Heinrich Smidt
Seemanns-Sagen und Schiffer-Märchen
Heinrich Smidt

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Der fliegende Fisch

Ehe noch die Sucht nach unmäßigem Gewinn die Europäer antrieb, die Länder jenseits des Ozeans zu durchforschen, war jener Himmelsstrich – gleich wie einst der leben- und liebeglühende Orient – von Geschöpfen ganz anderer Art bewohnt. Versunken ist das schöne Inselreich jener früheren Tage und die Großen und Kleinen Antillen sind die Überreste jener wundervollen Unschuldswelt. Südlich von diesenAlso im Norden Südamerikas. lag früher ein großes, blühendes Königreich, dessen Beherrscher nicht nur ein frommer, sondern auch ein weiser König war. Er war der Sohn eines großen Zauberers und einer schönen Fee, und als seine Eltern, durch eine höhere Macht besiegt, diese Gegend verließen, erschufen sie für ihren Liebling dieses gepriesene Reich. Sorgfältig forschte der weise König – denn die Wissenschaft seines Vaters und seiner Mutter war ihm keine fremde geblieben – nach dem Schicksal, das ihm und seinen Untertanen bevorstehe, und stets kehrte er mit heiterem Angesicht aus dem Innern seines Palastes zurück, denn nimmer trübte sich die hellglänzende Tafel, auf welche eine unsichtbare Hand den Orakelspruch niederschrieb.

Da ergriff ihn plötzlich namenlose Angst. Ein schwarzer Fleck ward auf der glänzenden Fläche bemerkbar und breitete sich immer mehr und mehr aus. Nur einzelne Zeichen traten aus den verhüllenden Nebeln hervor: er konnte den Orakelspruch nicht ergründen. Tief gebeugt verließ er den Palast, durchschritt die Straßen der Stadt und ging an das einsame Meeresufer.

Hier erwartete ihn ein sonderbarer Anblick. Vor sich auf der kristallhellen Flut erblickte er schwimmende Häuser, herrlich verziert mit Blumen und kostbarem Gestein; eine fröhliche Musik und liebliche Gesänge tönten daraus hervor. Die Fremdlinge, die diese Häuser bewohnten, sprangen lustig durcheinander und legten ihre Freude über das schöne Land, dem sie sich nahten, durch viele seltsame Gebärden an den Tag.

Noch staunte der König über den unerwarteten Anblick, als einer jener Fremdlinge an ihn herantrat und ihn ehrfurchtsvoll begrüßte: »Großer König! Du siehst auf jenen Schiffen den Kern eines tapferen Volkes. Wir sind die Bewohner des Sonnenlandes und ziehen auf Befehl unseres mächtigen Schutzgottes umher, für unseren tapferen Prinzen, den großmütigen Liar, eine Braut zu suchen, die würdig genug ist, ihm ihre Hand zu reichen. So nahen wir uns nun auch der Küste deines Reiches, und wenn du es gestattest, nehmen wir eine Zeitlang Wohnung an diesen Ufern, um uns von den Beschwerden einer langen Reise zu erholen.«

Zögernd gewährte der König diese Bitte und dachte dabei unwillkürlich an den fremden Prinzen, an seine liebliche Tochter, an die metallene Schicksalstafel und seufzte. Unterdessen hatte der Prinz sein glänzendes Gefolge herbeigewinkt und begrüßte den König mit ausgesuchter Höflichkeit. Dieser aber führte seine Gäste in den schnell ausgeschmückten Palast. Als hier der Prinz und Maja einander begegneten, war es, als ginge plötzlich beiden eine Sonne auf und das Leben fange an, einen doppelten Reiz für sie zu gewinnen.

Der König, der diese Regung in dem Herzen seiner Tochter wohl bemerkte, beeilte sich, die Metalltafel zu befragen, diese aber starrte ihn noch düsterer an als vorher. Liar und Maja hatten sich inzwischen in der Menge verloren und lustwandelten in dem Garten, der den Palast umgab. Ängstliche Scheu hielt ihre Zungen gefesselt, aber ihre Blicke sagten alles, und als sie nach einer Weile stummen Abschied nahmen, wußte der eine zuversichtlich, was er von dem andern zu hoffen hatte.

