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Als der Arzt vom Rhein seinem Freunde in Buchberg geschrieben hatte, er möchte für die kranke Nora eine geeignete Wohnung auf der gesunden Höhe seines Heimatortes auffinden, damit sie den Sommer zu ihrer Stärkung da zubringen könnte, hatte dieser die Sache gleich seiner Frau übergeben, die sofort mit der Tante zu beraten begann. Ihr erster Gedanke war das große Haus des Herrn Bickel gewesen, wo so viele unbewohnte Zimmer sich befanden, und sogleich war die Frau Doktorin hingegangen: aber sie war nicht gut angekommen. Frau Bickel hatte gleich erklärt, das sei ganz unmöglich, daß sie von ihren Zimmern hergeben könnten, die brauchten sie selbst: sie hatte auch kaum ihre Entrüstung verbergen können über ein solches Ansinnen, daß in die Zimmer, wo nie ein Mensch hereinkam, jetzt auf einmal ganz fremde Leute hinein sollten und da wohnen. Die Frau Doktorin hatte sanftmütig gesagt, Frau Bickel möge es ihr nicht übel nehmen, es sei nur eine Anfrage gewesen, es sei eben sehr schwer, eine Wohnung mit mehreren Zimmern zu finden. Frau Bickel hatte sich aber noch lange nicht beruhigen können und nachher noch von Zeit zu Zeit zu Herrn Bickel sagen müssen: »Es nimmt mich nur wunder, was eigentlich auch die Frau Doktorin meint; wir werden wohl unser Haus nicht für andere Leute gebaut haben!« Herr Bickel war auch gleich ihrer Ansicht gewesen und fügte zu diesen Bemerkungen immer bei: »Und dann noch für Leute, von denen man nicht einmal weiß, ob sie nur auch etwas haben oder gar nichts. Da könnte man schön ankommen!« Der Frau Doktorin war dann auf einmal ein Gedanke gekommen: auf dem Eichenrain stand seit dem Frühjahr ein neues Häuschen fertig, dessen ersten Stock der Bauer bezogen hatte, dem es gehörte; den oberen Stock sollte sein Sohn beziehen, der auf den Herbst seinen eigenen Haushalt gründen wollte; so standen die Zimmer noch leer. Das Haus stand auf der Höhe des Rains und hatte eine wundervolle Aussicht hinüber auf die grünen Hügel mit den Schneebergen dahinter und gegen Abend hinunter auf das rauschende Flüßchen im waldigen Talgrund. Augenblicklich war die Frau Doktorin nach dem Eichenrain hinaufgegangen, und zu ihrer Freude hatte sie in der kürzesten Zeit mit den willigen Bauersleuten alles festgestellt; wenige Tage nachher sahen durch ihre Beisteuer an Betten und Möbeln die sauberen, hellen Stübchen ganz wohnlich und einladend aus und standen zum Empfang der Fremden bereit.
Jetzt waren schon einige Tage vergangen, seit Frau Stanhope mit ihrem kranken Töchterchen eingezogen war, und nur der Herr Doktor und auch einmal seine Frau waren noch dagewesen, denn Nora war von der Reise angegriffen, daß sie noch keinen Besuch hatte empfangen dürfen. Aber auf heute war ihr Emmis Besuch von ihrem Vater versprochen worden, und nun saß Nora an dem Fenster, das gegen Abend ging, wo sie immer am liebsten saß. Von dort konnte sie auf die hellen, schäumenden, rastlos wandernden Wellen des Bergflusses sehen, und gegen Sonnenuntergang schaute sie so gern nach dem leuchtenden Abendhimmel und den golden schimmernden Hügeln davor.
