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In der Fremde

Herr Feldmann war ein ferner Verwandter des verstorbenen Pfarrers Stein von Lärchenhöh. Er wohnte in der Stadt und hatte wenig mit seinen Verwandten auf dem Lande verkehrt; Artur hatte ihn nie gesehen. Da er sich aber als einziger Verwandter der Familie gezeigt hatte, war er zu Arturs Vormund ernannt worden.

Die Kinder in Schollen hatten eben den Frühstückstisch verlassen und wollten fröhlich nach der Schule gehen, Artur in ihre Mitte nehmend; denn der Vater hatte angeordnet, daß er von heute an mitgehen sollte; es würde ihm besser sein, wieder an eine Arbeit zu kommen.

Da fuhr ein Wagen vor das Haus. »Es ist Herr Feldmann«, sagte der Herr Pfarrer, »Artur soll dableiben«; dann ging er, den Angekommenen in seiner Stube zu empfangen.

Nach einiger Zeit wurde Artur auch dahin berufen. Herr Feldmann streckte ihm die Hand entgegen: »So, da wärst du ja, mein Junge, grüß Gott! Und was wirst du dazu sagen, daß ich gleich den Wagen mitbringe? Einsitzen, abfahren und lustig zur Stadt hinunter. Na, du sagst nichts? Kommt schon, kommt schon!« Herr Feldmann klopfte dem vor ihm stehenden Artur ermunternd auf die Schulter. Starr und stumm stand der Junge da und sagte kein Wort. »Nun, Herr Pfarrer«, fuhr Herr Feldmann fort, »wie gesagt, ich nehme Ihre Einladung zu einer Suppe an, und nachher reisen wir. Nur keinen langen Abschied! Nur tapfer, Artur! In der Stadt wird es dir schon gefallen. Nun geh noch zu deinen Spielkameraden. Wie gesagt, gleich nach Tisch wird eingestiegen.«

Artur ging. Er schlich hinters Haus unter den großen Apfelbaum, wo ihn niemand sehen konnte. Ja, jetzt lag der helle Sonnenschein auf allen Wiesen, und ringsum glitzerten die gelben Butterblumen so fröhlich wie immer. Artur hielt sich die Hände vor die Augen, – er konnte den hellen Sonnenschein nicht ertragen, er konnte nicht mehr fröhlich davon werden, nie mehr, dachte er. Nun war alles bestimmt, in kurzer Zeit mußte er fort für immer, für immer. Plötzlich hörte Artur aus vielen Kehlen und mit durchdringendem Geschrei seinen Namen rufen. Erschrocken verließ er sein Versteck und rannte der Haustür zu. Die Frau Pfarrer hatte alle fünf, die eben heimkehrten, aufgeboten, den Verschwundenen so bald als möglich herbeizurufen; denn für seine schnelle Abreise mußte noch mancherlei gerüstet werden. Diese gute Gelegenheit, einen furchtbaren Lärm zu machen, ließen sich die Kinder nicht entgehen und fanden es nun insgesamt ein wenig schade, daß Artur so schnell zur Stelle war. In kurzer Zeit war alles zur Abreise bereit, das Mittagessen eingenommen, und Artur bestieg den Wagen, in dem Herr Feldmann schon Platz genommen hatte. Auf die Glück- und Segenswünsche der Eltern und die lauten Abschiedsgrüße der Kinder konnte Artur kein Wort erwidern; er streckte wohl allen seine Hand hin; aber er konnte keinen Ton hervorbringen, so schnürte ihm das Leid und der Kampf mit den aufsteigenden Tränen die Kehle zu. Der Weg führte unter der Höhe hin, auf deren Gipfel die Kirche mit dem Pfarrhaus von Lärchenhöh zu sehen war. Artur schaute hinauf, nur wenige Minuten, und die Straße führte in den Wald hinein. Der Junge saß bleich und unbeweglich in seiner Ecke. Herr Feldmann hatte wohl mit seinen eigenen Gedanken zu tun; er saß längere Zeit schweigend in die andere Ecke gelehnt, schien sich dann aber plötzlich zu erinnern, daß er jemand bei sich hatte, den er ermuntern wollte. »Ja, ja, mein Junge, wie gesagt, in der Stadt wird dir's gefallen«, sagte er, sich vergnügt die Hände reibend, so daß man sehen konnte, es war ihm selbst lieb, aus dem abgelegenen Dorfe wieder in die Stadt zu kommen. »Da siehst du schöne Läden, Pferde, Soldaten, alles was das Herz erfreut, und obendrein noch einen Zirkus.« Von Zeit zu Zeit sagte Herr Feldmann wieder: »Nun sind wir bald dort, freu dich, Artur!« Wohl vier Stunden lang hatte die Fahrt gedauert, als jetzt die Türme und hohen Häuser der Stadt sichtbar wurden. Nun ging es über eine hohe Brücke, und nun rasselte der Wagen von Straße zu Straße über das Steinpflaster hin. Mit demselben erschütternden Gerassel kamen andere Wagen entgegen, fuhren andere nach; dazu war Herr Feldmann sehr lebhaft geworden, er rief unaufhörlich: »Sieh hier, Artur, sieh, die schönen Pferde! Sieh dort, das große Gebäude, das ist die Börse! Siehst du den Omnibus voller Menschen? Alles Fremde! Schau dorthin, siehst du die beiden Reiter? – Prachttiere! – Das ist die Hauptpromenade, sieh die schönen Anlagen! Dort ist die Konzerthalle!« Jetzt hielt der Wagen, und Herr Feldmann sprang heraus. Artur war völlig betäubt. Wie im Traum stieg er aus dem Wagen und folgte seinem Vormund ins Haus hinein und die Treppe hinauf. Hier öffnete sich eine Tür, eine große, magere Dame trat heraus und begrüßte Herrn Feldmann. »Hier, liebe Frau«, sagte dieser, »übergebe ich dir den Artur Stein. Du weißt, ich muß noch ausgehen und nachsehen, was heute im Geschäft vorgegangen ist. Unterhaltet euch gut, bis ich wiederkomme.«

Herr Feldmann ging.

Die Dame führte Artur ins Zimmer hinein. Sie wies ihm einen Platz am gedeckten Tisch an, setzte sich ihm gegenüber und begann, ihren Tee aufzugießen. Artur saß noch immer von all dem Lärm und Wagenrütteln betäubt und wie sinnverwirrt da, nahm mechanisch von allem, was ihm Frau Feldmann anbot, und ließ es dann auf seinem Teller liegen. »Du scheinst keinen Hunger zu haben«, sagte sie jetzt, ihm eine Tasse Tee vorsetzend.

»Nein«, war die Antwort.

»Du bist wohl gern nach der Stadt gekommen?« fragte sie nach einer Weile.

»Nein«, entgegnete Artur.

»So? Nicht? Warst du denn so gern in Schollen, wo mein Mann dich geholt hat?« fuhr Frau Feldmann fort.

»Nein«, gab Artur zurück.

»Auch nicht. Da du nun da bist, wirst du wohl wünschen, alles recht zu beschauen, was in der Stadt zu sehen ist«, meinte Frau Feldmann.

»Nein«, erwiderte Artur.

»Hast du es denn so eilig, nach dem Institut zu kommen?«

»Nein.«

»Aber ein wenig fortzukommen und etwas Neues zu sehen, darauf wirst du dich doch freuen?«

»Nein.«

»Du bist wohl ein wenig angegriffen von der Reise«, sagte Frau Feldmann jetzt aufstehend, um der etwas eintönigen Unterhaltung ein Ende zu machen, doch nicht ohne vorher noch anzufragen, ob Artur denn nicht von allem, was auf seinem Teller lag, noch etwas genießen wollte, und ein abermaliges »Nein« entgegenzunehmen, dem noch ein leises »ich danke« folgte. Frau Feldmann fand, das beste sei, daß Artur sich nun zur Ruhe begebe, und führte ihn nach einem ungeheuer großen Schlafgemach, wo zwei hoch aufgerüstete Betten im Hintergrund standen. Nun wünschte sie, Artur möge gut schlafen, morgen werde es sicher besser gehen; dann verließ sie das Zimmer.

