aller Erscheinungen in eine ideelle Reihe, an deren einem Pole der bloße Stoff ohne Form, am andern die reine Form ohne Stoff steht; dahin die Vorstellung einer absoluten inneren Einheit der Welt, derart, daß der unversöhnliche Dualismus zwischen Räumlichkeit und Vorstellen nur jene Einheit wie in zwei Sprachen ausdrückt; dahin die Idee, der ganze Weltinhalt müsse sich sachlich und historisch an der logischen Selbstentwicklung der Begriffe darstellen lassen, da es doch derselbe Weltgeist sei, der in uns und in den Dingen außer uns lebt und sich entfaltet. Dieser spezifisch metaphysischen Provinz gehört jene Deutung der Kunst zu: daß ihr Wert ausschließlich in den Ideen, den zeitlos-typischen Schöpfungsgedanken liegt, die sie offenbart – daß aber die Idee diesen ästhetischen Wert dennoch nicht in sich trägt, sondern ihn nur gewinnt, indem sie sich an einer einzelnen, gegenständlich anschaulichen und deshalb dem Wesen der Idee an sich heterogenen Existenz darstellt. Damit ist die Kunst weder vom Standpunkt des Künstlers noch von dem des Genießenden aus beschrieben oder erklärt, sondern ausschließlich von dem des Metaphysikers; es ist nur eine besondere Seite der Antwort, die eine Seele von besonderer Färbung und Empfindlichkeit auf den Gesamteindruck des Daseins gibt; sie drückt damit nur in den Begriffen ihrer allgemeinen Weltauffassung den Sinn und Wert aus, den diese besondere Art, in der das Sein sich darstellt, für sie besitzt.
Alle Motive dieser Kunstphilosophie erreichen ihre eigentliche Aufgipfelung gegenüber den Problemen der Musik. Es gibt für die Musik nicht das Gegenbild einzelner Dinge, deren tragende, wesenbildende Ideen durch die Werke der anderen Künste offenbart werden. Durch die Beziehung auf die Ideen behalten diese Werke immerhin noch einen Charakter von Einzelheit, weil die Idee, so sehr sie Form und Wesen einer unendlichen Zahl von realen Erscheinungen vorbildet, doch der Einheit des Seins gegenüber nur ein Einzelnes ist: in einer ganz endlosen Fülle von Darstellungsstufen bricht sich der einheitliche Strahl des Seins in dem menschlichen Intellekt. Und so sehr jedes Gedicht, jedes Gemälde, jedes Drama von der Vereinzelung eines Hier und Jetzt frei ist, so sehr es in der Form der Anschauung dieselbe Allgemeinheit besitzt, wie der Begriff in der Form des Denkens, so sehr es mehr ist, als die Umgrenztheit seiner Erscheinung – so bleibt es doch sozusagen von oben her gesehen ein Einzelnes, bleibt die Verkörperung einer Art, in der die metaphysische Unbedingtheit sich ausdrückt. Vermöge der Musik aber fühlen wir uns ganz unmittelbar dieser völligen Allgemeinheit eine Stufe näher gerückt, erlöster von der Besonderheit, in der die Einzelbedeutung der Worte, der Raumformen, der Ereignisse uns in jenen Künsten festhalten und die diese als eine nur mittelbare – nämlich durch die einzelnen Ideen vermittelte – Darstellung der Willenseinheit dokumentieren. Die Musik aber übergeht die Ideen, sie bringt die innerliche Absolutheit des Lebens nicht mehr in eine Sonderform, sondern stellt sie unmittelbar dar. Sie ist ein Abbild des Willens selbst, der das Sein ist, seiner Flutungen und seiner Ebben, seiner Abirrungen und Sich-Zurückfindens, seiner Dissonanzen und seines rastlosen Strebens zur Lösung und Erlösung. Sie drückt in ihrer Sprache ganz vollständig aus, was die ganze übrige Welt vermittels der in die Form der Ideen gegossenen Erscheinungen ausdrückt: das innere Wesen des Willens, und zwar hier, bevor es zu Einzelgestaltungen erstarrt ist; nicht diese oder jene Freude, dieses oder jenes Leid, dieses oder jenes Entzücken oder Grauen; sondern die Freude oder das Leid, den Jubel oder das Entsetzen, den Kampf oder die Ruhe schlechthin, das Wesentliche des Seins, das Wille ist, ohne alles Beiwerk, daher auch gelöst von den einzelnen Motiven, die diese oder jene Äußerung des Willens veranlassen. Daher denn auch, wenn zu irgend welchen Worten oder Szenen, Handlungen oder Umgebungen eine passende Musik ertönt, sie uns den geheimsten Sinn jener aufzuschließen scheint, das Unbedingte und Allgemeine, das sich in jenen nur einseitig besondert hat. Aber freilich ist auch sie nur ein Bild jener innerlichsten Wirklichkeit, in der der Rhythmus des metaphysischen Seins überhaupt auch durch uns pulsiert; sie ist das Vollständigste, Fundamentalste, Allgemeinste aller Wirklichkeit, aber fern von dieser Wirklichkeit selbst – der Sinn und die Lebensform des Seins, aber ohne das Sein selbst und darum ganz fern von seiner Qual. Darum bleibt sie auch in ihren schmerzlichsten Dissonanzen und melancholischsten Melodien noch erfreulich; weil sie nur das Allgemeinste, das unbedingt Tiefe ausdrückt, entfernt sie den Geist mehr als irgend eine andere Kunst von allem Kleinlichen, Engen, Trüben. Weil sie das Absolute bietet, in das Jeder nur nach dem Maß seines eigenen Seins hinuntertaucht, kann Schopenhauer sagen, daß während des Anhörens einer großen Musik ein Jeder deutlich fühlt, was er wert ist und was er wert sein könnte. Wenn die Musik aus ihrem eigensten Gebiet alles Lächerliche ausschließt, ihr vielmehr auch in ihrer Heiterkeit der Ernst wesentlich ist – so ist dies, weil ihr Reich nicht mehr die Vorstellung ist, in Hinsicht auf die Täuschung und Lächerlichkeit möglich ist; sondern ihr Gebiet, das nicht mehr gebrochene Urbild des Bildes, das sie ist – ist unmittelbar der Wille selbst, der das Allerernsteste ist, weil von ihm das ganze Leben abhängt.