Jetzt erblickte Nora ein Mädchen, das den Hügel herauf ihrem Hause zueilte. Sollte das die Emmi sein? Mit größter Verwunderung sah Nora, wie das Kind, ohne abzusetzen, in Sprüngen den ganzen Rain heraufgerannt kam. Das war ihr unbegreiflich; sie meinte, nun müsse es umfallen vor Erschöpfung. Aber im nächsten Augenblick klopfte es, und hereingelaufen kam dasselbe Kind mit glühend roten Wangen und einem großen Strauß von roten und blauen Blumen in der Hand, den ein dicker, runder Arm sofort der blassen Nora entgegenstreckte. Die Eingetretene war Emmi. Frau Stanhope begrüßte sie freundlich und hieß sie sich zu Nora hinsetzen, die dankend den Strauß in Empfang genommen hatte. Die beiden Kinder boten einen sehr verschiedenen Anblick dar, wie sie so einander gegenübersaßen. Die rotbackige Emmi, mit ihren vollen, runden Armen und dem ungestümen Leben in jeder Bewegung, ließ die zarte, schmächtige Nora noch schmaler und durchsichtiger erscheinen, so als könnte ein leiser Windhauch sie wegwehen wie ein zartes Rosenblättchen. Frau Stanhope schaute eine kleine Weile auf die Kinder, dann wurden ihre Augen naß, und sie ging in das anstoßende Zimmer hinüber.
»Wo hast du die frischen Blumen geholt?« fragte jetzt Nora ihren Gast.
»Auf der Wiese, jetzt im Herkommen«, entgegnete Emmi; »o, jetzt hat es so viele rote Margeriten und Glitzerblumen und blaue Vergißmeinnicht, o, so viele, du solltest nur sehen, ganze Büsche! Sobald du gesund bist, gehen wir miteinander in die Vergißmeinnicht und dann in die Erdbeeren und nachher in die Heidelbeeren.«
Nora schüttelte den Kopf, und mit großen, ernsten Augen sagte sie: »Darauf kann ich mich nicht freuen.«
Emmi war sehr erstaunt, denn sie kannte nichts Herrlicheres; doch jetzt kam ihr ein erklärender Gedanke.
»Das kennst du gewiß alles gar nicht, Nora, vielleicht hat es bei euch keine Vergißmeinnicht und Erdbeeren, aber wart nur, bis du kommen kannst, du wirst dich einmal freuen! Du begreifst nicht, wie es dann zugeht; man kann fast nicht mehr heim, so schön ist's dann immer.«
»Ja, man meint nur immer, es ist so schön draußen«, sagte Nora nachdenklich; »aber wenn man draußen ist, wird man gleich so müde, so schrecklich müde, und alle Freude ist aus.«
Emmi schaute so verwundert auf die Nora, als spreche diese auf einmal eine Sprache, die ihr völlig unverständlich war. Emmi war niemals müde; jeden Abend war ihr größtes Leid, daß der Tag schon wieder zu Ende war und sie nicht noch dahin und dorthin rennen konnte, auch wenn sie schon den ganzen Tag umhergerannt war. In ihrer großen Verwunderung schaute sie die Nora eine ganze Weile an. Da mußte ihr denn aus ihrem Anblick ein Gedanke klar geworden sein; auf einmal sagte sie ganz erleichtert: »O, jetzt weiß ich schon, warum du das meinst; weißt du, du bist nun krank, aber wart nur, bis du wieder gesund bist, dann kommt's ganz anders, dann hast du's wie ich und wirst gar nie mehr müde.«
Aber Nora schüttelte wieder den Kopf: »Das war nie so bei mir, ich war immer müde, ich kann mich gar nicht darauf freuen, daß es so werde, wie bei dir; es kommt doch nicht.«
Der Emmi wurde es ganz angst. »Ja, aber du mußt dich doch auf etwas freuen können, man muß doch jeden Abend an etwas denken, worauf man sich freuen kann für den folgenden Tag; und darum mußt du es glauben, daß dich mein Papa ganz gesund machen wird, sonst kannst du dich ja auf gar nichts freuen, und dann wirst du immer trauriger.«
»Ich freue mich schon auf etwas, und immer wenn ich so müde bin und die anderen so lustig springen sehe, wie dich eben den Berg hinauf, denk' ich daran und freue mich darauf, wie es dann im Himmel ist, noch viel schöner als hier; so schöne Blumen sind dort, Rosen und Lilien, die gar nie welken, und alle Menschen sind froh und gesund für immer. Freust du dich nicht auch, in den Himmel zu gehen?«
Emmi wußte nicht recht, was sagen. Sie glaubte schon, daß es im Himmel so schön sei, aber sie wollte eigentlich doch lieber dableiben; da gab es ja so vieles für sie, sich daran zu freuen, daß sie gar nicht darüber hinauskam. Nora schaute sie erwartend an, sie verlangte sichtlich nach ihrer Antwort. Endlich sagte Emmi: »Ich habe noch nie daran gedacht.«
Enttäuscht schaute Nora auf ihre neue Freundin.
