George R. Sims
Erinnerungen einer Schwiegermutter – Erster Band
George R. Sims

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Siebente Erinnerung.

Die Kartoffelklöße.

Als ich Johns Wohnung erreichte, erwartete ich nach Lotties Brief natürlich, ihn ernstlich krank zu finden, wenn ich mir auch keine großen Sorgen machte, da ich aus Erfahrung wußte, daß sein Jähzorn, so heftig er im Augenblick auch sein mochte, niemals lange anhielt.

Mein ältester Sohn John gehört zu den erregbaren Leuten, die in der einen Minute in gehobener, in der nächsten in niedergeschlagener Stimmung sind, und wenn sie sich in gehobener Stimmung befinden, dann kennt ihre Lustigkeit keine Grenzen ebenso wie ihre Niedergeschlagenheit, wenn das Gegenteil der Fall ist. Ich glaube, ich habe lieber mit derartigen Leuten zu thun, als mit den ruhigen, gelassenen, die, wenn ihnen was schief geht, brummig und schweigsam sind. Ein Mann thut in der Wut verdrehtes Zeug und spricht bittere, scharfe Worte, aber was er thut, ist nicht so unverzeihlich, und was er sagt, nicht so grausam als das, was die gehaltenen Leute thun, die immer Herren ihrer selbst sind und über das ihnen widerfahrene Unrecht in aller Ruhe nachgrübeln. Ich ziehe die Menschen vor, die sich von ihrer Stimmung fortreißen lassen; sie gefallen mir besser. Hätte Mr. Tressider nur ein bißchen mehr Reizbarkeit besessen, ich glaube, es wäre für uns alle besser gewesen.

Aber es gibt eine Grenze, über die hinaus auch Reizbarkeit unerträglich wird, und ich muß zugeben, daß mein Sohn John die Gewohnheit hatte, sich um der geringfügigsten Ursache willen so maßlosen Wutausbrüchen zu überlassen, daß man ihn zu Zeiten für verrückt halten konnte. Ich habe gesehen, wie er im Zimmer umhersprang und schrie und dann gegen die Thür trat oder mit aller Kraft gegen die Wände trommelte. Er behauptete stets, dieses gegen die Thüre Treten oder an die Wände Trommeln bringe ihm Erleichterung für seine mit Gewalt niedergehaltenen Gefühle, und wenn er nicht etwas Derartiges thäte, würde ihn der Schlag rühren.

Jetzt, wo er gegen seine eigene Thür tritt und auf seinen eigenen Wänden herumtrommelt, liegt mir nicht soviel daran. Als aber diese Vorstellungen unter meinem Dache stattfanden, war ich sehr ärgerlich darüber, besonders an einem gewissen Tage. Damals trat er so wütend gegen die Thür meines kleinen Wohnzimmers, daß eine Füllung herausflog. Sein Fuß fuhr hindurch und traf eins von den Dienstmädchen, das augenscheinlich gehorcht hatte, obgleich es behauptete, es sei nur zufällig vorbeigegangen. Da es ein Theebrett trug – es wollte den Nachmittagsthee bringen – stieß John mit dem durch die Füllung gefahrenen Fuß gegen das Theebrett. Natürlich flog alles in die Luft und es gab eine nette Wirtschaft. Der Teppich auf dem Vorplatz war mit Thee und Milch getränkt, die Butterbrötchen lagen überall umher – und wie gewöhnlich mit der Butterseite nach unten.

Das Krachen der zertrümmerten Füllung, das Klirren des zerbrochenen Geschirrs und das Geschrei des erschrockenen Mädchens ernüchterten John ganz gewaltig, und ich glaube, er schämte sich von Herzen, aber ich hätte selbst vor Zorn schreien mögen, als ich meine zertrümmerte Thür und mein zerbrochenes Porzellan erblickte.

Ueber diesen peinlichen Vorfall wäre ich mit Stillschweigen hinweggegangen, aber wenn ich über meinen Sohn John die Wahrheit schreiben soll, dann ist es unbedingt notwendig, daß ich auch seine außerordentlichen Wutausbrüche erwähne. Zu Hause machten wir uns nicht viel daraus, da wir daran gewöhnt waren, denn diese Anfälle von Jähzorn waren seit seiner Kindheit ganz charakteristisch für ihn.

