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In Belgien, unweit der Hauptstadt, in Schloß Laeken, der Residenz des Königs, bin ich, die Tochter S. M. des Königs Leopold II., König der Belgier, Herzog zu Sachsen, Prinz von Sachsen-Coburg und Gotha, und I. M. der Königin Marie Henriette, Königin der Belgier, Erzherzogin von Österreich, Prinzessin von Ungarn, geboren. Es war im Frühjahr – zu der Zeit, da der Lenz die Fülle seiner überschwänglichen Gaben ausbreitet und die Vögel die Natur mit ihren Liedern erfüllen – am 21. Mai 1864.
Eine Tochter und ein Sohn waren meinen Eltern schon vor mir geschenkt: Louise am 18. Februar 1858 und Leopold am 12. Juni 1859.
Das erste Ereignis, das sich meinem Gedächtnis tief eingeprägt hat, war der Tod dieses geliebten Bruders, den es Gott gefiel, im Alter von noch nicht zehn Jahren zu sich heim zu berufen. Obwohl ich erst viereinhalb Jahre war, entsinne ich mich doch deutlich dieses entzückend schönen, zärtlichen Kindes, seiner Geduld während der kurzen Krankheit und dann des furchtbaren Schmerzes meiner Mutter, als das Leben ihres einzigen Sohnes in ihren Armen erloschen war. Eine Lungenentzündung, die sich der Prinz durch einen Sturz ins Wasser beim Spielen mit einem Segelboot zugezogen hatte, raubte uns das Glück unserer Familie, die Hoffnung unserer Dynastie. Die Vorsehung legte ein grausames Opfer auf uns und das ganze Land. Für lange Zeit schwand das Lächeln von den Lippen meiner Mutter, ihr rosiger Teint verlor seine Jugendfrische; in ihren Augen war eine Herzensnot zu lesen, die nie mehr ganz verschwand.
Von dieser Stunde an erscheint mir in der Erinnerung das Zusammenleben meiner Eltern verdüstert. In tiefster Seele durch den Verlust ihres Sohnes getroffen, war meine Mutter eine andere geworden. In diesem Kind hatte sie den Sinn ihres Lebens erblickt, es hatte sie mit dem Los, das ihr zugefallen war, versöhnt; nun war alles zunichte geworden. Nie anders hatte sie dieses Leben erträumt, als sie jung und schön mit siebzehn Jahren, ohne recht zu wissen wie und weshalb, ihre Hand dem Herzog von Brabant – dem ältesten Sohne Leopolds I., König der Belgier, und der Königin Marie Louise, Prinzessin von Orléans – reichte.
In Budapest aufgewachsen inmitten eines fröhlichen Familienkreises, von zahlreichen Geschwistern geliebt, zwanglos erzogen, hatte meine Mutter ein heiteres Gemüt und einen Liebreiz, den ihre Freundlichkeit noch anziehender erscheinen ließ. Eine Tochter des Erzherzogs Joseph, des großen Palatins von Ungarn, dessen Name noch heute im Lande voll Verehrung genannt wird, und seiner Gemahlin, einer Prinzessin von Württemberg, erhielt sie von ihren Eltern eine sorgfältige und ausgezeichnete Erziehung, die ihre geistigen Anlagen auf das vollkommenste ausbildete. Auch künstlerisch hoch begabt, malte sie ebenso schön, wie sie Klavier und Harfe spielte oder sang. Eine große Naturfreundin, liebte sie jede Beschäftigung im Freien und besonders Hunde und Pferde. Keiner vergaß ihre schlanke, geschmeidige Gestalt, der sie je in der Reitschule sah, wo sie ihre englischen Pferde selbst zuritt. Auch noch als Königin konnte sie, tagelang an der Seite des Königs Wiesen und Äcker, Felder und Wälder durchquerend, unerschrocken jedes Hindernis nehmend, die Kaltblütigkeit und den Mut, die sie auszeichneten, beweisen.
Marie Henriette, verwöhnt von Eltern und Geschwistern, und von all denen, die sie heranwachsen sahen, vergöttert, mußte Vaterland, Familie und Heim verlassen, um einem Mann zu folgen, den sie noch niemals gesehen. Oft hatte sie mir später erzählt, wie schwer ihr dieses Scheiden, die Reise in das Ungewisse, gefallen ist. Sie wurde Belgierin und weihte sich ihrer neuen Heimat. Allein in der Tiefe ihres Herzens blieb sie Ungarin, sie konnte ihre Heimat nicht vergessen. Dort hatten keine Tränen ihre schönen Augen getrübt und ihre Wangen gebleicht; die süßesten Erinnerungen verbanden sie mit ihrem Elternhaus.
Leopold I., König der Belgier, hatte durch seine große Beliebtheit, seine Familienverbindungen und seine Stellung als Senior eines der ältesten deutschen Fürstenhäuser es verstanden, seiner Dynastie Weltgeltung zu verschaffen. Er selbst hatte die präsumptive Erbin des englischen Königsthrones, die Prinzessin Charlotte geheiratet, und, als diese frühzeitig starb, die Tochter Louis Philippe's. Seine Schwester war die Mutter der Königin Victoria von England. Andere Geschwister, Neffen und Nichten hatten sich mit Mitgliedern der russischen, französischen und portugiesischen Herrscherfamilien vermählt. Um die Verbindung mit dem österreichischen Kaiserhaus herzustellen, wünschte König Leopold I. seinen Sohn, der damals achtzehn Jahre alt war, mit einer Erzherzogin zu vermählen. Erzherzog Johann, der zu Leopold I. in freundschaftlichen Beziehungen stand, übernahm die vertrauliche Mission, sich zu erkundigen, ob man am Wiener Hof einer Verbindung des belgischen Thronerben mit der Erzherzogin Marie Henriette geneigt wäre. Es bestand zwar schon der Plan, daß sie die Gemahlin Kaiser Franz Josefs werde, da aber die Kaiserin-Mutter nicht dafür war, wurde der belgische Heiratsplan in Wien freundlich aufgenommen und Erzherzog Johann ersucht, im günstigen Sinne zu antworten. Dann erst weihte man die junge Erzherzogin ein. Diese erklärte, sie könne sich nicht an einen Mann binden, den sie noch nie gesehen. Man ließ ihr jedoch keine Ruhe, bestürmte sie mit Lockungen und stellte ihr alle Vorteile dar, welche sie als die Gemahlin des zukünftigen Königs zu erwarten habe. Endlich willigte sie ein. Zunächst wurde sie in Wien per procura dem Erzherzog Karl Ludwig, dem Bruder des Kaisers, angetraut, der die Braut dann nach Belgien geleitete. Als sie zu ihrem zukünftigen Gemahl nach Brüssel reiste, hielt sie sich sechsunddreißig Stunden in Schaumburg bei ihrem Bruder, dem aus der Monarchie verbannten Erzherzog Stephan, auf, um sich Mut und Trost zu holen. Wohl achtete sie ihren Schwiegervater König Leopold I. hoch, allein der Verbindung mit dem Herzog von Brabant ging sie mit bangem Herzen entgegen.
Mein Vater hinwiederum stand unter dem Einfluß seines Vaters, der ihn davon überzeugt hatte, daß diese Verbindung von höchstem politischen Interesse für Belgien sei. Mein Vater, zur Zeit seiner Heirat noch nicht erwachsen – er zählte erst neunzehn Jahre –, war zu jung, um die Bedeutung einer so ernsten Handlung ermessen zu können. Allerdings war er auch nicht dafür verantwortlich – der König hatte die Heirat beschlossen, und der Sohn mußte sich seinem Willen fügen.
Der Herzog von Brabant, mein Vater, besaß eine hervorragende Intelligenz, einen durchdringenden Scharfblick; seine Begabung für politische Unternehmungen und Geschäfte aller Art war außergewöhnlich. Seine Bildung war bedeutend, er hatte ein staunenswertes Gedächtnis, die Gabe der Rede stand ihm wie wenigen zu Gebot. Als er nach dem Tode seines Vaters im Jahre 1865 als Leopold II. die Regierung, die er keineswegs nur auf dem Papier und dem Namen nach zu führen gesonnen war, antrat, blieb ihm wenig Zeit, sich mit seiner Frau und seinen Kindern zu beschäftigen. Dem Familienleben wenig zugetan, verlor er unglücklicherweise mehr und mehr den Geschmack an dessen Freuden und Pflichten. Es ist schmerzlich und peinlich, daran zu denken, wie diese beiden, von der Vorsehung mit so glücklichen Gaben beschenkten Menschen, mein Vater und meine Mutter – sie voll edler Neigungen und Tugenden, er von scharfem Verstand und genialer Begabung – in bester Eintracht hätten leben und sich ein glückliches Heim schaffen können. Doch leider verstanden sie sich nicht. Ihre Wege kreuzten sich einen Augenblick, um sich dann innerlich für immer zu trennen. Der eine Teil schlug den Weg der Gleichgültigkeit, der Ungerechtigkeit, der Untreue ein, der andere Teil den der würdigen Ergebung, der Abgeschiedenheit und des Leidens bis in den Tod.
Es ist kein Wunder, wenn den Kindern, die einer solchen Ehe entsprossen sind, das Herz nicht froh wurde. Während andere mit Freuden an die glückliche Zeit im Elternhaus zurückdenken, erinnerten wir uns nur ungern der düsteren Eindrücke, die wir unter dem elterlichen Dache erlebten. Seltsame Fügung! Diese freudlose Jugend ist für jede von uns gleichsam eine Vorbereitung gewesen für die ernsten Jahre einer bitteren Zukunft, die uns beschieden sein sollte.
