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*

XXXV.

Mit dem Schnee- und Regensturme am Sonntag hatte sich das bis dahin so köstliche Wetter völlig geändert. Es war selbst für die Jahreszeit ungewöhnlich kalt und rauh geworden; Regengüsse und heftige Winde kamen abwechselnd oder zusammen vom Süden her über den See gefahren; die grandiose Wand der Savoyer Alpen, an der man bei klarer Luft jede Höhe und Tiefe, jede Schlucht und Rinse erkennen konnte, dämmerte nur noch eben durch den Nebel und verschwand manchmal gänzlich, so daß man hätte meinen können, man habe vor sich das offene Meer. Und ordentlich wie mit Meereswogen kam es herangerollt und donnerte und prasselte zwischen den Ufersteinen und leckte und schäumte an der Quaimauer auf. Es war wie ein Wunder, daß sich die gefährdete Strecke zwischen der Promenade und dem Marktplatze noch immer hielt; und vom Morgen bis zum Abend konnte man an beiden Enden Leute stehen sehen, welche dem Schauspiele der wachsenden Zerstörung zuschauten und sich ihre Beobachtungen mitteilten; wie sich seit gestern die gewaltige Futtermauer wieder um einen – um zwei Fuß gesenkt, und wie die Brüstungsmauer sich abermals weiter nach außen gebogen und möglicherweise sich bereits von der Futtermauer getrennt habe, wodurch sich denn auch die Risse erklärten, die sich in dem Promenadendamm zeigten; und daß es, alles in allem, nur eine Frage der Zeit sei, wann die Katastrophe eintreten und Vevey für immer von seiner stolzen Promenade nichts als die traurigen Reste haben würde.

Für die Hoteliers war bereits eine andere Katastrophe eingetreten: das scharenweise Wegwandern ihrer Gäste, welche die trauliche Wärme nordischer Oefen oder das mildere Klima südlicher Breitengrade suchten.

Im Hôtel du Lac, das sich bis zuletzt einer vielbeneideten Frequenz erfreute – dank vielleicht der Anziehungskraft, welche die Anwesenheit der vornehmen englischen Gäste auf die britische Karawane ausübte – hat der Tod aufgeräumt und ist es auch sonst sehr leer geworden, trotz der unveränderten Vorzüglichkeit der Table d'hôte. Herr Delajoux hat seinen Chef noch nicht entlassen und versichert, daß er ihn den ganzen Winter hindurch behalten werde. Frau Sybold glaubt nicht daran. Herr Delajoux braucht das als keine persönliche Beleidigung zu nehmen: ihr Glaube an die Menschheit im allgemeinen ist zu tief erschüttert; dafür kann sie weder ein gutes Menu entschädigen, noch der erhöhte Respekt vor ihrer eigenen Klugheit. Ihr Mann hat ein Spatzengedächtnis und weiß es nicht mehr, oder will es nicht wissen, aber sie hat vom ersten Augenblicke gesagt, daß Lady Ballycastle eines schönen Tages der Schlag rühren werde, und sie frage nun, ob sie recht gehabt? Sie hat ihren Mann auf den Knieen gebeten, er solle sich doch um Himmelswillen nicht mit den Moors einlassen, die in Berlin gar keinen gesellschaftlichen Boden hätten, außer in ihren Malerkreisen, bei den reichen Bankiers und anderen Menschen ohne sittlichen Halt; und sie wünsche zu wissen, ob es sehr sittlich sei, wenn eine junge Frau mit ihrem Liebhaber durchgehe, und der Mann, anstatt sich um die unschuldigen Würmer zu kümmern, in die Berge laufe und die Elternlosen in der Obhut einer Person lasse, die sich Frau Baronin tituliere und dabei notorisch in ihrer Jugend Gänse gehütet habe, und zu ihrem Baron in einer Weise gekommen sein möge, im Vergleiche zu welcher die Art, wie ihre Frau Nichte zu ihren Liebhabern komme, noch überaus anständig zu nennen sei. Von dem alten Herrn Lerma wolle sie nicht weiter reden, obgleich sie für ihr Teil noch immer taktvoller fände, in einem Hotel plötzlich am Schlagflusse zu sterben, als vorher wochenlang halbtot umher zu spuken und die Mitgäste durch die schlimme Einwirkung, welche alles Unangenehme notorisch auf die Stimmung und den Appetit habe, in ihrer Kur zurückzubringen. Sie für ihr Teil fühle jetzt schon, daß die Kur völlig verpfuscht und das schöne Geld rein zum Fenster hinausgeworfen sei; aber eine Rücksicht auf sie werde sie niemals hindern, ihre Pflicht zu thun. Und für sie sei es klar vorgeschriebene Pflicht, ihren Mann einem Kreise zu entziehen, dessen unmoralischem Kontagium ein so leicht verführbares Wesen notwendig über kurz oder lang unterliegen müsse; ja, vielleicht bereits unterlegen sei, so daß sie sich für ihr Teil keineswegs wundern würde, wenn er sich, bloß um sie zu ängstigen, plötzlich als Krüppel erschiene, oder gleich tot bliebe, oder mit der ersten besten leichtsinnigen Fliege – und dergleichen fänden sich immer – durchginge. Das letztere solle er freilich nur probieren, und er werde jemanden von einer Seite kennen lernen, die ihm denn doch ganz neue Aufschlüsse über die Natur dieses Jemandes eröffnen dürften.

