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Des Nachmittags ließ der Richter den evangelischen Pfarrer zu sich rufen. Martin Philipp Justus ging ins Schloß.
Der Richter saß an seinem Schreibpulte und wandte den Kopf nicht, als der Geistliche eintrat.
»Ich habe Sie citieren lassen, Herr Pfarrer!«
»Ich wäre auch ohne Ihre Einladung gekommen, da ich mit Ihnen zu sprechen habe, Herr Landrichter,« lautete die Antwort. »Im übrigen ersuche ich, mir die gewöhnliche Courtoisie nicht vorzuenthalten – Courtoisie erleichtert den Verkehr im Leben ganz ungemein.«
Schwerfällig erhob sich Gnaden der Herr Landrichter auf die kurzen Beine. Das feiste Gesicht war dunkelrot, und sprachlos starrte er den Pfarrherrn an. Endlich stotterte er: »Muß gestehen, ist mir noch niemals vorgekommen; haben merkwürdige Art zu sprechen.«
Hochaufgerichtet stand Justus und sah ruhig auf seinen Gegner herab. »Sie wünschen, Herr Landrichter?«
»Es ist mir peinlich, Herr Pfarrer, aber Sie – das heißt zwischen Ihnen und meinem Schreiber – hm! Wie ich höre, haben Sie den schwächlichen Mann vor versammelter Schuljugend 142 mißhandelt und in seiner Eigenschaft als kurfürstlicher Beamter – hm! – schwer beleidigt.«
Mit blitzenden Augen stand Justus und sagte: »Es ist nicht wahr, Sie sind falsch berichtet. Ich war der schwer Beleidigte, als ich den Schreiber kurzhändig entfernte. Uebrigens habe ich die ganze Affaire allbereits an die hochpreisliche Landesregierung geschrieben. Das Konzept dieser meiner Darstellung wird Ihnen morgen zugehen. Persönlichen Aufschluß verweigere ich angesichts der obwaltenden besonderen Umstände.«
»So? Verweigern mir persönlichen Aufschluß? Ist ja merkwürdig, kann zu schlimmen Häusern führen. Amtsehrenbeleidigung, Realinjurien!«
»Was man Ihnen vorgelogen hat, Herr Landrichter, kann mir nach diesem Empfange einerlei sein; was ich in Wahrheit gethan habe, kann und werde ich jederzeit vor Gott und der Welt vertreten,« sagte Justus. »Ich habe Wichtigeres mit Ihnen zu besprechen. – Doch mit Ihrer gütigen Permission,« setzte er flüchtig lächelnd hinzu, rückte sich einen Stuhl heran und ließ sich nieder, »wir wollen die Unterredung führen wie weltlich und geistlich Amt miteinander am besten verkehrt: in gegenseitiger Achtung.«
Verwundert, ja entsetzt ließ sich Gnaden der Herr Landrichter in seinen Lederstuhl sinken und murmelte Unverständliches vor sich hin. Solches Gebaren war ihm wirklich noch niemals vorgekommen.
»Herr Landrichter, was gedenken Sie über die Weißmännischen Kinder zu beschließen?« fragte Justus.
143 »Gedenken – zu beschließen?« kam's von den Lippen des andern. »Hat ja doch hochpreisliche Landesregierung allbereits ihr Wort gesprochen, Herr Pfarrer!«
»Wohl nicht das letzte Wort, so Gott will,« sagte der Pfarrherr. »Sie wissen, daß die evangelische Gemeinde sich in ihren heiligsten Rechten gekränkt fühlt und fest entschlossen ist, diese Rechte mit allen erlaubten Mitteln zu verfechten.«
»Der Kuckuck soll's holen, das ganze Zeug! Bomben und Granaten drauf! Die elende Schererei mit den Kröten! Könnten wegen meiner türkisch werden. Krieg' halt keine Ruh' mehr vom Morgen bis zum Abend,« polterte nun Gnaden der Herr Landrichter, als wäre er froh, seinem Grimm doch irgendwie Luft machen zu können. – »Herr Pfarrer,« fuhr er dann nach einer Pause mit weicher Stimme fort und faltete die Hände über dem feisten Bauche, »nehmen Sie's nicht übel, ich bin vorhin etwas furios gewesen. Geschäftliche Ueberlastung, Verdrießlichkeiten vom Morgen bis zum Abend. Nichts für ungut! Ich denke, wir können ein ruhiges Wort miteinander reden.«
»Nur aggreabel,« antwortete der Pfarrer höflich.
»Na, sehen Sie! Habe stets Hochachtung empfunden vor Ihnen, Herr Pfarrer. Im Vertrauen: Sie besitzen Einfluß, der große Haufe läuft Ihnen blind nach – weiß es wohl. Könnten wir uns nicht gütlich einigen über diese konträre Sache?«
»Gewiß, Herr Landrichter. Ich proponiere Ihnen, lassen Sie die Kinder nach wie vor ungehindert in die evangelische Schule gehen, bis 144 diese konträre Sache definitiv entschieden ist,« sagte der Pfarrer mit Ruhe.