Vertrauen und Zärtlichkeit, Gefühle, die schon die Wiege des Kindes schmücken sollen und das Herz der Jugend bilden, wurden uns nicht geschenkt. Trotz ihrer Kälte, ihrer scheinbaren Unbeugsamkeit und einer Strenge, die an Härte streifte, liebte ich meine Mutter unendlich. Ich bewunderte und verehrte sie, aber sie flößte mir Scheu ein. Dies war der Grund, weshalb ich niemals an ihr jene Stütze und liebevolle Hingabe fand, nach der sich mein ganzes Wesen sehnte. Die Zurückhaltung meiner Mutter war mir nicht begreiflich – erst viel später wurde ich in die Kämpfe eingeweiht, die dieses Herz gelähmt hatten.
Wir wurden nicht etwa als Königskinder in Wohlbehagen, Pracht und Luxus, sondern wie die Kinder einfacher Bürger, bescheiden und ohne Ansprüche, erzogen. Meine Mutter wollte ihre Töchter vor allem für das Gute heranbilden. Sie erzog uns christlich, damit die Wohltaten eines unerschütterlichen Glaubens uns jene Charakterfestigkeit verleihen sollten, die sie selbst besaß. Heute segne ich meine vorausschauende Mutter. Ich danke es ihr, daß ich eine ernste, pflichtbewußte Frau geworden bin, die ein zwanzigjähriges Ringen, ohne zu straucheln, bestanden hat.
*
Im Alter von sechs Jahren begann mein Unterricht; ich verstand bald, daß nun Bücher und Hefte meine Spielsachen ersetzen mußten, daß ein geregeltes Leben beginnen würde, Gleichzeitig trat die Gouvernante meiner Schwester, Fräulein Legrand, an Stelle meiner bisherigen Kinderfrau, der guten Antoinette Polsterer, einer Wienerin, die mich mit selbstloser Liebe umgeben und gepflegt hatte.
Die Stunde des Aufstehens war früh: im Sommer um fünf, im Winter um sechs Uhr. Während des Ankleidens war strengstes Stillschweigen Gebot, dessen Bruch harte Strafen nach sich zog. Wir mußten uns allein ankleiden und kämmen. Die Kammerfrau stand im Zimmer und überwachte die Toilette. Um sich vom Gehorsam ihrer Schülerinnen zu überzeugen, trat die Gouvernante oft überraschend ein. Ich gewöhnte mich schnell an diese neue Ordnung – nur das Kämmen kostete mich manche Träne. Ich hatte prachtvolles, feines Haar, das sich von selbst lockte und wellte; es wurde immer schwieriger, es zu glätten und zu teilen. Wir trugen eine weder schöne noch kleidsame Frisur. Ein runder Kamm, der die Form des Kopfes hatte, hielt die Haare aus der Stirn, an den Zähnen des Kammes war ein Netz befestigt, das die über den Rücken fallenden Haare wie in einem Sack einschloß. Unsere Kleider waren ebenso einfach wie unsere Haartracht. Hemdartig zugeschnitten, reichten sie ohne jeden Aufputz bis über die Kniee, ein Ledergürtel hielt sie zusammen.
Um uns abzuhärten, blieben die Fenster unserer 5chlafzimmer Winter wie Sommer geöffnet; nur selten wurde geheizt. Ich erlebte es beim Erwachen, daß das Wasser in Kannen und Krügen eingefroren war – eine peinliche Überraschung für uns, wenn es ans Waschen ging; aber man sagte, es sei wohl unangenehm, jedoch gesund, sich mit eisigem Wasser zu waschen.
Sobald wir mit unserem Ankleiden fertig waren, mußten wir unsere Betten selbst machen, unsere Sachen aufräumen und abstauben. Unsere Zimmer waren der Einfachheit unserer Lebenshaltung entsprechend geradezu dürftig eingerichtet. Kein Gemälde zierte die Wände, ein Spiegel war verpönt, kein Teppich bedeckte den Boden. Die Einrichtung war geschmacklos und bestand aus Möbeln von weichem Holz. Betten, Kästen und Sessel waren häßlich und unbequem. Die Gegenstände meines Toilettetisches waren aus Holz, die Kämme aus Horn. Der Salon unserer Gouvernante, der uns als Speisezimmer diente, wenn unsere Eltern Gäste empfingen, war ebenso häßlich eingerichtet.
War die Toilette beendigt und das Zimmer in Ordnung gebracht, kniete ich vor meinem kleinen Altar nieder und sprach mit lauter Stimme mein Morgengebet. Um halb acht Uhr ging ich zu meiner Mutter, um sie zu begrüßen. Meist war sie schon fertig angekleidet, während ich ihr die Hand küßte, flog ihr mein Herz zu, und ich wünschte sehnlich, sie möchte mich in ihre Arme schließen und mit Zärtlichkeiten überschütten. Aber dies Glück blieb mir meistens versagt, und die ständige Angst, wegen irgendeiner Nachlässigkeit gescholten zu werden, erstickte allmählich meine Gefühle.
Bisweilen fand ich meine Eltern bei ihrem ersten Frühstück, das sie meist zusammen einnahmen. Prachtvolle Blumen schmückten den sorgfältig gedeckten Tisch, daneben stand Obst von selten schönem Aussehen. Es gab da so viele gute Sachen: Babas, kleine gezuckerte Brote, Schokoladebäckereien und köstliche Kuchen. Aber ich bekam nichts von all den Herrlichkeiten – nur ab und zu steckte mir ein alter Kammerdiener im geheimen solchen Leckerbissen zu; und dann mußten wir flink sein, um Zeit zu haben mit Louise und Toni die Beute zu teilen.
Um halb neun saßen wir am Schreibpult. Im Winter zitterte ich vor Kälte im Schreibzimmer, das wie eine Eisgrube war. Ich vermute, daß die Gouvernanten, um dies ertragen zu können, ihre Kleider mit Pelz fütterten, denn sie schienen nie so unter der Kälte zu leiden wie wir Kinder. Meine steifen, von Frostbeulen geschwollenen Finger konnten die Feder kaum halten.
Ich liebte das Lernen. Meine Lieblingsfächer waren später Geschichte, Literatur, Geographie, Naturgeschichte, Botanik und Kunstgeschichte. Besonders liebte ich den Sprachunterricht, die literarischen Aufsätze und das Zeichnen. Dagegen konnte ich Mathematik, Grammatik und das Auswendiglernen nicht ausstehen. Es freute mich, meiner Mutter oder meiner Erzieherin das Gelernte nach eigener Auffassung vorzutragen, aber es fiel mir schwer, wortwörtlich jeden Ausdruck eines Buches wiederzugeben. Im allgemeinen lernte ich leicht. Je schwerer die Aufgabe war, um so spannender fand ich es, um so intensiver trachtete ich, mich in meine Bücher und Studien zu vertiefen.
So verlernte ich bald, zu begreifen, wie man sich mit Puppen abgeben konnte. Es langweilte mich, sie an- und auszuziehen, für sie zu arbeiten und an die kleinen Spielereien zu denken, welche die meisten anderen Kinder unterhalten. Wenn es dagegen hieß, Handarbeiten zu verrichten, zu nähen, Strümpfe, Schals und Fäustlinge zu stricken, tat ich es mit Freuden, wenn es für die Armen war. Am liebsten aber hatte ich einen Zeichenstift oder ein Buch in der Hand. Man behauptete, ich hätte die Geschmacksrichtung eines Knaben, und ich glaube, daß das zutreffend war.
Große Freude habe ich immer an Tieren gehabt, und besonders gern beschäftigte ich mich mit Gärtnerei. Beide Liebhabereien sind mir geblieben. Die Tiere waren meine liebste Unterhaltung; so lange man mich ließ, konnte ich dem Eifer der Ameisen zusehen oder eine dicke brummige Hummel beobachten, selbst die lästigen Fliegen interessierten mich. Wir hatten ein großes Vogelhaus mit zahlreichen Vögeln aller Arten. Ich kannte sie alle, jeder einzelne hatte seinen Kosenamen und flog mir zu, wenn ich ihn rief. Es gab ein Hühnerhaus, das die seltensten Geflügelarten enthielt, dann Tauben, schwarze und weiße Kaninchen, einen Esel und Ziegen; unsere Menagerie wurde noch durch Fische und ungeheure Schildkröten, die meine Eltern von einer ihrer großen Reisen heimgebracht hatten, vervollständigt.
Es war unser schönstes Vergnügen, den Esel oder die Ziegen an langen roten Zügeln mit Peitschenknall zu kutschieren und so im Trab und Galopp die schönen langen Alleen von Laeken zu durchsausen. Da die Erzieherin, die den strengen Auftrag hatte, uns nie aus dem Auge zu verlieren, uns aber oft nicht folgen konnte, wurde dieser schöne Sport verboten, worüber viele vergebliche Tränen flossen. Wir waren viel zu lebhaft, um ruhig an der Seite der Erzieherin einherzugehen, und erfanden als Ersatz ein Spiel, welches darin bestand, sich gegenseitig einzufangen. Dadurch entgingen wir der entsetzlichen Langeweile der feierlichen Spaziergänge. Auch dieses Spiel fand man zu ausgelassen, und somit wurde es verboten. Aber wir kamen immer auf neue Gedanken. Da war ein schöner alter Baum, eine duftende Linde; aus seinem umfangreichen Stamm teilten sich zwei dicke Äste breit auseinander, einen einladenden Sitz bildend. Dieses Plätzchen eroberten wir uns, es wurde unsere Zufluchtsstätte. Wir schmückten es mit bunten Tüchern und Bändern, das Laub war unser Dach, der Vogelsang unser Konzert. Wir nannten ihn »feu-feu«; warum weiß ich nicht, aber »feu-feu« war unser geliebter Schlupfwinkel, wo wir ständig auf der Lauer lagen. Nichts entging uns auf unserem Beobachtungsposten. Wir lernten sogar dort, oder lasen, und fanden es ungemein romantisch und lustig da droben. Nahte sich aber die Erzieherin, so waren wir mit einem Sprung gehorsam bei ihr, nur um unseren »feu-feu« nicht aufgeben zu müssen.