Da er niemals weder sich selbst, noch andern ernstlichen Schaden zufügte, nahmen wir die Sache leichter; ich habe ihm indessen doch häufig eindringliche Vorstellungen gemacht und ihn gebeten, sich mehr zu beherrschen, und auch sein Vater that alles, was er konnte, um ihn im Zaume zu halten.

Man wußte nie im voraus, wann ein Anfall kam. Irgend eine harmlose Bemerkung, eine Kleinigkeit ärgerte ihn, und dann arbeitete er sich nach und nach in die Wut. Ich entsinne mich, daß sein Vater eines Abends totenblaß aus dem Comptoir nach Hause kam und die Besorgnis aussprach, es würde noch damit enden, daß John jemand umbringe.

Sein Vater hatte, wie es scheint, etwas gesagt, was John verletzt oder auf irgend eine Weise gereizt hatte, worauf dieser plötzlich, ohne das geringste Vorzeichen im Comptoir umherzutanzen anfing; dann ergriff er die Feuerzange und schlug damit laut heulend auf einen kleinen Tisch los, und als dessen Platte in Stücke ging, schrie er: »So sollen alle meine Feinde verderben!« Darauf warf er die Feuerzange weg, stürzte sich auf den vor dem Kamin liegenden Teppich und riß mit den Zähnen ein großes Stück heraus, wobei er wie ein wildes Tier brüllte.

Dieser Vorfall ist mir so gut in der Erinnerung geblieben, weil es darüber zu einer Meinungsverschiedenheit mit meinem Manne kam. Er war nicht viel zu Hause und hatte nicht häufig Gelegenheit gehabt, Johns Anfälle zu sehen; deshalb war er jetzt ernstlich über dessen Geisteszustand beunruhigt.

»O, er ist ganz vernünftig,« entgegnete ich auf eine dahin zielende Bemerkung, »es ist nur sein ungezügelter Jähzorn.«

Ein Wort führte zum andern, und schließlich nahm sich mein Mann heraus, anzudeuten, daß John seine Heftigkeit von mir habe. Natürlich verbat ich mir derartige Anzüglichkeiten sehr entschieden und sprach meine Meinung offen aus, und da hatte er die Erbärmlichkeit, mich an etwas zu erinnern, was schon längst hätte vergessen sein müssen, denn es war zu einer Zeit vorgefallen, wo ich ernstlich krank und höchst nervös gewesen war. Und dann bin ich wirklich nicht die erste Frau, die im Aerger ihren Hut zerrissen hat, und es war nicht einmal ein neuer Hut oder einer, woran mir viel gelegen gewesen wäre, denn er stand mir schlecht. Das alles hatte ich bedacht, ehe ich ihn zerriß.

Ich war nicht gesonnen, mich mit einem vor zwanzig Jahren zerrissenen Hut aufziehen zu lassen, ganz besonders da er mit Johns Heftigkeit auch nicht das geringste zu thun hatte, und deshalb erinnerte ich Mr. Tressider an einen andern Vorfall, den zu vergessen er für bequem erachtete, und das war, wie der Vater einer gewissen Familie und das Haupt eines gewissen Hauses eines Tages sechs gekochte Kartoffelklöße beim Essen zum offenstehenden Fenster hinausgeworfen hatte, zur großen Ueberraschung der Vorübergehenden, worunter sich auch ein Schutzmann befand. Ich werde das Schafsgesicht des besagten Familienvaters nie vergessen, als der Schutzmann klingelte und den Herrn des Hauses zu sprechen verlangte. Und als dieser herauskam, da stand der Schutzmann im Flur und hatte einen halben Kartoffelkloß in der Hand während die andre Hälfte ihm auf dem Backen saß und ein Auge bedeckte.

Es war ein ganz schmählicher Auftritt, aber so ärgerlich ich auch war, ich mußte doch lachen, als der arme Mensch, auf sein Gesicht zeigend und den Rest des Kloßes in der Hand haltend, sagte: »Hören Sie 'mal, Sie. Was soll denn das heißen? Das kam aus Ihrem Fenster.«

Der Schutzmann wurde in die Küche geführt und dort von den Resten des Kartoffelkloßes gereinigt; er erhielt einen Schnaps und fünf Schillinge, und als er sich entfernt hatte, ging das Hausmädchen mit Besen und Müllschippe auf die Straße und kehrte die dort umherliegenden Kartoffelklöße zusammen, aber es dauerte lange Zeit, ehe ich aufhörte, meinem Manne Vorstellungen wegen dieses unpassenden Benehmens zu machen. Es war zu lächerlich, noch dazu einer solchen Kleinigkeit wegen.