»Um Gottes willen, Herr Pfarrer, ich bitte Sie, ganz falsch verstanden, ganz falsch! Strikter Befehl eingelaufen. Sind ja auch davon in Kenntnis gesetzt! – Nein, ich denke an etwas andres.« Vertraulich neigte er sich nach vorn. »Herr Pfarrer, ich glaube, Sie haben sich verrechnet.«
»Verrechnet?« Justus sah den dicken Herrn verwundert an.
»Freilich, Herr Pfarrer,« sagte der andre zutraulich. »Kann mir's ja denken – Sie wollen sich eifrig erzeigen, sich gut anschreiben beim Dekanat und hochpreislicher simultanischer Kirchendeputation, wollen vorwärts kommen, sind jung – ich verstehe alles, ich bin auch jung und strebsam gewesen. Aber lassen Sie sich raten, Sie sind ein Auswärtiger, Sie kommen aus einer andern Luft. Ueberall ist die Luft anders, in jedem Lande. Hierorts bewirkt Ihr Amtseifer das konträre Gegenteil Ihrer Absichten. Sehen Sie, Herr Pfarrer, die Luft, die Luft muß einer vor allem prüfen – prüfen Sie die Luft, lassen Sie sich raten von einem alten Praktikus.«
»Herr Landrichter, ich sehe, Sie sind vollkommen im Irrtum,« unterbrach ihn Justus und suchte nach Worten.
»O bitte, Herr Pfarrer, wir sind ganz unter uns,« sagte Gnaden der Herr Landrichter mit fettem Lächeln. »Jeder ist sich selbst der Nächste. Glauben Sie in der That, mir läge persönlich irgend etwas an der Konversion besagter Weißmännischer Nachkommenschaft? I bewahre!«
145 »Ich dächte doch, die religiöse Ueberzeugung eines Menschen ist keine Kleinigkeit!« rief Justus erregt.
Gnaden der Herr Landrichter zog die Schultern in die Höhe. »Gewiß nicht, habe privatim auch meine festen Ueberzeugungen, sozusagen; aber etwas aufgeklärt ist man ja doch trotz seines amtlichen Charakters. Und sagen Sie, Herr Pfarrer, im Vertrauen, wie kann einer beim gemeinen Volke von Ueberzeugungen reden? Zum Lachen! Und was ist's im Grunde für ein Unterschied, ob der Görg und die Nandel und das Lieserl, oder wie sie sonst heißen, katholisch oder lutherisch herumlaufen, katholisch oder lutherisch lesen und schreiben und rechnen, katholisch oder lutherisch ihre Jungen kriegen, katholisch oder lutherisch ihre Mitmenschen beim Kuhhandel übers Ohr hauen, katholisch oder lutherisch –«
Justus erhob sich: »Wenn sie nur brav Steuer zahlen und unterthänigst ruhig dahinleben! Ich verstehe, Herr Landrichter, aber ich denke, wir beide werden uns dennoch auf diesem Gebiete niemals verstehen. Ihnen ist der Mensch eine Nummer in Ihrem Familien- und Herdstättenregister, ein mehr oder weniger unterthäniges, mehr oder weniger besteuerbares Objekt, und Sie denken geringe davon. Mir aber ist der Mensch das mit unsterblicher Seele begabte, zwar durch Sünde und Tod und durch so manches andre geknechtete, aber zur persönlichen Freiheit bestimmte, durch Christum mit Gott versöhnte, zur ewigen Seligkeit berufene Geschöpf. Und dem nach sind mir, damit ich bei Ihren Beispielen bleibe, der Görg und die Nandel und das Lieserl höchst wichtige 146 Persönlichkeiten, viel wichtigere Persönlichkeiten als so manche andre im Lande, die selber für sich sorgen können. – Warum sage ich Ihnen das alles? Ich muß es Ihnen dennoch sagen. Sie irren sich, das Meinige suche ich nicht. Suchte ich das Meinige, so legte ich mein Gewissen zwischen die Blätter hochpreislicher Generalien und Dekrete, tränke mein Abendbier und schliefe den Schlaf des Gerechten. Suchte ich das Meinige, dann wäre ich persona gratissima. Ich soll nach oben schauen – o ja, ich schaue nach oben gleich Ihnen; aber zwischen Ihrem ›oben‹ und meinem ›oben‹ klafft der Abstand einer Himmelshöhe.« Justus hielt inne, und seine Augen glühten: »Suchte ich das Meinige, dann wäre ich das, was mich heute Ihr Schreiber genannt hat.«
Der Richter stand längst wieder auf den dicken Beinen. »Hat er sich – ungebührlich – benommen?« stotterte er.
»Ein Sauhirt wäre ich, Herr Landrichter, mit solcher Weltanschauung,« grollte Justus. »Ich empfehle mich gehorsamst!«
Die Thüre schloß sich hinter der hohen Gestalt.
Anastasius Alois Binkerl trat auf leisen Sohlen in die Stube und räusperte sich zornig.
»Wer ist nun hier Richter gewesen?« zischte er. »Euer Gnaden haben meine, das heißt des Amts Sache miserabel vertreten. Und es liegt doch, sollte ich meinen, offenkundige Amtsehrenbeleidigung vor.«
»Laß Er mich in Ruhe!« brummte der Richter und trat ans Fenster.
147 Binkerl folgte ihm.
»So werde ich mich wohl selbsten meiner Haut wehren und amtlichen Bericht aufsetzen müssen?« fragte er zornig.