Wir hatten jedes einen kleinen Garten, den wir selbst umstechen, rechen, pflegen und pflanzen mußten. Sie lagen nebeneinander, von einer Hecke umgeben, und jedes von uns Kindern hatte den Schlüssel seines Gartentores. Es waren drei kleine Gärten, der Louisens, der Leopolds und der meine. Nach Louisens Hochzeit wurde ihr Garten Eigentum meiner Schwester Clementine, den meines entschlafenen Bruders betreuten wir gemeinsam und wetteiferten in der Pflege dieses Heiligtums. Die Hofgärtner kannten wir alle, sie waren meine besonderen Freunde. Einer von ihnen unterwies mich in der Einteilung der Beete, im Umstechen, Düngen und Säen, ich lernte pflanzen, jäten und Stecklinge machen. Dort setzte ich vor fünfundfünfzig und fünfundsechzig Jahren manchen Baum mit eigener Hand. Sie wuchsen und wurden groß, schön und stark. Nicht ohne Rührung sehe ich, wenn mich mein Weg nach Laeken führt, die Bäume wieder, die meine Schwester, mein lieber kleiner Bruder und ich einst mit so viel Liebe und Eifer gepflanzt hatten.
Vom bescheidenen Schneeglöckchen bis zur Chrysantheme wuchs und blühte alles in meinem Garten, jede Jahreszeit brachte ihre Blumen, Früchte und Gemüse. Sie schmückten die Beete mit tausendfältigem Farbenzauber, erfreuten mein Auge und Herz und belohnten meine Geduld. Ich war stolz, die Salons meiner Mutter und die kleinen Hausaltäre mit meinen Blumen zieren zu dürfen oder meine Früchte bei Tisch gereicht zu sehen. Meine Immortellen und Margueriten legte ich wehmütig auf die Gruft meines geliebten Bruders.
Eine Stunde vormittags, zwei Stunden nachmittags waren, gleichviel welches Wetter herrschte, dem Spiel, den Spaziergängen und der Pflege des Gartens gewidmet. Winter wie Sommer trug ich die gleiche Kleidung. Stark gesohlte Schuhe, warme Strümpfe, Pelzwerk, warme Unterröcke waren unbekannte Dinge. Weder Verkühlung noch Hals- und Kopfweh vermochten die Vorschriften für unsere Toilette oder die Temperatur in unseren Zimmern zu ändern. Außer den Stunden, die für die Bewegung im Freien und die Mahlzeiten bestimmt waren, blieb die übrige Zeit unseren Studien gewidmet.
Ich hatte ausgezeichnete Lehrer. Die ersten Professoren von Brüssel rechneten es sich zur Ehre an, die Kinder ihres Herrschers unterrichten zu dürfen. Fast alle waren mir sympathisch. Ich bewunderte ihr Wissen und ihre Geduld. Der bedeutendste von ihnen war Monsignore van Weddingen, unser Hausprälat, ein würdiger, gütiger Priester, der mich leitete, mich tröstete, mir Mut einflößte und mich für das Leben vorbereitete. Sein Andenken ist mir unauslöschlich. In den deutschen Stunden dagegen hatte ich einen pedantischen Professor, der große Brillen trug; jedesmal, wenn er mich durch seine Gläser unheimlich anfunkelte, schwante mir Böses. Ich fürchtete mich vor ihm.
Am wenigsten konnte ich meinen Klavierlehrer leiden, der mir sogar mit einem Lineal auf die Finger klopfte, wenn die Klavierstunden schlecht ausfielen, und das taten sie meist. Aber Sonaten von Beethoven und Clementi und die Fantasien von Chopin waren zu schwierig für ein Kind ohne ausgesprochen musikalisches Talent. Dieser Lehrer war auf dem besten Weg, mir eine Kunst zu verleiden, die ich eigentlich liebte. In meiner freien Zeit saß ich im Zimmer meiner Mutter und freute mich, ihrer schönen Stimme, ihrem Klavier- und Harfenspiel zu lauschen. Ich selbst aber habe immer schlecht Klavier gespielt, und da man schließlich einsah, daß ich keine Fortschritte machte und die Klavierstunden verlorene Zeit waren, so wurden sie durch Unterricht im Harfenspiel ersetzt – es schien, als habe ich mehr Talent für dieses Instrument. Dagegen besaß ich eine ausgesprochene Vorliebe für Zeichnen und Malen. Meine Anlagen wurden aber nicht ausreichend entwickelt, da meine Mutter fürchtete, diese Beschäftigung könnte mich zu sehr von anderen wichtigen Dingen ablenken. Das gleiche galt auch für andere Studien, für die ich ein besonderes Interesse zeigte – die betreffenden Bücher wurden mir weggenommen und versteckt. Man wollte mich in allem gleichmäßig vervollkommnen und bestand darauf, ein besonderes Gewicht auf jene Studien zu legen, in denen ich keine oder nur geringe Fortschritte aufwies.
Da ich besonders mit Mathematik, die mir ein Greuel war, geplagt wurde, und – was mir am schwersten fiel – endlose Gedichte auswendig lernen sollte, kam eine Zeit, in der ich ein schweres Leben hatte: Strafe folgte auf Strafe, alles was ich liebte, wurde verboten oder weggenommen, nichts blieb mir erspart, nicht einmal die Rute. Bei den Mahlzeiten wurden mir die süßen Speisen, Bäckereien und Bonbons entzogen, die Spiele mit meinen lieben Tieren wurden untersagt. Manchmal mußte ich auf Erbsen knien. Am meisten von allen Strafen aber fürchtete ich die Doppeltüre. Zwischen einer solchen wurde ich für Stunden, ja ganze Tage eingeschlossen. Weder Seufzen noch Weinen, keinen Versprechungen gelang es, meine Mutter umzustimmen und mich aus meiner furchtbaren Lage zu befreien. Ein Kind zwischen zwei Türen in der Finsternis einzusperren, es konvulsivisch weinen zu lassen, war hart. Man kann sich meine Furcht in dieser dunklen Einsamkeit, aus der es kein Entrinnen gab, nicht vorstellen. Gräßliche Angstzustände überkamen mich; ich hatte das Gefühl, verrückt zu werden. Nur Gebete, die mein gequältes Herz in seiner Verzweiflung gen Himmel sandte, erfüllten meine Seele mit Ergebung und trockneten meine Tränen.
All diese Strafen trug ich mit Ergebung, wenn meine Mutter sie über mich verhängte, aber mein ganzes Wesen empörte sich, wenn ich sie Unaufrichtigkeiten und Verleumdungen der Erzieherinnen zu verdanken hatte. Ebenso wie die Lüge haßte ich schon als Kind alle Ungerechtigkeit, ich ertrug sie nicht. Ich erinnere mich furchtbarer Szenen mit den Erzieherinnen. Mit Güte und Sanftmut war bei mir alles zu erreichen, mit Härte und Rücksichtslosigkeit nichts. Wenn eine der Erzieherinnen es wagte, die Hand gegen mich zu erheben, mich zu zwicken, mich oder eine meiner Schwestern mit der Doppeltüre zu bedrohen, so gab es Widerstand. Ich war außer mir, mein Blut wallte auf, mein ganzes Innere bäumte sich auf gegen diese Frauen, die weder Geduld noch Gerechtigkeit kannten. Nach solchen Auftritten lief ich oft zu meiner Mutter, um ihr mein Leid zu klagen, aber sie vertraute den Erzieherinnen mehr als ihren eigenen Kindern. Ein einziges Mal gelang es mir schließlich, meine Mutter zu bewegen, einer Stunde versteckt beizuwohnen. Ich wußte, daß die Gouvernante meine Schwester bei dieser Gelegenheit schlagen würde. Meine Mutter, Zeuge der schlechten Behandlung ihrer Tochter, entließ noch am selben Tag die Erzieherin, die uns so viel Leid zugefügt hatte. Wie stolz war ich, meine Schwester befreit zu haben!
Die Mahlzeiten nahmen wir gewöhnlich allein mit unseren Eltern ein: das Dejeuner um halb eins, das Diner um halb sieben. Zehn Minuten vorher führte uns die Erzieherin in den Salon unserer Mutter, die uns meist erwartete. Sie kam uns entgegen, um die Erzieherin zu begrüßen und sich nach unserer Aufführung zu erkundigen. Ich zitterte stets vor diesem Verhör, aber weder meine flehenden Bitten vor unserm Eintritt noch meine ängstlichen Blicke rührten die Erzieherin, die der Königin die kleinsten Zwischenfälle des Tages meldete. Zornausbrüche, Unfolgsamkeiten, schlecht gelernte Aufgaben, Unhöflichkeiten, vorlaute Antworten – ich sagte nämlich meine Meinung sehr unverblümt heraus –, zuviel Lebhaftigkeit, alles wurde tadelnd berichtet, beurteilt und bestraft. Dieses peinlich genaue Ausforschen unseres Tuns und Lassens bedrückte uns ständig. War das endlich überstanden, gingen wir mit unserer Mutter in das Schreibzimmer des Königs, um ihn zur Mahlzeit abzuholen.