»Das ist schade«, sagte sie mit einem Tone großer Niedergeschlagenheit; »nun kann ich auch mit dir nicht von dem schönen Leben im Himmel reden, von dem mir Klarissa so viel erzählt hat, weil es dich nicht freut, und mit gar niemand kann ich davon reden, denn Klarissa kommt nicht hierher, und zu Mama darf ich gar nicht davon sprechen; wenn ich nur ein Wort vom Himmel sage, so muß sie gleich weinen und wird so traurig, daß ich nichts mehr sagen darf. Dann habe ich gedacht, mit dir könnte ich ganz fröhlich darüber reden, wie mit der Klarissa, aber nun hast du keine Freude daran.«
Emmi antwortete nicht gleich. Sie grübelte sichtlich nach, wie da ein Mittel zur Ausgleichung zu finden wäre. Auf einmal rief sie hoch erfreut aus: »Jetzt weiß ich etwas, und darauf kannst du dich auch freuen. Nun währt es gar nicht mehr lange, so fängt man an zu heuen; dann liegen die schönen, trockenen Heuhäufchen auf der Wiese herum, und man kann gehen und hineinliegen; da kannst du gar nicht müde werden, und wir gehen alle Tage miteinander ins Heu.« Aber Nora schüttelte ungläubig den Kopf und sagte nichts mehr. Nach einer kleinen Weile stand Emmi auf und schickte sich zum Fortgehen an. Unterdessen war Frau Stanhope wieder hereingetreten, und als sie nun das Kind zum Weggehen gerüstet sah, meinte sie, damit habe es doch noch keine Eile; die Mutter wisse ja schon, wo Emmi sei, sie solle sich doch noch ein wenig niederlassen. Nora blieb ganz still und unterstützte das Gesuch der Mutter nicht, und Emmi schien sehr pressiert zu sein; sie behauptete ein wenig unsicher, es sei doch schon ziemlich spät, und hatte kaum mehr Zeit, recht Abschied zu nehmen. Draußen vor der Tür nahm sie einen großen Anlauf und rannte dann ohne Aufenthalt bergab und wieder bergan und langte so bald darauf keuchend daheim an der Haustreppe an. Hier kam ihr in den Sinn, daß sie eigentlich viel früher wieder da sei, als sie und alle anderen im Haus erwartet hatten, und daß gewiß die Brüder einige Bemerkungen über ihre schnelle Rückkehr machen würden, die sie gar nicht wünschte. Sie überlegte, wie sie sich am besten aus der Sache ziehen könne. »Die Tante suchen«, kam ihr gleich als hilfreiches Mittel in den Sinn. Ihr wollte sie alles erzählen, wie der Besuch abgelaufen war – eigentlich nicht so, wie sie sich vorgestellt hatte – und wie sie so gegen das Ende nicht mehr recht gewußt habe, was sie mit der Nora reden sollte. Die Tante würde gewiß gleich verstehen, wie es war, und dann die Sache schon zurechtlegen, daß die Brüder nicht spotten konnten. Sie sprang also die Treppe hinauf, stieß aber gleich darauf mit dem Bruder Fred zusammen, der von oben heruntergerannt kam.
»Aha, da hat's was gegeben mit der neuen Freundin, sonst wärst du noch lang' nicht da«, rief Fred im Vorüberrennen. Emmi gab keine Antwort und lief der Stube zu. Eben trat die Mutter heraus, denn sie war in die Küche gerufen worden, und drinnen im Zimmer saß die Tante allein am Nähtisch. Eilig drückte sich Emmi an ihre Seite, damit nicht eins der Geschwister komme und ihr den Platz raube, bevor sie ihre Angelegenheit bei der Tante niedergelegt hatte.
