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Unter allen starren Zeichen ist keines folgenreicher geworden als das, welches wir in seinem heutigen Zustand »Wort« nennen. Es gehört ohne Zweifel der rein menschlichen Sprachgeschichte an, aber die Vorstellung »Ursprung der Wortsprache« ist, so wie sie regelmäßig durchdacht und behandelt wird, mit allen daran geknüpften Folgerungen ebenso sinnlos wie die Vorstellung von einem Anfangspunkt der Sprache überhaupt. Diese besitzt keinen denkbaren Anfang, weil sie mit dem Wesen des Mikrokosmos zugleich gegeben und in ihm enthalten ist, jene nicht, weil sie sehr vollkommene Mitteilungssprachen schon voraussetzt, in deren ruhig fortentwickelter Gestalt sie nur den Rang eines Einzelzuges hat, der sehr langsam das Übergewicht erhält. Es ist der gleiche Fehler so entgegengesetzter Theorien wie derjenigen Wundts und Jespersens,Der die Sprache aus Poesie, Tanz und besonders der Liebeswerbung ableitet. Progress in language (1894), S. 357. daß sie das Sprechen in Worten wie etwas ganz Neues und Fürsichstehendes untersuchen, was notwendig zu einer durchaus falschen Deutung führt. Es ist aber etwas sehr Spätes und Abgezweigtes, eine letzte Blüte am Stamme der Lautsprachen und nicht etwa ein junges Gewächs.
Eine reine Wortsprache gibt es in Wirklichkeit überhaupt nicht. Niemand spricht, ohne außer dem starren Wortbestand in Betonung, Takt und Mienenspiel noch ganz andere Spracharten anzuwenden, die viel ursprünglicher und mit der angewendeten Wortsprache im Gebrauch vollständig verwachsen sind. Man muß sich vor allem hüten, das in seinem Bau äußerst verwickelte Reich heutiger Wortsprachen für eine innere Einheit mit einheitlicher Geschichte zu halten. Jede uns bekannte Wortsprache hat sehr verschiedene Seiten und diese haben ihre eigenen Schicksale innerhalb der Gesamtgeschichte. Es gibt keine Sinnesempfindung, die für die Geschichte des Wortgebrauchs ganz belanglos gewesen wäre. Man muß auch sehr streng zwischen Laut- und Wortsprache unterscheiden; die erste ist selbst sehr einfachen Tiergattungen schon geläufig, diese ist zwar nur in einzelnen, aber desto bedeutsameren Zügen etwas grundsätzlich anderes. In jeder tierischen Lautsprache sind ferner Ausdrucksmotive (Brunstschrei) und Mitteilungszeichen (Warnungsschrei) deutlich zu unterscheiden und das gilt sicherlich auch von den frühesten Worten, aber ist die Wortsprache nun als Ausdrucks- oder als Mitteilungssprache entstanden? War sie in sehr frühen Zuständen von irgendwelchen Sprachen fürs Auge (Bild, Geste) verhältnismäßig unabhängig? Auf solche Fragen gibt es keine Antwort, weil wir von den Vorformen des eigentlichen »Wortes« keine Ahnung haben. Die Forschung ist recht naiv, wenn sie das, was wir heute primitive Sprache nennen und was nur unvollkommene Gebilde sehr später Sprachzustände sind, zu Schlüssen auf den Ursprung der Worte benützt. Das Wort ist in ihnen ein längst feststehendes, hochentwickeltes und selbstverständliches Mittel, aber gerade das gilt von dem »Ursprung« nicht.