Oft, wenn er beschäftigt war oder Besuch hatte, ließ er uns allein mit dem Speisen beginnen. Trat er dann ein, so erhoben wir uns, verneigten uns und gingen ihm entgegen, um ihm die Hand zu küssen, die er dann auf unsere Stirnen legte. Das war alles – nicht ein freundliches Wort, nicht ein Zeichen des Willkomms entschlüpfte seinen Lippen. Wortlos, wie er eingetreten, setzte er sich zu Tisch, meine Mutter nur mit einer Handbewegung begrüßend. Bei Tisch mußten wir Kinder schweigen. Lachen, an den Gesprächen teilnehmen, sich Zeichen machen war streng verboten. Wir durften nur reden, wenn wir angesprochen wurden, aber mein Vater war während des Essens von Zeitungen und Briefen umgeben; er las, während er speiste, und machte nur selten eine Bemerkung. Wenn er aber einmal sprach, dann lauschten wir begierig. Herrschte jedoch Schweigen, dann beschäftigte sich meine Mutter unausgesetzt mit uns, schalt und tadelte. Wir mußten ohne Ausnahme alles essen, was gereicht wurde. Kraut und Sellerie widerten uns an, der Geruch dieser Gemüse ekelte uns bis zum Erbrechen. Manchmal versuchte ich diese Speisen zurückzuweisen, aber meine Mutter, die Launen nicht duldete, gestattete mir dann überhaupt nicht weiterzuessen. Am Aschermittwoch und in der Karwoche wurden Champagner, Bordeaux und heiße Biersuppen serviert. An Alkohol nicht gewöhnt – wir bekamen sonst niemals Wein – endeten diese Mahlzeiten stets mit Katastrophen.
Nur selten durften wir die süßen Speisen anrühren. Meine Mutter wollte uns an den Verzicht auf Leckerbissen gewöhnen und erlaubte keine Naschhaftigkeit, gerade weil unsere Küche außerordentlich schmackhaft und gut war – sie wurde die erlesenste Europas genannt. Man kann sich kaum einen Begriff machen von der Güte der Gemüse und Süßigkeiten, der Bäckereien und des Obstes, die auf den Tisch kamen. Bonbons und Desserts aber, die uns angetragen wurden, mußten wir aus Gründen der Selbstzucht zurückweisen.
Nach beendeter Mahlzeit begaben wir uns in das Schreibzimmer meines Vaters. Wir blieben stehen, sahen zum Fenster hinaus und flüsterten nur leise miteinander. Während der König seine Zigarre rauchte, saß meine Mutter neben ihm und nahm die Zeitungen zur Hand, die sie meist gründlich las. Oft hörten wir dabei die Eltern politische Fragen besprechen. In diesem Zimmer, das mehr ein Saal war, fühlten wir immer neben zaghafter Scheu etwas wie Stolz; es war die Arbeitsstätte eines bedeutenden Menschen, des Staatsmannes, Forschers und Vaters des Volkes, König Leopold II. Ringsum an den Wänden standen Bücherschränke mit ihrer schweren Last kostbarst gebundener Werke, staatswissenschaftlichen, historischen, geographischen oder ethnographischen Inhaltes. Über oder neben den Schränken hingen Gemälde von Rubens, Van Dyck, Rembrandt, Frans Hals und viele Familienporträts von berühmten Meistern. Der Schreibtisch meines Vaters war eine Welt für sich, er war so groß, daß er die ganze eine Seite des Zimmers füllte. Darauf türmten sich Papiere aller Art: Dokumente, Briefe, Pläne, Zeitungen. Der König allein kannte jeden Akt. Niemand durfte diesen Schreibtisch anrühren, er selbst ordnete ihn einmal wöchentlich. Ich sehe meinen Vater noch vor mir an diesem Schreibtisch sitzend. Wir Kinder waren sehr neugierig über den Inhalt der zahllosen Schriften und wunderten uns oft, daß unser Vater sich in diesen Bergen von Akten auskannte.
Waren wir endlich entlassen, so flogen wir über Treppen und Gänge, selig, den Ketten, die uns die Anwesenheit unserer Eltern auferlegte, für Stunden entronnen zu sein. Ich lief geradewegs in das Zimmer meiner lieben Toni, Mlle. Antoinette Schariry, warf mich in ihre Arme und vertraute ihr meine Ungeschicklichkeiten, meine Entbehrungen, meine Sorgen und Einfälle an. Die wenigen Augenblicke, die ich mit dieser treuen Seele verbringen konnte, waren die glücklichsten des Tages und erwärmten mein erstarrendes Herz.
Es hieß mit der größten Vorsicht vorgehen, um nicht mit Toni allein ertappt zu werden. Denn die Erzieherin, die meist auf der Lauer lag, beobachtete jede meiner Handlungen. Es wäre gefährlich gewesen, die Besuche bei Toni zu oft zu wiederholen, die Vertraulichkeit mit ihr nicht zu verbergen. Das hätte ihre Entlassung zur Folge gehabt, da man ihre Güte und Anhänglichkeit übel ausgelegt hätte. Oft zitterte ich in dem Gedanken, ich könnte sie verlieren. Was wäre aus mir in meiner Vereinsamung geworden ohne sie, die mich herzte und pflegte, ohne ihre Zuneigung, ihre Liebe, ihre Worte, die mich erheiterten und ermutigten?! Toni Schariry war deutscher Abstammung. Sie war von meinem Onkel, dem Erzherzog Stephan, meiner Mutter empfohlen worden; ihre Eltern, würdige und ehrbare Leute aus Schaumburg, standen damals im Dienst meines Onkels. Toni wurde mit fünfzehn oder sechzehn Jahren, kurz nach meiner Geburt, in unser Haus aufgenommen. Von diesem Tag bis zu dem meiner Hochzeit hat mir dieses tapfere Mädchen ihr Leben mit jener Selbstverleugnung, Ergebenheit und Heiterkeit geweiht, die der Schmuck großer Seelen ist.
Ihr Leben war nicht leicht, sie wurde von vielen beneidet, eifersüchtig und mißtrauisch überwacht, gequält und verfolgt, man fand sie dumm, aber sie wankte trotz aller Angriffe nicht. Schließlich erzielte ihre Geduld, daß man sie allgemein achtete, von mir aber wurde sie geliebt und verehrt. Ich verdanke ihr viel. Obwohl nur Dienerin, war sie mir eine Freundin, Beschützerin, eine uneigennützige Ratgeberin und Pflegerin. Wenn es jemals geschehen sein sollte, daß ich ihr einen Augenblick Kummer bereitet habe, dann möge sie in diesen Zeilen mein aufrichtiges Bedauern darüber finden, aber auch den bescheidenen Beweis der Gefühle, die mich beseelen für diejenigen, welche treu und liebend für mich sorgten. Unter diesen bleibt ihr Name meinem Gedächtnis jetzt und für immer eingeprägt.
Lichtblicke in meinen ersten Kindheitsjahren waren die Festzeiten. Der 6. Dezember, dem hl. Nikolaus geweiht, brachte geheimnisvolle Überraschungen. Am Vorabend erschien er mit den Insignien seiner Würde, mit Blumen, Bäckereien und Süßigkeiten, oder aber er verkündete durch eine Lawine von Nüssen, Haselnüssen, Äpfeln, Orangen und anderen guten Dingen, die mit viel Getöse in der Mitte des Zimmers niedergingen und mich sehr erschreckten, seine Nähe. Dann versäumte ich nicht, vor dem Schlafengehen ein Paar Schuhe vor die Türe zu stellen. War ich unartig gewesen, so fand ich am nächsten Tag eine Rute darin, sonst aber waren sie mit den herrlichsten Leckereien gefüllt, darunter auch eine Brüsseler Spezialität: große, herrliche Honigkuchen, welche die Gestalt des hl. Nikolaus hatten.
Weihnachten, das große Fest der Kinder, wurde bei uns sehr feierlich begangen. Lange vorher zählte ich schon die Stunden bis zu dem Abend, der mich heute noch so entzückt wie vor Jahren. Im Speisesaal waren zwei oder drei riesige Tannenbäume, deren Wipfel bis zur Decke reichten, aufgestellt und mit den reizendsten Kleinigkeiten, den besten kandierten Früchten und anderen köstlichen Dingen beladen. Zahllose Lichter warfen ihren magischen Schein über die Bäume, die den Raum mit ihrem harzigen Duft erfüllten. Unter und neben den Bäumen standen die mit weißen Tischtüchern bedeckten Gabentische. Da gab es im bunten Durcheinander Spielzeug, Bücher, Unterhaltungsspiele, nützliche Dinge aller Art, manchmal auch ein kleines Schmuckstück. Jeden Abend bis zu Silvester wurden die Kerzen an den Bäumen angezündet, am 31. Dezember durften wir Kinder den Baum abräumen. Einen Teil der Süßigkeiten durften wir behalten, das übrige verteilten wir unter die Dienerschaft.
Auch Ostern brachte freudige Überraschungen. Zucker- und Schokoladeeier aller Größen und in allen Farben, mit Bonbons gefüllt, wurden, wenn es das Wetter erlaubte, im Garten, sonst in den Zimmern versteckt. Das Suchen und Finden gab immer einen großen Jubel.