Vielleicht ist dies die tiefsinnigste Deutung, die die Musik je gefunden hat. Was man an den einzelnen psychologischen Wirkungen der Musik ansatzweise, fragmentarisch empfindet: daß hier ein seiner Art nach einziges Gebilde vorliegt, gegen das alle andere Kunst, auf den letzten Zweck und Sinn aller Kunst überhaupt angesehen, als ein Versuch mit untauglichen Mitteln erscheint – das hat hier seinen reinsten, typisch metaphysischen Ausdruck gefunden. Denn die psychologische Wirklichkeit der Musik wird hiermit durchaus nicht beschrieben. In dieser vielmehr ist die Einzigkeit der Musik den anderen Künsten gegenüber doch wohl nur etwas Relatives, durch Übergänge Vermitteltes. Vor den altfranzösischen Kathedralen und Giorgiones Madonna von Castelfranco, vor Hamlet und Fausts Verklärung empfinden wir kaum weniger, daß alle Einzelheiten der Mittel, in denen das letzte Geheimnis des Daseins sich gestaltet, von der Unmittelbarkeit seines Sich-Gebens überwunden sind, als wir es vor einer Kantate von Bach oder dem fis-Moll-Quartett oder dem Tristanvorspiel empfinden. Aber hier, wo es sich um den Sinn der Musik handelt, ist es ganz gleichgültig, ob deren einzelne Wirklichkeiten ihren spezifischen Wirkungen nach sich mit denen der anderen Künste treffen – wie etwa die Religion ihrer metaphysischen Bedeutung nach ihren Abstand gegen alle anderen Stufen des Seins und der Seele darum nicht weniger wahrt, weil Bruchstücke dieser Bedeutung auch in die psychologischen Erscheinungen der Liebe und des Patriotismus, der Kunst und der Moral eingewebt sind.
Daß die Musik die Ideen »übergeht«, d. h. nicht durch Darstellung eines einzelnen Dinges oder Geschehens die in ihm verborgene Idee zur ästhetischen Offenbarung bringt, sondern unmittelbar das Ganze des Seins in die Kunstform bildet erscheint mir durchaus nicht unbestreitbar. Es lohnt sich, darauf im prinzipiellen Interesse einzugehen, um den Wert der metaphysischen Deutung selbst für den Fall zu wahren, daß ihr Inhalt vom Standpunkt der Empirie aus geleugnet wird. Den Ansatzpunkt der Musik sehe ich in den melodischen und rhythmischen Elementen der Sprache, die, wie namentlich die Beobachtung an unkultivierteren Stämmen zeigt, durch gewisse Affekte – religiöse, kriegerische, erotische – gesteigert werden, so daß vermöge dieser die Sprache in Gesang übergeht. Der so entstandene Gesang ist nicht Kunst, sondern eine rein naturhafte Äußerung, wie der Schrei, er gehört dem unmittelbaren Sein des Menschen an und ist noch nicht die gelöste, zu einem besonderen Gebilde kristallisierte Form des Seins, die Kunst ist. Aber er reicht aus, um bestimmte Gefühle, ihre Entwicklungen und ihren Wechsel an die Tonvorstellungen zu knüpfen, an absolute und relative Höhen derselben, an ihre Rhythmik, ihre Dynamik, ihre Färbung. Wie nun das Werk der bildenden Kunst sich zu dem Stück der anschaulichen Wirklichkeit verhält, das sie, wie man sich ausdrückte, »nachahmt«, d. h. aus dem sie seine bedeutungsbildende Form herausgestaltet – so verhält sich die Musik als Kunst zu jenem bloß wirklichen, bloß natürlichen Gesang, in den der Affekt ausströmt. Sie ergreift die formal-sinnliche Seite dieses Vorganges und gestaltet aus ihr, nach immanenter Gesetzlichkeit, in unendlichen Verfeinerungen, Komplikationen, Steigerungen das musikalische Kunstwerk, derart, daß der eigentliche Sinn, die typische Bedeutung der bloß tatsächlichen Verknüpfung von seelischem Vorgang und Tonäußerung rein und von jeder Zufälligkeit der einzelnen Veranlassung gelöst hervortritt. Diese Verknüpfung, auf unberechenbare Zeiten ferner und ganz tief gelegener physisch-psychischer Korrelationen zurückgehend, vermittelt die Gefühlsreaktion auf das musikalische Kunstwerk, die dessen »Verstehen« bedeutet. Freilich ist die Realität solcher Verknüpfung zwischen Gefühl und Laut wegen ihrer Dunkelheit, ihres fragmentarischen Wesens, ihres Zurücktretens in höherer, differenzierter Kultur nicht so ohne weiteres aufzeigbar, wie das Modell einer Statue oder der erotische Vorgang, dessen Erschütterungen in einem Liebesgedicht ausklingen. Aber darum ist sie nicht weniger die natürliche Wirklichkeit, deren »Idee«, in der inneren Logik und der Bedeutsamkeit der Gefühlsabfolgen und ihrer hörbaren Versinnlichung bestehend, in der Musik als Kunst herausgehoben und durch deren Selbstgenügsamkeit und Formenreinheit eindringlich offenbart wird. Mag man der Musik diese hier ganz flüchtig skizzierte oder eine andere psychologische Genesis geben und sie solcher gemäß in die Reihe aller anderen Künste einstellen, so ist damit der metaphysischen Dimension noch nicht der Raum genommen, in die jene garnicht eingreift. Sollte die Musik auch eine »nachahmende« Kunst sein und an der »Idee« einer einzelnen Wirklichkeitsverknüpfung ihren Inhalt