Das Zeichen, mit welchem ohne Zweifel die Möglichkeit zur Ablösung der künftigen Wortsprachen aus den allgemein tierischen Lautsprachen gegeben war, nenne ich Namen und verstehe darunter ein Lautgebilde, das als Kennzeichen eines als wesenhaft empfundenen Etwas in der Umwelt dient, welches durch die Benennung zum numen geworden ist. Wie diese ersten Namen beschaffen waren, darüber nachzudenken ist überflüssig. Keine uns noch erreichbare Menschensprache gibt den leisesten Anhaltspunkt dafür. Aber das halte ich im Gegensatz zur modernen Forschung für das Entscheidende: nicht eine Veränderung des Kehlkopfes oder eine besondere Art der Lautbildung oder sonst etwas Physiologisches, das in Wirklichkeit Rassemerkmal ist, liegt hier vor – wenn dergleichen damals überhaupt eingetreten ist – und auch nicht eine Steigerung der Ausdrucksfähigkeit der vorhandenen Mittel, etwa der Übergang vom Wort zum Satz (H. Paul),Satzartige Lautkomplexe kennt auch der Hund. Wenn der australische Dingo mit dem Rückschritt vom Haustier zum Raubtier auch wieder vom Bellen zum Wolfsgeheul übergegangen ist, so darf man das wohl als einen Übergang zu sehr viel einfacheren Lautzeichen deuten, aber mit »Worten« hat es nichts zu tun. sondern eine tiefe Verwandlung der Seele: mit dem Namen ist ein neuer Blick auf die Welt entstanden. Ist das Sprechen überhaupt aus der Angst geboren, aus einer unergründlichen Scheu vor den Tatsachen des Wachseins, die alle Wesen zueinander treibt und die Nähe des andern durch Eindrücke bezeugt sehen will, so erscheint hier eine mächtige Steigerung. Mit dem Namen ist gleichsam der Sinn des Wachseins und die Quelle der Angst angerührt worden. Die Welt ist nicht nur da; man fühlt ein Geheimnis in ihr. Man benennt über alle Zwecke der Ausdrucks- und Mitteilungssprache hinaus das, was rätselhaft ist. Ein Tier kennt keine Rätsel. Man kann sich die ursprüngliche Namengebung nicht feierlich und ehrfürchtig genug denken. Man soll den Namen nicht immer nennen, man soll ihn geheim halten, es liegt eine gefährliche Macht in ihm. Mit dem Namen ist der Schritt von der alltäglichen Physik des Tieres zur Metaphysik des Menschen vollzogen. Es war die größte Wendung in der Geschichte der menschlichen Seele. Die Erkenntnistheorie pflegt Sprache und Denken nebeneinander zu stellen, und wenn man allein die heute noch erreichbaren Sprachen beachtet, trifft das zu. Ich glaube aber, daß man viel tiefer greifen kann: mit dem Namen ist die eigentliche, bestimmte Religion innerhalb einer formlosen, allgemein religiösen Scheu entstanden. Religion in diesem Sinne heißt religiöses Denken. Es ist die neue Verfassung des vom Empfinden abgelösten schöpferischen Verstehens. Mit einer sehr bezeichnenden Wendung sagen wir » über etwas nachdenken«. Mit dem Verstehen benannter Dinge ist über allem Empfindungswesen eine höhere Welt in Bildung begriffen, höher in klarer Symbolik und Beziehung auf die Lage des Kopfes, den der Mensch als die Heimat seiner Gedanken oft in schmerzhafter Deutlichkeit spürt. Sie gibt dem Urgefühl der Angst ein Ziel und den Blick auf eine Befreiung. Von diesem religiösen Urdenken ist alles philosophische, gelehrte, wissenschaftliche Denken später Zeiten bis in seine letzten Gründe abhängig geblieben.