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Meine nächsten Verwandten waren mein Onkel Philipp, Graf von Flandern, der einzige Bruder meines Vaters, und seine Gemahlin, Prinzessin Marie von Hohenzollern. Ich sah sie selten, nur Sonntags abends beim Diner, zu welchem sie ihre Kinder mitbrachten. Diese Mahlzeiten, bei denen wir in dekolletierten Kleidern erschienen, waren von einer eisigen Steifheit, ganz im Einklang mit der Temperatur der Salons, in denen außer im Sommer eine wahre Kellerluft herrschte. Mein Vater und mein Onkel, deren Ansichten voneinander abwichen, waren selten einig und stritten viel. Ich empfand warme Sympathie für meinen Onkel. Seine schönen blauen Augen, sein offener Blick, seine wohlklingende Stimme, sein herzliches Lachen, sein freundliches Entgegenkommen zogen mich unwiderstehlich an. Auch meine Tante hatte ich innig ins Herz geschlossen und lernte sie mehr und mehr bewundern. Diese ausgezeichnete Gattin und musterhafte Mutter wußte ihre Kinder zu rechtschaffenen Männern und klugen Frauen, würdig ihres Namens, ihres Ranges und ihrer Stellung zu erziehen. Sie wurden in des Wortes edelster Bedeutung wahre Fürsten Der älteste Sohn war König Albert von Belgien, der 1909 auf seinen Onkel Leopold II. folgte., aufopfernde Eltern und treue Freunde. Man mußte das herzliche Zusammenleben, das im Schoße dieser Familie herrschte, die Ehrfurcht und das Vertrauen, die die Kinder für Vater und Mutter hegten, bewundern.
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Zweimal wöchentlich, Donnerstag und Sonntag, hatte unsere Gouvernante Ausgang; während dieser Zeit waren wir der Obhut unserer englischen oder deutschen Lehrerin anvertraut. Manchmal nahm mich aber auch meine Mutter zu sich. Wir beschäftigten uns dann gemeinsam, sie musizierte, malte, schrieb oder las, während ich meine Aufgaben oder Handarbeiten machte. Ich strickte und häkelte Kleider für die armen Kinder, besserte meine eigenen Sachen aus oder stickte Kirchenparamente.
Meine größte Freude war es, meine Mutter auf ihren Spaziergängen und Wagenfahrten zu begleiten oder die Stallungen mit ihr zu besichtigen. Diese geräumigen Stallungen in Laeken wie auch in Brüssel waren mit allem Luxus ausgestattet. Auf den Gängen waren Sitzplätze hergerichtet, wo man den Tee einnehmen konnte; die Tische zierten Blumen in schönen Majolikatöpfen, alles war wie in einem Salon so rein und ordentlich gehalten. Für mich war es geradezu ein Fest, die sorgfältig gepflegten Pferde zu streicheln und zu füttern. Es gab ein eigens dafür bereitetes schwarzes Brot, das wir reichen durften, es schmeckte so gut, daß ich selbst gern davon aß. Die zwanzig isabellfarbenen Pferde mit schwarzen Mähnen und Schweifen waren eine Zierde des Marstalls. Es waren lauter ungarische Pferde, die wohllautende Namen aus ihrer schönen Heimat trugen. Der Bruder meiner Mutter, Erzherzog Joseph, suchte sie selbst in den berühmten Gestüten Ungarns aus. Unermüdlich war meine Mutter darin, ihre feurigen Pferde selbst im Vierer- oder Fünferzug einzufahren oder die Reitpferde zuzureiten. Als ich sechs Jahre alt war, gab sie mir den ersten Reitunterricht, den später ein Reitlehrer fortsetzte. Bald war ich sattelfest, nach wenigen Jahren durfte ich springen und Hohe Schule reiten.
Meist war die Forêt de Soignies, der Bois de la Cambre das Ziel unserer Wagenfahrten – Orte, die den Vereinigungspunkt der eleganten Welt Brüssels bildeten. Wir fuhren entweder durch den oberen Teil der Stadt oder durch die belebten Straßen des Zentrums, in denen sich die herrlichsten Läden befanden. Meine strahlenden Augen wußten nicht, wohin sich richten, um all die schönen Dinge zu bewundern. Meine Mutter verlangsamte dann den Gang ihrer Pferde, um meinem Wunsch, besser sehen zu können, zu willfahren. Besonders erheiternd war es, durch die Avenue Louise zu fahren, in welcher die elegante Welt zu Wagen, zu Pferd und zu Fuß dem Walde zustrebte, wenn man meine Mutter erblickte, blieb kein Kopf bedeckt, jeder grüßte, die Damen verneigten sich tief, die Wagen hielten an – alle Welt kannte und bewunderte die feine und liebliche Erscheinung der Königin und hoffte, ein freundliches Lächeln zu erhaschen.
Der Wald erfüllte mich mit Begeisterung und Entzücken. Oh, wie liebte ich diesen Wald mit seinem undurchdringlichen Schatten, mit seinem grünen, in warmen Farben sich wölbenden Laubdach, mit seinen stolz und majestätisch zum Himmel ragenden Bäumen! Ich liebte seine Farne, sein Geisblatt, die wilden Beeren im Moos. Nie kehrten wir von unseren Ausflügen zurück, ohne mit Blumen und Blüten beladen zu sein. Die Liebe zur Natur, die unsere Mutter in uns groß zog, war dazu bestimmt, unsere Seelen zu Gott zu erheben und unsere Sinne auf die Poesie des Schönen und Guten hinzulenken.
Wenn meine Mutter nicht den Weg in den Wald einschlug, durchstreifte sie die Fluren der reizenden Umgebung Brüssels. Man brach am frühen Morgen auf, um erst spät abends zurückzukehren. Vorräte wurden dann mitgenommen. Irgendwo draußen auf einem malerischen Platz hielt man an, die Pferde wurden ausgespannt, die Polster des Wagens am Boden ausgebreitet, auf ihnen und mitgebrachten Decken setzte man sich im Schatten der Bäume am Ufer eines rauschenden Bächleins nieder, und die Proviantkörbe voll guter Dinge wurden ausgepackt. Zur Abwechslung hielten wir bisweilen auch vor einer jener reinen und netten Herbergen. Meine Mutter setzte sich dann mitten unter die Arbeiter. Wurde sie erkannt, so umringten sie die guten Leute, um ihr in treuherziger Weise zu sagen: »Liebe gute Königin, wir sind so froh, dich mit deinen Kindern zu sehen.« In Belgien duzt einen das Volk.
Auf solchen Ausflügen lernte ich meine schöne Heimat kennen. Besonders liebte ich unsere Wallfahrten nach Hal und Montaigu. Diese geweihten Stätten, an denen man die Muttergottes tief verehrt, sahen uns alljährlich an den Stufen ihrer Altäre. An der Seite der Königin sank ich vor dem wundertätigen Bild der heiligen Jungfrau in die Knie, ihre Gnade und Hilfe für unsere Seelen erflehend. Die Wände dieser Kirchen sind mit unzähligen Exvotos bedeckt, Zeichen der Dankbarkeit all jener, die erhört wurden. Sie erfüllten mich mit der Hoffnung, daß auch meine Gebete nicht zurückgewiesen würden. Als einfache Touristin gekleidet, um nicht aufzufallen, stieg meine Mutter immer schon weit vor dem Wallfahrtsort aus. Sie wollte unbemerkt in der Menge bleiben und mit ihrem Volk bitten und flehen.
Mitunter begleitete ich meine Mutter auch bei ihren Besuchen in Klöstern und bei den Armen. Bei den Karmelitern, Franziskanern, den Trappisten und Klarissinnen und in manchen andern Klöstern wurde sie wie eine gute Fee empfangen. Ich sah zufriedene und dankbare Gesichter und hörte Segensworte um mich her. Wo immer sie eintrat und vorüberging, tat sie Gutes, tröstete und ermutigte. Ihr Interesse für alles und ihr einfaches Wesen machte, daß jedermann sich in ihrer Nähe wohl fühlte. Dieses Beispiel der Güte und Demut hatte einen ausgezeichneten Einfluß auf mich. Es erweckte in meinem jungen Gemüt das Mitleid mit den Leidenden, mit den Unterdrückten, mit allen, die das Elend heimgesucht hat. Seit meiner früheren Jugend gewöhnte man mich, die Armen nicht zu meiden, den Unglücklichen beizustehen und die Freude kennenzulernen, die im Helfen, Schenken und Trösten liegt.
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Zu den Spazierfahrten meiner Mutter zählten auch jene nach Tervuren, auf denen sie meist eine ihrer Töchter begleitete. Tervuren, ein Schloß mit prachtvollem, ausgedehntem Park, war die Residenz der einzigen Schwester meines Vaters. Auch hier widmete sich meine Mutter einem Liebesdienst, der Fürsorge für ihre unglückliche Schwägerin, die durch ein so tragisches Geschick in geistige Umnachtung verfallen war. Die ganze zivilisierte Welt hat damals das Martyrium dieser so schwer geprüften kaiserlichen Frau tief empfunden.
Charlotte von Belgien, Erzherzogin von Österreich, Kaiserin von Mexiko, gehörte durch ihre Schönheit zu den strahlendsten Erscheinungen ihrer Zeit. Hochgewachsen und schlank, umrahmten blauschwarze Haare das feine Oval ihrer Züge, Haare, die sie wie ein Mantel umhüllten. Ihr Teint war wie Alabaster, lange schwarze Wimpern umschatteten ihre großen, mandelförmigen dunklen Augen, die von dichten Augenbrauen überwölbt waren, ihre Lippen waren korallenrot. König Leopold I., le père de la patrie, nannte seine Tochter mit Stolz die schönste Prinzessin Europas.
Durch ihre Eigenschaften, ihre hohe Begabung und ihre prächtige Erscheinung gewann Prinzessin Charlotte das Herz des liebenswürdigen Erzherzogs Maximilian, des jüngeren Bruders Kaiser Franz Josephs. Leopold I. hatte diese Verbindung, die für seine Pläne so vorteilhaft war, gefördert. Doch war diese Ehe nicht das Ergebnis eines politischen Übereinkommens, sondern die beiden jungen Leute liebten einander aufrichtig und haben ihre treue Liebe bis in den Tod bewährt.