Jede Hausfrau wird mit mir übereinstimmen, daß die Speisezettelfrage die schwierigste und unangenehmste im ganzen Haushalt ist. Nichts ist so schwer, als immer Dinge auf den Tisch zu bringen, die die durch ihre Klubs und die Diners im Stadthaus und so weiter verwöhnten Männer zufrieden stellen. Mein Mann nun ißt Kartoffelklöße leidenschaftlich gern, aber ich konnte nicht jedesmal, wenn er zu Hause aß, Kartoffelklöße auf den Tisch bringen. Eines Tages, als wir Blancmanger und gekochtes Obst hatten, brummte er und sagte, Blancmanger sei ihm widerwärtig und er bekäme so gut wie nie Kartoffelklöße. »Nun gut,« entgegnete ich, »ich werde dafür sorgen, daß du nicht wieder Ursache zum Brummen findest,« und gab der Köchin Befehl, jedesmal, wenn Mr. Tressider zu Hause äße, Kartoffelklöße zu machen. Ich dachte, ich wollte ihm das Brummen schon vertreiben, und es gelang mir auch eine Zeitlang. Das erste Mal freute er sich über die Kartoffelklöße, das zweite Mal machte er große Augen, das dritte Mal runzelte er die Stirn, als sie hereingebracht wurden, und als ich sie ihm das vierte Mal vorsetzte, fragte er mich: »Kann ich dir einen geben?«

»Nein, danke,« versetzte ich, »ich esse nicht gern Kartoffelklöße.«

»Dann nehmen Sie sie weg,« befahl er dem Mädchen, und sie wurden unangerührt abgetragen.

Als aber das nächste Mal der Deckel von der Schüssel gehoben wurde und er die Kartoffelklöße sah, wurde er wütend.

»Wie lange willst du mich denn noch auf diese Weise beleidigen?« fragte er.

»Dich beleidigen, lieber Mann?« entgegnete ich ruhig. »Ich dachte, du äßest Kartoffelklöße so gern, lieber, als irgend etwas andres.«

»Zum Henker mit deinen Kartoffelklößen!« antwortete er (das heißt, er sagte etwas andres als »Henker«), und dann riß er die Schüssel plötzlich an sich und warf einen Kartoffelkloß nach dem andern zum Fenster hinaus, das weit offen stand, weil es an jenem Abend sehr warm war.

»Da!« rief er, als sie alle an die Luft befördert waren. »Nun siehst du, wie gern ich Kartoffelklöße esse, und wenn du sie mir nochmal vorsetzest, geht's gerade so.«

Dann kam der Schutzmann, und der Leser kennt den Rest der Geschichte.

An dieses Benehmen erinnerte ich Mr. Tressider, als er die Kühnheit hatte, anzudeuten, daß John seine Heftigkeit von mir habe. Er schwieg sofort still; das thut er immer, wenn ich ihn an die Kartoffelklöße erinnere, aber ich habe ebensoviel Recht, seine Kartoffelklöße vorzubringen, wie er meinen Hut. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn wir beides unerwähnt gelassen hätten, denn da John damals noch Kittelchen trug, sind wahrscheinlich weder die Kartoffelklöße, noch der Hut auf die Entwickelung seines Gemütes von Einfluß gewesen.

Ihr werdet leicht begreifen, daß diese Dinge (nicht die Kartoffelklöße, sondern Johns jugendliche Leistungen in Hinsicht auf Wutanfälle) mir sehr viel Sorgen machten, als er heiratete und die Pflichten eines Familienvaters übernahm. Sein Glück lag mir am Herzen, aber ich wünschte auch, daß er seine Frau glücklich machen solle, und kurz nach unsrem ersten Zusammensein erzählte ich dem lieben Kinde, wie sonderbar John manchmal sei, und bat sie, sich nicht allzusehr zu beunruhigen, wenn einmal ein Ausbruch erfolge.