Artur schaute sich ein wenig furchtsam in dem weiten Raum um. An den Wänden hingen große Bilder von alten Herren mit hohen weißen Kragen. Die Betten standen so weit hinten, daß es dort herum ganz dunkel war; das kleine Kerzenlicht leuchtete nicht so weit. Draußen auf der Straße war ein so schrecklicher Lärm von Menschenstimmen, Wagengerassel und Hundegebell, daß Artur sich eine Weile in eine Ecke duckte. Er dachte, es sei etwas Besonderes geschehen, vielleicht ein Unglück. Er lauschte ängstlich, ob er vernehmen könne, was es wohl sein möchte. Aber nun tönte es ganz lustig herauf, lautes Gelächter schallte weithin, und nun erklang ein Gesang von vielen Stimmen, Jauchzen und Rufen, und nun übertönte wieder das Wagenrasseln; jetzt war es so stark, daß die Fenster klirrten. So ging es immerfort, immerfort. Artur saß noch immer in seiner Ecke. Aber nun sah er, daß seine Kerze bald erlöschen würde; wie wollte er dann seinen Weg nach dem Bett dort hinten finden? Und dann müßte es auch gar unheimlich in dem Zimmer werden, wenn er im Dunkeln herumtappen und seinen Weg suchen müßte. Er stand schnell auf und war in kurzer Zeit soweit, daß er sein hohes Bett besteigen und sich unter die Decke stecken konnte. Aber sein Nachtgebet wollte Artur doch nicht vergessen. Nun aber stieg wieder so lebendig die Erinnerung an die Abende in ihm auf, da die Mutter an sein Bett trat, um mit ihm zu beten, daß er sich nicht mehr halten konnte und in ein Schluchzen und Weinen ausbrach, das so lange dauerte, bis ihm endlich vor Müdigkeit die Augen zufielen, während die Tränen noch naß auf seinen Wangen lagen.

Unterdessen war Herr Feldmann heimgekehrt und war erstaunt, Artur nicht mehr vorzufinden. Nun erzählte ihm seine Frau von ihrer sonderbaren Unterhaltung mit dem Jungen und wie sie gefunden, das beste sei, daß er schlafen gehe, da er doch zu allem nein sagte, was einen hohen Grad der Müdigkeit bei Kindern anzeige.

»Schon gut, schon gut, morgen wird's besser kommen«, meinte Herr Feldmann und teilte nun seiner Frau mit, daß er eben die Antwort erhalten habe, Artur könne in dem großen Institut bei Stuttgart, wohin Herr Feldmann geschrieben hatte, eintreten; ein Platz sei eben frei geworden. Es sei eine vortreffliche Erziehungsanstalt, die er selbst wohl kenne, so daß er mit vollem Vertrauen den Jungen dahin bringen könne. Einige Tage sollte aber Artur erst hier zubringen, um die Freuden der Stadt zu genießen; denn im Institut werde es dann heißen: lernen und stillsitzen.

Am andern Morgen, als Artur zum Frühstück gerufen wurde, traf er Herrn und Frau Feldmann allein am Tische sitzend; Kinder waren keine da, und kein Stühlchen oder Tischchen zeigte an, daß je solche dagewesen waren. Artur mußte sich neben seinen Vormund setzen, und nachdem dieser den Jungen ein paarmal ermutigt hatte, sich's recht schmecken zu lassen, begann er in fröhlicher Weise: »Nun machen wir unseren Plan für die nächste Zukunft, und du wirst sehen, wie schön nun dein Weg vor dir liegt. Erst geht nun meine Frau mit dir und zeigt dir soviel Schönes, daß du staunen wirst. Morgen habe ich selbst Zeit, da führe ich dich nach dem Museum. Da siehst du eine so schöne Sammlung von Tieren und Steinen und Muscheln, wie du sie noch nie gesehen hast. So geht es ein paar Tage weiter; dann reise ich mit dir nach der Erziehungsanstalt unweit Stuttgart, die ich für dich ausgewählt habe. Ich hoffe, da lernst du fleißig und brav und machst mir Ehre. Geht es, wie ich es meine, und gibst du dir Mühe, soviel du kannst, so kommst du in drei, vier Jahren soweit, daß ich dich in ein gutes Handelshaus bringen kann, das ich kenne. Hältst du dich da nach Wunsch, so ist deine Zukunft gesichert. Da wirst du noch weit in der Welt herumkommen, nach China wirst du sicher versetzt werden.« Artur war schneeweiß geworden; er würgte und kämpfte, daß ihm nicht die Tränen hervorstürzten. Das durfte doch nicht sein; aber er konnte sie nicht ganz zurückhalten. »Was fehlt dir denn? Fürchtest du dich etwa, nach China zu reisen?« sagte Herr Feldmann lachend. »So ist's nicht gemeint, daß du gleich so weit fort müßtest. Erst geht's auf die Schule, da wirst du's mit all den Jungen zusammen lustig finden. Dann kommt eins nach dem andern, nur brav gelernt! Na, bist du noch nicht getröstet?«

Artur schluckte und schluckte. Der Schlag war ihm so überraschend gekommen; er hatte so zu kämpfen, um nicht aufzuschreien. Endlich fragte er mit zerdrückter Stimme: »Kann ich nie Pfarrer werden, wenn ich auch lerne, soviel ich kann?«

»Ach so, das ist's; sei nur wieder fröhlich und wohlgemut«, ermunterte Herr Feldmann, »das kenn ich schon. Du weißt ja noch von nichts anderem. Lernst du erst andere Seiten des Lebens kennen, so wirst du sagen, mein Vormund hatte recht, ich wußte es damals nicht besser. Nein, nein, mit dem Pfarrerwerden ist es nichts, das schlage dir nur ganz aus dem Sinn, da könntest du Jahr und Jahre sitzen und studieren; und dazu ist kein Geld da. Wie ich es mit dir im Sinne habe, ist es anders. In wenigen Jahren hast du dein Ziel erreicht, du bist dein eigener Herr, kannst in die Welt hinaus, und dein Glück ist so gut wie gemacht.« Nun stand Herr Feldmann auf, wünschte noch einmal, daß Artur auf seinen Gängen durch die Stadt viel Freude haben möge, und verließ das Zimmer. Herr Feldmann blieb über Mittag aus und kehrte am Abend spät heim, nachdem sich Artur schon zurückgezogen hatte. Er wollte nun von seiner Frau hören, welchen Eindruck alle die Merkwürdigkeiten auf den Jungen gemacht hätten, die dieser heute zu sehen bekommen hatte.

»Gar keinen«, berichtete Frau Feldmann ein wenig ungehalten; sie hätte den ganzen Tag damit zugebracht, den völlig unempfänglichen Jungen vor alle möglichen schönen Gebäude zu führen, die er dann kaum angeschaut habe; ihm auch alle Merkwürdigkeiten zu erklären, die auf ihrem Wege lagen, was er alles mit stummer Gleichgültigkeit an sich hatte vorübergehen lassen. Ganz entschieden sei das beste für den Jungen, schloß Frau Feldmann, daß ihr Mann ihn sofort nach der Erziehungsanstalt bringe, wo er im Verkehr mit anderen Jungen vielleicht aufwache; jetzt käme er ihr wirklich stumpfsinnig vor.

Herr Feldmann wollte erst nichts davon wissen, daß man so bald reisen sollte. Er meinte, Artur sei wohl etwas schüchtern gewesen, das werde sich geben. Aber seine Frau war so überzeugt, daß dieser Zustand nicht Schüchternheit, sondern eine unerklärliche Gleichgültigkeit sei, die nur durch den Umgang mit anderen jungen Leuten sich verlieren werde, und diesen müßte man dem Jungen so schnell wie möglich verschaffen.

Herr Feldmann wollte es auf den Jungen selbst ankommen lassen. Noch am folgenden Morgen wäre es ja früh genug, die Abreise für denselben Tag zu bestimmen, da keine Vorbereitungen zu treffen waren; Arturs Koffer stand gepackt, wie er angekommen war.

Artur, den der ungewohnte Straßenlärm schon früh aufgeweckt hatte, stand an seinem Fenster und schaute auf die Straße hinunter, wo Wagen an Wagen vorüberrasselte und eine Menge Menschen schon in aller Geschäftigkeit hin- und herlief. Wenn er am frühen Morgen daheim sein Fenster aufgemacht hatte, hatten ihm von allen Zweigen die Vögel entgegengepfiffen, und süße Düfte waren aus dem Resedabeet unter dem Fenster zu ihm aufgestiegen. Drüben hatte der Brunnen gerauscht, und die Zweige der großen Weide hatten sich im Morgenwinde hin- und hergewiegt. Oh, wie war es so schön! Artur hielt sich die Hände vor die Augen. Jetzt trat Herr Feldmann ins Zimmer. »Was? Schon fertig?« rief er erstaunt aus. »Ich wollte dich wecken und eine Frage an dich richten. Komm, sag mir mal ganz ohne Rückhalt, ist es nicht dein Wunsch, einige Tage hier zu verweilen und dir unsere Stadt anzusehen?«

»O nein«, entgegnete Artur schnell in einem Ton, als fürchte er sich davor.