Monsieur et Madame Sybold de Berlin waren auf der schwarzen Tafel neben der Portierloge unten im großen Hausflur gelöscht, und so waren sie es in der Erinnerung derer, die zurückblieben. Selbst Herr Banse dachte eine Minute später nicht mehr an das merkwürdige Paar, das ihm zu so vielen guten Einfällen verholfen; er hatte eben den geschäftigen Kopf zu voll mit den Angelegenheiten anderer Personen, die ihn denn doch ein wenig mehr interessierten.

Ich weiß nicht, was ich ohne Sie anfangen sollte, sagte die Baronin.

Kunststück! sagte Herr Banse, über die Gläser des Pincenez, dessen er sich beim Schreiben und Lesen bedienen mußte, freundlich aufblickend – Kunststück, ein guter Kommis zu sein, wenn man einen solchen Prinzipal hat! Also wo waren wir stehengeblieben?

Es handelte sich aber eben wieder um eine Sache, die den Freunden in diesen drei Tagen schon viel Kopfzerbrechen gemacht hatte, neben all dem schweren Herzeleid, das sie durchlitten. Von dem alten Rechtsanwalte der Baronin waren Briefe über Briefe, Expositionen, ganze Aktenstücke eingelaufen. Die Gläubiger von Nannis Vater wollten es vorläufig nicht zum Konkurs kommen lassen, bei welchem sie infolge des momentan niedrigen Wertes des Grundbesitzes schlecht zu fahren fürchteten. Sie wünschten ein Moratorium, das aber wieder nicht zustandekommen konnte, wenn die Baronin nicht auf gewisse bedeutende Ansprüche, die sie noch aus der Erbschaft der Eltern an den Bruder zu machen hatte, verzichtete. Die Baronin war zu jeder Konzession bereit, fand aber in Herrn Banse, den sie um Rat fragte, und der sich mit erstaunlicher Leichtigkeit in der verwickelten Angelegenheit orientierte, den hartnäckigsten Gegner. Er war eben dabei, ihr noch einmal ausführlich das nutzlose und thörichte ihres Beginnens auseinanderzusetzen.

Wie die Sachen liegen, sagte er, bleibt für Ihren Bruder nicht ein Pfennig, und da er seiner Tochter weder das Haus in Berlin, noch das nachträglich angeschaffte luxuriöse Mobiliar verschrieben, geht auch das alles in die Masse, und Ihre Nichte ist mit ruiniert, um so mehr, als die greuliche Mißwirtschaft, welche die Leutchen getrieben, schon jetzt in den Rechnungen, die, wie Ihr Anwalt schreibt, von allen Seiten einlaufen, klar zu Tage liegt. Wenn es also, wie nach der schlimmen Aufführung der Dame unvermeidlich, zu einer gerichtlichen Scheidung kommt, und die Kinder der Frau, als dem schuldigen Teil, ab- und dem Manne zugesprochen werden, so wird er in Zukunft für dieselben in der vollsten Bedeutung des Wortes selber zu sorgen haben. Was dabei herauskommt? Nun, es ist ja möglich, daß er in sich geht, zumal wenn er erst einmal weiß, daß er nicht bloß die Frau, sondern auch das Vermögen verloren hat; aber, offen gestanden, ich traue ihm nicht über den Weg. Dann haben die armen Kinderchen niemanden, sich ihrer anzunehmen, als die gute Großtante – die brave Frau, die sich mit Schulden belastet hat, die Schulden ihres Gatten zu bezahlen, und noch mit für die eigenen Töchter sorgen muß, die nicht auskommen können, und jetzt auch noch für den ruinierten Bruder, und darum doch um Gotteswillen das wenige, was sie hat, und das für so viele reichen muß, hübsch zusammenhalten sollte.

Na, dann machen Sie's in Gottes Namen so! sagte die Baronin, die unterbrochene Wanderung durch das Zimmer wieder beginnend. Herr Banse schrieb den Brief an den Advokaten zu Ende, überlas ihn noch einmal, siegelte, adressierte und erhob sich.