Draußen in der Küche stand die Marget; die Frau Doktorin stellte ihr einen Stuhl zum Tisch hin und schaute nach, ob sich nicht noch ein wenig Kaffee vorfinde, und da sie noch solchen fand, setzte sie der Marget eine Tasse voll vor, setzte sich dann zu ihr hin und sagte: »Nehmt Euch einen Augenblick Zeit, Marget; ich hätte schon lang' gern einmal mit Euch geredet. Es ist nicht nur um der Sachen willen, daß ich Euch habe kommen lassen, es ist um des Elsli willen. Das Kind liegt mir recht am Herzen; es sieht gar zu zart und bleich aus, und immer sehe ich es mit dem schweren Hanseli auf dem Arm, und die anderen kleinen Brüder hangen daneben noch so an ihm, daß sie es fast zu Boden reißen. Das kann das zarte Kind gewiß nicht lange aushalten; seht es nur auch an, es ist ja zum Umblasen dünn und schmächtig. Ihr müßt wirklich zusehen, daß das Kind den kleinen Buben nicht mehr immer auf dem Arm halten und die anderen beiden noch dazu fortschleppen muß.«
»Ja, ja, Frau Doktorin, das ist bald gesagt«, fiel jetzt die Marget ein; »aber was kann denn unsereins machen? Ich habe alle Hände voll zu tun vom Morgen bis in die Nacht hinein, daß nur auch jedes täglich etwas auf den Leib und etwas in den Löffel hat; da kann ich nicht noch alle die kleinen Schreihälse auf mir haben; wie sollte ich dann arbeiten? Da ist aber niemand als das Elsli, das mir mit ihnen helfen kann; wer sollte es tun? Der große Bub', der Fani, könnte ihm etwa helfen, aber er vergißt's; er ist nicht bösartig, aber er denkt nicht dran und ist nie da. Das Kind hat es ein wenig streng, ich weiß schon, aber es muß sich gewöhnen, es kommt ja später nur immer strenger.«
»Aber Marget«, nahm die Frau Doktorin wieder auf, »das Kind ist nicht kräftig wie jedes andere, es hält diese Lebensart nicht aus, und wenn es Euch krank und elend wird, was habt Ihr dann?«
»Ja, dann in Gottes Namen, ich weiß nicht, was dann; unsereins hat genug an dem, was jetzt gerade zu tragen ist, und kann nicht noch für das sorgen, was kommen kann. Ich weiß nur, daß ich dem Elsli nicht ersparen kann, daß es jetzt dran muß, und je älter es wird, je schwerer wird's kommen, denn sobald es einen Batzen verdienen kann, muß es in die Fabrik, das ist keine leichtere Arbeit als die Buben hüten. Da kommt aber zuerst der Fani dran; der Vetter Fekli hat den schon im Aug' für Ostern, er hat mir schon zwei-, dreimal gesagt, er wolle sobald als möglich an dem Buben etwas tun und ihn in die Fabrik nehmen. Freilich, wenn der Schneiderli-Fekli nicht seinen Profit absähe bei der Arbeit des Buben, so nähm' er ihn nicht, das weiß ich schon; ohne Profit tut der Vetter Fekli nichts.«
»Seid ihr wirklich verwandt mit dem Herrn Bickel, Marget?« fragte die Frau Doktorin.
»Freilich bin ich«, gab Marget zurück; »wir sind nur zu dritten Kindern, vom Großvater her. Er hat es jetzt ein wenig vergessen, seit er ein Herr ist; aber das ist mir ganz gleich, ich tue, wie ich's gewohnt bin, und wenn ich ihn sehe, so sage ich: ›Guten Tag, Vetter!‹ Und wenn er sich dann ein wenig umkehrt, so als habe er nichts gehört, und nachher mich so begrüßt, als wisse er kaum recht, wie ich heiße, so ist das seine Sache. Mir ist's recht, daß er den Fani so gut kennt und ihn im Auge hat; so kann man bald auf einen Batzen bares Geld hoffen, es ist gewiß notwendig.«
Jetzt holte die Frau Doktorin den Sack herbei, den das Elsli dagelassen und in den die verschiedenen Kleidungsstücke gesteckt worden waren, und übergab ihn der Frau.