Zu eigenartig in ihrem Wesen, zu wenig vertraut mit den Sitten eines Landes, das von dem ihren so verschieden war, wurde Prinzessin Charlotte am Wiener Hofe nicht gewürdigt. Meine Mutter, die ihre Schwägerin schätzte, erzählte mir oft von dieser Tante und teilte mir die Gründe mit, die das fürstliche Paar bestimmten, Wien zu meiden. Eine Frau von blendendem Äußeren, außergewöhnlich gebildet, von ernstem, entschlossenem Charakter, künstlerisch begabt, fand meine Tante nicht das Wohlgefallen ihrer Schwiegermutter, der Erzherzogin Sophie, und auch zwischen ihrer Schwägerin, der Kaiserin Elisabeth, und ihr bestand eine ausgesprochene Abneigung und Eifersucht. Erzherzogin Sophie terrorisierte ihre Schwiegertochter Charlotte, quälte und reizte sie durch ihre ununterbrochenen Ermahnungen, ihre Kritik. Meine Tante Charlotte, weit sorgfältiger erzogen als viele ihrer Standesgenossinnen, war sehr selbstbewußt und vertrug weder die ununterbrochene Bevormundung noch die Kleinlichkeit der Ansichten und Gebräuche, die sie im Kreise ihrer neuen Familie vorfand. Der ritterliche, ebenso begabte wie bedeutende Erzherzog Maximilian litt unter dem Mangel an Zuneigung und Verständnis für seine Gattin. Um all diesen Unannehmlichkeiten zu entgehen, zog er sich schließlich mit seiner Gemahlin nach der Insel Lacroma zurück. Sie liegt gegenüber von Ragusa, wo die tiefblauen Wogen der Adria ihre Klippen umspülen. Sie lebten auf dieser zauberhaft schönen Insel bis zur Vollendung des Schlosses Miramare bei Triest, das für die Erzherzogin gebaut wurde.
Marineoffizier von Beruf, wurde Erzherzog Maximilian zum Admiral und Kommandanten der Kriegsmarine ernannt. In dieser Eigenschaft gewann er bald allgemeine Beliebtheit. Er tat viel für die Entwicklung und Verbesserung der Flotte. Die Reise der »Novarra« um die Welt, ein berühmtes Unternehmen, war sein Werk. Offiziere wie Matrosen standen unter dem unwiderstehlichen Zauber des Erzherzogs, und die Bevölkerung von Triest und Umgebung liebte das Paar. Dies alles erweckte die Eifersucht des Wiener Hofes und erzeugte neue Schwierigkeiten und Intrigen. Die beiden Brüder verstanden sich nicht. Ihre Ansichten über die Bedeutung der Kriegsmarine waren verschieden. Mehrmals reichte Erzherzog Maximilian seinen Abschied ein, doch vermied es der Kaiser, die Gesuche anzunehmen.
Zu dieser Zeit trat ein verlockendes Angebot an den Erzherzog heran. Kaiserin Eugenie setzte damals unter dem Einfluß gewissenloser mexikanischer Abenteurer alle Hebel in Bewegung, um die Regierung Napoleons III. für die Gründung eines mexikanischen Kaiserreiches zu gewinnen. Sie war es, welche Erzherzog Maximilian für diese Kaiserkrone ausersehen hatte, die ihm dann auch angeboten wurde. Die Mission, Mexiko die Segnungen des Friedens und der Zivilisation zuteil werden zu lassen, der große Wirkungskreis, der sich dem fürstlichen Paare bot, mußte von ihm als eine Erlösung von allen Mißhelligkeiten, die sie beide zu erdulden hatten, betrachtet werden. Erzherzog Maximilian nahm die Krone an. Die Aussicht, ein Land zu regieren, viermal so groß wie Frankreich, die Hoffnung, sich dem Glück und dem Gedeihen Mexikos widmen zu können, blendete ihn und seine Gemahlin. Es entspricht aber nicht den Tatsachen, wenn man meine Tante beschuldigt hat, daß es ihr Ehrgeiz gewesen sei, der ihren Gemahl zur Annahme der Krone getrieben habe.
Anfangs schien auch alles zu gelingen, jedoch mit der Zeit türmten sich ernstere Schwierigkeiten auf, die sich bald vermehrten. Der Widerstand der Vereinigten Staaten von Nordamerika, die Uneinigkeit in Mexiko selbst, die Haltung Napoleons III. und der Kaiserin Eugenie ließen das Unternehmen bereits zu Beginn als ein gewagtes Abenteuer erscheinen. Die Kaiserin Charlotte befand sich in der schwierigsten Lage. Eine energischere Natur als ihr Gemahl, war sie sein bester Ratgeber. Gesetze, die noch heute in Mexiko in Geltung stehen, sind von ihr entworfen.
Und doch nützte alles nichts, der Lauf der Dinge in Mexiko war nicht aufzuhalten. Da entschloß sich die Kaiserin, nach Europa zu fahren, um von Napoleon die versprochene Hilfe zu erwirken.
Nun folgten sich rasch die bekannten erschütternden Ereignisse. Die Demütigungen, denen sie in St. Cloud ausgesetzt war, die Ermordung ihres geliebten Gemahls, ihre Verbannung und dann das Odium, ihn verlassen zu haben, bildeten eine Kette von Schlägen, denen ihr Gemüt nicht gewachsen war. 1867 fiel sie in geistige Umnachtung, aus der sie nie mehr erwachen sollte.
Arme Frau, unglückliche Tante! Was mußte sie leiden, sie, so voll der außergewöhnlichen Gaben, die ihr Gott wie wenigen verliehen hatte. Lange ist es her, daß ich sie zum letztenmal gesehen. Ich erinnere mich jedoch, daß sie in ihren vorübergehenden lichten Augenblicken noch immer die große, vornehme Erscheinung war, die sie gewesen. Sie bewahrte bis in das Greisenalter Kaiserin Charlotte von Mexiko ist erst 1927 im Alter von 87 Jahren in Bouchout gestorben. den Ausdruck süßer Melancholie, die gebietende Haltung und die Reinheit der regelmäßigen Züge, die mich schon als Kind bezauberten.
Ich hatte keine Angst vor ihr, denn die wunderbare Unglückliche hatte für mich empfindsames Mädchen eine unbeschreibliche Anziehungskraft. Ich betrachtete sie voll Entzücken, wie eine Erscheinung aus einer andern Welt. War es vielleicht die Vorahnung meines zukünftigen Geschickes, das uns gewissermaßen zu Schwestern im Unglück werden ließ? War es der unwiderstehliche Zauber der außergewöhnlichen Frau, deren Martyrium ich zu verstehen schien und das mich mit Mitleid erfüllte?
Schloß Tervuren, welches die Kaiserin bewohnte, wurde im Jahr 1879 ein Raub der Flammen. Ich erinnere mich noch der Bestürzung, die dieses Ereignis bei meinen Eltern hervorrief.
Die Gemächer der Kaiserin Charlotte befanden sich im ersten Stockwerk des südwestlichen Schloßflügels; die Fenster waren mit feinen Drahtgittern verschlossen. Unterhalb lagen die Räume, die zum Aufbewahren und Reinigen der Wäsche der Kaiserin dienten. Das Personal, das hier beschäftigt war, wünschte noch vor dem Fasching-Sonntag seine Arbeit zu beenden, und so blieben die Leute dort bis spät in die Nacht. Da es kalt und feucht war, wurde der Ofen stark überheizt. Einige dem Kamin zu nahe liegende Pfosten begannen zu glimmen. Am nächsten Morgen bei windigem Wetter brach der Brand aus, der sich rasch verbreitete.
Durch den Brandgeruch und den dichten Qualm aufmerksam gemacht, weckte die Dienerschaft Mme. Moreau, die Hofdame der Kaiserin. Diese stürzte, ohne sich anzukleiden, nur in einen Regenmantel gehüllt, zur Kaiserin. Das Zimmer neben dem Schlafgemach der Kaiserin war schon mit Rauch gefüllt. Meine Tante, im Morgenschlaf gestört, erschrak, war aber gänzlich abgeneigt, ihr Zimmer zu verlassen. Mißtrauisch wiederholte sie: » Cela ne devrait pas être.« – trotz der furchtbar ernsten Lage konnte Mme. Moreau ein schmerzliches Lächeln nicht unterdrücken. Sie bemühte sich, ihrer Herrin die Lebensgefahr, in der sie schwebte, zu erklären, doch es war vergeblich. Endlich gelang es, die Kaiserin zu überzeugen, sie selbst habe den Befehl gegeben, an einen anderen Ort gebracht zu werden. Noch immer zögernd, ließ sie sich ankleiden. Während die am Vortag abgelegten Kleider und die Wäsche bereits brannten, brachte eine Kammerfrau einige ihrer eigenen Sachen für die Kaiserin. Tante Charlotte wurde in das im Park liegende Wohngebäude ihres Arztes Dr. Hart gebracht. Als sie das Feuer erblickte, sagte sie: » Ah oui, c'est très grave, c'est très grave, mais c'est beau!« Plötzlich begriff sie die Größe des Unglücks.
Beim Eintreffen der Brüsseler Feuerwehr war fast nichts mehr zu retten. Das Feuer zerstörte alle Bilder und Kunstgegenstände, die gesamte Einrichtung, die Kleider und die Wäsche der Kaiserin und ihrer Umgebung und Dienerschaft. Glücklicherweise wurde der große Schmuck der Kaiserin in Brüssel aufbewahrt.