So, gnädige Frau, sagte er, für heute wird sich wohl nicht mehr thun lassen, überhaupt nicht, bevor Herr Moor zurück ist, und wir eine Generalvollmacht von ihm haben. Dann mag er getrost nach Italien gehen und fleißig Geld verdienen. Glauben Sie denn an die Studienreise?

Fällt mir gar nicht ein, erwiderte die Baronin, er schämt sich nur, hierher zu kommen, und treibt sich derweilen irgendwo umher. Das geht ja wohl aus seinem Briefe hervor? Da lesen Sie selbst!

Die Baronin holte einen Brief aus der Tasche, welchen sie am Montag Morgen von Arnold aus Glion erhalten. Der Brief war bereits am Sonntag Abend geschrieben und in einer Handschrift, deren Entzifferung selbst dem geübten Auge des Herrn Banse einige Schwierigkeit machte. Er las:

»Gnädige Frau! Habe natürlich keinen Augenblick daran gezweifelt. An Warnungen hat es nicht gefehlt – schon in Berlin – vor Jahren. Nun hat sie endlich mit ihrem Liebhaber eine günstige Gelegenheit zur Flucht benützt, möglicherweise schon vorher geplant, hatte übrigens auch mit ihr gestern Nachmittag eine Auseinandersetzung. Sie suchen – sie! aber ich will auch nicht erst in Vevey erfahren, was ich schon weiß. Hätte ich es nie gesehen! Es wäre doch vielleicht noch alles gut – lächerlich! Die Kinder unter Ihrer gütigen Obhut, als sie es unter der meinen in dieser Verfassung würden. Ihrer gnädigen Zustimmung, bitte ich Sie nicht um eine Antwort; wüßte auch keine genaue Adresse. Darf jetzt nicht mehr müßig – ein großer Künstler – das sollte ja Sühnung sein! nach dem starken Schneefalle für den Maler sehr lohnend zu werden verspricht. Nur ein paar Tage Gnadenfrist. Sie wieder hören sollen von Ihrem dankbar ergebenen Arnold Moor.«

Herr Banse ließ den Brief sinken.

Nun? fragte die Baronin.

Herr Banse antwortete nicht. Die gute Frau hatte offenbar in dem Drange der auf sie einstürmenden Ereignisse den Brief nur sehr flüchtig gelesen, das Unzusammenhängende, Wahnsinnige desselben nicht begriffen, vielleicht auch nur auf die für sie gewiß fast unlesbare Handschrift geschoben. Jedenfalls hatte sie keine Ahnung von dem Zustande, in welchem der Unglückliche dies geschrieben haben mußte. Herr Banse fand die schlimmen Befürchtungen, mit denen er sich alle diese drei Tage hinsichtlich des Mannes getragen, vollauf bestätigt. Es mußten sofort Nachforschungen nach ihm angestellt werden. Aber er wollte das auf seine eigene Hand thun. Er durfte der vielgequälten Frau nicht auch noch dieses neue Leid zumuten.

Er legte den Brief aus der Hand, als ob derselbe zu keiner Bemerkung Veranlassung gebe, erhob sich und sagte:

Das wäre ja wohl alles für heute Morgen. So will ich mich beurlauben und sehen, wie es mit den Grabsteinen steht. Ich habe den Herrn Kapitän gebeten, mir auch seinerseits diese Kommission anzuvertrauen, da ich die Ihre für Herrn Lermas Stein doch schon übernommen. A propos! Es scheint mir, als ob unser liebes Fräulein ihrem Verlobten noch immer nichts von der Erbschaft mitgeteilt hat. Ich schließe das wenigstens aus einer Aeußerung des Herrn Kapitäns heute Morgen, der mich fragte, ob denn wegen der Hinterlassenschaft des Verblichenen, die doch zweifellos nicht unbedeutend, keine Schritte geschehen wären.

Und was haben Sie geantwortet?

Daß allerdings ein Testament existiere, dessen Inhalt mir auch, als einem der zwei Zeugen, bekannt sei, über das ich aber aus eben diesem Grunde bis auf weiteres nicht sprechen dürfe. Ich konnte ja nichts anderes sagen, da Fräulein von Seeburg die betreffende Mitteilung selbst machen will. Welche Gründe kann sie haben, das so lange hinauszuschieben?

Lieber Freund, sagte die Baronin mit traurigem Kopfschütteln, da fragen Sie mich zu viel. Ich habe sie seit den drei Tagen ja kaum gesehen und nicht drei Worte mit ihr gesprochen. Wenn das so fortgeht, werden wir einander so fremd werden, wie Pontius und Pilatus.

Ueber Herrn Banses Gesicht zuckte ein Lächeln, das aber sofort wieder verschwand. Er sympathisierte zu tief mit der vortrefflichen Frau, um ihr nicht nachfühlen zu können, wie schwer sie an dem Gedanken trug, das teure Mädchen für immer zu verlieren.