»Aber denkt doch daran, Marget«, sagte sie, als diese sich zum Weggehen anschickte; »schont das Kind, wo Ihr könnt; versprecht es mir, ich helfe Euch ja auch gern, wo ich kann.«
»So viel ich's kann, will ich's schon tun«, versprach die Marget, setzte aber gleich hinzu: »Sie müssen aber ja wohl begreifen, daß ich meiner Arbeit nach muß, und es muß eben mit den Buben fertig werden, wie es kann. Jetzt sind wir alle gesund, und doch braucht's alle Hände, daß nur jedes sein bißchen Essen bekommt jeden Tag. Was kann ich da viel erleichtern? Kommt einmal wieder Krankheit ins Haus, wie auch schon, da muß ja jedes noch ganz anders dran. Kann ich das ändern? Mich trifft's zuerst. Es weiß eben kein Mensch, wie die Armut tut, der nicht da durchgegangen ist, und ich muß manchmal denken: Unserem Herrgott sind seine Kinder nicht alle gleich lieb.«
»Nein, Marget, das müßt Ihr nicht denken«, sagte die Frau Doktorin mit sanftem Ton, denn das schwere Leben der armen Leute ging ihr sehr zu Herzen. »Es gibt noch viel andere Leiden außer der Armut, die noch bitterer weh tun können. Der liebe Gott muß wissen, warum sie uns kommen müssen. Aber ich weiß auch, daß die Armut bitter ist, und es ist mir schwer genug, daß ich nicht überall helfen kann, wie ich möchte.«
Die Marget nahm nun ihren Sack zusammen und ging.
Mit schwerem Herzen trat die Mutter in die Stube zurück; sie fühlte wohl, daß nach wie vor das Elsli seine Last herumzuschleppen hatte und daß das Kind mit dem schmächtigen Körperchen das nicht lange aushalten würde. Sie setzte sich seufzend neben die Tante hin, um bei ihr den drückenden Eindruck niederzulegen, den sie von den Worten der Marget, das Elsli betreffend, empfangen hatte. Die Tante hatte ja auch immer irgendeinen tröstlichen Gedanken und eine erheiternde Aussicht in allen schwierigen Lagen des Lebens. Aber bevor noch Emmis immer noch strömende Mitteilungen gedämpft waren und die Mutter beginnen konnte, steckte die Kathri den Kopf zur Tür herein und rief: »Frau Doktorin, Sie müssen herauskommen, es ist schon wieder eine da!«
»Eine! Wer denn, Kathri?« fragte die Frau Doktorin mit leisem Vorwurf. »Wer ist es denn?«
»Ja, wenn ein Mensch solche Namen behalten könnte!« gab die Kathri zurück.
»Ist es etwa Frau Stanhope, die Ihr so draußen stehen laßt?« fragte die Tante.
»Gerade die ist's«, bestätigte die Kathri und fuhr ärgerlich fort: »Wenn sie Hopfstange hieße, so könnte man sich doch noch etwas denken dabei; aber so auf den Kopf gestellt kann kein Mensch einen Namen behalten.« Von dem Augenblick an wußte aber die Kathri den Namen der Dame ganz genau, denn das Bild von der Hopfenstange, die auf dem Kopf steht, kam ihr nun immer gleich in den Sinn.
Die Mutter war hinausgegangen und hatte Frau Stanhope ins gute Zimmer geführt. Diese kam, um die Frau Doktorin zu fragen, ob sie ihr nicht einen jungen Boten verschaffen könnte, der ihr die vielen Kleinigkeiten, die man immer bedürfe, täglich ein paarmal zu besorgen käme, da das Dienstmädchen unmöglich so viel auf der Straße sein könnte. Es wäre ja vielleicht ein Kind zu finden, das zwischen den Schulstunden durch Zeit zu dieser Tätigkeit hätte.