Wir haben uns die ersten Namen als ganz vereinzelte Elemente im Zeichenbestand hoch entwickelter Laut- und Gebärdensprachen zu denken, von deren Reichtum und Ausdrucksfähigkeit wir keine Vorstellung mehr besitzen, seit die Wortsprachen alle anderen Mittel von sich abhängig gemacht und deren Weiterbildung nur in Rücksicht auf sich selbst geleitet haben.Die heutigen Gebärdensprachen (Delbrück, Grundfragen d. Sprachforschung, S. 49 ff., mit dem Hinweis auf das Werk von Jorio über die Gesten der Neapolitaner) setzen sämtlich die Wortsprache voraus und sind von deren gedanklicher Systematik vollkommen abhängig, so z. B. die, welche die nordamerikanischen Indianer ausgebildet haben, um sich bei der großen Verschiedenheit und Veränderlichkeit der einzelnen Wortsprachen von Stamm zu Stamm verständigen zu können (Wundt, Völkerpsychologie I, S. 212. Mit dieser Sprache ist es möglich, folgenden komplizierten Satz auszudrücken: »Weiße Soldaten, die von einem Offizier von hohem Range, aber geringer Intelligenz geführt wurden, nahmen die Mescalero-Indianer gefangen«), oder die Mimik der Schauspieler. Eins aber war bereits gesichert, als mit dem Namen eine Umwendung und Durchgeistigung der Mitteilungstechnik begann: die Herrschaft des Auges über die anderen Sinne. Der Mensch war wach in einem Lichtraum, sein Tiefenerlebnis war eine Ausstrahlung des Sehens zu den Lichtquellen und Lichtwiderständen, er empfand sein Ich als einen Mittelpunkt im Lichte. Die Alternative Sichtbares und Unsichtbares beherrscht durchaus dasjenige Verstehen, in welchem die ersten Namen entstanden sind. Waren vielleicht die ersten numina Dinge der Lichtwelt, welche man empfand, hörte, in ihren Wirkungen beobachtete, aber nicht sah? Die Gruppe der Namen hat ohne Zweifel wie alles, was im Weltgeschehen Epoche macht, eine sehr schnelle und gewaltige Ausbildung erfahren. Die gesamte Lichtwelt, in der jedes Ding die Eigenschaften der Lage und Dauer im Raume besitzt, wurde mit allen Spannungen zwischen Ursache und Wirkung, Ding und Eigenschaft, Ding und Ich sehr bald mit zahllosen Namen bezeichnet und damit im Gedächtnis befestigt. Denn was wir heute Gedächtnis nennen, ist die Fähigkeit, Benanntes mittelst der Namen für das Verstehen aufzubewahren. Es entsteht über dem Reich der verstandenen Sehdinge ein geistigeres Reich der Benennungen, das mit jenem die logische Eigenschaft teilt, rein extensiv, polar geordnet und vom Kausalprinzip beherrscht zu sein. Alle – sehr viel später entstehenden – Wortgebilde wie Kasus, Pronomina, Präpositionen haben einen kausalen oder lokalen Sinn in bezug auf benannte Einheiten; Adjektiva und auch Verba sind vielfach in Gegensatzpaaren entstanden; es ist oft wie in der von Westermann untersuchten Ewesprache anfangs dasselbe Wort, das tief oder hoch gesprochen wird, um etwa groß und klein, fern und nah, passiv und aktiv zu bezeichnen. Später geht dieser Rest von Gebärdensprache ganz in der Wortform auf, wie es im griechischen ìáêñüò
und ìéêñüò und den U-Lauten in ägyptischen Bezeichnungen des Leidens noch deutlich erkennbar ist. Es ist die Form des Denkens in Gegensätzen, die von gegensätzlichen Wortpaaren ausgehend der gesamten anorganischen Logik zugrunde liegt und jedes wissenschaftliche Finden von Wahrheiten zu einer Bewegung in begrifflichen Gegensätzen macht, unter denen der zwischen einer alten Ansicht als Irrtum und einer neuen als Wahrheit immer der vorwaltende ist.
Die zweite große Wendung erfolgt mit dem Entstehen der Grammatik. Indem zum Namen der Satz, zum Wortzeichen die Wortverbindung tritt, wird das Nachdenken – das Denken in Wortbeziehungen, nachdem man etwas wahrgenommen hat, wofür es Wortbezeichnungen gibt – für den Charakter des menschlichen Wachseins bestimmend. Es ist eine müßige Frage, ob die Mitteilungssprachen vor dem Auftreten echter Namen schon wirkliche »Sätze« enthielten. Der Satz im heutigen Sinne hat sich zwar aus eigenen Bedingungen und mit eigenen Epochen innerhalb dieser Sprachen entwickelt, aber er setzt dennoch das Dasein der Namen voraus. Erst die geistige Wendung, die mit ihrer Geburt eingetreten ist, macht Sätze als gedankliche Beziehungen möglich. Und zwar müssen wir annehmen, daß in den sehr entwickelten wortlosen Sprachen, unter fortwährendem Gebrauch, ein Zug nach dem andern in Wortformen umgesetzt und damit einem mehr und mehr geschlossenen Gefüge, der Urform aller heutigen Sprachen, eingegliedert worden ist. Der innere Bau aller Wortsprachen beruht also auf viel älteren Strukturen und ist in seiner Weiterbildung von dem Wortschatz und dessen Schicksalen nicht abhängig. Das Umgekehrte ist der Fall.