Herr Feldmann konnte keinen Zweifel haben, wie es gemeint sei. »Nun gut, so reisen wir«, sagte dieser, rasch aufstehend; »nun gleich hinüber, das Frühstück eingenommen und fort! Nur nicht den Mut verlieren, nur Kopf in die Höhe, Junge, bei all den anderen Jungen, wo's lustig zugeht, wird's dir schon gefallen!« Damit ging er, von Artur gefolgt, dem Speisezimmer zu. In kurzer Zeit war alles abgetan, und die beiden waren wieder auf der Reise, diesmal nicht in offenem Wagen durch das Land fahrend, sondern im Eilzug dahinsausend. Als am Abend die letzten Strahlen der Sonne auf das flache Feld schienen, sagte Herr Feldmann: »Nun sind wir bald da«, und gleich nachher zeigte er auf ein großes Gebäude, auf einem Hügel stehend, in dessen vielen Fenstern das Abendlicht erglänzte. »Dort, sieh, Artur, dorthin! Denk, wie viele fröhliche Jungen haben in solchem Haus Platz.« Jetzt hielt der Zug an, und Herr Feldmann wanderte mit Artur dem großen Gebäude auf dem Hügel zu. Auf dem weiten, freien Platz vor dem Hause rannte eine große Schar von größeren und kleineren Jungen hin und her, Ball spielend, sich jagend, sich fangend, singend und schreiend, auf die eintretenden Fremden gab keiner acht. Nachdem Herr Feldmann an der großen Glocke geschellt, erschien ein Diener, und nun wurden die Ankommenden ins Haus und in den Empfangssaal eingeführt. Bald trat ein hochgewachsener, achtunggebietender Herr ein, den Herr Feldmann »Herr Direktor« nannte und dem er sogleich Artur als den angemeldeten Zögling vorstellte. Die Herren unterhielten sich längere Zeit zusammen, während Artur durch das offene Fenster auf den Platz hinabschaute, wo die vielen Jungen sich herumtummelten. Er verstand nichts von dem Gespräch, hörte auch nicht darauf. Nur eben jetzt drang ein Wort seines Vormundes an sein Ohr, das er wohl verstand und das ihm als ein Stachel im Kerzen sitzen blieb. »Wie gesagt, Herr Direktor«, so schloß der Vormund seine Rede, »die Hauptsache ist, daß der Junge gut Französisch und Englisch lernt, damit er so bald als möglich in ein Geschäft eintreten kann, um sich selbst zu helfen; zu langem Studieren sind keine Mittel da, als Kaufmann kann er bald seinen Weg finden.«

Jetzt ertönte eine laute Glocke; augenblicklich wurden unten die Spiele abgebrochen, die Jungen stürzten alle dem Hause zu. Der Direktor führte die neu Angekommenen nun nach dem großen Speisesaal, wo an drei langen Tischen die Zöglinge ihre Plätze eingenommen hatten, je mit einem Lehrer an der Spitze. Artur wurde am letzten Tisch der unterste Platz angewiesen, er war ja der zuletzt Angekommene. Neben ihm saß ein Junge, der etwas kleiner, aber viel dicker als Artur war und der nun mit großen Augen den neuen Nachbarn betrachtete. Als die Jungen sich wieder vom Abendessen erhoben, marschierten sie in guter Ordnung je zwei und zwei zur Tür hinaus. Den Zug beschlossen Artur und sein Tischgenosse. »Wohin geht es jetzt?« fragte Artur leise seinen Begleiter.

»Ins Arbeitszimmer«, war die halblaute Antwort; denn noch stand die Tür vom Speisesaal offen, wo der Direktor mit Herrn Feldmann zurückgeblieben war. »Nun werden die Arbeiten für morgen gemacht, und dann geht's in den Schlafsaal und unter die Decke so schnell als möglich, wenn man nicht von dem Großen dort Kniffe und Püffe bekommen will.« Der Kleine hatte behutsam seine Stimme noch mehr gedämpft und nur ganz heimlich mit seinem Zeigefinger auf den Großen hingewiesen.

»Warum muß man sich vor dem fürchten? Er ist ja auch ein Zögling«, meinte Artur.

»Ja, aber er ist Aufseher im Schlafsaal für diesen Monat«, berichtete der Nachbar, »und dann ist er so groß und stark, daß es keiner mit ihm aufnehmen würde, und er ist der böseste von allen, er heißt Eberhard. Wir nennen ihn den wilden Eber oder nur Eber, man weiß von vornherein, wie wild ein solcher ist. Nachher erzähle ich dir schon noch viel von ihm; aber drinnen dürfen wir nicht schwatzen.«

»Wie heißest denn du?« wollte Artur noch schnell wissen.

»Georg Nestel«, war die Antwort.

»Und ich Artur Stein.«

Nun traten sie in den Saal ein. Als später die Schar im großen Schlafsaal versammelt war, drangen von allen Seiten so viele Fragen auf Artur ein, daß er nicht wußte, wie er sich gegen die Anstürmenden wehren sollte. Man wollte wissen, wer er sei, woher er komme, wie lange er dableiben müsse, wer der Herr sei, der ihn hergebracht habe, und so riefen alle durcheinander, bis der große Eber auf einmal seine Stimme erhob und befahl, daß alle sofort mit Stillschweigen in ihren Betten zu verschwinden hätten. Nun wollte er aber für sich selbst noch allerlei Mitteilungen von dem neu Angekommenen erhalten. Aber Artur sagte, wenn doch die anderen alle stille sein und schlafen sollten, so würden sie beide dasselbe tun müssen. »Du bist nur faul wie ein Maulwurf«, entgegnete Eberhard ärgerlich und ging weg.

Früh am andern Morgen reiste Herr Feldmann wieder weg, nicht ohne Artur noch einmal zu ermahnen, seine Zeit recht zu benutzen und fleißig zu lernen, um recht bald seinen Weg in die Welt hinaus antreten und schöne Erfolge erzielen zu können. Gleich nachher wurde Artur in seine Klasse eingereiht und hatte nun mit allen anderen dem Unterricht und dem geregelten Gange des Tages zu folgen. Während der Unterrichtsstunden war Artur der alleraufmerksamste von allen Schülern; denn er war gewohnt, ganz bei der Sache zu sein, wenn es ans Lernen ging. Hier hatte er auch besondere Ursache; denn da war nun vieles anders im Unterricht, als er es von seinem Vater her kannte. Da galt es nun, sich mit Fleiß hineinzuarbeiten; denn Artur wollte keiner der letzten sein. So blieb er beim Beginn der Freistunde am Morgen im Schulzimmer zurück, um gleich soviel als möglich von allem nachzuholen, was er nicht gekannt und gewußt hatte. Aber kaum hatten die andern Schüler das Zimmer verlassen, als der große Eber zurückgerannt kam: »Hinaus mit dir, du Dachs. Drinnen bleibt keiner, jetzt wird Ball gespielt«, schrie er Artur zu, und als dieser keine Miene machte zu gehorchen, schoß Eberhard auf ihn zu, packte ihn am Arm und zog ihn fort. Artur hatte gar keine Lust zu spielen. Sobald ihn sein Bedränger draußen losließ, lief er nach einer fernen Ecke und setzte sich auf die Bank unter den Baum, dessen Äste wohl herunterhingen, aber nicht so tief, um ihn zu decken, wie die langen, weichen Zweige seines alten Weidenbaumes. Er dachte an seine verborgene Bank, an den alten Garten und das Haus, die ganze Heimat stieg vor seinen Augen auf. Da kam Eberhard schon wieder herangelaufen: »Komm her«, rief er, »bei uns fehlt einer im Spiel, was brauchst du hier zu sitzen?«

»Ich mag jetzt nicht spielen«, sagte Artur.

»Was? Nicht spielen? Du Duckmäuser, du! Kommst du gleich?« schrie Eberhard aufgebracht. Jetzt ertönte der Ruf der Glocke zum Wiederbeginn des Unterrichts; denn am Morgen war die Pause kurz. »Wart nur, Duckmäuser, am Abend will ich dir zeigen, wie man dir die Mücken austreibt«, rief Eberhard noch zurück, indem er forteilte. Als am Abend die letzte Unterrichtsstunde zu Ende war und die Knaben sich zum Spielplatz hinausdrängten, blieb Artur zurück und ging nun dem Tisch zu, wo der Lehrer noch die hingelegten Hefte durchging; er blickte nicht auf bei Arturs Herantreten. Ein wenig schüchtern fragte dieser, nachdem er eine Zeitlang gewartet hatte: »Erlauben Sie, daß ich hier bleibe und nicht zum Spielen hinausgehe? Ich möchte gern arbeiten, daß ich nachkomme.«

Jetzt schaute der Lehrer auf: »Freilich erlaube ich es, das hat mich noch keiner gefragt; es ist recht, daß du Lerneifer zeigst«, antwortete er.

Eberhard hatte den Abtrünnigen im Auge behalten; diesmal mußte er mit, das war sein bestimmter Wille. Nun hatte er mit angesehen, wie Artur seine Erlaubnis beim Lehrer geholt und sich unter dessen Augen wieder an seinen Platz gesetzt hatte. »Der Erzduckmäuser! Nun will er sich einschmeicheln«, sagte Eberhard grimmig mit unterdrückter Stimme, »dich erwisch ich schon noch und will dir das Duckmäusern austreiben.« Für jetzt ging er, der Lehrer war ihm im Wege.