Augenblicklich stand das bleiche Elsli vor den Augen der Frau Doktorin und sie überdachte gleich, wieviel besser es für das Kind sein würde, eine Zeitlang leicht und frei herumlaufen zu können, anstatt immerfort unter seiner Bürde zu bleiben. Auch dachte sie sich, wenn dadurch täglich einige Batzen in die Hände der Marget gelangten, würde diese wohl suchen, die Sache möglich zu machen.
»Ich wüßte ein sehr nettes, anständiges kleines Mädchen, das Ihnen gefallen würde«, sagte jetzt die Doktorsfrau; »nur bin ich nicht ganz sicher, ob die Mutter ihre Einwilligung dazu gibt, sie kann selbst das Kind gut brauchen daheim.«
»Versprechen Sie ihr einen guten Lohn«, sagte Frau Stanhope erfreut, »am allerliebsten möchte ich ein solches Mädchen haben; es soll die Mutter nicht gereuen, sie soll nur sagen, was sie haben will.«
Diese Aussicht für das Elsli erfreute das eben noch so bekümmerte Herz der Frau Doktorin so sehr, daß sie gleich selbst noch zu der Marget hingehen und womöglich die Sache in Ordnung bringen wollte. Sie begleitete denn auch Frau Stanhope ein gutes Stück Weges und lenkte dann in den Feldweg ein, der zum Häuschen des Tagelöhners Heiri führte.
Die Marget war allein zu Hause und stand am Waschtrog. Hier stellte die Frau Doktorin sich neben sie hin und fing an, die Sache mit ihr zu besprechen. Es ging nicht lange, so waren die Frauen einig, denn die Marget fand bald, ein wenig bares Geld, das ihr ja immer mangelte, helfe ihr in manchem nach und sie könne dann selber eher etwa zu den Kindern sehen; auch sei ja das Elsli damit nicht aus der Welt, meinte sie. So wurde festgesetzt, gleich am folgenden Tag sollte das Elsli nach der Schule um elf Uhr sich bei der Frau Stanhope einfinden, um seine neue Tätigkeit anzutreten.
Am späteren Abend, als Mutter und Tante noch beieinander saßen und die Strümpfe stopften, erkundigte sich die Mutter, was die eifrigen Mitteilungen der Emmi gewesen seien, und vernahm nun, daß der Besuch bei der kranken Nora ganz fehlgeschlagen hatte, daß Emmi ganz überzeugt sei, die Nora begehre nicht, daß sie wiederkomme, daß ihr selbst das aber im geringsten nichts mache, sondern daß sie froh sei darüber, denn sie habe gar nichts mehr zu reden gewußt mit der Kranken und diese habe auch nichts mehr gesagt. Das war nun ein ganz neuer Fall für die Mutter und setzte sie sehr in Erstaunen, denn bis jetzt war der Emmi noch nie das Wort ausgegangen in keinerlei Gesellschaft, und die Sache war der Mutter nicht recht, denn sie hatte sich so in den Gedanken eingelebt, Emmi könnte der armen Kranken manche fröhliche Stunden bereiten und wiederum könnte der Umgang der feinen Nora auf das etwas laute und unruhige Wesen der Emmi einen sehr heilsamen Einfluß ausüben. Für einmal konnte da nun nichts getan werden, die Sache zu ändern; doch meinte die Mutter, es könne ja von selbst noch ganz anders kommen: die Freundschaften unter den Kindern schließen sich wohl manchmal auf der Stelle, aber andere Male müssen sich diese auch erst eine Zeitlang aneinander gewöhnen. Die Tante schüttelte zwar den Kopf zu dieser Hoffnung, denn was ihr Emmi erzählt hatte, machte ihr ganz den Eindruck, als gingen diese zwei Wesen in allen ihren Anlagen und Bestrebungen, ihren Freuden und Interessen so weit auseinander, daß sie nie zusammenkommen könnten. Dann besprachen die Schwestern noch Elslis neue Aussichten, und die Mutter war ganz glücklich in dem Gedanken, daß sie ein paar Wochen lang nicht mehr den schweren Hanseli auf dem Arm des fast zusammenbrechenden Kindes erblicken müsse.