Herr Banse war gegangen, um sich bei Herrn Delajoux nach dem Atelier des Bildhauers zu erkundigen, welches in der Vorstadt liegen sollte, und in welches er sich direkt begeben wollte. Die Baronin war mit ihren Gedanken allein geblieben, und diese Gedanken waren noch viel schwerer, als der treue Freund ahnte, in der That so schwer, daß sie ihr, die sich denn doch im Ertragen von schlimmen Dingen einige Uebung zusprechen durfte, in manchen Momenten geradezu unerträglich schienen.

Und die sie dann von sich warf wie eine Last, unter der man erliegt, und für gar keine vernünftigen Gedanken erklärte, sondern für Grillen, Einbildungen, dummes, verrücktes Zeug, und vor allem für eine schändliche Versündigung an dem Mädchen, das, wenn von einem Menschen, so gewiß von ihr verlangen konnte, nicht verurteilt zu werden, bevor sie gesprochen.

Hätte sie doch nur gesprochen! Es war ja ganz unmöglich, daß sie etwas gethan, was sie der alten Freundin nicht sagen konnte, die sie so oft ihre zweite Mutter genannt! Und wenn sie das Allerschlimmste gethan, wenn sie da oben in der einsamen Hütte, allein in der wilden Nacht mit dem wilden Menschen, den sie einst geliebt hatte – so eine alte Liebe, die ist grausam zäh, und –

Großer Gott, da war sie schon wieder bei dem gräßlichen, unerträglichen Gedanken!

Nein! es konnte nicht sein! Es war alles von A bis Z erlogen von der gemeinen Person, der Pilz, welche mit ihrer würdigen Kumpanin, der Flinch, das Hexengebräu zusammengerührt und den Jean bestochen hatte, daß er die Geschichte mit dem Brief erzählte; und dann weiter gelogen hatte in Gemeinschaft mit Nanni und Vogel, denen das ja herrlich in ihren Kram paßte; und dann die Briefe, die Angela früher an ihn geschrieben haben sollte, selbst geschmiedet und der Lady in die Hände gespielt, die in ihrer Wut natürlich auf den plumpen Hamen anbiß, welcher ihr den letzten Rest von Verstand und das Leben zugleich entreißen sollte.

Und dann, was ja den Ausschlag gab – wie wenn das Korn naß in Hocken steht und es regnet in einem fort und man denkt, es wird alles auswachsen, und da kommt die liebe Augustsonne hervor und trocknet es im Handumdrehen, und man kann in zwei Reihen einfahren und hat die Ernte noch vor Nacht unter Dach und Fach – wie würde Angela, die Wahrhaftige, nicht längst gesprochen haben, nicht jetzt wenigstens sprechen und sagen: So und so, und ich kann dich nicht heiraten! Sie und heiraten, wenn sie nicht liebte! oder gar mit einer Schuld auf dem Gewissen, der heimlichen Liebe zu einem andern im Herzen –

Aber warum, warum um Gotteswillen war das arme Kind seit der Stunde wie ausgetauscht? und ging herum wie eine Träumende, und sprach, wenn sie je sprach, wie im Traum? Oder saß, immer so vor sich hinbrütend, in ihrem Zimmer oben, das sie seit ihrer Verlobung neben dem Salon ihrer Schwiegermutter bewohnte, und schrak, kam man zu ihr, auf, wie jemand, den man aus tiefem Schlaf erweckt? Sie hatte die Lady trotz alledem und alledem lieb gehabt – das war ganz gewiß – viel lieber wohl, als eine gewisse andere Person, die nichts hatte als ein leidlich gutes Herz und einen ziemlich gesunden Menschenverstand; – aber so zu trauern, wo sie doch nun ihres Kapitäns sicher war, wie des Amens in der Kirche, – des braven Menschen, der nun auch schon anfing wie ein Träumender herum zu gehen –

Es ist schon, als hätte man selbst seine fünf Sinne nicht mehr beisammen, sagte die Baronin, setzte ihren alten Hut auf und nahm ihr Wolltuch, um nach den Kindern zu sehen. Die fühlten die schwere Not, die ihre Eltern andern Leuten bereiteten, nicht in ihren Kopfkissen – Gott sei Dank! – und waren ganz glücklich, daß, nachdem ihr Fräulein über alle Berge, nun auch noch Mama »verreist« war und Papa irgendwo »arbeitete«. Jetzt spielten sie unter Gustings Aufsicht im Garten, und Gusting war ja soweit eine ordentliche Dirn, aber ein bißchen sehr dämlich, und ging auf jeden Unsinn ein, den die übermütigen Gören angaben.


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