Denn mit dem Satzbau verwandelt sich die ursprüngliche Gruppe einzelner Namen in ein System von Worten, deren Charakter nicht mehr durch ihre eigene, sondern ihre grammatische Bedeutung bestimmt wird. Der Name tritt als etwas Neues ganz für sich auf. Die Wortarten aber entstehen als Satzelemente; und nun strömen in unübersehbarer Menge die Wachseinsinhalte heran, die bezeichnet, in dieser Welt von Worten vertreten sein wollen, bis zuletzt »alles« für das Nachdenken in irgendeiner Weise Wort geworden ist.
Der Satz ist von da an das Entscheidende. Wir sprechen in Sätzen und nicht in Worten. Beides zu definieren ist unendlich oft versucht worden und nie gelungen. Nach F. N. Finck ist die Wortbildung eine zerlegende, die Satzbildung eine zusammenfügende Tätigkeit des Geistes, und zwar geht die erste der zweiten vorauf. Es zeigt sich, daß die empfundene Wirklichkeit sehr verschieden verstanden und die Worte also nach sehr verschiedenen Gesichtspunkten abgegrenzt werden können.Die Haupttypen des Sprachbaus (1910). Aber nach der gewöhnlichen Definition ist der Satz der sprachliche Ausdruck eines Gedankens, nach H. Paul ein Symbol für die Verbindung mehrerer Vorstellungen in der Seele des Sprechenden. Alle diese Bestimmungen widersprechen sich. Es scheint mir ganz unmöglich, das Wesen des Satzes aus dem Inhalt zu ermitteln. Tatsache ist lediglich, daß wir die relativ größten mechanischen Einheiten im Sprachgebrauch Sätze, die relativ kleinsten Worte nennen. So weit erstreckt sich die Geltung grammatischer Gesetze. Das fortlaufende Sprechen ist kein Mechanismus mehr und gehorcht nicht Gesetzen, sondern dem Takt. Es liegt also schon ein Rassezug in der Art, wie das Mitzuteilende in Sätze gefaßt wird. Sätze sind bei Tacitus und Napoleon nicht dasselbe wie bei Cicero und Nietzsche. Der Engländer teilt den Stoff syntaktisch anders auf als der Deutsche. Nicht Vorstellungen und Gedanken, sondern das Denken, die Art des Lebens, das Blut bestimmen in den primitiven, antiken, chinesischen, abendländischen Sprachgemeinschaften die typische Abgrenzung der Satzeinheiten und damit das mechanische Verhältnis des Wortes zum Satz. Die Grenze zwischen Grammatik und Syntax sollte dort angesetzt werden, wo das Mechanische der Sprache aufhört und das Organische des Sprechens beginnt: der Sprachgebrauch, die Sitte, die Physiognomie der Art eines Menschen, sich auszudrücken. Die andere Grenze liegt dort, wo die mechanische Struktur des Wortes in die organischen Faktoren der Lautbildung und Aussprache übergeht. An der Aussprache des englischen th – einem Rassezug der Landschaft – erkennt man oft noch die Kinder der Eingewanderten. Nur was zwischen beiden liegt, » die Sprache«, hat System, ist ein technisches Mittel und wird deshalb erfunden, verbessert, gewechselt, abgenützt; Aussprache und Ausdruck haften an der Rasse. Wir erkennen eine uns bekannte Person, ohne sie zu sehen, an der Aussprache, ebenso aber den Angehörigen einer fremden Rasse, auch wenn er ein vollkommen richtiges Deutsch spricht. Die großen Lautverschiebungen wie die althochdeutsche in karolingischer und die mittelhochdeutsche in spätgotischer Zeit haben eine landschaftliche Grenze und berühren nur das Sprechen, nicht die innere Form von Satz und Wort.