haben, – sie kann außerdem das Ganze des Lebens in der Art, die Schopenhauer will, zu ihrem Objekt machen – wie wir manchmal einem Menschen, den wir lieben, gegenüber das Gefühl haben, daß unsere ganze Seele seine ganze Seele umfaßt, obgleich es aussprechbarer Weise immer nur einzelne Beziehungen sind, die uns ihm verknüpfen und außerhalb deren noch eine große Zahl anderer Interessen, Gedanken, Empfindungen steht, die doch auch zu »unserer Seele« gehören. Oder wie die religiöse Metaphysik dadurch nicht irritiert wird, daß eine heilige Persönlichkeit nicht auf exzeptionelle Weise erzeugt ist oder ihre Taten nicht als Wunder den Naturlauf durchbrechen; jene kann darum doch, auf den metaphysischen Sinn ihrer Existenz angesehen, als Sohn Gottes gelten und der Sinn ihrer Taten kann alle Naturverkettung ebenso überragen, wie der Sinn eines Satzes die psychologischen Ursachen seines Auftauchens. Den Reichtum der Struktur in den Bewegtheiten unseres Geistes begreift man erst, wenn man die Autonomie dieser mannigfaltigen Schichten statuieren lernt, deren jede dem gleichen Inhalt eine andere Bedeutung, einen anderen Wahrheitswert, eine andere Verknüpfungsart gewährt. Jenseits aller der vielfachen Arten, die Musik psychologisch herzuleiten und ästhetisch einzuordnen, bleibt das Recht bestehen, sie in der metaphysischen Ordnung – die eben den Eindruck des Seins auf eine ganz individuelle Seele in den allerallgemeinsten Begriffen formuliert – als das Bild des absoluten Weltschicksals anzusehen, von dem sie in jenen Ordnungen nur einen relativen Teil ausmacht.
Um so gewichtiger aber erhebt sich nicht nur der Philosophie der Musik, sondern der gesamten Schopenhauerschen Ästhetik gegenüber die Frage, wie weit sie sich mit dem Pessimismus seiner allgemeinen Weltanschauung verträgt. Wie kann die reine und tiefe Erkenntnis der Dinge, die das Wesen der Kunst ist, uns beglücken, wenn das Erkannte selbst nichts als Qual ist? Denn ihr Objekt ist doch nicht nur das Seelenlose der bloß räumlichen Anschauung, von dessen Verselbständigung und Herauslösung aus allen Verflechtungen des bewegten Lebens allerdings die Befreiung von allem Willen und Leiden am entschiedensten zu erwarten wäre; so daß die moderne Deutung aller bildenden Kunst als Darstellung und Klärung der Raumgebilde uns tatsächlich vor allem Hineingezogenwerden in das Dunkle und Fragwürdige der Innerlichkeit der Dinge am entschiedensten sichert und der ästhetisch gestaltenden Seele die größte Freiheit ihren Objekten gegenüber, weil keine eigene Seelenhaftigkeit ihrer unser Schalten mit ihnen präjudiziert. Allein die Künste haben doch jenseits der bloß optischen und akustischen Anschauung auch noch das Ganze und Innere des Lebens zu ihrem Gegenstande, und Schopenhauer zieht daraus so vorbehaltlos den für ihn konsequenten Schluß, daß er aus der Tragödie das optimistische Moment der »poetischen Gerechtigkeit« völlig streicht und in ihr ausschließlich den Schmerz und den Jammer der Menschheit, den Triumph der Bosheit und den Fall des Großen und Gerechten dargestellt sieht. Tatsächlich klafft bei dieser Auffassung zwischen dem Charakter des Inhalts und dem Genuß an seiner Darstellung ein Spalt, den Schopenhauer nicht überbrücken kann und der ihn bewegt, diesen Genuß zu streichen und die Wirkung der Tragödie ausschließlich ins Moralische zu setzen, in die Resignation und innere Befreiung von einer Welt und einem Lebenswillen, die derartige Früchte zeitigen. Wo nun aber die Darstellung der Szenen und der Empfindungen des Lebens tatsächlich zu ästhetischem Genuß wird, bleibt der psychologische Widerspruch bestehen, daß jene Inhalte für uns um so furchtbarer sind, je tiefer und wahrer sie erkannt sind – und daß diese Erkenntnis gerade in demselben Maße ästhetisch genußreicher ist. Man kann diese Schwierigkeit in Schopenhauers Sinne wirklich nur so lösen, daß die reinen Inhalte der Dinge, als solche vorgestellt, nichts von der Qual enthalten, die von eben denselben, wenn sie sind und als seiend vorgestellt werden, unabtrennbar ist. Die Logik würde sich hiergegen sträuben. Das seiende Ding kann qualitativ absolut nichts anderes, nichts mehr enthalten, als das bloß vorgestellte, denn sonst würde nicht dasjenige, was man vorgestellt hat, sondern ein anderes existieren; nach dem bekannten Beispiel Kants: hundert wirkliche Taler enthalten nicht einen Groschen mehr als hundert gedachte Taler. Dennoch hat jener Schopenhauersche Standpunkt eine psychologische Wahrheit und Tiefe, die durch diese logische Überlegung nicht berührt wird. In Wirklichkeit erregt ein Gedankeninhalt, dinglicher, schicksalsmäßiger, personaler, naturhafter Art, in den man sich versenkt, eine gewisse Gefühlsreaktion, die sich sogleich qualitativ ändert, wenn man eben diesen Inhalt