»Wie kann Er's beweisen?« fragte der andre hochfahrend. »Man wird's Ihm einfach nicht glauben.«
»Oho – nicht glauben? Wer war bei den Realinjurien? Die Kinder, die wird man verhören. Und daß er mich einen kurfürstlichen Strolch und Banditen genannt hat, unter vier Augen auf der Stiege draußen« – Binkerls Augen funkelten –, »das beschwör' ich, dann ist's gleich fertig.«
»Thu Er, was Er will, mich laß Er in Frieden!« sagte Seine Gnaden.
Noch näher kam Binkerl und griff langsam nach dem Handgelenke des Richters, umspannte es fest mit seinen kralligen Fingern und murmelte: »Freilich, was ich will; aber Sie müssen mir helfen; denn ich weiß, was ich weiß, und Sie wissen, was ich weiß.«
Das feiste Gesicht Seiner Gnaden war seltsam grau geworden, und seine andre Hand suchte die Krallen von seinem Handgelenke abzustreifen. »Laß Er diese ungeeigneten Bemerkungen, diese unerfindlichen Anspielungen auf unnachweisbare Vorgänge längst verflossener Zeit, Binkerl. Er könnte Ungelegenheiten bekommen!«
Der Schreiber lachte höhnisch: »Wer?« Dann ließ er los und trat zurück. »Nur immer Klarheit zwischen uns zweien, Gnaden Herr Landrichter! – Die Weißmännin ist vorgeladen und wartet draußen.«
148 »Wer hat sie vorgeladen?« fragte der Richter, und seine Züge waren schlaff.
»Ich,« antwortete Anastasius Alois Binkerl mit Würde und ging zur Thüre. Dort wandte er sich: »Es ist jetzt Ernst vonnöten, Herr Landrichter.«
Das Weib stand in der Stube.
»Gerichtschreiber, bring Er den schriftlichen Befehl der hochpreislichen Landesregierung!« schrie der Richter und erhob sich.
Mit tiefer Verbeugung überreichte Binkerl das Schreiben, und der Richter befahl: »Les Er's vor!«
Binkerl las, und das Weib stand regungslos.
»Hat Sie's verstanden?« fragte der Richter.
»Ja,« kam's von den bleichen Lippen.
»Und wird Sie die gnädigste Regierung respektieren? Wird Sie die Kinder gehorsamlich in die katholische Schule gehen lassen? Antwort!«
Das Weib schwieg.
»Antwort,« donnerte Seine Gnaden. »Meine Zeit ist kostbar.«
Da atmete sie tief aus: »Ich respektiere die gnädigste Regierung. Aber ich möcht' den Menschen sehen, der mir so 'was zumuten kann. Leib und Leben setz' ich dran. Meine Kinder werden nicht katholisch.«
Der Richter tobte, der Schreiber zischte. Das Weib stand unbeweglich. Zuletzt befahl Seine Gnaden, daß man sie in den Turm werfe und mit Ketten an die Schergenbank lege. Wortlos ging das Weib. Auf dem Weg über den Schloßhof schüttelte sie nur immer den Kopf, nur immer den Kopf.
*
149 Von Mund zu Mund ging die Nachricht: »Man hat die Weißmännin eingesteckt!« Aus allen Häusern kamen die evangelischen Bürger und versammelten sich auf dem großen Marktplatz.
Es war ein lauwarmer Sommerabend, den Häusern entlang blühten die Oleanderbäume, von den Fenstern ringsumher glühten die roten Geranien hinaus in die Dämmerung. In großen schwarzen Haufen standen die Männer und besprachen murmelnd das Ereignis. Auf den Bänken vor den Hausthüren saßen die Frauen und flüsterten. Ganz still verhielten sich die Kinder.
Da öffnete sich das Rathaus, und der Bürgermeister Martin Rampoldt erschien mit dem evangelischen Pfarrherrn auf der Freitreppe.
Von Gruppe zu Gruppe flogen kurze Rufe – die Häupter entblößten sich, und lautlos standen die Bürger.
Rampoldt trat vor und sprach mit erhobener Stimme: »Ihr lieben Mitbürger und Glaubensgenossen! Jeder von uns weiß, warum ihr euch bei sinkender Nacht hier versammelt habt, und die Sache der um ihres Glaubens willen verfolgten Weißmännin ist unser aller Sache.«
»Das ist sie, das ist sie, recht hat er!« kam's da und dort aus dem Haufen.