Die Worte sind, wie gesagt, die relativ kleinsten mechanischen Einheiten im Satz. Nichts ist vielleicht für das Denken einer Menschenart bezeichnender als die Art, wie diese Einheiten gewonnen werden. Für den Bantuneger gehört ein Ding, das er sieht, zunächst einer sehr großen Zahl von Kategorien der Auffassung an. Das Wort dafür besteht also aus einem Kern (Wurzel) mit einer Anzahl einsilbiger Präfixe. Wenn er von einer Frau auf dem Felde spricht, so ist das Wort dafür etwa: Lebendig – Einzahl – Groß – Alt – Weiblich – Draußen – Mensch; das sind sieben Silben, aber sie bezeichnen einen einzigen, scharfen und uns sehr fremden Akt der Auffassung. Es gibt Sprachen, in denen das Wort beinahe mit dem Satze zusammenfällt.
Der Schritt für Schritt erfolgende Ersatz von körperlichen oder klanglichen durch grammatische Gebärden ist also für die Ausbildung des Satzes das Entscheidende, aber er ist nie vollendet worden. Reine Wortsprachen gibt es nicht. Die Tätigkeit des Sprechens in Worten, wie sie immer schärfer hervortritt, besteht darin, daß wir durch Wortklänge Bedeutungsgefühle wecken, die durch den Klang der Wortverbindungen weitere Beziehungsgefühle wachrufen. Wir sind durch die Schule des Sprechenlernens geübt, in dieser abkürzenden und andeutenden Form sowohl die Lichtdinge und Lichtbeziehungen wie die daraus abgezogenen Denkdinge und Denkbeziehungen zu verstehen. Worte werden nur genannt, nicht definitionsgemäß gebraucht, und der Hörer muß fühlen, was gemeint ist. Ein anderes Sprechen gibt es nicht und eben deshalb haben Gebärde und Ton am Verständnis des heutigen Sprechens einen weitaus größeren Anteil, als man gewöhnlich annimmt.
Das letzte große Ereignis in dieser Geschichte, mit welchem die Bildung der Wortsprache gewissermaßen zum Abschluß gelangt, ist die Entstehung des Verbums. Sie setzt bereits einen sehr hohen Grad von Abstraktion voraus, denn Substantiva sind Worte, welche im Lichtraum sinnlich abgegrenzte Dinge – »Unsichtbares« ist ebenfalls abgegrenzt – auch für das Nachdenken herausheben; Verba bezeichnen aber Typen der Veränderung, die nicht gesehen, sondern aus dem grenzenlosen Bewegtsein der Lichtwelt durch Absehen von den besonderen Merkmalen des einzelnen Falles festgestellt und als Begriffe erzeugt werden. »Fallender Stein« ist eine ursprüngliche Einheit des Eindrucks. Hier wird aber zunächst Bewegung und Bewegtes getrennt und dann »fallen« als eine Art von Bewegung aus zahllosen anderen mit unzähligen Übergängen – sinken, schweben, stürzen, gleiten – abgegrenzt. Den Unterschied »sieht« man nicht; er wird »erkannt«. Substantivische Zeichen kann man sich für manche Tiere vielleicht noch vorstellen, verbale aber nicht. Der Unterschied von Fliehen und Laufen oder Fliegen und Gewehtwerden geht weit über das Gesehene hinaus und ist nur für ein wortgewohntes Wachsein faßbar. Es liegt ihm etwas Metaphysisches zugrunde. Aber mit dem »Denken in Zeitwörtern« ist nun auch das Leben selbst dem Nachdenken erreichbar geworden. Von dem lebendigen Eindruck auf das Wachsein, dem Werden – das die Gebärdensprache ganz unproblematisch nachahmt und das an sich also unberührt bleibt – wird das Einmalige, also das Leben selbst, unvermerkt abgesondert und der Rest als Wirkung einer Ursache (der Wind weht, es blitzt, der Bauer pflügt) mit lauter extensiven Bestimmungen dem Zeichensystem eingeordnet. Man muß sich ganz in die starren Unterscheidungen von Subjekt und Prädikat, Aktivum und Passivum, Präsens und Perfektum versenken, um zu sehen, wie hier der Verstand die Sinne meistert und das Wirkliche entseelt. Bei Substantiven darf man das Denkding (Vorstellung) als Abbild des Sehdinges betrachten, beim Verbum ist aber für etwas Organisches etwas Anorganisches eingesetzt worden. Die Tatsache, daß wir leben, nämlich daß wir jetzt eben etwas wahrnehmen, wird zur Dauer als einer Eigenschaft des Wahrgenommenen; verbal gedacht: das Wahrgenommene dauert an. Es »ist«. So bilden sich endlich die Kategorien des Denkens, abgestuft nach dem, was ihm natürlich ist und was nicht; so erscheint die Zeit als Dimension, das Schicksal als Ursache, das Lebendige als chemischer oder psychischer Mechanismus. So entsteht der Stil des mathematischen, juristischen, dogmatischen Denkens.