Artur hatte schon eine gute Zeit gearbeitet, als die Tür leise geöffnet wurde und ein Kopf behutsam forschend, ob der Lehrer noch drinnen sei, in der Öffnung erschien. Der Lehrer war nicht mehr da. Jetzt kam Georg herein. »Mußt du nachsitzen?« fragte er teilnehmend, »mußt du noch lange drinnen bleiben?«

»Ich muß nicht nachsitzen«, gab Artur schnell zurück, »das habe ich noch nie gemußt, da würde ich mich doch ewig schämen. Aber ich will den andern nachkommen, vieles weiß ich nicht so gut wie sie.«

»Komm du jetzt nur heraus, und sei ein wenig lustig«, ermunterte Georg, »du wirst hier drinnen nur immer trauriger, das bist du schon genug. Es können ja doch nicht alle die ersten sein, es muß auch jemand zuunterst sitzen. Komm du nur heraus mit mir, es ist lustig heut, wir spielen Räuber und Polizei.«

»Ich kann doch nicht lustig sein«, erwiderte Artur, »und wenn man etwas Rechtes werden will, muß man immer alles so gut machen, als man nur kann; das hat mein Vater mir gesagt, und ich möchte etwas Rechtes werden.«

»Man kann ja noch gar nicht wissen, was man wird«, meinte Georg, »was möchtest du denn gern werden?«

Artur wurde purpurrot. Der tiefste Wunsch seines Herzens war etwas, von dem sein Vormund ausgesprochen hatte, das sei eine Unmöglichkeit. In seinem Innern aber hatte er sich, ohne daß er es sich klar gesagt hatte, noch an eine Hoffnung angeklammert. Wenn er aus allen Kräften arbeiten würde, wenn er immer die allerbesten Zeugnisse an seinen Vormund schicken könnte, wäre es nicht vielleicht doch noch möglich? Aber jetzt, wie er es aussprechen sollte, hörte er wieder die bestimmten Worte seines Vormundes in seinen Ohren klingen, es war ja doch unmöglich.

»Ich will doch lieber arbeiten als hinausgehen, wo sie lustig sind«, sagte Artur nun mit gesenktem Kopf. Georg schaute mit großer Teilnahme auf den niedergeschlagenen Kameraden. Jetzt fuhr er in seine Tasche hinein.

»Da, nimm den Apfel«, sagte er, einen rotgoldenen Apfel vor Artur hinlegend; »er ist gut, sicher, die Mutter hat mir noch mehr geschickt.« Dann lief er hinaus. Dieses Wort war wie ein Stich in Arturs Herz. »Ja, meine Mutter würde mir auch Äpfel schicken, oh, und noch vieles«, hieß es in seinem Innern, »wenn sie noch – ja, wenn sie noch da wäre!« Artur schluchzte auf; er drückte seinen Kopf auf seinen Arm, daß ihn niemand höre. »Sie haben alle einen Vater und eine Mutter und eine Heimat, und ich habe gar niemand und bin nirgends mehr daheim«, schluchzte er leise fort. Artur hatte alles andere vergessen über seinem großen Leid, das doppelt stark über ihn gekommen war, nun er alle die lustigen Jungen um sich sah, die einen solchen Kummer gar nicht kannten, so daß er sich doch ganz allein und verlassen fühlte mitten in der großen Schar. Erst als die lauten Stimmen der Mitschüler draußen ertönten, die vom Spielplatz hereingerannt kamen, erhob Artur seinen Kopf und bemerkte, wie lange er so dagesessen hatte. Schnell suchte er die Spuren seiner Tränen zu verwischen; denn nun hatte er vor Lehrern und Schülern bei Tisch zu erscheinen.

So vergingen für Artur die ersten Tage auf der Schule, einer wie der andere. Vergebens bedrohte der große Eberhard ihn täglich mit den empfindlichsten Strafen, wenn er nun das Duckmäusern nicht einmal lassen und mitspielen wollte; denn Artur war größer und gewandter als die meisten seiner Klasse, und Eberhard wollte sich nun gerade mit ihm in den üblichen Spielen messen. Aber es half nichts, Artur konnte an dem lauten Jubel der Spielgenossen nicht teilnehmen; nie erfaßte sein tiefes Leid ihn so sehr, als wenn er das Jauchzen der frohen Schar ringsum hörte. Drinnen bei seiner Arbeit im stillen Zimmer konnte er eher vergessen, wie anders für ihn alles war als für die andern Jungen. Im Arbeitszimmer ließ ihn auch der gefürchtete Eber in Ruhe; denn da ging von Zeit zu Zeit ein Lehrer durch, und Eberhard begehrte nicht mit einem solchen zusammenzutreffen. Wenn dann der Tag zu Ende war und alle Bewohner des Hauses in tiefem Schlaf lagen, dann saß Artur oft noch halb wachend auf seinem Bette, und alle Erinnerungen an die vergangenen glücklichen Tage stiegen in seinem Herzen auf. Erst war die Mutter an sein Bett gekommen, hatte ihm noch liebevolle Worte gesagt und mit ihm gebetet; dann war der Vater noch zum letzten Nachtgruß hereingetreten; dann war die Tür halb offen stehen geblieben, und Artur hatte immer noch den lichten Schein durchschimmern sehen, der von der Wohnstube her durch das Schlafzimmer der Eltern zu ihm hereinkam. Im Wohnzimmer saßen nun noch die Eltern zusammen und lasen und unterhielten sich, und so in ihrem nahen Schutz schlief er dann ein. Kam ihm alles wieder lebendig vor die Augen, so stiegen jedesmal neu die Tränen auf, und er erstickte sein Schluchzen in den Kissen, damit nur die Mitschüler nichts davon hörten. Wenn er dann aber in seinem Kummer erst spät einschlief, waren oft schon alle andern halb oder ganz angekleidet, wenn er am Morgen erwachte. So war es eines Morgens sehr spät geworden, bevor Artur seine Augen auftat. Plötzlich fuhr er erschrocken in die Höhe; ein kalter Wasserstrahl hatte sein Gesicht getroffen. Zu gleicher Zeit drang ein Gurgeln an sein Ohr, so, als wäre einer am Ertrinken. Artur sprang aus seinem Bette. Nun sah er, wie neben seinem Lager der Kopf seines Nachbars Georg vom großen Eber unbarmherzig in das große Waschbecken hineingedrückt, dann einen Augenblick losgelassen und dann aufs neue hineingestoßen wurde, so daß der wasserschluckende Georg aufs jämmerlichste gurgelte, stöhnte und keuchte, als sei er am Ersticken. Mit einem Satz war Artur an dem Waschtisch, packte den großen Eber von hinten und würgte dessen Hals so zusammen, daß er sofort Georgs Kopf freigab und so fürchterlich stöhnte, daß Artur ihn einen Augenblick losließ. Mit wütendem Blick kehrte sich der Eber um und erblickte den Bedränger.

»Was, du bist's, du Duckmäuser und Erzheuchler«, schrie er. »Was geht dich mein Tun an? Ich bin der Aufseher und will, daß der sich hier recht wasche, und dich muß man ja wecken, sonst stehst du gar nicht auf. Aber wart, ich bezahl dir's!« Jetzt warf er sich wütend auf Artur. Aber schon hatte dieser ihn wieder gepackt, und ruhig sagte er: »Um Georgs willen tat ich's, nicht weil du mich gespritzt hast. Versprich, daß du ihm nichts mehr zuleid tun willst, oder ich drücke zu.«

»Laß los! Laß los!« keuchte der Eber; aber da Arturs Hände festhielten wie Eisen, schrie er: »Ich will ihm nichts mehr tun, laß los! So hör doch, nie mehr! Laß los! Laß los!«

Artur ließ ihn los: »Nun haben es alle gehört!« rief er. »Nie mehr will er dem Georg etwas zuleide tun. Wenn er's nun wieder tut, hat er sein Wort gebrochen, dann sollen ihn alle verachten!« Mit Lärm wurde Artur beigestimmt; denn der gewalttätige Eber hatte im geheimen viele Gegner, doch war er sehr gefürchtet. Daß nun einer gewagt hatte, ihn zu packen und noch dazu mit Erfolg, das war allen sehr willkommen.