Der Prinz weihte seinen vertrautesten Minister in das Geheimnis ein und während der Jüngling den Empfindungen seines Herzens die feurigsten Worte verlieh, überlegte jener, ob hier mit Vorteil ein Bündnis zu schließen sei, und als er hiervon überzeugt war, rief er: »Eine glückliche Stunde, vielleicht der unsichtbare Wille unseres mächtigen Beschützers hat uns an diese Küste geführt. Alles Gute geschehe Euch, mein Prinz; ich will sogleich zum König gehen und ihm Euren Wunsch mitteilen.«

Mit großem Ernst vernahm der König aus dem Munde des Ministers die Werbung des Prinzen und begehrte nur vorher mit seiner Tochter zu reden, was der unterhandelnde Minister den Umständen ganz angemessen fand.

Maja – die unterdessen wiederholt mit dem Prinzen zusammengetroffen war – erschien zitternd vor ihrem Vater, und dieser las bald in den tränenfeuchten Augen die Empfindungen ihres Herzens. Da ließ der König den Prinzen rufen und sagte zu ihm mit bewegtem Ton: »Ich habe Euch als werten Gast an meinem Hofe willkommen geheißen, und bin auch geneigt, Euch als Sohn in meinem Hause aufzunehmen. Aber ehe ich Euch das Liebste überlasse, was ich besitze, müßt Ihr mir schwören, eine Bedingung zu erfüllen, ohne die Maja nie die Eurige werden kann.«

Der Prinz hatte kaum vernommen, daß die Erfüllung seines heißesten Wunsches nur an eine einzige Bedingung geknüpft war, als er versprach, alles zu tun, was der König von ihm verlangen werde.

»So schwöre mir«, entgegnete der König, »daß du deine Genossen in ihre Heimat senden und selbst nie dahin zurückkehren willst. Dann will ich nicht nur deiner Bitte willfahren, sondern mich auch in das Privatleben zurückziehen; du sollst die Krone dieses glücklichen Landes tragen, und Maja soll deine Königin sein.«

Nichts schien dem Prinzen leichter als die Erfüllung dieses Wunsches. Er leistete einen feierlichen Eid in die Hände des Königs, und dieser atmete erleichtert auf. Sein Herz war von einer schweren Last befreit, denn die metallene Tafel glänzte hell und rein, sie verkündete das Glück künftiger Tage.

Der Prinz berief die Seinigen und sagte ihnen, daß sie ohne ihn in die Heimat zurückkehren müßten. Alle erstaunten, und der Minister gestattete sich mancherlei Einwendungen; aber der Prinz hörte nicht darauf und begab sich allein in den königlichen Palast zu seiner geliebten Maja.

Einige Zeit lang überlegte der Minister, was zu tun sei und redete dann seinen Gefährten zu, daß sie die Schiffe besteigen und davonsegeln möchten, aber nicht weiter, als bis sie von der Küste aus nicht mehr gesehen werden könnten. Er verabredete mit ihnen einige geheime Zeichen und verbarg sich darauf in dem nahen Wald.

Gleich nachdem die Fremdlinge das Land verlassen hatten, hielt auch der König dem Prinzen sein Versprechen. Er legte seine Krone nieder, und kaum war der Prinz gekrönt, als die junge Majestät mit der schönen Prinzessin vermählt wurde.