Damit ist jener Zwiespalt gegeben, der uns vom Wesen des Menschen unzertrennlich erscheint und der doch nur ein Ausdruck der Beherrschung seines Wachseins durch die Wortsprache ist. Dieses Mittel der Verbindung zwischen Ich und Du hat durch seine Vollkommenheit aus dem tierischen Verstehen des Empfindens ein das Empfinden bevormundendes Denken in Worten gemacht. Grübeln heißt, mit sich selbst in Wortbedeutungen verkehren. Es ist die Tätigkeit, die in jeder anderen Sprachart ganz unmöglich ist und die mit der Vollendung der Wortsprache die Lebensgewohnheiten ganzer Menschenklassen kennzeichnet. Wenn mit der Ablösung einer starren entseelten Sprache vom Sprechen die Wahrheit im Gesprochenen unvereinbar wird, so gilt das in verhängnisvollem Maße vom Zeichensystem der Worte. Das abgezogene Denken besteht im Gebrauch eines endlichen Wortgefüges, in dessen Schema der unendliche Gehalt des Lebens gepreßt wird. Begriffe töten das Dasein und fälschen das Wachsein. Einst, in der Frühzeit der Sprachgeschichte, als das Verstehen sich noch gegen das Empfinden zu behaupten suchte, war diese Mechanisierung bedeutungslos für das Leben. Jetzt ist der Mensch aus einem Wesen, das zuweilen dachte, ein denkendes Wesen geworden und das Ideal aller Gedankensysteme ist es, das Leben endgültig und vollständig der Herrschaft des Geistes zu unterwerfen. Das geschieht in der Theorie, indem nur Erkanntes als wirklich gilt und das Wirkliche als Schein und Sinnentrug gebrandmarkt wird. Das geschieht in der Praxis, indem die Stimme des Blutes durch allgemein ethische Grundsätze zum Schweigen verwiesen wird.Ganz wahr ist allein die Technik, weil die Worte hier nur den Schlüssel zur Wirklichkeit bilden und die Sätze so lange abgeändert werden, bis sie nicht etwa »wahr«, sondern wirksam sind. Eine Hypothese erhebt nicht den Anspruch auf Richtigkeit, sondern auf Brauchbarkeit.
Beide, Logik wie Ethik, sind Systeme absoluter und ewiger Wahrheiten vor dem Geist und beide sind eben damit Unwahrheiten vor der Geschichte. Im Reich der Gedanken mag das innere Auge noch so unbedingt über das äußere triumphieren; im Reiche der Tatsachen ist der Glaube an ewige Wahrheiten ein kleines und absurdes Schauspiel in einzelnen Menschenköpfen. Ein wahres Gedankensystem kann es gar nicht geben, weil kein Zeichen die Wirklichkeit ersetzt. Tiefe und ehrliche Denker sind immer zu dem Schlüsse gelangt, daß alles Erkennen von seiner eigenen Form im voraus bestimmt ist und nie erreichen kann, was man mit dem Wort meint, mit Ausnahme wiederum der Technik, in welcher die Begriffe Mittel und nicht Selbstzweck sind. Und diesem Ignorabimus entspricht die Einsicht aller echten Weisen, daß abstrakte Lebensgrundsätze sich nur als Redensarten einbürgern, unter deren täglichem Gebrauch das Leben so weiterströmt, wie es immer gewesen war. Die Rasse ist letzten Endes stärker als die Sprache, und deshalb besaßen unter allen großen Namen nur die Denker eine Wirkung auf das Leben, die Persönlichkeiten waren und nicht wandelnde Systeme.