Eberhard zog sich jetzt zurück, mit unterdrückter Stimme sagte er voller Ingrimm: »Der Duckmäuser, der Heuchler! Wer hätte gedacht, daß der Heimtücker solche Kraft in den Fäusten hätte! Aber warte nur!«

Georg war von der höchsten Bewunderung und Dankbarkeit erfüllt. Artur hatte ihn ja nicht nur für heute, sondern für lange Zeit von seinem Verfolger befreit; denn daß die unerwartet kräftigen Fäuste des stillen Artur einen tiefen Eindruck auf Eberhard gemacht hatten, das war ganz deutlich zu erkennen gewesen. Daß aber derselbe Artur, der so still und zurückgezogen immer nur an seiner Arbeit saß, auf einmal ein so überlegener Gegner sein konnte und dazu seine Kraft in so gerechter Weise anwandte, das erweckte in Georg eine unbegrenzte Verehrung für diesen Mitschüler. Als am späten Abend desselben Tages im großen Schlafsaal längst aller Lärm aufgehört hatte, nur tiefe Atemzüge durch die große Stille zu vernehmen waren, da lag Eberhard noch wachend in seinem Bett; denn der große Verdruß von heute hatte ihn nicht einschlafen lassen. Daß einer es gewagt hatte, ihn anzugreifen, gar noch unterzukriegen, und daß es noch dazu derjenige war, den er sonst nicht leiden konnte, das war zuviel für ihn; er mußte sich rächen, seine Überlegenheit dem Beleidiger gegenüber wieder herstellen, aber wie? Der Duckmäuser hatte sich ja durch sein Leisetreten und sein endloses Arbeiten schon bei den Lehrern in Gunst zu setzen gewußt. Aber gestürzt mußte dieser Hochmütige werden und empfindlich gezüchtigt, das stand bei Eberhard fest; es galt nur, den rechten Weg ausfindig zu machen; aber er wollte ihn wohl finden. Schon hatte er vielerlei Anschläge im Kopf; es galt nur noch den besten auszuwählen und recht auszudenken. Plötzlich schrie er mit so fürchterlicher Stimme durch den Saal hin, daß viele der Schläfer erschreckt emporfuhren: »Wer heult in seine Kissen hinein wie eine Nachteule?« Keine Antwort erfolgte. Noch einmal und lauter rief er in seinem Grimm: »Ich frage, wer hier heult! Er soll es sagen, der Schwächling! Er sagt es nicht? Gut! Morgen will ich seine roten Augen schon herausfinden und ihn allen zeigen, und er wird ausgelacht werden, daß er daran denkt, und er soll der ›Nachtheuler‹ heißen für immer.« Nun blieb es still. Sobald am frühen Morgen die Glocke ertönte, die zum Aufstehen rief, sprang Eberhard aus seinem Bette und lief gleich zu Artur hinüber, der sich eben aufgerichtet hatte. Eberhard schaute ihm forschend in die Augen, die Artur gar nicht niederschlug, sondern weit aufmachte, als wollte er sagen: »Vor dir fürchte ich mich nicht; aber von dir zwingen lasse ich mich auch nicht.« Von Tränen war keine Spur zu sehen. Eberhard wandte sich enttäuscht weg; er hatte offenbar gehofft, in Artur denjenigen zu entdecken, den er nun als Schwächling und Feigling und Nachtheuler dem allgemeinen Gelächter preisgeben wollte. Jetzt fiel sein Blick auf Arturs Nachbar, den dicken Georg, wie er um seiner behäbigen Erscheinung willen allgemein betitelt wurde. Das sonst so vergnügliche Gesicht des dicken Georg bot einen erbarmungswürdigen Anblick dar. Die Augenlider waren hochrot und so dick geschwollen, daß die Augen nicht geöffnet werden konnten. Kaum konnte Georg so weit unter den schweren Augenlidern hervorblinzeln, daß er die verschiedenen Stücke seiner Bekleidung erkennen konnte, wenn er sie ganz dicht unter die Augen hielt.

Jetzt brach Eberhards ganzer Zorn los: »So warst du's, du einfältiger Zwerg?« schrie er den entstellten Georg an, »was brauchst du zu heulen und weißt selbst nicht warum! Auf der Stelle sagst du, warum du geheult hast, oder wir werfen dich als Ball einander zu, bis du's weißt.«

Ein zustimmender Lärm brach von allen Seiten los: »Georg als Ball, bravo!« – »Angefangen!« – »Hierher geworfen!« tönte es von da und von dort, während der erschrockene Georg mühevoll umherblinzelte, um zu gewahren, von welcher Seite der Angriff komme.

»Laßt ihn gehen«, ertönte jetzt eine laute Stimme, »Georg hat Fieber oder sonst etwas, er hat nicht geweint, ich habe geweint.« Es war Artur, der so gerufen hatte; aber mit noch lauterer Stimme rief nun Georg: »Nein, nein, ich habe geweint und habe andauernd meine Augen trocknen müssen, darum sind sie so geschwollen!«

»Nein, ich habe geweint«, schrie ein dritter, »und noch viel furchtbarer; denn ich kann meine Augen noch gar nicht aufmachen, so schwer liegen die Lider darauf.«

»Ja, wenn's darauf ankommt, dann habe ich fürchterlich geweint in der Nacht, denn meine Augendeckel sind so schwer wie zwei Hausdächer«, schrie ein anderer, und nun ging ein Lachen und ein Spektakel los, daß man nichts mehr verstehen konnte; denn jeder wollte am meisten geweint haben und überbot den anderen in erschreckenden Schilderungen. Eberhard war hochrot vor Zorn. Der allgemeine Spaß war gar nicht nach seinem Sinn, dazu erhob er völlig vergebens seine Stimme, so sehr er konnte, um als Aufseher die Ruhe herzustellen, für die er zu sorgen hatte. Es wurde immer toller, bis plötzlich die Tür aufging und ein Lehrer in den Saal hineinrief: »Der Aufseher hat heute Zimmerarrest während der Freistunden.« Plötzliche Stille war eingetreten. Nur Eberhard erhob jetzt seine Stimme und wollte sich verteidigen. Da er aber selbst den ganzen Lärm durch ein Verfahren, das er nicht erzählen wollte, hervorgerufen hatte, verwickelte er sich so, daß der Lehrer ihm einen Wink gab, der bedeutete, er wisse genug, dann verschwand er. Als die Schar in geordneter Reihe dem Frühstückszimmer zuwanderte, sagte Georg leise, indem er versuchte, seine verschwollenen Augen zu Artur zu erheben: »Jetzt kann man auch zu Eber sagen: ›Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein‹.«

Ebenso leise gab Artur zurück: »Komm in der Freistunde zu mir unter den großen Baum in der Ecke, ich muß dich etwas fragen.«

In der ersten Unterrichtsstunde mußte der Lehrer etwas Auffallendes in seiner Klasse erblicken; er schaute unverwandt nach einer Seite hin und begann immer noch nicht mit dem Unterricht. »Georg«, sagte er endlich, »du siehst ganz entstellt aus, was ist mit dir vorgegangen?«

Georg sah sehr verlegen aus. »Ich habe – ich habe – ich kann es nicht recht sagen – es war in der Nacht –«

»Du mußt fürchterliche Träume haben, wenn sie dich zu so starkem Weinen bringen«, bemerkte der Lehrer. »Gehe hinaus und bade deine Augen in kaltem Wasser und erscheine nicht eher wieder, bis deine Augen die natürliche Form wieder angenommen haben.«

Georg verschwand. Auch während der Freistunde mußte er gehorsam seinen Waschungen obliegen, Artur konnte ihn nirgends entdecken. Erst am Abend zur Hauptspielzeit erschien er wieder. Getreu seinem Versprechen, das er am Morgen nicht hatte halten können, setzte er sich gleich unter den Baum in der Ecke und wartete das weitere ab.

Artur erblickte ihn gleich. Er kam schnell herbeigelaufen. »Man sieht es dir noch an«, sagte er, sich auf die Bank neben den Kameraden hinsetzend. »Tun dir die verschwollenen Augen noch weh, Georg?«

Bild: Karl Mühlmeister

»Nicht mehr so stark«, erwiderte dieser.

»Sag mir doch, was du gemacht hast«, fuhr Artur fort. »Geweint hast du nicht, ich hätte es wohl gehört, so nahe neben dir. Aber ich habe geweint; es war wirklich wahr, was ich am Morgen dem Eber zurief, als er dich verhöhnen wollte; aber am Abend wollte ich ihm keine Rechenschaft geben. Ein Aufseher hat nicht zu befehlen, ob man weinen darf oder nicht.«

»Freilich nicht, aber der Eber befiehlt eben, was er will, und das Befehlen ist bei ihm noch nicht das Ärgste, das kann ich dir sagen«, versicherte Georg, seine Worte mit ernstem Kopfnicken bestätigend. »Nun will ich dir sagen, was vorgegangen ist, weil du's doch weißt, daß ich nicht geweint habe. Gestern nacht, wie der Eber so laut schrie, bin ich aufgewacht und habe alles gehört. Dann habe ich gleich gewußt, daß du es warst, der geweint hatte; denn du hast es schon einmal in deinem Bett getan, da habe ich es gehört. Und der Eber ist sonst schon gegen dich aufgebracht; da hätte er gewiß mit Freuden am Morgen gehalten, was er angedroht hatte. Darum habe ich dann meine Augen furchtbar gerieben, damit er am Morgen denke, ich sei's gewesen. In der Nacht bin ich auch noch einmal aufgewacht, da habe ich sie noch ärger gerieben.«

»Aber das hat dir ja schrecklich wehgetan, Georg, und tut dir gewiß jetzt noch weh!« rief Artur voller Teilnahme aus. »Du hast es so gut mit mir gemeint; aber hättest du doch das nicht getan! Es muß dir ja furchtbar wehgetan haben, und ich fürchte mich nicht so arg vor dem Eber.«

»Ja, ja, Artur, du weißt noch nicht, wie es ist, wenn der Eber alle aufstiftet und dann so höhnt und spottet gegen dich, daß sie alle miteinander lachen, soviel sie nur vermögen, und nachher den ganzen Tag die Spottworte wiederholen, die er erfunden hat, und so lachen, daß du denkst, am liebsten wolltest du gleich tot sein.« Georg sah bei der Erinnerung an diese ausgestandenen Leiden so unglücklich aus, daß das Gefühl über Artur kam, er müsse doch einem großen Übel entgangen sein.