als real vorstellt. Dies ist nicht nur eine graduelle Verstärkung jener Reaktion auf das reine ideelle Bild des Inhalts; die Kategorie des Seins, der einfachste und, wenn man will, rätselhafteste von allen Aspekten, unter denen sich uns Inhalte darstellen, ändert zwar logisch an solchen Inhalten nichts, psychologisch aber sehr viel, und zwar nicht nur entsprechend dem nach Kant allein vorhandenen Unterschiede zwischen hundert möglichen und hundert wirklichen Talern, nämlich dem Unterschied »in meinem Vermögenszustande«, sondern als etwas Objektives, ganz abgesehen von dem Einfluß, den eine Wirklichkeit – aber nicht der bloße Gedanke ihres Inhalts – auf meinen Zustand ausüben mag. Gewiß erschüttert uns Grausiges und Trauriges, das durch unser Bewußtsein geht, auch wenn wir zugleich wissen, daß es bloß gedacht und unwirklich ist. Aber es ist eine Erschütterung ganz anderer Art – nicht immer eine stärkere – die uns von eben demselben kommt, wenn wir zugleich wissen, daß es wirklich ist. Und an die Differenz zwischen diesen beiden knüpft sich der Pessimismus. Jene Kategorie des Seins, die logisch den Inhalt der Dinge um nichts verändert, läßt diesem Inhalt die absolute Negativität des Wertes zuwachsen. Denn daß die Welt ist, das ist eben der metaphysische Wille, der, weil er frei ist – denn er hat nichts außer sich, das ihn bestimmen könnte – alles Sinnlose und Verderbliche der Welt zur Schuld macht. Es wäre ein plumpes Mißverständnis dieser Lehre, wollte man sie für etwas ganz Selbstverständliches erklären, da wir ja freilich nur das Seiende fühlen können, also ein Leiden natürlich nur an einer Wirklichkeit stattfinden kann, nicht aber an dem bloßen Bild der Dinge, das sozusagen nicht an uns rühren kann. Denn dies letztere ist nicht richtig. Auch die erdichtete Geschichte »rührt« uns, mit einer Gefühlsreaktion, in der auch das Leiden anklingt, antworten wir auch auf die Vorstellung des bloßen Inhaltes der Dinge. Nur daß dieser Reaktion der Ton von – sozusagen – Unversöhnlichkeit fehlt, der eigentlich über aller Wirklichkeit liegt, das schmerzhaft Unwiderrufliche des Seins. Die Kunstform mag nun aus dem rein vorgestellten Inhalt der Dinge noch das hinwegläutern, was auch ihm noch an Leidensreaktionen zukommt, und so kann die logische Bedeutungslosigkeit der bloßen Seinsform es Schopenhauer nicht verwehren, in der Kunst die Befreiung von den Leiden zu erblicken, die ihrem Inhalt, sobald er ist, unvermeidlich sind. Nur darüber wird Streit sein können, ob diese reine Negativität, dieses Nicht-Fühlen des Leidens am Sein wirklich den psychologisch unbestrittenen positiven Genuß an der Kunst ausmachen kann – selbst auf dem Boden der Schopenhauerschen Auffassung vom Glücke als dem bloßen Aufhören eines Leidens, dem bloßen Ausfüllen einer Lücke, dem bloßen Nicht-Mehr-Sein eines Begehrens.
Es gibt eine einzige Zeile bei Schopenhauer, die die empirisch unleugbare Positivität des ästhetischen Glücksgefühles allerdings aus der bloßen Negativität der verschwundenen Qual herzuleiten gestattete. Er sagt einmal, im Reiche der Kunst wären wir nicht nur dem wirklichen Leiden, sondern sogar der »Möglichkeit« eines solchen enthoben. Denn dieses Reich freilich kann, seinem Grundgesetz nach, keinem wirklichen Leiden – höchstens dem bildartigen Reflex desselben – Raum geben, weil es den Willen, den Sitz jeglicher Qual, mit logischer Notwendigkeit ausschließt. Und solche Unmöglichkeit des Leidens ist allerdings etwas anderes, ist von qualitativ anderer Gefühlsbedeutung, als seine bloße Unwirklichkeit. Wenn das Leben in der Realität uns auch Ruhepausen seiner Schmerzen gewährt, so steht hinter ihnen immer die Gefahr, daß die Qual von neuem hervorbricht, wir empfinden in dem dunkeln Fundamente dieser momentanen Erlösungen ihre Zufälligkeit und daß dieselbe gleichgültige Gesetzlichkeit, die sie herbeiführt, im nächsten Augenblick, sozusagen ohne einer prinzipiellen Wendung zu bedürfen, uns wieder mit dem vollen Maß der Schmerzen überschütten kann. Daß keinerlei Verkettung innerhalb der ästhetischen Welt ein solches Glied enthalten kann, daß wir jener Zufälligkeit prinzipiell in ihr nicht preisgegeben sind, mag allerdings ein Gefühl von Ruhe und Erlöstheit geben, das, obgleich es inhaltlich sich doch auch nur in der Negativität des Leidens hält, der Seele eine viel tiefere, überhaupt anders gerichtete Reaktion entlockt, wie das bloß tatsächliche Freisein von Schmerzen. Was auf dem Gebiete der Intellektualität die Kausalität, als die innerlich notwendige Verknüpfung der Ereignisse, noch von der bloß regelmäßigen, zeitlich tatsächlichen Folge ihrer unterscheidet, obgleich jene praktisch auch nichts anderes kann, als diese garantieren dieser Unterschied herrscht hier auf dem Gebiet der eudämonistischen Gefühle.