»Widersprich ihm nicht, wenn er so ist,« riet ich ihr, »sondern laß ihn einfach austoben. Widerspruch ist Atemverschwendung, und wütende Menschen klammern sich an jedes Wort, um sich noch mehr in Wut zu reden. Das heißt nur, Oel ins Feuer gießen. Früher, als die Männer noch Männer waren, genügte vielleicht ein ruhiges Wort, sie zu besänftigen, aber nach meiner Erfahrung bilden sie sich ein, sie hätten einem angst gemacht, wenn man ihnen antwortet, und dann geht's erst recht los.«

Lottie versprach mir, sie wolle sich nicht fürchten, aber das liebe kleine Gänschen war zu Tode geängstigt, als sie John zum erstenmal in Wut sah. Es hatte etwas in einer Zeitung gestanden, eine Besprechung einer von ihm geschriebenen Geschichte, und die hatte er gelesen. Lottie erzählte mir, er sei in der Nacht nicht wohl gewesen; er habe heftige Magenschmerzen gehabt, weil er in einer Gesellschaft am Abend vorher Lachsmayonnaise und Hummersalat, und hinterher Punschtorte gegessen habe, die er leidenschaftlich liebte. Morgens beim Erwachen hatte er ihr gesagt, er habe furchtbare Träume gehabt und fühle sich sehr elend. Die liebe, gute Lottie war aufgestanden und hinuntergegangen, um ihm eigenhändig eine Tasse guten, starken Thee zu bereiten, weil er der Ansicht war, daß Dienstboten nicht verständen, Thee zu machen; sie nähmen nie richtig kochendes Wasser dazu (was sehr wahr ist), und das gräßliche Getränk, das einem bei Bekannten manchmal als Thee vorgesetzt wird, bringt mich auf die Vermutung, daß sehr wenig Leute eigentlich wissen, wie guter Thee zubereitet werden muß. Um guten Thee zu machen, muß das Wasser richtig kochen, nicht bloß heiß sein, und dann sollte man ihn ein paar Minuten mit einer Kannenhaube bedeckt stehen lassen, Thee erhält nie den richtigen feinen Geschmack, wenn man nicht die Kanne einige Zeit mit der Kannenhaube bedeckt. Das wahre Geheimnis einer guten Tasse Thee liegt im kochenden Wasser und der Kannenhaube. Als der Thee fertig war, hatte Lottie ihn hinaufgetragen und außer den Briefen unglücklicherweise auch die Zeitung mitgenommen. Sie meinte, das würde ihn veranlassen, liegen zu bleiben, und das wäre das beste für ihn.

Er sagte, sie sei ein vollkommener Engel, und sie ging ganz glücklich hinunter, um nun auch selbst zu frühstücken, aber als sie wieder hinaufkam, war sie entsetzt. Er sprang im Zimmer umher, drohte irgend einer eingebildeten Person mit den Fäusten und schimpfte ganz furchtbar.

Als dies etwa zehn Minuten gedauert hatte, wobei er die gräßlichsten Gesichter schnitt, stürzte er sich plötzlich aufs Bett, ergriff die Zeitung, warf sie zu Boden und trampelte darauf herum. Dann hob er sie wieder auf und zerriß sie in kleine Fetzen, die er im ganzen Zimmer verstreute.

»Ach, du barmherziger Himmel!« rief die arme Lottie. »Was gibt's denn? Was fehlt dir denn?«

»Was es gibt?« schrie er. »Irgend ein Schuft, ein Halunke, ein giftgeschwollenes Reptil hat sich unterstanden, zu sagen, meine letzte Geschichte in der ›Heuschrecke‹ sei gestohlen. O, wenn ich den elenden Hund nur hier hätte, der das geschrieben hat, ich massakrierte ihn, ich zerhackte ihn zu Frikasseestücken und trampelte auf jedem einzelnen herum. Ich nähme ihn am Halse und würfe ihn zum Fenster hinaus, daß er sich auf dem eisernen Gitter aufspießte, und dann ließe ich ihn dort elend verrecken, und wenn er beinahe tot wäre, dann spuckte ich ihm noch ins Gesicht. So!«

Die arme Lottie sagte, sie wäre vor Entsetzen fast zu Boden gefallen, als John vor ihr gestanden und gezischt habe wie ein Wahnsinniger. Glücklicherweise bemerkte er selbst, wie sehr er sie erschreckt hatte, und da sie noch nicht an sein Wesen gewöhnt war, that er sich Gewalt an und trat ruhig zu ihr.