»Das hast du für mich getan, daß ich diesen Hohn nicht erfahren mußte«, sagte er jetzt, in großer Dankbarkeit Georgs Hand ergreifend, »ich will dir's nicht vergessen! Wenn ich nur auch etwas tun könnte, daß deine Augen wieder gut würden!«

»Laß sie nur, sie kommen schon von selbst wieder zurecht«, meinte Georg. »Du hast auch etwas für mich getan, das ich nicht vergesse, und ich will gern tun, was du willst, daß du nicht mehr so weinen mußt. Sag nur, was ich tun soll.«

»Man kann nichts tun«, sagte Artur und sah dabei so traurig aus, daß Georg durchaus nach einem Trost suchen mußte. »Weißt du«, sagte er plötzlich ermunternd, »vielleicht hast du das Heimweh. Ich habe es auch gehabt, furchtbar stark; denn daheim bei meiner Mutter war's anders. Meine Mutter ist so gut, wie man sich nicht denken kann. Sie bäckt Kuchen, und da habe ich neben der Schule ihr immer geholfen, und dann habe ich einmal vom Teig gegessen und einmal vom Gebackenen, beides war sehr gut. Ich wollte auch Kuchenbäcker werden. Aber weil mein Vater gestorben ist, habe ich einen Vormund, den Herrn Kasteller. Der sagte meiner Mutter, ich sollte kein Kuchenbäcker werden, sondern Lehrer oder vielleicht auch noch etwas anderes, wenn ich dann lieber wolle; zuerst müsse ich nun ins Institut und tapfer lernen. Und siehst du, wie ich hierher kam, da dachte ich, ich müßte sterben vor Heimweh, und dann haben mich die andern so ausgelacht; und der Eber nannte mich nur: ›der dicke Georg Tränensack‹. Oh, das war eine schreckliche Zeit, so schrecklich, daß du sie gar nicht schlimmer erleben kannst. Aber im Sommer kamen dann die Ferien, da ging es heim! Siehst du, das war ganz wie ins Himmelreich eingehen. Man muß dann freilich wieder hinaus und ins Institut; aber es ist nie mehr so ganz schrecklich wie in der ersten Zeit. Nun mußt du nur immer an den Sommer denken, wenn die Ferien kommen; das tue ich auch schon lange, und nun währt es gar nicht mehr so lange, bis sie kommen. Dann geht's heim zur Mutter, jetzt freue dich nur und denke an nichts anderes mehr!«

»Ich habe keine Mutter mehr und bin nirgends mehr daheim«, sagte Artur, die aufsteigenden Tränen niederdrückend.

In stummem Schrecken schaute Georg auf den verarmten Artur hin. Erst nachdem eine lange Weile vergangen war, fragte er zaghaft: »Aber einen Vater hast du doch noch?«

Artur schüttelte verneinend den Kopf. Nun wußte auch Georg keinen Trost mehr. Er schaute trübsinnig auf den Boden nieder und dachte sich aus, wie es ihm wäre, wenn er keine Heimat und keine Mutter mehr hätte. Aber beim Gedanken an seine Mutter und wie gut sie war, ging plötzlich ein Licht in seinem Herzen auf. Vor Freuden sprang er von der Bank herunter.

»Jetzt weiß ich was! Jetzt weiß ich was!« rief er frohlockend aus. »In den Ferien kommst du mit mir heim zu meiner Mutter; denn wenn ich sage, daß du mein Freund bist, so wird sie so gut zu dir sein, wie du dir nicht denken kannst. Du sollst sehen, was wir da an Kuchen verzehren werden! Aber halt! Dies Jahr sollen wir die Ferien bei meinem Onkel zubringen, das hat mir die Mutter geschrieben. Mein Onkel ist ein Schullehrer auf dem Land, und so mitten im Sommer kann die Mutter gut fort; dann gehen viele Herrschaften aufs Land, und sie hat nicht viel Bestellungen. Und weißt du, beim Onkel auf dem Lande ist's auch lustig, da kann man tun, was man will, und die Kuchen nehmen wir mit. Morgen schreib ich der Mutter.«

Aber Artur konnte nicht in die Fröhlichkeit einstimmen. Ganz erschrocken sagte er: »Nein, nein, Georg, so etwas kann gewiß nicht sein, dein Onkel kennt mich ja gar nicht, wie könnte ich in sein Haus gehen und bei ihm wohnen, so etwas darf man nicht tun. Schreib nur nichts davon an deine Mutter! Versprich mir, daß du das nicht schreiben willst.«

Georg war ganz verblüfft über Arturs Auffassung von der Sache, er sah sie ganz anders an. Er wollte nichts versprechen, sondern den Freund überzeugen, daß alles ganz gut gehen werde.

Aber Artur blieb bei seiner Weigerung und sagte ganz ängstlich: »Tu mir's doch zu Gefallen und versprich mir's, daß du das nicht an deine Mutter schreiben willst, dein Onkel müßte ja denken, ich sei wie ein Bettler, der kommt und ein Obdach haben möchte.«

»So will ich denn das nicht schreiben, wenn es dir Angst macht«, willigte Georg endlich ein, »ich verspreche dir's. Aber sei nur nicht mehr so traurig, es kommt gewiß gut in den Ferien, du wirst schon sehen.«

Jetzt rief die Glocke zum Abendtisch und machte dem Gespräch der beiden ein Ende. Am Sonntag, als die Schüler über ihren Mappen saßen und ihre Briefe nach Haus, mit mehr oder weniger Eifer und durch Hin- und Widerreden unterbrochen, verfaßten oder verfassen sollten, saß Georg über seinem großen Bogen, den er besonders ausgewählt hatte, und schrieb ununterbrochen fort und fort, trotz aller Sticheleien der andern, die diesen Schreibeifer noch nie an ihm bemerkt hatten. Aber er hielt Wort. Das, was Artur so geängstigt hatte, wurde nicht mit in den Brief gesetzt. Aber ein Schreiben von solcher Länge hatte Georg noch nie in seinem Leben verfaßt. und es zuerst in die Arme genommen und sein hilferufendes Wimmern gestillt hat, nein, Herr Kasteller, der hält so etwas nicht aus –« Hier wurde das große Taschentuch herausgezogen; Frau Suse hielt es an die Augen und schwieg. Aber ihre hohe weiße Haube sprach beredt weiter; denn die zwei langen Enden derselben wackelten so heftig hin und her, als riefen sie ganz lebhaft: »Nein, der hält so etwas nicht aus.«

»Frau Suse, verschonen Sie mich, nur keine Tränen!« bat Herr Kasteller jetzt, »das ist mir das Schrecklichste! Das arme Würmlein ist ja doch auch nicht mehr gar so klein und hilflos wie damals, ich meine, es kann sich schon ganz ordentlich wehren!«

Unterdessen war die junge Lehrerin herzugetreten. »Herr Kasteller, nun will ich auch ein Wort sagen«, rief sie mit unnötig erhöhter Stimme; denn die Anklage nach dem großen Kampf hatte sie aus dem Gleichgewicht gebracht. »Die Vorwürfe, die ich ihr gemacht habe, hat sie reichlich verdient; denn sie hat eine unerhörte Bosheit ausgesprochen. Ich erzähle ihr, der Herr Professor, der über uns wohnt, habe eine Frau und einen kleinen Jungen verloren; und nun müsse er ganz einsam droben in seinen Zimmern leben, und was sagt hierauf das Kind? ›Geschieht ihm recht!‹ Es ist wirklich nicht leicht, verantwortliche Erzieherin eines Kindes zu sein, das solche boshafte und verletzende Anlagen zeigt.«

Jetzt machte das Fräulein eine Bewegung, die Herrn Kasteller sehr erschreckte. Sie zog ein Taschentüchlein heraus und hielt es vor die Augen.