»Und wir werden diese Sache vertreten mit aller Kraft,« fuhr der Bürgermeister fort. »Der Herr Pfarrer und ich begeben uns sogleich aufs Richteramt und ersuchen um Freigabe der Inhaftierten.«
»Bravo!« kam die Antwort zurück. »Der Herr Bürgermeister und der Herr Pfarrer, sie leben vivat hoch!«
150 Brausend gingen die Rufe über den Platz. Die Gefeierten aber winkten aus Leibeskräften ab, und Rampoldt sagte mit lauter Stimme: »Unsre liebwerten Mitbürger aber bitten wir, sie mögen vor allen Dingen Besonnenheit an den Tag legen. Ihr wißt, daß jede eigenmächtige Gemeindeversammlung strikte verboten ist, und daß unsre Feinde fort und fort auf jeden unsrer Schritte lauern. Deshalb ersuche ich die Bürgerschaft, daß der Marktplatz in aller Ruhe und Ordnung geräumt werde.«
»Auch ich,« rief der Pfarrherr, »verbinde meine Bitte mit der Bitte des Herrn Bürgermeisters. Wir wollen uns gehorsam beugen unter das Gesetz, dann können wir auch mannhaft kämpfen für unser Recht.«
»Unser Recht, unser Recht!« riefen sie ringsumher. Und Weißhäupel, der Schmied, stieg auf einen Prellstein und begann: »Wir sind der Obrigkeit gehorsam, aber wir bleiben stehen, bis die Herren aus dem Richteramt zurückgekommen sind. Wir halten keine Gemeindeversammlung, aber stehen bleiben wir auf unserm Marktplatz; das kann uns niemand verwehren. Unordnung wenn einer anzetteln will, dann jagen wir ihn fort – aber stehen bleiben wir –«
Lautlos horchte die Menge.
»– könnt' ja sonsten am End' dahin kommen, daß man uns auch noch Pfarrer und Bürgermeister aufhebt und ins Loch steckt,« vollendete der Schmied.
»Alle gehört ihr ins Loch, ihr Lumpenkerle!« brüllte es von der Schloßgasse her, und eine unförmliche, dunkle Gestalt drängte sich in den 151 nächsten Haufen. »Platz da für die Obrigkeit, auseinander!«
Eine Gasse bildete sich vor dem Richter, der langsam durch die murrende Menge gegen das Rathaus herantorkelte und mit seinem Degen in der Luft fuchtelte. Weißhäupel aber rief: »Habt ihr's gehört, Mitbürger? Lumpenkerle nennt er uns. Wer läßt sich's gefallen?«
Ein drohendes Gemurmel ging über den Platz. Herr Rampoldt aber raunte dem Pfarrherrn zu: »Er ist wieder einmal betrunken. Gott steh' uns bei, es giebt ein Unglück!« Dann rief er, so laut er rufen konnte: »Mitbürger, hört auf mich! Achtung vor der Obrigkeit!« Seine Stimme verhallte im Tumulte. Auf einmal aber ward es sehr still.
Der Pfarrherr wollte über die Freitreppe hinunter, doch Herr Rampoldt hielt ihn am Arme fest und raunte gebieterisch: »Sie bleiben da, Herr Pfarrer; das ist weltlich Ding und geht mich an!« Zögernd stand Justus, dringend bat der Bürgermeister: »Wenn den Weißmännischen überhaupt noch etwas helfen kann, so müssen Sie aus dem Tumult zurück ins Rathaus!« Justus nickte und ging langsam in die Thüre.
Inmitten des Haufens aber begann der betrunkene Richter zu toben: »Amtsehrenbeleidigung – meinen Hut vom Kopf geschlagen –«
Rampoldt bahnte sich einen Weg durch die Menge, die den Rasenden scheu umstand. »Mißverständnisse, Herr Landrichter,« rief der Bürgermeister, bückte sich und hob den Dreispitz vom Boden; »namens der Bürgerschaft bitte ich um Vergebung.«
152 »Meinen Hut vom Kopf – meinen Kopf vom Hut – meinen Degen zerbrochen,« tobte der Richter mit lallender Zunge.
»Er hat ihn selber vom Kopf herunterexerziert,« rief einer aus dem Haufen.
»Was braucht er uns Lumpenkerle heißen!« schrie ein andrer.
»Ruhe!« donnerte Herr Rampoldt.
»Ich bin Zeuge!« rief eine schrille Stimme, und Alois Anastasius Binkerl trat aus dem Haufen neben den Richter. »Der Bürgermeister und der Pfarrer haben gehetzt, der Weißhäupel hat Gnaden dem Herrn Landrichter den Hut vom Kopf geschlagen –«
»Ich bin ja am andern End' draußen gewesen, Lügengeschichten!« brach der Schmied los.
»Ruhe!« donnerte Herr Rampoldt.
»– und der Ulrich Hutzler hat Gnaden dem Herrn Landrichter seinen Amtsdegen zerbrochen,« vollendete Binkerl.
»Nicht wahr ist's, ich –« rief der angeschuldigte Bürger. Herr Rampoldt aber schrie: »Ruhe, um Gottes willen! Es wird alles untersucht werden. Ich bitte und befehle, daß die Bürgerschaft den Markt räume!«
Murrend ging die Menge auseinander, Herr Rampoldt griff dem fluchenden Richter unter den Arm und zog ihn mit ehrerbietigen Worten in die Schloßgasse, den Hügel hinan. Anastasius Alois Binkerl aber bückte sich und hob die Stücke des zerbrochenen Degens auf. »Corpus delicti,« murmelte er; »jetzt sind wir auf dem rechten Weg: Aufruhr – kriminelle Untersuchung – Kosten über Kosten – Sporteln. Und wie einen 153 Brummkreisel habe ich Seine Gnaden in den Haufen gepeitscht.«
*
Noch in der Nacht kam Rampoldt mit mehreren Bürgern und drang in den Pfarrherrn, er solle sich eilig nach Regensburg aufmachen und die Sache persönlich dem Corpus Evangelicorum des Reichstags vortragen. Hier im Orte könne er den Weißmännischen Kindern gar nichts mehr nützen, dort aber wäre doch noch eine Möglichkeit dazu vorhanden.