Glückliche Tage begannen nun für das Reich, denn ein Fest verdrängte das andere, und alles lebte in Jubel und Entzücken. Aber nicht lange sollte diese Freude währen, denn der zurückgebliebene Minister, der niemand anders war als der unsichtbare Beschützer der Sonnen-Inseln, erschien jetzt in der Gestalt eines klugen Vogels an dem Hof des jungen Königs. Ihn, den Wissenden, hatte es tief gekränkt, von dem alten König überlistet worden zu sein, und er wollte sich deshalb rächen. Diesen Wunsch glaubte er sich nicht besser erfüllen zu können, als wenn er den jungen König bewege, in sein Vaterland zurückzukehren, seine Gemahlin, die zu dem Betrug des Vaters die Hand geboten, zu verstoßen, das gewonnene Reich als eine eroberte Provinz zu betrachten, und ihn – den Minister – als Statthalter zurückzulassen. Es währte freilich eine geraume Zeit, ehe er bei dem von seinem Glück berauschten Prinzen ein offenes Ohr fand, aber endlich gelang es doch seinen schlau gestellten Worten, ihn stutzig zu machen und mit großem Wohlgefallen bemerkte er die nachhaltige Wirkung seiner Rede.

»Ei, ei, mein kluger und gelehrter Vogel«, sagte der junge König nach einer Pause des Nachdenkens. »Alles das klingt gar lieblich und schön. In der Tat würde ich mich freuen, mein eigentliches Vaterland wiederzusehen; ich würde mir es auch gefallen lassen, dies Land als eine Provinz meines väterlichen Reiches zu betrachten und meinen Minister zum Statthalter zu ernennen. Ja, ich könnte mich sogar entschließen, meine Gemahlin, die mir gar nicht mehr so gut gefällt, zu verstoßen, zumal du mir eine Prinzessin versprichst, die hundertmal schöner ist als sie. Aber du bedenkst die Hauptsache nicht. Ich habe nicht solche schönen Flügel wie du und kann also auch nicht über das Meer wegfliegen, da ich meine Genossen mit den Schiffen weggeschickt habe.«

»Ist es nur das, was dich abhält, zu deinem eigenen Besten meinem Rat zu folgen«, rief der Vogel lebhaft, »so gedulde dich nur und bleibe guten Mutes, denn ehe der neue Tag anbricht, sollst du die Deinigen wiedersehen!«

Er entfaltete seine glänzenden Schwingen und flog auf das Meer hinaus. Der junge König trat auf einen Hügel und folgte seinem Flug mit den Augen, bis das seltsame Geschöpf wie ein kaum erkennbarer Nebelfleck am Horizont verschwand.

Am andern Morgen saß der junge König sehr nachdenklich in seinem Gemach und bereitete sich auf das Regieren vor, als der Vogel durch das offene Fenster flog und ihn mit hellen Tönen begrüßte. »Wenn du deine treuen Freunde sehen willst, so brauchst du nur die Augen aufzuschlagen und dort hinaus zu schauen.«

Die Schiffe lagen zum Erstaunen des jungen Herrschers auf derselben Stelle, die sie erst kürzlich verlassen hatten. Die Bewohner des Landes standen zwischen Furcht und Hoffnung am Ufer, da sie nicht wußten, was die Fremdlinge hier wollten, nachdem sie erst vor kurzem sich von hier entfernt hatten.

Der junge König wandte sich um und wollte dem gescheiten Vogel für seine Hilfe danken, aber der war verschwunden und an seiner Stelle stand der Minister. Nun wußte der überraschte junge König in der Tat nicht, ob er wache oder träume. Jener aber sagte: »Verzeiht die kleine List! Ich nahm eine andere Gestalt an, um stets um Euch zu sein; was ich getan habe, geschah zu Eurem Besten.«

Gleich darauf trat der alte König ein und fragte, was das alles bedeute. Dem Gefragten blieb anfangs das Wort im Munde stecken, aber da sein Minister ihm heimlich einen Wink gab, faßte er sich ein Herz und sagte dem Vater seines Weibes kurzweg, was er für Absichten habe.