Meine Mutter eilte, als sie in Brüssel die Nachricht erreichte, sofort nach Tervuren. Ihr gelang es endlich, Tante Charlotte zu beruhigen. Ein Wagen wurde bereitgestellt, in den die Kaiserin aber nicht einsteigen wollte. Nur mit großer Mühe vermochte die Königin sie dazu zu bewegen. Unter dem Vorwand, die Kaiserin vor Erkältung zu schützen, band sie die Taille Charlottes mit einem Plaid fest an die Eisenstäbe des leichten Wagens. Meine Mutter lenkte selbst und fuhr allein, ohne Begleitung, mit ihrer Schwägerin nach Laeken. Diese Übersiedlung war ein gewagtes Unternehmen, doch fiel es gut aus. Tante Charlotte unternahm unmittelbar nach ihrer Ankunft in Laeken einen Rundgang im Park, wobei sie oft wiederholte: » Oui, c'est bien cela, nous retrouvons ici quelques souvenirs.« Mein Vater, der seine Schwester seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, war, als er ihr in Laeken begegnete, in höchstem Maße ergriffen.
In Laeken konnte die Kaiserin nicht bleiben. Als neue Residenz wurde aus ihrem Vermögen Schloß Bouchout mit ausgedehntem Park angekauft. In diesem mächtigen, aus dem 12. Jahrhundert stammenden Bau, der bisher dem Grafen Leopold Beaufort gehört hatte, lebte die Kaiserin von nun an. Dort sah ich sie noch öfter. Ich erinnere mich des letzten Besuches, den ich ihr im Jahre 1899 mit meiner Mutter abstattete. Vor dem Schloß erwartete uns der Hofstaat der Kaiserin, der uns in ihre Gemacher führte. Dort stand sie, marmorbleich, die Züge noch immer von blendender Schönheit. Ich eilte auf sie zu. Um ihre Hand zu küssen, sie umarmte mich, sichtlich erfreut, mich wiederzusehen. Dann aber, als wir uns gesetzt hatten, sprach sie viel, was ich nicht verstand; alles, was sie sagte, war verworren. Plötzlich sah sie mich mit ihren großen dunklen, namenlos wehmütigen Augen an und fragte: » Tu viens d'Autriche, chère enfant? Comment se porte ton beaupère, l'Empereur?« Dann stand sie auf, nahm mich bei der Hand, führte mich zum lebensgroßen Gemälde Kaiser Maximilians, verbeugte sich unendlich anmutig und sagte: » Et l'autre, ils l'ont tué!« Es war herzerschütternd. Meiner Mutter gelang es endlich, sie von dem Bilde wegzuführen; sie bat sie, sich ans Klavier zu setzen. Überrascht lauschte ich den Liedern, die sie mit tadelloser Geläufigkeit spielte. Musik und Malerei waren von jeher Tante Charlottes Lieblingsbeschäftigungen gewesen. Besonders in der Malerei hatte sie es zu hoher Kunst gebracht. Ich selbst besitze ein Gemälde von ihrer Hand. Nachdem sie ihr Klavierspiel beendet hatte, führte sie uns in die Schloßkapelle und kniete nieder. Die Meßgewänder, Decken und Stickereien, die sich in der Sakristei befanden, hatte sie selbst angefertigt. Jedesmal, wenn ich Bouchout verließ, umfing mich dasselbe Gefühl heiliger Scheu, aber auch unbegrenzter Wehmut vor dem Geheimnis des Wahnsinns und dem Martyrium dieser edlen Fürstin.
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Wenn es mir nicht vergönnt war, mit meiner Mutter auszufahren, so war es mir gestattet, meine Sonntag- und Donnerstag-Nachmittage im Sacré cœur von Jette St. Pierre bei Laeken zu verbringen. Ich hatte einige nette Freundinnen unter den Schülerinnen, darunter Marguerite de Stirum, die heute Klosterfrau im Sacré cœur ist, Natalie de Croy, heute Princesse de Merode, und eine reizende polnische Prinzessin, die leider schon gestorben ist. Die Klosterfrauen und Schülerinnen empfingen mich immer mit offenen Armen, stets erwiesen sie mir Freundschaft und Güte. Nachdem ich gespielt, geplaudert und mich mit den gleichalterigen und älteren Mädchen – letztere bevorzugte ich – köstlich unterhalten hatte, nahm ich wie alle an dem Segen des Allerheiligsten teil. Wie oft denke ich zurück an die hellen Kinderstimmen, deren fromme Gesänge durch die mit hundert Lichtern erhellte Kirche klangen, an die Stille, den Frieden, die Frömmigkeit, die mich in eine unaussprechliche Stimmung versetzten. Diese Besuche waren ein Lichtblick in meinem einförmigen ernsten Leben.
Selten sagten sich Verwandte zu längerem Besuch bei uns an. Eine Freundin meiner Mutter brachte manchmal ihren Gemahl und ihre Kinder mit. Es war der Großherzog Ludwig IV. von Hessen und seine Gemahlin Großherzogin Alice, eine Tochter der Königin Victoria von England. Sich zwanglos mit den fast gleichalterigen Cousinen zu unterhalten, zu plaudern, zu scherzen, bedeutete für mich ein großes Glück. Durch die sanfte, gute Tante Alice geschützt, durften wir unbefangen heiter und lustig sein. Es waren vier Cousinen: Victoria, spätere Prinzessin Ludwig von Battenberg, Elisabeth (Ella), spätere Großfürstin Sergius von Rußland, Irene, spätere Prinzessin Heinrich von Preußen, Alexandra (Alix), spätere Kaiserin von Rußland. Auch der Sohn des großherzoglichen Paares, Ernst, nachmaliger Großherzog von Hessen-Darmstadt, war bei meinen Eltern zu Gast. Die innige Freundschaft, die mich noch heute mit dieser liebenswürdigen Familie verbindet, stammt aus jener Zeit.
Eine kleine Episode aus früher Kindheit ist mir in besonders lebendiger Erinnerung geblieben. Ich war sechs Jahre alt, als ich allein mit meinem Vater, nur von meiner Aja und einer Hofdame meiner Mutter begleitet, die Überfahrt nach England machte. Starker Sturm wütete, das Meer war heftig bewegt, und mächtige Wellen wälzten sich gegen das Schiff und überfluteten das Verdeck. Man hatte mich in meiner Kabine niedergelegt, jeder war seekrank, nur mein Vater, die Seeleute und ich blieben verschont.
Der Zweck dieser Reise war ein Besuch in Windsor, zu dem Königin Victoria uns eingeladen hatte. Bei dieser geliebten und verehrten Tante wurde ich von ihr, von ihren Töchtern und ihrer ganzen Familie verhätschelt und verwöhnt. Spaziergänge, Wagenfahrten und Ausritte auf einem Pony in dem wunderbaren Park dieser Residenz beglückten mich. Für mein Alter sehr hoch gewachsen, hatte ich prachtvolles Haar; eine goldene Mähne bedeckte meinen kleinen Rücken und reichte fast bis zum Boden. Auf Wunsch der Königin Victoria trug ich mein Haar nach englischer Sitte offen, wie alle kleinen Mädchen in England. Eines Tages ging ich, von meiner Aja begleitet, außerhalb des Parkes spazieren. Alle Passanten blieben stehen und sahen sich nach mir um. Ich fühlte mich sehr geschmeichelt, denn ich wußte, daß sich die allgemeine Aufmerksamkeit der Farbe und Fülle meiner Haare wegen mir zuwandte. Kaum heimgekehrt, machte ich meiner Umgebung gegenüber eine stolze Bemerkung über mein Erlebnis. Sofort ersann man allerlei Vorwände, um meine Eitelkeit zu unterdrücken: meine Haare wurden in ein Netz gewickelt, und die Menge sah sich zu meinem Leidwesen nicht mehr nach mir um.
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Im Sommer des Jahres 1870 wurden die Gerüchte über einen bevorstehenden Krieg zwischen Deutschland und Frankreich immer ernster. Belgien, ein neutraler Staat, hatte für seine Sicherheit nichts zu fürchten, doch schien es geboten, Schutzmaßnahmen zu treffen. So wurden auch in Belgien die Reservisten einberufen, die Armee mobilisiert und an die Grenzen geschickt; nur die Bürgergarde, die sich aus Freiwilligen der Adels- und Bürgerstände zusammensetzte, blieb zum Schutz des Hofes und der Hauptstadt in Brüssel.
Schon in den ersten Julitagen war die Residenz von Laeken nach Brüssel verlegt worden, obwohl es furchtbar heiß war. Louise und ich waren sehr unglücklich, unsere kleinen Gärten, unsere Tiere und Blumen verlassen, den Landaufenthalt mitten in der schönsten Jahreszeit unterbrechen zu müssen. Bald bekamen wir an tausend äußeren Zeichen das Außergewöhnliche der Situation zu spüren. Mein Vater las während der Mahlzeit die fortwährend einlaufenden Telegramme laut vor. Staatsmänner kamen und gingen, wurden zur Tafel zugezogen, wobei die politischen Gespräche fortgesetzt wurden. Im königlichen Palais wurden Vorbereitungen getroffen; es war kein Zweifel möglich, wir gingen großen Dingen entgegen.
Am 19. Juli erklärte Frankreich den Krieg. Ganz Belgien war in Aufruhr, durch die Straßen von Brüssel wogten erregte Menschen. Die Regimenter in ihren prächtigen Uniformen, eines schöner als das andere, vorbeidefilieren zu sehen, war ergreifend. Der Anblick dieser militärischen Pracht und vaterländischen Begeisterung prägte sich tief in mein kindliches Gemüt.