Justus ging mit schwerem Herzen an die Notwendigkeit. Lag ja doch die Zukunft in drückender Dunkelheit da; jeder Tag konnte neue Verwicklungen bringen. Lange sträubte er sich. Endlich sagte er mit einem Blick auf sein Weib, das still am Fenster saß und zum Sternenhimmel emporschaute: »Dann wärst ja du ganz schutzlos, Maria!«
Sie wandte sich und schüttelte das Haupt: »Ich habe nur einen einzigen Gedanken – daß diese Kinder nicht geärgert werden.« Sie erhob sich. »O Martin, o ihr Herren, die ihr da steht, es ist ein furchtbar Ding um solche Anfechtung. wie ich sie jetzt immer vor Augen habe. Hättet ihr heute abend den Knaben Christoph gesehen, wie ich ihn sah! ›Mutterl, Mutterl, Mutterl,‹ murmelte er unzählige Male, und die Thränen liefen ihm über die Wangen. Dann saß er ganz ruhig und stöhnte nur zuweilen. Ich versuchte mit ihm zu reden, sprach ihm Trost zu, sagte, er solle sich nicht fürchten. ›Ich fürcht' mich nicht für mich,‹ antwortete er, ›aber mein Mutterl hält's nicht aus.‹ ›Unser Herrgott wird ihr 154 beistehen,‹ antwortete ich; er weinte still in sich hinein. Dann begann er aufs neue: ›Frau Pfarrer, ist das auch recht, einen so zu martern? Ich schäme mich, weil ich mich da bei Ihnen verberge – hinaus sollt' ich, ganz laut sollt' ich rufen. Und das getrau' ich mich nicht. Wer ist jetzt bei meinen Schwestern? Die werden halt zuletzt doch in die katholische Schul' gehen; mit Kleidern und Zuckerstückeln wird man ihnen den Weg weisen. Die sind noch zu kindisch und lassen sich verlocken. Wenn sie nur auch da bei Ihnen wären!‹ – Ich antwortete ihm, daß wir sie hatten holen wollen, aber sein Vater habe sie nicht herausgegeben. Da flüsterte er vor sich hin: ›Der Vater, ach, der Vater!‹ Auf einmal aber stand er vor mir und sah mich ganz entsetzt an: ›Frau Pfarrerin, wie kann mich die Obrigkeit zum Lügen zwingen? Ich will nicht katholisch werden – lieber sterben als so lügen!‹ – ›Solange wir können, sorgen wir für dich, Christoph,‹ sagte ich und mußte weinen. – ›O, Sie sind gut, aber Sie können mir auf die Länge auch nicht helfen; wer kann gegen die große Gewalt?‹ antwortete er. – Martin, thu, was du kannst; mir will's das Herz zersprengen.« Frau Maria stand mit gefalteten Händen. Die Männer schwiegen, und der eine und andre fuhr sich heimlich über die Augen.
Justus aber sagte nach einer Weile: »Ich gehe morgen nach Regensburg.«
*
Anastasius Alois Binkerl hatte viele Geschäfte in den nächsten Tagen: Bogenlange Berichte liefen nach der Hauptstadt zu hochpreislicher 155 Landesregierung, Berichte, als wäre ein kurfürstlicher Beamter in Grenzburg seines Lebens nimmer sicher bei Tag und bei Nacht. Und der Stein rollte gar zu Thal.
Eine Kommission kam in den Markt – vornehme Herren mit steifen Zöpfen, Schreiber mit wichtigen Gesichtern, ein ganzer Troß.
Bei Leibesstrafe durfte fortan kein Bürger ohne Erlaubnis den Markt verlassen. Zuerst verhörte man Binkerl über seine Beschwerden gegen den evangelischen Pfarrer. Martin Justus wurde in absentia seines Dienstes bis auf weiteres enthoben, seine Papiere wurden versiegelt. – Man führte die Weißmännin aus dem Turm und verhörte sie. Das schwache Weib blieb standhaft auf ihrer Rede, sie wolle ihre Kinder nicht katholisch erziehen lassen. Man brachte sie wieder zurück in die Haft. – Dann wurden die Bürger verhört, immer zwei und zwei; doch es war nicht herauszubringen, wer dem Richter den Hut vom Kopf geworfen, noch wer ihm den Degen zerbrochen hatte. Da gab Binkerl eidlich zu Protokoll, Ulrich Hutzler sei der Verbrecher.
Zwanzig Tage inquirierten und protokollierten, ratschlagten und berichteten die hochmögenden Herren, und der katholische Kronenwirt schrieb eine große Rechnung auf seine Tafel. – Die Kommission rüstete sich zur Abfahrt, die Schreiber schnürten ihre Aktenbündel.
Da weigerte sich die evangelische Bürgerschaft, die Zeche von vierhundertfünfzig Gulden zu bezahlen. Die Herren drohten, die Bürger blieben fest. »Wir haben keine Kommission bestellt, also bezahlen wir auch keine!« sagte Weißhäupel, der Schmied, auf 156 offener Gasse, und nach etlichen Stunden lag er im Turm.