»Du brauchst keine Angst zu haben,« sprach er, »ich habe mich ausgetobt und fühle mich jetzt besser. So bin ich immer, wenn meine Leber nicht in Ordnung ist.«

»Ach, du lieber Gott!« antwortete Lottie, »dann will ich nur hoffen, daß das nicht oft der Fall sein möge.«

»Es wird wohl die schreckliche Lachsmayonnaise und die Punschtorte von gestern abend gewesen sein,« entgegnete John. »Ich war ein Dummkopf, daß ich davon gegessen habe, aber ich habe keine Willenskraft, Es ist ganz schrecklich; sowie ich Lachsmayonnaise und Punschtorte sehe, ist meine Willenskraft rein futsch! Aber von jetzt an werde ich eine strenge Diät beobachten und das Rauchen aufgeben; beunruhige dich nicht weiter, kleines Frauchen, ich bin jetzt wieder ganz in Ordnung.«

Abgesehen von gelegentlichen Anfällen von Niedergeschlagenheit ging auch einige Wochen alles gut. Wenn diese kamen, sagte er, er möchte am liebsten tot sein, und ob Lottie etwas dagegen einzuwenden hätte, wenn er sich verbrennen ließe, denn ein Sarg sei so furchtbar eng, und er wisse im voraus, daß er das Bedürfnis haben werde, sich umzudrehen. Er habe nie vertragen können, auf dem Rücken zu schlafen, und was dergleichen Zeug mehr war. Wir zu Hause waren an seinen Unsinn gewöhnt; Lottie aber hatte das Gefühl, wie sie mir später gestand, als ob sie mit einem Wahnsinnigen allein in einer Polsterzelle sei und versuchen müsse, ihn zu beruhigen, bis der Wärter käme.

Als ich das nächste Mal mit John zusammen war, sprach ich ernsthaft mit ihm und bat ihn, zu versuchen, sich doch etwas mehr zu beherrschen, wobei ich ihn darauf aufmerksam machte, daß sein ungewöhnliches Benehmen seine liebe Frau sehr bekümmere.

»O, das ist alles in Ordnung, liebe Mutter,« antwortete er. »Ich weiß, daß ich manchmal ein bißchen excentrisch bin, aber es geht immer rasch vorüber. Ich habe Lottie gesagt, sie solle es gar nicht beachten, sondern mich nur allein damit fertig werden lassen. Es kommt nur, wenn meine Leber nicht in Ordnung ist, und dann thut mir ein bißchen Toben gut. Das bringt die Galle heraus.«

»Aber, mein lieber Junge, es macht uns alle, die wir dich lieb haben, sehr unglücklich. Wenn du fühlst, daß die Wut dich übermannen will, darfst du nicht vergessen, daß du einem liebenden Herzen wehe thust, und liebende Herzen sind in dieser Welt viel zu selten, als daß man sie nicht mit der größten Schonung behandeln sollte, wenn man sie gefunden hat. Ich weiß, daß ich in deinen Augen oft eine thörichte alte Frau bin, aber wenn wir nicht an andre, sondern immer nur an uns selbst denken, dann, verlaß dich darauf, mein lieber Junge, werden wir nie glücklich.«

»Aber, liebe Mutter,« entgegnete er, »du wirst ja der reine Philosoph; du meinst doch nicht, daß ich Lottie absichtlich quäle?«

»Nein, nicht absichtlich; aber vergiß nicht, was der Dichter sagt,« (Dichternamen habe ich nie behalten können): ›Die Wunden, die Gedankenlosigkeit uns schlägt, sie schmerzen tiefer oft, als die aus bösem Herzen kommen!‹ Mancher Frau Herz ist gebrochen worden, ohne daß es beabsichtigt war.«

»Liebe Mutter, du nimmst die Sache viel zu ernst,« versetzte John, »Wie du sprichst, könnte man wirklich glauben, ich wäre ein Blaubart, König Heinrich der Achte und der Kalif aus Tausend und einer Nacht in einer Person.«

»Das ist auch eine nette Gesellschaft,« erwiderte ich, und John lachte und fing von andern Dingen an zu sprechen, allein ich hoffte, daß meine Worte doch einen tieferen Eindruck auf ihn gemacht hätten.