Der alte Herr war sehr traurig, denn seit einigen Tagen war die metallene Tafel ganz trübe gewesen, ohne daß er die Ursache hätte ergründen können, die ihm jetzt deutlich genug wurde. Er versuchte, seinen Schwiegersohn umzustimmen, und auch die junge Königin, die herbeieilte, bot alles auf, ihren Gatten wieder für sich zu gewinnen. Aber alles war vergebens, denn der böse Minister wich nicht von der Stelle. Nun bat die Königin, daß es ihr vergönnt sein möge, den Gatten zu begleiten. Aber dieser, der schönen Prinzessin gedenkend, die ihm versprochen worden war, schlug die Bitte mit rauhen Worten ab, und verstieß seine Gemahlin, die bewußtlos in die Arme ihres greisen Vaters sank.

Der leichtsinnige junge König übergab jetzt seinem Minister die Krone, zum Zeichen, daß dieser an seiner Statt regieren solle, und begab sich an Bord zu seinen Genossen, mit denen er der Heimat zusteuerte. Aber die Strafe folgte auf dem Fuße, denn die Bewohner seines alten Reiches hatten, da ihr Prinz so lange ausblieb, einen andern Herrscher erwählt und wollten den behalten. So entzündete sich ein hartnäckiger Kampf, der von beiden Seiten mit der größten Erbitterung geführt wurde. Der Streit wurde stets wütender und blutgieriger, bis der letzte Mann vertilgt war und keiner übrig blieb, der einer späteren Zeit hätte erzählen können, was einst geschehen war.

Und dies ist der Fluch, der dem treulosen König und seinen abtrünnigen Untertanen nachfolgte: »Das Land blieb, aber sein Name und sein Volk gingen verloren und alle, die es jetzt bewohnen, sind aus fremden Ländern eingewandert. Sie nennen es Westindien, und ewige Sklaverei faßte Wurzel auf dem Boden der Freiheit.«

Jener boshafte Minister aber, dieses halb menschliche, halb geisterhafte Wesen, fing bald an, in dem von ihm gestohlenen Reich auf eine furchtbare Weise zu hausen. Er brachte jedermann gegen sich auf, aber keiner wagte, ihn anzutasten, denn er war zu mächtig und alle fürchteten seinen bösen Zauber. Da ging der alte König mit schwerbelastetem Herzen in den tiefgeheimsten Winkel seines Palastes und befragte sein Orakel. Und als er lange dort geweilt hatte, als der dunklen Sprüche geheimnisvoller Sinn ihm klargeworden war, verließ er mit seiner Tochter, die sich vor Schmerz blind geweint hatte, den Palast, ging durch sein halb verwüstetes Reich, scharte die mißvergnügten Bewohner um sich und als er eine große Zahl gewonnen hatte, die mit tiefer Rührung auf ihren alten Herrn blickten, fragte er, ob sie sich noch länger von einem so grausamen Wüterich möchten beherrschen lassen, oder ob sie lieber mit ihm sterben wollten? Alle entschieden sich für ihn und der König sprach: »So seht auf diese goldene Tafel. Der Orakelspruch des Geschicks, der darauf steht, weiht uns der Tiefe des Meeres. Dort sollen wir die Gestalt seiner Bewohner annehmen und stumm in dem Grab der Wellen unseren Schmerz begraben. Dort wird uns ewige Vergessenheit zuteil werden. So geschehe denn der Wille des Unerforschlichen.«

Kaum hatte er die Worte gesprochen, als er die Tafel zu Boden warf und gleichzeitig Land und Menschen in die Tiefe sanken; das empörte Meer brandete darüber hin. Der böse Statthalter aber erboste sich sehr, nahm die Gestalt eines furchtbaren Delphins an und verfolgte die unschuldigen Fischlein mit grenzenloser Wut. Da erbarmte sich eine wohltätige Gottheit ihrer Not und schuf ihnen lange Flossen. Wenn nun der Delphin sie verfolgt, dann erheben sie sich aus der Flut und entrinnen dem Tode. Aber wenn sie das blaue Himmelszelt über sich sehen, wacht für Augenblicke die Erinnerung an die entschwundene Herrlichkeit in ihnen auf und mit einem bangen Schmerzenslaut sinken sie in ihr salziges Naß zurück.


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