Allein Schopenhauer scheint das prinzipiell Neue und fruchtbar Tiefsinnige seines eigenen Gedankens hier garnicht bemerkt zu haben. Er verflicht das Glück der Kunst gerade wieder in die Reihe der gelebten Wirklichkeit, der er es mit jener Bemerkung enthoben hatte, indem er es mit dem Glück des Schlafes vergleicht. Dabei aber bleibt die unleugbare qualitative Differenz dieser beiden Glücksformen völlig dunkel und ist aus dem Prinzip selbst nicht zu erklären. Alles Glück mag seinem inneren Wesen nach etwas nur Negatives sein: die Unterschiede innerhalb seiner, die nicht nur quantitative sind, nicht nur als Mischungsformen mit dem Leiden entstehen, bedürfen positiver Ursachen – für die das pessimistische System keinen Raum gibt. Und, wie typischer Weise die Versagung einer relativen Konzession zur Folge hat, daß diese nachher in viel höherem, ja, in absolutem Maße gemacht werden muß – so enthält jene Leugnung einer spezifischen und positiven Beglückung durch die Kunst eigentlich einen nach zwei Seiten hin höchst gesteigerten Optimismus. Zunächst diesen: daß es schon genügt, nicht unglücklich zu sein, um glücklich zu sein. Es ist oft das Verhängnis radikaler Deduktionen, daß sie das positive wie das negative Vorzeichen gleichmäßig vertragen. Daß das Glück nichts anderes ist als das Aufhören des Leidens, ist der tiefste Pessimismus; daß das Aufhören des Leidens schon Glück ist, ist der höchste Optimismus. Welche dieser Stimmungen also durch jene Behauptungen legitimiert wird, hängt ersichtlich nicht von der Behauptung selbst, sondern von der von vornherein mitgebrachten Stimmung ab. Und zweitens: daß die Welt ihrem Inhalte, ihrer reinen Vorstellungsseite nach absolut befriedigend, beglückend, ästhetisch vollkommen ist – das scheint mir ein Optimismus zu sein, der dem Pessimismus über ihr Sein die Waage hält. Wenn die als unwirklich gedachte Welt nicht mehr die Sinnlosigkeit, den Widerspruch, die Verzweiflung der wirklichen in sich trüge, sondern völlig freudlos und leidlos wäre, für unser Schicksal so gleichgültig, wie für den Lauf eines Stromes die Bilder der Wolken, die durch seinen Spiegel ziehn – so wäre dies mit dem radikalen Pessimismus verträglich; daß aber die Welt inhalte über die Indifferenz hinaus uns beseligen, und um so tiefer, je wahrer der Spiegel der Kunst sie zeigt – das ist eine schlechthin beglückende Struktur der Welt, und zwar ein Reichtum an Glück, gegen den der Pessimismus des Welt seins, selbst in seinem ganzen Radikalismus zugegeben, als etwas Armes und sozusagen Dimensionsloses erscheint.
In solchen Optimismus schlägt der Schopenhauersche Pessimismus allenthalben um; an einer entscheidenden Stelle formuliert er eines seiner Grundmotive so: »Ohne Ruhe ist kein wahres Wohlsein möglich.« Es kann kein Zweifel bestehen, daß er dies auch positiv meint: Ruhe wäre Wohlsein. Man braucht nicht allzutief zu graben, um auf die Fehlerquelle für diese Behauptung zu stoßen. Allerdings gibt es kein Wohlsein, das nicht eine »Ruhe« zur Voraussetzung hätte: nämlich die Ruhe von bestimmten Dingen und die Ruhe zu bestimmten Dingen. Die Straße des Glücks läuft zwischen Mauern, mit deren Einsturz es tausend störenden und zerstörenden Angriffen von allen Seiten ausgesetzt wäre. Allein indem jene Behauptung aus der relativen und als Schutz wirkenden Ruhe die absolute, die Ruhe schlechthin macht, nimmt sie dieser gerade diejenigen Bestimmungen, auf die hin sie zur Bedingung des Glücks wurde. Wenn die Ruhe nicht das bloße Fernhalten von Störungen des Glücks bedeuten, sondern selbst schon dessen Substanz ausmachen soll, so ist dies ein empirischer Irrtum, den im Kleinen die enttäuschende Lebensleere und Langeweile so vieler Rentiers zeigt, die von der Befreiung von den Geschäften mit ihrer Arbeit und Sorge das vollkommene und positive Glück erhofft hatten. Soll nun aber dennoch unter Ablehnung solcher empirischen Instanzen der Satz von dem Glück der reinen Ruhe gelten, so basiert er auf einem absoluten Optimismus: wir müssen dann nämlich von selbst, ohne jede Zutat und Anregung von außen, glücklich sein – denn sonst würde das bloße Wegfallen der Störungen uns nimmermehr zu einem Glücksgefühl verhelfen; das Glück erscheint hier mit dem Wesen unserer Existenz solidarisch verbunden, aus den eignen Tiefen dieses gleichsam parthenogenetisch aufsteigend, das Produkt oder die Daseinsform der Seele selbst, die unmittelbar in die Erscheinung tritt und von unserem Bewußtsein Besitz ergreift, sobald dieses nur nicht von anderen Einflüssen gestört und abgelenkt ist – genau wie die Weltinhalte nur ihrem wahrsten Inhalte nach, nämlich ästhetisch, erkannt zu werden brauchen, um uns zu beglücken. Daß die Ruhe als solche Glück ist, bedeutet einen radikalen Optimismus, in den der Pessimismus übergeht und von dem die Lehre vom Glück der Kunst vermittels der bloßen Befreiung vom Willen nur einen speziellen Fall darstellt.