»Barmherzigkeit! Nochmals Tränen?« rief er aufgeregt aus. »Squirrel, wie kannst du so böse sein und so hartherzige Worte gegen diesen armen Herrn Professor ausstoßen?«

»Ja, ja, Papa, das ist auch nicht recht von ihm!« rief Squirrel, die an des Vaters Hand stehen geblieben war und mit weit aufgerissenen Augen erst Frau Suse, dann das Fräulein angeschaut und ihre Worte aufmerksam verfolgt hatte. »Wenn ich nur einen Bleistift verliere, so muß ich allenthalben suchen, bis ich ihn gefunden habe, und der Herr Professor hat eine Frau und einen kleinen Jungen verloren und sitzt ganz ruhig oben in seinem Zimmer und sucht sie gar nicht, Und der kleine Junge kann ja im Wald herumirren und den Weg nicht mehr finden und kann erfrieren.« Diese Vorstellung überwältigte Squirrel so, daß sie plötzlich in Tränen ausbrach.

»Auch du noch! Barmherzigkeit!« rief Herr Kasteller in immer größerer Aufregung aus. »Geh zu deiner Mutter hinein, Squirrel, und sag ihr, ich komme auch gleich; aber heul ihr nichts vor! Es erfrieren jetzt keine Jungen draußen, sie heulen höchstens und essen Erdbeeren dazu, wenn sie im Wald herumziehen.«

Squirrel ging.

»Ihnen, Fräulein Malwa«, fuhr er zu der Lehrerin gewandt fort, »muß ich doch sagen, daß ich in der Äußerung des Kindes keine Bosheit erkenne. Es müßte Ihnen eher Freude machen zu entdecken, daß Ihre grammatikalischen Bemühungen bei der Kleinen so guten Erfolg haben, daß sie die Worte durchaus in ihrem genauen Sinn versteht. Ich muß es Ihnen überlassen, dem Kinde zu erklären, wie der Professor um Frau und Kind gekommen ist, ich selbst weiß gar nichts davon, bin auch verwundert zu vernehmen, daß Sie etwas von ihm wissen, spricht er doch meines Wissens mit keinem Menschen.«

»Er hat auch mit mir nicht gesprochen«, entgegnete das Fräulein, »seine Haushälterin hat mir ein Bild gezeigt, auf dem man die Frau mit dem kleinen Jungen auf dem Schoß sieht, die beide bald nacheinander gestorben sein sollen.«

»Gut, gut«, gab Herr Kasteller schnell zurück, »nun geh ich hinein, Fräulein, und schicke Ihnen die Kleine heraus, damit Sie ihr diese Geschichte klar machen, das wird nun nötig sein. Auch habe ich mit meiner Frau etwas zu besprechen und wünsche, daß das Kind derweilen draußen bleibt.«

Nun schritt Herr Kasteller dem Zimmer seiner Frau zu, aus dem nach einiger Zeit Squirrel über die Schwelle trat und hüpfend und singend den Gang daher kam; denn das Leid über den Jungen, der im Wald erfrieren konnte, war längst vergessen.

Frau Kasteller mußte schon seit zwei Jahren das Bett hüten oder auf dem Ruhebett ihres Schlafgemachs liegen und sich immer still verhalten. Manchmal hatte sie große Schmerzen zu ertragen, manchmal war sie auch frei davon; aber nie erlaubte der Arzt, daß sie das Zimmer verlasse, ausgenommen, wenn im Sommer die große Badereise angetreten werden mußte. Ihr Mann hatte sich eben an ihr Bett gesetzt und erzählte ihr halb lachend, halb seufzend, durch welches Mißverständnis Squirrel soeben ihre Lehrerin und auch noch Frau Suse in große Aufregung gebracht und ihm den Schrecken eines dreifachen Tränenergusses zugezogen hatte. »Und nun muß ich noch etwas mit dir besprechen«, fuhr er fort, als er mit der Erzählung zu Ende war; »ich hoffe nur, du lässest dich nicht davon aufregen.«

»Es ist doch nichts Schlimmes?« fragte Frau Kasteller ängstlich; denn diese Einleitung kam ihr ein wenig verdächtig vor.

»Gar nicht, gar nicht, hör nur«, beruhigte der Mann »Die gute Frau Nestel ist heute bei mir gewesen und hat mir einen langen Besuch gemacht. Sie wollte mir die Schulzeugnisse des Sohnes bringen, auch einen langen Brief von ihm zeigen und einen Rat von mir holen. Ihr Sohn Georg, mein Mündel, wie du weißt, schreibt ihr von einem Freund, den er auf der Schule ge- wonnen habe, der ein ganz vorzüglicher Mensch sei, ein Vorbild für alle andern an Fleiß und guter Aufführung. Dieser neue Zögling nun und seine beschützende Freundschaft, die er dem Georg gewährt, beschreibt dieser so eingehend und mit solcher Begeisterung, drei Seiten lang, daß die liebende Mutter helle Tränen darüber vergoß. Heute habe ich wahrhaftig genug rinnen sehen !« schob Herr Kasteller aufseufzend ein. Dann fuhr er fort: »Nun hatte die hilfreiche Frau Nestel den Vorsatz gefaßt, die Ferienzeit bei ihrem Bruder auf dem Lande zuzubringen, um ihm die kranke Frau und das kleine Kindlein zu pflegen. Jetzt liest sie auf den drei weiteren Seiten des Briefes, daß es eine unumgängliche Pflicht für sie und dazu der höchste Beweis ihrer Mutterliebe sei, den Freund des Sohnes für die Zeit der Ferien zu sich einzuladen. Der Besuch beim Onkel sollte aufgegeben werden. Für einen solchen Freund müsse alles getan werden, besonders in diesem Fall; denn da er ohne Eltern und Verwandte sei, wäre er gezwungen, seine ganze Ferienzeit mit drei oder vier anderen Unglücklichen im Institut zu verbringen. Dieses Schreiben hat die mitfühlende Mutter in einen schweren Zwiespalt gestürzt. Sie kann dem Bruder die Hilfe nicht versagen und bringt es nicht über sich, des Sohnes Wünsche zu durchkreuzen. Da sollte ich nun Rat schaffen. Seltsamerweise trifft es sich so, daß ich sogleich einen Rat wußte, ihn aber ohne deine Zustimmung nicht geben wollte. Ich habe Frau Nestel auf morgen wieder zu mir bestellt. Georgs neuer Freund ist ein junger Schweizer, dessen Name, verbunden mit dem Namen seines Wohnortes, mich gar nicht zweifeln läßt, daß er von jener Pfarrerfamilie abstammt, bei welcher ich nach einer schweren Kinderkrankheit einige Zeit zur Erholung zugebracht habe. Ich sprach dir doch schon davon. Da meine Mutter mich nicht begleiten konnte, suchte man ein Haus, wo man einer guten Pflege für mich sicher war, und fand das rechte in jenem Pfarrhaus in der Schweiz. Die guten Pfarrersleute hatten nur einen Sohn, der war in der Stadt auf der Schule. So nahm ich seine Stelle ein und wurde so vorzüglich verpflegt, daß ich nachher niemals mehr krank geworden bin. Der junge Stein muß der Enkel der guten Pfarrersleute sein, und ich sehe es als Pflicht der Dankbarkeit an, den Jungen für eine bis zwei der Ferienwochen zu uns einzuladen. Das wäre für Frau Nestel eine gute Lösung und für mich eine rechte Genugtuung, nun mir alle die Guttaten, die ich in dem freundlichen Pfarrhause genossen habe, wieder so lebendig vor die Augen gekommen sind. Was meinst du nun dazu?«

Die Frau sah sehr erschrocken aus. »Aber, lieber Hermann, hast du denn auch überlegt, in was für ein Haus du einen jungen Menschen einladen willst?« fragte sie ängstlich. »Es geht ja bei uns alles so ohne rechte Ordnung und Gesetz zu. Wir können es nicht verantworten, einen noch unerzogenen Knaben bei uns aufzunehmen, auch nur für kurze Zeit; es ist nicht gut für ihn, wer soll sich seiner annehmen? Du kennst Squirrel, sie ist voller Phantasie und Unternehmungsgeist, hat kein geregeltes Dasein, wird von allem Vorkommenden in Aufregung versetzt und wird den Jungen zu unnützen Streichen verleiten oder mit ihm streiten.«

»Nein, nein«, fiel hier der Mann seiner seufzenden Frau ins Wort, »das stellst du dir zu schwer vor. Wir werden den Jungen mit Liebe aufnehmen, das wirkt manchmal besser, als Ordnung und Gesetz. Mit Squirrel werde ich ernstlich sprechen; sie hat ein gutes Herz, sie wird den Gast unterhalten. Du wirst sehen, so ein älterer vernünftiger Junge und ein kleines lustiges Mädelchen, das geht sehr gut zusammen.«