Die Sache ging lange Zeit gut, und Lottie war ganz heiter. Es gelang ihr, John abends zu Hause zu halten; statt daß er bis in die späte Nacht hinein im Klub saß und rauchte, auch überredete sie ihn, das häufige Essen in Wirtschaften aufzugeben. Seine Stimmung war entschieden besser, so daß ich schon zu hoffen anfing, er werde ein verständiges menschliches Wesen werden, als ich eines Tages den oben erwähnten Brief erhielt. In Camberwell angelangt, fand ich Lottie tief unglücklich.

»O, mein liebes Kind!« sprach ich, »es thut mir zu leid. Was hat's denn diesmal gegeben!«

»Ich weiß es nicht genau,« antwortete sie, »aber er ist so sonderbar gewesen, seit er vor drei Abenden auswärts gegessen hat. Er war mit einem Bekannten im Theater, und hat nachher Hummer gegessen und Champagner getrunken. Er habe gleich gewußt, daß er dafür büßen müsse. Ich sagte ihm, es sei sehr thöricht, und ich könne nicht begreifen, wie ein vernünftiger Mensch so handeln könne, wenn er wisse, daß es ihm schlecht bekomme.«

Sowie mir Lottie von Hummer und Champagner erzählte, wußte ich, was die Glocke geschlagen hatte. Die schwache Verdauung hat er von der Familie seines Vaters geerbt. Eine von Mr. Tressiders Tanten hat zwanzig Jahre nichts essen dürfen als trockenes geröstetes Brot und gekochte Seezungen, und ein andrer Verwandter, ein Vetter, schleppte immer eine galvanische Batterie mit sich herum und versetzte sich beim Essen zwischen den einzelnen Gängen elektrische Schläge. Ich lud ihn nicht gern zum Essen ein, besonders, da er über weiter nichts sprach, als über seine Leiden, und immerzu stöhnte. Mit seiner Batterie unter dem Stuhle, einer Flasche irgend eines Verdauungsweines neben sich und Wismutpastillen rings um seinen Teller, war er nicht gerade, was ich einen angenehmen Tischgast nenne.

Anfangs lud ich ihn aus Höflichkeit ein, besonders auch, weil er reich war und eine große Vorliebe für meinen jüngsten Sohn Tommy gefaßt hatte, aber nach einiger Zeit fing er an, seine Kränklichkeit zu mißbrauchen und sich allerhand herauszunehmen. Eines Tages ließ er mir sogar sagen, was er gern zum Essen haben wolle, und da die von ihm genannte Hauptschüssel spanische Zwiebeln in Milch gekocht war, hielt ich es für an der Zeit, der Sache einen Riegel vorzuschieben, und sagte Mr. Tressider ordentlich meine Meinung über seinen magenkranken Vetter. So 'ne Idee! Ich soll spanische Zwiebeln in Milch gekocht bei einem Diner als Hauptgericht geben!

John hatte mit seiner Verdauung zu kämpfen (ich meine John junior), Mr. Tressider dagegen kann alles essen, und ich bin Zeuge gewesen, wie er nach dem Theater sechs Dutzend Austern zum Abendessen verzehrt hat, und die Massen von Hummern und Seemuscheln, die er zu vertilgen pflegt, wenn wir uns am Meere aufhalten, ist geradezu unglaublich, aber seine schlechte Verdauung hat John doch von der väterlichen Seite der Familie.

»Nun, das hat er allein sich selbst zu verdanken,« sagte ich, als Lottie mir von Hummer und Champagner erzählte, »Warum ißt er Dinge, wovon er weiß, daß sie ihm schlecht bekommen!«

»Er sagt, es wäre Mangel an Willensstärke – er sei einem Hummer gegenüber schwach wie ein Kind.«

»Mangel an Willensstärke!« rief ich ärgerlich. »Mangel an Papperlapapp! Wo ist er denn jetzt?«

»Ach, das weiß ich nicht, und das ist's ja gerade, was mich so unglücklich macht. Als er entdeckte, daß ich an dich geschrieben hatte, wurde er furchtbar wütend und sagte, er wolle ausgehen, einen tollen Hund suchen und sich beißen lassen, und dann wolle er seinen Leichnam der Anatomie vermachen, damit er der Welt nach seinem Tode noch etwas nütze.«

Ich mußte lächeln, ich konnte nicht anders, es war zu albern.