Ja, nicht nur einem Optimismus, sondern auch dem von ihm verpönten Realismus, der die Kunst der bloßen Wirklichkeit Untertan sein läßt, gibt sein Prinzip Raum. Denn indem die ganze subjektive, eudämonistische Bedeutsamkeit der Kunst in das Freisein von der Wirklichkeit gesetzt wird, wird sie von dieser dennoch abhängig, wenn auch mit negativem Vorzeichen. Sie wird hier, wie beim Realismus, von der Wirklichkeit aus gesehen. Die Kunst lebt hier sozusagen auf dem Verschwindepunkt des Wirklichen, aber nicht jenseits seiner, die Realität ist in unseren ästhetischen Zustand hineingezogen, wie unsere Feinde und Diejenigen, denen wir zu begegnen vermeiden, in unser Leben hineingezogen sind. Solange er die Kunst nur von ihr selbst aus betrachtet, gibt er ihr die Reinheit und Selbstgenügsamkeit einer in sich geschlossenen Welt, die ihre Werte und Bedeutsamkeit ausschließlich in ihrem eignen positiven Sinne und Normiertheit findet; sobald nun aber sein Pessimismus die Kunst zwingt, ihre Reize ausschließlich aus der Abkehr von der Wirklichkeit zu schöpfen, verliert sie jene Souveränität, verdankt sie sich nicht mehr sich selbst. Die bloße Nichtwirklichkeit im negativen Sinne, in der sie lebt, und die ein Jenseits der ganzen Frage vom Sein und Nichtsein bedeutet, wird durch eine typische Denkirrung zu einer Nichtwirklichkeit, als einem positiven Verhältnis der Abkehr, einem wissenden Nicht-Wissen-Wollen, wird zu dem Verhältnis der Befreiung von einer Welt, zu der sie doch ursprünglich jedes Verhältnis überhaupt abgelehnt hatte.
Es bleibt immer die gleiche Schwierigkeit auf dem Grunde des Schopenhauerschen Denkzusammenhanges: daß er das Prinzip des Pessimismus um jeden Preis mit anderen Denkmotiven verschmilzt, die einer anders gerichteten Einsicht oder Instinkt in ihm entstammen. Aus dem wesentlich stimmungsmäßigen Element des Pessimismus steigen in seine mehr intellektuellen Ideengänge Motive auf, die diese verhindern, sich zu ihren reinen und vollständigen Konsequenzen zu entwickeln. Und dies wird schließlich noch an einer Möglichkeit der Kunstausdeutung bemerklich, die an sich geeignet wäre, über die oben erörterte Schwierigkeit hinauszuführen, und die bei ihm an verschiedenen Stellen, aber nur in der Form der Andeutung, auftritt. Wenn es die subjektive Bedeutung der Kunst ist, uns des Wollens zu entheben und uns statt dessen in das Gebiet der in ihrer Reinheit erfaßten Idee zu versetzen – so verschwindet damit nicht nur das Leiden, sondern auch das Glück, das nicht weniger als jenes in der Domäne des Willens wurzelt. Dieser Konsequenz entzieht sich Schopenhauer auch nicht: »Weder Glück noch Jammer wird über jene Grenze mit hinübergenommen.« Aber nicht nur weiß er nicht mit Klarheit zu bezeichnen, was nun noch an subjektivem Werte der Kunst verbleibt, noch vermeidet er es, unzählige Male von den Beglückungen durch die Kunst zu sprechen. Es gibt tatsächlich einen Gefühlswert des ästhetischen Zustandes, der nicht Glück ist, aber auch nicht das bloße Befreitsein vom Leiden, sondern ein durchaus positiver und spezifischer, der sich zu dem eudämonistischen Gegensatzpaar ebenso indifferent verhält, wie die Sittlichkeit es tut. Es ist freilich schwerer, den Eigenwert der ästhetischen Situation als den der ethischen zu deutlichem Bewußtsein zu bringen, denn der sittliche Wert erwächst in seiner Reinheit, trotzdem wir zugleich unglücklich sind, der ästhetische aber, trotzdem wir zugleich glücklich sind; und innere Bewegungen, die immerhin als Erhebungen, Begeistertheiten, Lichtpunkte der Existenz auftreten, heben sich gegen den dunklen Hintergrund des Leides natürlich schärfer und unverwechselbarer ab, als gegen das Glück. Dennoch darf die tatsächliche Zusammenwirkung der spezifisch ästhetischen Reaktion mit der eigentlichen Beglückung durch die Kunst und die Gleichheit in den psychologischen Obertönen beider die Getrenntheit ihres Wesens nicht verkennen lassen. Der Affekt gegenüber der Schönheit und der Kunst ist nicht weniger primär als der religiöse und deshalb so wenig wie dieser durch Auflösung in anderweitig vorkommende Bewußtseinswerte zu beschreiben; obgleich, da beide den ganzen Menschen in Erregung setzen, noch alle die anderen Bewegtheiten der Seele sich auf ihren Ruf einfinden: Aufschwung und Demut, Lust und Leid, Expansion und Zusammenraffung, Verschmelzung und Distanz gegenüber ihrem Gegenstand. Eben dies hat so oft verleitet, sie auf die Bejahung und die Verneinung, auf die Mischung und den Gegensatz dieser großen Potenzen des sonstigen Lebens zurückzuführen. Schopenhauer, der eine der wenigen ästhetischen Naturen unter den deutschen Philosophen war, hatte ersichtlich einen ganz sicheren Instinkt für die Ursprünglichkeit und Positivität des ästhetischen Zustandes. Aber mit diesem Anerkenntnis würde er einen Wert in unser Dasein eingeführt haben, der sich der Verflechtung in die pessimistische Gedankenlinie entzieht. So fern ihm nun jede intellektuelle Unredlichkeit liegt, die um der Durchführung eines Prinzips willen eine anderweitig gewonnene Überzeugung preisgäbe, so hat die innere Notwendigkeit seiner Lebensstimmung hier doch zu dem gleichen Resultat geführt. Seine Kunstphilosophie müßte ihrer inneren Konsequenz nach zu einer positiven Werterhöhung unserer Existenz innerhalb des ästhetischen Zustandes leiten, die im System des Lebens den Glückswerten gleichsam koordiniert, auch in der psychologischen Tatsächlichkeit oft mit ihnen verbunden, aber durchaus nicht von ihnen abhängig ist. Aber diese Spitze biegt er um, weil der Pessimismus nicht gestattet, daß das eigentliche Wertmoment irgendwelcher Lebenselemente anderswo läge als in der Erlösung vom Leiden. Unter allen Kunstlehren der großen Philosophen ist die Schopenhauersche sicher die interessanteste, eindringendste, mit den Tatsachen der Kunst und des Kunstgenusses vertrauteste; und daß gerade eine solche dem Kunstgenuß seine Positivität und Autonomie prinzipiell vorenthält, – das offenbart die usurpatorische Energie des Pessimismus deutlicher und tiefer, als seine ganze Steigerung und Übersteigerung auf seinem eigensten Gebiete, der Balancierung der Glücks- und Unglücksmaße des Lebens, es imstande war.