Abermals bezogen die Herren den Sitzungssaal, und mit wichtigen Mienen lösten die Schreiber von den Aktenbündeln die Schnüre.
Ein großer Bericht ging zur hochpreislichen Landesregierung, und die Landesregierung genehmigte die Exekution.
Unter Trommelschlag rückten aus dem nächsten Städtlein fünfzig Soldaten und bezogen Quartiere bei den evangelischen Bürgern des rebellischen Marktes.
Die gesamte Bürgerschaft blieb fest, gab der Soldateska, was ihr gebührte, und bezahlte keinen Pfennig von den geforderten Kosten.
Da drang die Staatsgewalt ein in die Ställe der Evangelischen, zog das beste Vieh heraus, ließ es schätzen und veranstaltete eine öffentliche Versteigerung. Zähneknirschend standen die Besitzer unter ihren Hausthüren und auf dem Marktplatze. Aber es kam kein einziger Käufer, nicht Protestant, nicht Katholik. Die Kommission beschloß, die ganze Herde durch den Ratsdiener und zwei Schergen nach der Landeshauptstadt treiben zu lassen. »Dort werden unsre Ochsen zu Regierungsräten gemacht,« spottete einer der Viertelmeister, und nach etlichen Stunden lag auch er im Turme.
Die gute alte Zeit war reich an Mitteln, den blöden Verstand der Unterthanen zur Raison zu bringen; die gute alte Zeit steht vor unsern sinnenden Augen als ein hundertköpfiges Scheusal, unter dessen Klauen sich Hunderttausende in dumpfer Abhängigkeit wanden. Erzählt eine liebe Großmutter zwischen Lichten von der guten alten Zeit, 157 dann duftet es wie ein Sträußlein vertrockneter Veilchen; und wenn wir die Chroniken der Vergangenheit befragen über das Wesen der guten alten Zeit, dann riecht sie nach Schweiß und Blut, die gute alte Zeit. –
Die Kommission reiste ab, das Militär marschierte aus dem Thore, die Weißmännin wurde aus dem Turme entlassen. Sieben Wochen hatte die Frau schmachten müssen. Sie sprach kein Wort, sie schüttelte nur immer den Kopf, als vermöchte sie das ungeheure Unrecht nicht zu fassen und zu begreifen, und eilig ging sie über den Marktplatz in die Hütte am Thore, in ihren verwahrlosten Haushalt.
Ihr Mann saß auf seinem Platze und nähte, die jüngeren Kinder waren bei Nachbarleuten. Der Schneiderhannes ging herab und reichte ihr die Hand mit verlegenem Gesichte. Sie aber sah ihn wortlos an, daß er die Augen niederschlug und aus der Thüre schlich. Von allen Seiten kamen die Bürger, und man brachte ihr auch die Kinder. Während die Stube nicht leer wurde bis zur Dunkelheit, saß sie auf der Bank am Fensterlein; das jüngste Kind hatte sie auf dem Schoße, die Mägdlein standen still neben ihr. Man spendete ihr viele liebreiche Worte – sie saß wortlos, starrte vor sich hin und schüttelte nur immer den Kopf. Spät abends kam die Pfarrfrau mit dem Knaben Christoph auf kurze Zeit. Da weinte das Weib.
Am nächsten Morgen wollte der Abtrünnige die beiden Mädchen zur katholischen Schule führen. Da lief ihm sein Weib nach und umklammerte ihn, daß er keinen Schritt weiter gehen konnte. 158 Die Kinder heulten, und eine große Menge Volks sammelte sich an. Ratlos stand der Schneider und suchte sich loszumachen. Erst als das Weib sah, daß die Kinder wieder in der Hütte waren, ließ sie ab und ging ihnen kopfschüttelnd nach. Dann kam sie und führte die Kinder über den Marktplatz zur evangelischen Schule.
»Was kann unsereiner da thun?« sagte der Schneiderhannes zu etlichen Katholiken, die zugesehen hatten.
»Einen schweren Stein nimmst, Hannes, und gehst ins Wasser, wo's am tiefsten ist,« brach ein Evangelischer los.
Hannes that, als hörte er die Rede nicht. »Mit meinem Weib ist's nimmer richtig,« raunte er den Katholischen zu; »ich krieg' das Grausen, wenn ich sie anschau'.«
*
Wer kann gegen die große Gewalt? Ja, Knabe Christoph, du hast recht – wer kann gegen die große Gewalt?
Martin Philipp Justus hatte zu Regensburg eine gnädige Aufnahme gefunden, seine Beschwerden waren beim Corpus Evangelicorum mit Teilnahme angehört, lange Protokolle aufgenommen, tröstliche Versprechungen erteilt worden. Aber gar bald hatte der Pfarrherr mit scharfem Blicke die Ohnmacht der Herren durchschaut, hatte erkannt, daß hier zwar der Wille, aber kein Weg vorhanden war. Getreu seinem Worte verfaßte er noch eine freimütige Schrift und gab sie in Druck. Dann reiste er ab.