»Liebes Kind,« antwortete ich. »Du mußt das gar nicht beachten. So einfältige Reden hat er schon als Kind geführt. War's sehr schlimm diesmal?«

»O, fürchterlich! Gestern morgen ist er um sieben aufgestanden und in den Garten gegangen, und da hat er einen Regenwurm ausgegraben und gestreichelt und gesagt, das wäre das einzige Wesen, das ihn liebte. Natürlich weinte ich darüber, und darauf sprach er, ich solle nicht weinen, denn er habe sein Testament gemacht und mir alles vermacht, mit Ausnahme des Hundehauses und der Kohlenschaufel. Du solltest das Hundehaus und Vater die Kohlenschaufel haben, um sie auf ewige Zeiten zur Erinnerung an ihn aufzubewahren.«

»Oho!« rief ich, denn mir riß die Geduld, »er soll mir nur kommen, ich werde ihn behundehausen!«

»Aber das ist noch lange nicht das Schlimmste,« fuhr Lottie fort, und die Thränen traten ihr wieder in die Augen. »Weißt du, was er gestern gethan hat?«

»Wenn er so ist, traue ich ihm alles zu. Was hat er denn angestellt?«

»Wir saßen beim Essen, und ich hatte Kartoffelklöße gemacht, weil ich weiß, daß er sie gern ißt.«

»Darin gleicht er seinem Vater,« warf ich ein, »Kartoffelklöße sind dessen Leibgericht.«

»Ja, das weiß ich, und deshalb hatte ich sie auch selbst gemacht, daß sie recht schön und locker sein sollten, und – kannst du's glauben? – als sie auf den Tisch kamen, sprang er auf und schrie.

»›Was gibt's denn?‹ fragte ich.

»›Was es gibt?‹ rief er. ›Mord und Totschlag gibt's. Du willst mich augenscheinlich umbringen, um einen andern heiraten zu können. Wie kann man einem Menschen, der so auszuhalten hat, wie ich, Kartoffelklöße vorsetzen!‹

»Und ehe ich wußte, was er vor hatte, nahm er die Kartoffelklöße und warf sie zum offenen Fenster hinaus.«

»Sag mir 'mal,« rief ich aufspringend, »hat er einen Schutzmann getroffen?«

»Nein, er warf sie zum Hinterfenster hinaus, und die Köchin, die im Garten war, bekam fast Krämpfe, Sie behauptet, der Herr wäre ganz bestimmt verrückt, und will nicht mehr bleiben. Sie hat einen Monat Lohn verlangt und will morgen abend gehen. Ach, du lieber Gott, was soll ich nur anfangen?«

Ich tröstete meine arme Schwiegertochter, so gut ich konnte, und während ich versuchte, sie etwas aufzumuntern, kam das Ungeheuer herein, und – wollt ihr's glauben? – er lachte! Er lachte wirklich und sagte, er habe sich ausgetobt und fühle sich viel wohler. Durch Herumtanzen habe er den Hummer von seiner Brust herunter gebracht.

Als ich die beiden nach einiger Zeit verließ, war der Friede hergestellt, und sie spielten im Garten Federball, aber als Mr. Tressider an jenem Abend seine Cigarre rauchte und die Times las, ging ich zu ihm.

»John Tressider,« sagte ich, »die Sünden der Väter werden an den Kindern heimgesucht. Dein ältester Sohn hat Kartoffelklöße zum Fenster hinausgeworfen!«

Nie in meinem Leben habe ich einen so erstaunten Mann gesehen.

Einen Augenblick blieb ihm der Atem stehen, dann trat er feierlich vor mich hin, legte mir leise die Hände auf die Schultern und sah mir voll ins Gesicht.

»Jane Tressider,« rief er mit einem Blick gen Himmel aus, »laß uns unsrem Schöpfer danken, daß er nicht auch seinen Hut zerrissen hat!«

Kann man sich etwas Herzloseres vorstellen, als eine bekümmerte Mutter in einem solchen Augenblick an etwas zu erinnern, das längst vergessen sein sollte?

Aber Männer sind eben nicht wie Frauen; sie besitzen kein Zartgefühl.


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