Ist der Kunst hier in ihrer definitiven subjektiven Bedeutung zu wenig gegeben, so erscheint mir der letzte objektive Wert, den Schopenhauer ihr zuspricht, als ein Zuviel. Aber dieses Zuviel wird die Tiefe seines Kunstgefühles nicht weniger erhellen, wie jenes Zuwenig die Tiefe seines Pessimismus. Seine definitive Meinung vom objektiven Wesen des Kunstwerkes faßt er so zusammen: »Jedes Kunstwerk ist eigentlich bemüht, uns das Leben und die Dinge so zu zeigen, wie sie in Wahrheit sind – ist eine Antwort mehr auf die Frage: was ist das Leben?« Hiermit aber scheint allem bisherigen Sinn seiner Kunstauffassung völlig widersprochen. Denn gerade vom Leben sollte die Kunst erlösen, nur die Erscheinungsarten des Daseins in unserm Intellekt sollten sich an ihrer Wurzel und Gesetzlichkeit darstellen, aber gerade nicht die Wirklichkeit, nicht das, was das Leben ist. Denn es ist Wille, ist das endlos enttäuschende Spiel, in dem an jeden Zweck ein neues Begehren, an jeden Ruhepunkt eine weiterhastende Bewegung ansetzt. Von diesem aber reißt die Kunst sich und uns los und wiegt sich in dem »farbigen Abglanz«, an dem für sie nicht dies, daß er der Reflex des Seins, sondern daß er der Reflex des Seins ist, das Wesentliche ist. Daß nun auf einmal die Kunst das Wesen der Dinge, also nicht ihre bloße Erscheinung, offenbaren soll, daß sie die Antwort auf eine Frage sein soll, die die Oberfläche, das Gebiet ihrer Herrschaft, gerade durchbricht das ist ein offenbarer Widerspruch in ihrer fundamentalen Bedeutung, ein Überschreiten der Grenze, in deren Bewahrung, dem Leben gegenüber, bis jetzt ihr Sinn und Recht lag. Aber gerade in diesem Widerspruch – obgleich oder gerade weil Schopenhauer ihn nicht als solchen markiert – offenbart sich aufs tiefsinnigste die Verknotung logisch entgegengesetzter Werte und Forderungen, die die Kunst zuwege bringt. Sie drückt freilich das Äußerlichste aus, die reine Oberflächenerscheinung, das sinnlich Unmittelbare – und zugleich das ewig Unaussprechliche, das letzte Geheimnis der Dinge, den innerlichsten Sinn des Daseins, für den alle Anschaulichkeit bloßes Symbol ist. Sie sucht den eigengesetzlichen Zusammenhang der Elemente in dem, was erscheint und was geschieht, ohne an die verborgenen Kräfte zu appellieren, die dieses Sich-Darbietende, darunter oder daneben gelegen, hervorgetrieben haben, und ohne die es in der wirklichen Welt, als Wirklichkeit, nicht bestehen könnte; sie sucht damit sozusagen den Sinn der Erscheinung. Aber in dieser Dimension schreitend, senkt sie sich zugleich in die andere, in der der Sinn der Erscheinung liegt, das Wesen des Wesenlosen, die seelische oder transzendente Bedeutung, die alle Formen und Reize der Oberflächen nur als ihre Zeichensprache enthüllt. Diese Zweiheit in der Funktion der Kunst trägt das eigentlich Erschütternde ihrer Wirkung, indem sie unsere Seele gleichsam von oben und von unten ergreift. Dennoch ist sie, genau angesehen, nur eine Ausdrucksart, mit der wir die nicht mit einem unmittelbaren Begriffe zu bezeichnende Einheit des künstlerischen Eindrucks analysieren. Es würde der Wesensbedeutung der Kunst völlig unangemessen sein, wollte man sie aus zwei Partialbedeutungen, deren jede ihren Wert aus einer von der andern unabhängigen Quelle bezieht, sozusagen mechanisch zusammensetzen, wäre die eine ein noch zu der anderen glücklich hinzugewonnenes Plus. Wir empfinden vielmehr, daß das Kunstwerk, eine objektive Einheit darstellend, eine subjektiv einheitliche Reaktion hervorruft, die aber nur erlebt, nicht mit einem entsprechend einheitlichen Begriff beschrieben werden kann. So bleibt uns hier wie in vielen entsprechenden Fällen nichts übrig, als sie aus zwei einander entgegenlaufenden Sonderbestimmungen zu konstruieren. Und daß diese schließlich nichts anderes sind, als die jene einheitliche Resultante sozusagen nachträglich ausdrückenden Komponenten – dies wird durch die Wechselwirkung nahegelegt, die eine vertieftere Kunstauffassung zwischen ihnen erblickt: die Klärung der Erscheinung, die Gesetzlichkeiten des bloßen Geschehens, der sinnliche Reiz der Farben und Töne ist nichts als ein Mittel, das tiefste Wesen alles dieses, den unanschaulichen Sinn des Anschaulichen zu verraten; und umgekehrt: dieser metaphysische Wert des Kunstwerkes, oft nur in dunklen Ahnungen anklingend, oft in der religiösen, vielleicht auch in der erotischen Rolle der Kunst verkörpert, ist nun wieder ein Mittel für sie, damit ihre Gestaltung der bloßen Erscheinung deutlicher und in sich beziehungsvoller, in ihrer bloßen, über sich nicht hinausreichenden