Etliche Tage nach seiner Heimkehr rückte abermals Militär in den Markt, der Richter befahl 159 die gesamte Bürgerschaft aufs Rathaus, und Anastasius Alois Binkerl verlas mit schreiender Stimme das Urteil der hochpreislichen Regierung. Es lautete:
1. Die Weißmännischen Kinder sind unweigerlich in der katholischen Religion zu erziehen. Sollte die Mutter in Halsstarrigkeit beharren, so sind die Kinder nach der Hauptstadt zu bringen und dortselbst im Waisenhause zu behalten. Das evangelische Pfarrweib wird unter Androhung scharfer Bestrafung beauftragt, den Knaben Christoph binnen drei Stunden herauszugeben.
2. Der Bürgermeister Rampoldt ist seines Amtes entsetzt. Ebenso sind an Stelle der bisherigen evangelischen Viertelmeister neue Viertelmeister zu wählen.
3. Weißhäupel, der Schmied, Ulrich Hutzler und Viertelmeister Schwarz werden wegen Aufreizung, Real- und Verbalinjurien auf vier Wochen in den Turm gesetzt, Ulrich Hutzler hat außerdem vor versammelter Bürgerschaft dem Richter kniefällig Abbitte zu leisten.
4. Je ein Achtel der Kosten haben Rampoldt, Weißhäupel, Hutzler und Schwarz zu bezahlen, der Rest wird durch eine Kopfsteuer von den Evangelischen erhoben.
5. Der Pfarrer Martin Justus wäre zwar in Ansehung seiner an den Tag gelegten aufrührerischen, ungeistlichen Gesinnung von Rechts wegen zu kassieren. In Anbetracht seiner Jugend und früheren guten Aufführung läßt man aber Gnade für Recht ergehen, enthebt ihn seines Dienstes in Grenzburg und überträgt ihm die geringste Stelle, Engloch im Gebirge. 160
6. Der Schneider Johann Weißmann ist mit einem halben Tag Haft zu bestrafen und dann mit Vermahnung guten Wandels zu entlassen.
7. Der Richter Ignaz Müller und Gerichtschreiber Anastasius Alois Binkerl werden in Hinsicht auf den bewiesenen Eifer, die Besonnenheit und Amtstreue allergnädigst belobigt.
Wer kann gegen die große Gewalt? –
Ein wundervoller Herbstmorgen lag auf dem nordgauischen Lande, hell und klar, und über die sonnige Hochebene schwankten die Wagen, beladen mit dem Hausrate des Pfarrherrn. Das Unrecht hatte gesiegt, und das Recht räumte das Feld.
In der leeren Wohnstube stand Martin Philipp Justus und suchte das arme, gebrochene Weib zu trösten, das gekommen war, damit es ihn zum letzten Male sähe.
»Herr Pfarrer – das ist nicht zum Ertragen,« murmelte sie und starrte mit ihren thränenlosen Augen ins Leere. »Das war meine Sach', bis das Unglück gekommen ist; da hab' ich regiert, und jetzt hab' ich nichts mehr zu sagen.«
»Wo, gute Frau? Schaut nicht so trostlos drein!«
»Wo, Herr Pfarrer? An den Kinderbetten hab' ich regiert, abends, wenn alles still gewesen ist, mit Beten und Danken – und jetzt ist's aus, jetzt hab' ich nichts mehr zu sagen.«
»Wer kann's Euch wehren, Weißmännin? Hier ist der dreieinige Gott und dort ist er, und er kennt Eure Not und gedenkt Euer.«
»Ist eben doch so. Jetzt ist's aus, jetzt hab' ich an den Kinderbetten nichts mehr zu sagen. 161 Hat die Obrigkeit das Recht dazu, Herr Pfarrer? Sie hat's nicht, Herr Pfarrer.«
Des Pfarrherrn Augen schwammen in Thränen. »Gottvertrauen, Frau, Gottvertrauen! Alles auf ihn werfen! Was könnt Ihr besser machen durch Grübeln und Sinnieren? Und laßt Euch nicht verdrängen von dem Platz an den Betten, ja nicht!«
»Soll ich ihnen das ausreden, was sie tagsüber lernen?« fragte die Frau und schüttelte den Kopf.
»Mit dem Christoph könnt Ihr reden von unserm Glauben, der ist reif dazu. Die andern laßt in Gottesnamen,« sagte der Pfarrherr und seufzte. »In allen Stücken aber werfet Euer Vertrauen nicht weg, welches eine große Belohnung hat. Von Tag zu Tag betet, daß Ihr das Richtige treffet. Ihr werdet das Richtige treffen, Gott wird's Euch ins Herz geben. Und laßt Euch die Liebe Eurer Kinder nicht rauben. Kinderliebe ist schon zur Hälfte Gottesliebe.« –
Und das Weib ging langsam über den sonnenhellen Marktplatz dem Thore zu und in die enge Gasse und sann und sann, wie sie dennoch beten könnte mit ihren Kindern, dennoch beten, ohne fehlzutreten.
In die sonnige Landschaft hinaus fuhr das Wägelein, auf dem die Pfarrleute vor einem halben Jahre ihren Einzug gehalten hatten. Erst vor einem halben Jahre.
Von fernher grüßten die blauen Waldberge, klar und schön, und von Halm zu Halm liefen die weißen Fäden des Herbstes.
Hand in Hand saßen die Vertriebenen. Die Glocken klangen mächtig hinter ihnen, und die ganze 162 Gemeinde, Männer, Weiber, Kinder, Vornehme und Geringe, gab ihnen das Geleite. Es war anzuschauen wie ein langer, schwarzer Leichenzug.