»Dann macht mir die junge Erzieherin Sorge dabei, sie liegt mir auch sonst schon schwer auf dem Herzen«, klagte Frau Kasteller wieder. »Sie ist ja voller Eifer für ihren Unterricht; aber mit dem Kinde zu leben und es durch ihr eigenes Wesen zu erziehen, das versteht sie nicht. Gebärdet Squirrel sich unartig, so wird sie empfindlich und schilt mit ihr, anstatt ihr ruhig und überlegen entgegenzutreten. Sie ist vielleicht noch zu jung; ich fürchte, wir haben uns zu sehr von den vortrefflichen Zeugnissen ihrer Lehrer blenden lassen. Stunden geben und Kinder erziehen sind so verschiedene Dinge!«

»Liebe Marie, mach dir nur darüber keine Sorgen«, wandte hier Herr Kasteller beruhigend ein, »es ist ein Vorzug der jungen Damen, daß sie mit jedem Tag älter werden, und jede ist zur Erzieherin geboren. Laß nur dem guten Fräulein Zeit, daß sich ihre Anlage entwickeln kann. Squirrels Erziehung ist gerade die richtige Aufgabe, die ihre Kräfte anspornen wird.«

»Ja, Hermann, du weißt immer einen Trost«, fuhr die Frau fort; »aber für das Schlimmste im Haus ist kaum einer zu finden. Sieh mich an, lieber Mann, da liege ich an mein Bett gefesselt und kann für mein Haus gar nichts sein, kann für das Kind nicht sein, was der Mutter Pflicht und liebste Tätigkeit wäre, kann dir nicht zur Seite stehen, wie ich sollte, nicht einmal deine Wünsche freudig erfüllen, wie du siehst. Ach, es könnte nicht schlimmer um unser Haus stehen, als es durch mein Unvermögen steht!«

»Das ist eine ungeheure Täuschung von dir«, fiel ihr Mann mit Lebhaftigkeit ein, »im Gegenteil, viel schlimmer könnte es um mein Haus stehen. Nimm einmal an, du wärest Ärztin geworden, und ich käme am Abend heim wie jetzt, nach ermüdenden Geschäften und voller Pläne, die ich mit dir besprechen wollte. Nun sagt mir Suse: ›Ihre Frau ist auf die Praxis, sie hat einen dringenden Fall‹. Ich setze mich hin und warte und warte bis um ein Uhr, bis um zwei Uhr in der Nacht, und derweilen durchwanderst du die unheimlichsten Gassen der Stadt im Dunkeln und wirst mir zuletzt gestohlen.«

Frau Kasteller mußte ein wenig lachen. »Ja, mit solchen Zuständen verglichen, muß ich zugeben, daß die unseren noch erträglich sind. Ich will ja mit Gottes Hilfe in Geduld auf meinem Posten verharren, wenn nur die anderen nicht darunter leiden müßten!«

»Nun wollen wir gar nicht darunter leiden, sondern wir wollen uns alle freuen, einem elternlosen Jungen eine Freude zu machen. Das tust du auch, ich kenne dich schon, schlag ein, du versprichst mir, dabeizusein!«

Herr Kasteller hielt seiner Frau die Hand hin, sie legte die ihrige hinein und seufzte nur noch: »Der liebe Gott wird ja nachhelfen, wo wir's verkehrt machen, den guten Willen sieht er.«

Nun verließ Herr Kasteller seine Frau, ging nach der großen Stube hinüber und berief Squirrel zu sich herein. Sie erschien. Er stellte sie vor sich hin und sagte sehr ernsthaft: »Squirrel, nun habe ich mit dir zu reden: wir werden einen Gast bekommen, einen Jungen, etwas älter als du. Nun versprichst du mir, daß du ein artiges und vernünftiges Mädchen sein willst, daß du dich niemals streitsüchtig gegen den Gast gebärden willst, daß du im Gegenteil immer daran denken willst, wie du deinen Gast unterhalten und etwas tun kannst, das ihn erfreut und erheitert.«

Schon dreimal hatte Squirrel den Vater mit dem Ruf unterbrechen wollen: »Ich verspreche«, um dann alle Fragen anbringen zu können, die bei der aussichtsreichen Nachricht auf einen Besuch in ihr aufstiegen. Erst jetzt konnte sie ihr Versprechen anbringen, fuhr dann aber unaufhaltsam fort: »Wie heißt er, Papa? Ist er groß? Kann er Domino spielen? Muß er auch Stunden bei Fräulein Malwa nehmen? Wo soll er schlafen? Sitzt er neben mir am Tisch?«

»Das wird sich dann alles zeigen, wenn er da ist«, antwortete der Vater aufstehend, »du aber vergiß nicht, Squirrel, was du mir versprochen hast!«

»Nein, nein, das will ich nicht vergessen, und – wart, Papa, hör noch, Papa! Ich will auch schon anfangen auszudenken, was wir machen wollen, wenn er da ist!« rief die Tochter ihrem Vater nach, der schon draußen auf der Treppe war.

*

Drei Tage nach diesen Unterredungen wurde Georg Nestel ein ungewöhnlich dicker Brief in der Freistunde überreicht. Er riß erwartungsvoll den Umschlag in Stücke. »Ah! Da ist auch einer für dich, mit einem großen Siegel«, sagte er, zu Artur gewandt, der neben ihm stand.

»Ach wo«, gab dieser ungläubig zurück; »ich kenne ja niemand bei dir zu Haus.«

»So lies die Anschrift!« rief Georg, den Brief Artur so nah unter die Augen haltend, daß dieser keinen Buchstaben vom andern unterscheiden konnte. Er schob das Papier etwas weg, sah nun aber, daß sein Name wirklich darauf stand.

Nun öffnete er.

»Lies es doch laut«, bat Georg, »es wundert mich fast zu Tod, wer an dich schreibt.«

Artur gehorchte und las:

»Mein lieber junger Stein!

»Ich bin ein alter Bekannter Deiner Großeltern, in deren Hause ich einmal fröhliche Tage verlebt habe. Ich wünsche nun, daß Dir in meinem Hause dasselbe zuteil werden möchte, und lade Dich freundlich ein, die ersten vierzehn Tage Deiner Ferienzeit in meiner Familie zuzubringen. Dein Freund Georg Nestel wird Dich zu uns bringen.

Mit freundlichem Gruß
Hermann Kasteller.« 

»Oh, oh!« rief Georg mit weit aufgerissenen, erstaunten Augen aus, »das ist mein Vormund, der ladet dich zu sich ein. Jetzt hast du's aber gut, Artur, der wohnt in einem viel schöneren Haus als wir! Dort geht ein großer Garten rings ums Haus, und zwei Pfauen sind drin, und hinten im großen Hof sind Truthühner und Fasanen. Ja, ja, du wirst schon sehen, daß es dir da gefallen wird. Ich muß doch der Mutter Brief lesen, ob sie's auch schon weiß.« Eifrig las nun Georg seinen Brief und sah daraus, daß auch die Mutter eine große Freude über diese Einladung hatte. Einmal, weil ja der gute Freund sie so wohl verdiente, und dann auch, weil so ihr Vorhaben für die Ferienzeit keine Veränderung erlitt und der Aufenthalt beim Onkel stattfinden konnte. Georg strahlte vor Glück, daß sein Freund eine so ungeahnt herrliche Einladung erhalten hatte. Er lief von einem Mitschüler zum andern und fragte siegesstolz: »Hast du's gehört, wer Artur in die Ferien einladet?« Dann kam er wieder zu Artur zurück, der still an seinem Platze saß wie zuvor. »Kannst du denn auch noch stillsitzen vor Freude? Nimmt es dich nicht fast in die Luft?« meinte Georg.

»Aber ich kenne ja den Herrn gar nicht und auch sonst niemand in seinem Haus«, entgegnete Artur ihm zaghaft. »Vielleicht erlaubt mir mein Vormund gar nicht hinzugehen, ich muß ihn erst fragen.«

»Ach wo«, rief Georg entrüstet aus, »was Herr Kasteller erlaubt, darf jeder tun! Ja, so schreib nur dem Vormund, der wird dir schon sagen, wer Herr Kasteller ist.«

Mit den monatlichen Zeugnissen ließ Artur seine Frage an den Vormund abgehen, ob er die eingelaufene Einladung annehmen dürfe. Georg hatte richtig prophezeit. Herr Feldmann schrieb, eine bessere Einladung hätte Artur nicht erhalten können, er sollte sie mit Dank annehmen.

Als Georg diese Nachricht vernahm, warf er seine Mütze hoch in die Luft und schrie: »Hurra, nun hat das Weinen ein Ende! Nun wird nur noch an die Ferienfreude und ans Kastellerhaus gedacht. Unsern Artur wird keiner mehr weinen hören. Dann besuchst du mich einmal beim Onkel, und wir tun dort, was wir wollen! Nun wirst du schon lustig werden, Artur, paß nur auf!«

Artur hörte keiner mehr weinen. Aber oft, wenn sie alle schon tief im Schlaf lagen, weinte er noch in sein Kissen hinein, aber so leise, daß es keiner hören konnte.


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