Anschaulichkeit reizvoller und in sich geschlossener werde. Ich muß hier freilich bemerken, daß die Schopenhauersche Kunstlehre und diese letztere Ausdeutung ihrer an dem Übelstande fast jeder allgemeinen Philosophie der Kunst leidet: gemeinsame Bestimmungen für alle verschiedenen Künste treffen zu sollen. Es bleibe dahingestellt, ob es überhaupt eine derartige Bestimmung gibt; die Schwierigkeit, auch nur eine Definition der Kunst überhaupt zu finden, möchte es zweifelhaft machen und lieber glauben lassen, die Gleichheit des Namens für so diskrepante Betätigungen wie Schauspielkunst und Architektur, wie Plastik und Musik sei eine allmählich erfolgte Übertragung innerhalb einer jener typischen Reihen, in denen zwar je zwei benachbarte Glieder vielerlei Verwandtschaft besitzen, weiter voneinander abstehende aber nicht mehr; in der Reihe: AB – BC – CD ist begreiflich, daß der gleiche Name wegen der Vermittlung durch BC von AB auf CD übergeht, das ihn durch keine qualitative Gleichheit mehr rechtfertigt. Man empfindet es manchmal als einen unbehaglichen Zwang, daß die Metaphysik der Tragödie nun auch das Fundament der Gartenbaukunst sein soll. Schopenhauer fügt sich diesem Zwang nicht durchgehends und läßt seine metaphysischen Erklärungen der Künste manchmal nach verschiedenen Seiten verlaufen. Aber indem er dies nicht ausdrücklich markiert, sondern das Postulat einer einheitlichen Erklärung der »Kunst« schlechthin aufrecht erhält, symbolisiert diese Unvollkommenheit dennoch die tiefere Wahrheit, daß die Kunst in der vielleicht nicht bezeichenbaren Wurzel, die ihre Namenseinheit rechtfertigt, die sonst unversöhnten Gegensätze zusammenführt: sie soll das Allgemeine sein und beschränkt sich doch auf die in sich geschlossene Einzelerscheinung, die die Äußerung einer durchaus individuellen, ja gerade in den höchsten Fällen schlechthin unvergleichlichen Seele ist; sie soll nichts sein als Form und Idee und ist doch Anschauung, die nur an materialer Wirklichkeit stattfinden kann; sie ist reine Intellektualität, die von allem An-Sich der Dinge losgerissene Ausgestaltung der Bewußtseinsformen und soll doch vom »Satz vom Grunde« frei sein, der das Grundgesetz dieser Formen ist. Und alles dies schießt wie in einem Brennpunkt in dem zuletzt dargestellten Widerspruch zusammen: daß die Kunst uns zeigen soll, was das Leben ist – indem sie doch zugleich das Leben vor unserem Blick verschwinden läßt; daß ihr Zauber und ihr Glück darin liegt, daß sie uns in der Anschauung festhält, als wäre dies die ganze Welt, als gäbe es außer dem traumseligen Spiel der Erscheinungen keine dunkle, schwere, unauflösbare Wirklichkeit – und daß doch gerade das Wirklichste der Wirklichkeit, das eigentliche und tiefste Wesen von Dingen und Leben in ihr zu Worte kommen soll. Vom bloß logischen Standpunkt aus würde solcher Widerstreit von Ansprüchen nun erst das Problem zu stellen scheinen; vielleicht aber gehört die Kunst zu denjenigen Gebilden, denen gegenüber die letzte uns gegönnte Erkenntnis die ist, daß wir das Problem, das sie stellen, in seiner Reinheit und der Unerlotbarkeit seiner Tiefe begreifen – gleichviel, ob es mit Schopenhauers Absicht oder gegen sie geschah, daß seine Lehre von der Kunst in dieser Interpretation ihrer zu gipfeln scheint.
Die ästhetische Erlösung vom Sein, d. h. vom Leiden, die die Kunst vollbringt, kann ihrer Natur nach nur für die Augenblicke der ästhetischen Erhebung gelten; während sie geschieht, bleibt das Sein und das Leiden im Grunde unseres Wesens bestehen, und der Intellekt, der sich von dieser Wurzel seiner selbst losgerissen hat, aber nicht dauernd in der Gelöstheit von ihr bestehen kann, fällt unvermeidlich in seinen Frondienst zurück, den er dem Willen zu leisten hat. In den Momenten des ästhetischen Genießens gleichen wir dem Sklaven, der seine Kette vergißt, oder dem Kämpfer, der seinen übermächtigen Gegner freilich nicht mehr vor Augen hat, aber nicht weil er ihn vernichtet hätte, sondern weil er vor ihm geflohen ist: im nächsten Augenblick wird er von ihm wieder eingeholt. Das Unzulängliche der Erlösung durch die Kunst liegt in ebendemselben, was diese Erlösung gerade zustande bringt: daß sie sich vom Willen, von dem wir befreit zu werden bedürfen, nur abwendet; wogegen die wirkliche, nicht in jedem Augenblick widerrufene Erlösung ihn selbst ergreifen muß. Und dies gelingt in den Taten der Sittlichkeit und der Askese, denen wir uns nun zuwenden, als zu der praktischen Lösung der dunklen Problematik, in die die Schopenhauersche Betrachtung bisher das Leben gesenkt hat.