Stundenlang ging der Zug hügelauf und hügelab, durch düstere Wälder, über helle Weideplätze, an schwarzbraunen Weihern vorüber, in tiefem Schweigen. Längst war das Glockengeläute verhallt.
Da kamen sie gegen Mittag über die Grenze und machten Rast auf dem Hügel, den die drei uralten Linden krönen, heute wie damals.
Der abgesetzte Amtsbürgermeister trat an den Wagen und sagte mit weithin vernehmbarer Stimme:
»So heißt's nun scheiden, Herr Pfarrer, Frau Pfarrerin, und ist uns nicht viel Zeit gegeben zum Abschiednehmen. In der Kirche hätte dieser Abschied geschehen, im Rathaussaale hätten wir uns versammeln sollen, man hat Ihnen die Kirche und uns das Rathaus versperrt. So stehen wir hier, jenseits der Grenze, mitten in Wäldern. Leben Sie wohl, Herr Pfarrer! Gold und Silber haben wir nicht – Sie würden's auch nicht nehmen. Aber unsre Liebe können wir Ihnen folgen lassen in die Ferne, und beten können wir für Sie. In Ehren wird Ihr Name bleiben bei uns, und Kindern und Kindeskindern werden wir erzählen von dem Pfarrherrn Martin Philipp Justus und seiner Ehefrau, die nicht das Ihrige gesucht haben, sondern getreu gewesen sind bis zum Ende.«
Martin Philipp Justus stieg aus und stellte sich unter eine breitästige Linde. Der Reif war nächtens über den Baum gegangen, und sachte fielen die gelben Blätter. Lautlos stand die Gemeinde, Väter hatten ihre Kinder auf den Arm 163 genommen, damit sie den Geistlichen zum letztenmal sähen.
Justus begann: »Ich will mich kurz fassen, und es ist wenig, was ich noch zu sagen habe, ehe wir scheiden. Das Unrecht hat gesiegt. Ist das eine neue Erscheinung? Wer wollte solches behaupten – seit Abel fiel unter Kains Streichen, spreitet sich das Unrecht in allen Landen. Wird das stets so bleiben? Wer wollte murren wider Gott und sagen ›ja!‹ –? Er lebt und lebt in Ewigkeit und steht hoch über dem Kampfe, der da tobt zwischen böse und gut, und spricht von Zeit zu Zeit nur das eine Wort ›bis hierher und nicht weiter!‹ Und dann legen sich die tobenden Wellen, und alles wird ganz stille. – Hoffnung ist vonnöten – den Anker werfet aus und betet, daß die Kette nicht reiße. – Wir sind unterlegen – wer wollte es leugnen? Wer aber weiß, ob wir nicht dennoch einen großen Sieg erfochten haben? Es hat das Unglück an manches Haus geklopft in den vergangenen Wochen, und mancher, der sonst gleichgültig die Hände gefaltet hat, ist auf die Kniee niedergedrückt worden. Man hat uns das Kleinod unsers Lebens anzutasten gewagt, und mancher hat im Kampfe erst das Gold dieses Kleinods funkeln sehen. – Aber die Kinder! sagt ihr, und es graut euch. Wehe der Welt der Aergernis halber, es muß ja Aergernis kommen; doch wehe dem Menschen, durch welchen Aergernis kommt! – Wir beugen uns demütig unter die gewaltige Hand Gottes und stehen auf und gehen unsre Wege weiter. Was wollen wir mit unsern schwachen Gedanken? Wir werfen unsre Sorgen auf ihn, der für uns sorgt. – 164 Uns zum Troste aber singen wir das Kampf- und Siegeslied unsrer Kirche und freuen uns, daß wir auch leiden dürfen um unsers Glaubens willen, gleich manchen unter den Vätern.«
Leise, da und dort, dann voller und voller ertönte es: »Ein' feste Burg ist unser Gott,« die Weiber trockneten ihre Thränen und fielen ein, die Männer hoben ihre Stimmen, als ginge es in die Schlacht, und als man zur dritten Strophe kam, brauste es über die herbstlichen Wälder wie Sturmesgrollen:
»– es soll uns doch gelingen.
Der Fürst dieser Welt,
Wie sau'r er sich stellt,
Thut er uns doch nicht,
Das macht, er ist gericht't,
Ein Wörtlein kann ihn fällen.«
Schluchzend drängten sich die Hunderte an den Wagen und drückten die Hände und küßten die Hände. Dann fuhr der Wagen langsam in die Tiefe des Waldes.
Da sprang ein Knabe aus dem Dickicht.
»Christoph, du?«
»Ich, Herr Pfarrer, Frau Pfarrerin.«
»Geh heim, Knabe, zu deiner Mutter!«
»Ich geh' schon heim, Herr Pfarrer,« stieß er hervor und atmete heftig. »Aber in fünf Jahren geh' ich auch über die Grenze!« – Seine Augen blitzten. – »Wer kann mich hindern, Herr Pfarrer? Auf die Wanderschaft geh' ich, in ein evangelisch Land. Dort arbeit' ich vom Morgen bis in die Nacht, bis daß ich meine Geschwisterte zu mir kann nehmen.«
»Knabe, Gott sei mit dir allewege!«