Indessen rüstete sich die Hauptstadt, um Verwundete aufzunehmen und pflegen zu können. Die Palais des Königs ebenso wie die des Adels und die Häuser des Bürgertums verwandelten sich in Lazarette und Spitäler. Die Verwundeten fanden eine großzügige Gastfreundschaft im königlichen Schloß, an dessen Front die Worte: » A fame, bello et peste libera nos, Maria regina pacis« »Vor Hunger, Krieg und Pest bewahre uns, Maria, Königin des Friedens.« in großen Lettern angebracht sind. Durch die rührende Aufnahme, die den fremden Soldaten zuteil wurde, verdiente sich das neutrale Belgien die Dankbarkeit der kriegführenden Staaten. Als die ersten französischen und deutschen Verwundeten eintrafen, empfing sie meine Mutter persönlich am Bahnhof und sorgte für ihre richtige Unterbringung. Die Königin verwandelte sich in eine Krankenschwester und brachte Tage und Nächte an den Lagern der Verwundeten zu. Sie pflegte sie, wohnte den Operationen bei und bereitete die Sterbenden auf ihre letzte Stunde vor. Auch unsere Studien wurden unterbrochen und die Tage der Bereitung von Charpie und dem Ordnen von Verbandzeug gewidmet.
Zuweilen nahm meine Mutter mich und meine Schwester bei ihren Besuchen in den Lazaretten mit. Sie ließ uns Zeugen ihrer Samariterdienste sein, damit wir lernten, wie nötig es für eine Königin ist, sich aufzuopfern und selbstlos zu helfen. In diesen Augenblicken erschien mir meine Mutter wie eine Heilige; sie hatte jede Rücksicht auf sich beiseite gestellt und dachte nur daran, ihren Verwundeten und Sterbenden zu helfen. Noch Jahre später erhielt sie die rührendsten Dankschreiben aus den entferntesten Teilen Deutschlands und Frankreichs. Oft erzählte sie mir ihre ergreifenden Erlebnisse. Diese Erinnerung aus meiner zartesten Kindheit ist unauslöschlich in mein Gedächtnis eingegraben. Sie wurde in mir wach, als auch mir später die Ehre zuteil wurde, mich mit ganzer Hingabe den Verwundeten und Sterbenden widmen zu können. Als 1914 der furchtbare Weltkrieg ausbrach, beschloß ich, dem Beispiel meiner Mutter zu folgen. Noch heute beglückt mich der Gedanke, daß ich fast fünf Jahre als Krankenschwester mich dem Dienst und der Pflege unserer armen Helden habe widmen dürfen.
Aufmerksam lauschte ich den Gesprächen meiner Eltern. Ich hörte sie von der Katastrophe von Sedan, von der Gefangennahme Napoleons III., von dem Friedensvertrag zwischen Deutschland und Frankreich, aber auch von der großen Gefahr, die der Neutralität Belgiens drohte, reden. Man fragte sich, ob die neue französische Republik Unruhe stiften würde, um sich in der Folge das dicht besiedelte, reiche und hochkultivierte Belgien einzuverleiben. Einzig die Haltung Englands flößte meinem Vater Vertrauen ein; diese Großmacht war bestrebt, die Unabhängigkeit Belgiens zu erhalten.
Das Jahr 1871 brachte im Gefolge des Krieges furchtbare Epidemien ins Land. Der Flecktyphus wütete in Brüssel. Die meisten Erkrankten starben, wer aber genas, trug schwere Schäden davon. Auch damals besuchte meine Mutter die Kranken in den ärmlichsten Vierteln, um ihnen Unterstützungen und Trost zu bringen. Obwohl die weitgehendsten Maßregeln getroffen waren, um eine Infizierung des eigenen Heims zu verhüten, verschonte die Krankheit doch auch das königliche Palais nicht. Ich erkrankte am 10. April 1871. Wochenlang lag ich bewußtlos, in schweren Fieberdelirien. Meine Haut war mit Wunden bedeckt, ich litt unsäglich. Die Ärzte hatten alle Hoffnung aufgegeben und erklärten, es sei nichts mehr zu machen. Man bereitete mich schon auf den Tod vor. Meine arme Mutter kniete weinend und betend mit dem Hofkaplan und meiner lieben Toni an meinem Bett. Selbst mein Vater kam herbei, und ich erinnere mich, wie ernst er am Fußende meines Bettes stand. Da schenkte mich ein unerwartetes, ja wunderbares Ereignis meinen Eltern wieder. Ein unbekannter Landarzt aus den Ardennen hatte durch die Zeitung von meiner schweren Erkrankung erfahren. Er kam in das königliche Palais und bat, mich sehen und dann seine Behandlung vornehmen zu dürfen. Da ich in höchster Lebensgefahr schwebte, erlaubten meine Eltern den Versuch. Der Arzt ließ sofort die Fenster meines Zimmers öffnen und Tag und Nacht offen halten, auch verordnete er kalte Bäder. Und wirklich, in kurzer Zeit verschwand das Fieber, und ich war gerettet. Meine Rekonvaleszenz dauerte sehr lang, erst Anfang Oktober konnte ich als geheilt betrachtet werden. Doch war ich noch sehr schwach, heftige Migräne und eine Augenschwäche verhinderten mich, meine Studien aufzunehmen.
Da entschlossen sich meine Eltern zu einem vollständigen Klimawechsel. Biarritz wurde als Herbstaufenthalt zur Herstellung meiner Gesundheit gewählt. Louise und ich waren voll Freude über die Aussicht, eine so schöne Reise zu unternehmen und Paris zu sehen. In einem Hotel zu wohnen, war der Traum unserer Kindheit.
Ein Extrazug brachte meine Eltern und uns in die französische Hauptstadt, wo uns Marschall Mac Mahon inmitten eines glänzenden Gefolges empfing. Vom Bahnhof bis zum Absteigquartier, dem Hotel Bristol auf der Place Vendôme, wo Napoleons gewaltige Denksäule kurze Zeit vorher in Stücke gebrochen worden war, stand die Menge dicht gedrängt und begrüßte jubelnd meine Eltern, die in Frankreich sehr beliebt waren.
Wir hatten Eile, nach Biarritz zu kommen. Dort war die Villa Clementine für uns bestimmt. Allein es erwies sich, daß sie schmutzig, schlecht eingerichtet und ohne jeden Komfort war, weshalb wir in eine größere und schönere Villa übersiedelten. Wunderbare Spaziergänge, zum Leuchtturm, zum Roche de la Vierge, zum Fischereihafen, längs der Plage, wurden für uns Kinder zu großen Erlebnissen. Die Schönheit der Pyrenäen, das Gewaltige des Atlantischen Ozeans ergriffen mächtig unsere kindliche Phantasie.
Meine Mutter benützte diesen Aufenthalt zu größeren Ausflügen, bei denen wir bisweilen mitgenommen wurden; wir fuhren dann in mehreren Wagen, jeder mit vier schnellen baskischen Pferden bespannt. So besuchten wir unter anderem die schwarze spanische Stadt Fuenterrabia mit ihrer merkwürdigen Kirche und dem wuchtigen Schloß, den Hafen von Pasajes, Irún und seine Kirche, Saint Jean de Luz, den spanischen Hafen San Sebastian mit seinen hübschen »Landes«. Bald begannen die furchtbaren Äquinoktialstürme über See und Land zu fegen; es litt uns nicht mehr lange. Ich hatte meine volle Gesundheit wiedergewonnen und so kehrten wir nach Belgien zurück.
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Es war an einem schönen Tag des Juli 1872, als ich mit Louise auf unserem Baum »feu-feu« in Laeken saß. Da hörten wir plötzlich, daß man uns heftig rief; Comtesse de Namur, eine Hofdame meiner Mutter, kam atemlos herbeigelaufen, um uns zu sagen, daß wir ein Schwesterchen bekommen hätten. In großen Sprüngen strebten wir dem Hause zu, wo unser Vater uns erwartete und sagte: »Kommt, euch die kleine Puppe ansehen.« Auf den Fußspitzen näherten wir uns der Wiege, um die Kleine zu sehen, ein winziges Geschöpf mit großen, schwarzen Augen und blondem Haarflaum. Wir wollten sie gleich herausnehmen, wiegen und liebkosen, aber diese Überschwenglichkeit wurde uns verboten. Wir mußten uns begnügen, sie anzusehen und zu bewundern. In der Taufe erhielt sie den Namen Clementine. Die Enttäuschung meiner Eltern bei der Geburt einer dritten Tochter war groß; sie hatten sehnlichst einen Sohn und Thronerben erwartet.
Meine ältere Schwester und ich gingen täglich die Kleine besuchen. Ich habe jede Bewegung, jeden Fortschritt dieses teuren Schwesterchens verfolgt. Die ersten Worte und die ersten Schritte habe ich sie gelehrt, meine ganze freie Zeit war ihr gewidmet. Zwischen meinen Stunden stürzte ich zu ihr hinein, um sie in meinen Armen zu tragen, mit ihr zu spielen und sie zu küssen. Unendliche Zärtlichkeit für dieses reizende Geschöpf erfüllte mich, ich hatte das Empfinden, es wäre meine Pflicht, sie zu schützen, zu leiten und niemals zu verlassen. Die Gefühle für diese Schwester konnte nichts ändern und abschwächen, sie haben mich überallhin begleitet. Bis heute habe ich ihr die gleiche Anteilnahme und Zuneigung bewahrt Klementine, Prinzessin von Belgien, vermählte sich 1910 mit Prinz Napoleon Victor († 1926) und ist die Mutter des bonapartischen Thronanwärters Prinz Napoleon Louis (geb. 1914).. Nur eine Zeitlang schien, daß Politik stärker sei als die Bande des Blutes und des Herzens. Der furchtbare Weltkrieg trennte auch uns. Ich habe sehr darunter gelitten, aber ich liebte meine Schwester zu innig, um ihr einen Vorwurf daraus zu machen. Mein Gebet folgte ihr, meine Gedanken blieben ihr treu, und nun haben sich unsere Herzen wieder gefunden.
Louise und ich waren intime Freundinnen geworden, wir hatten kein Geheimnis voreinander. Trotz mancher kleinen Schlachten sah ich in ihr die ältere, weisere Schwester, auf die man hören mußte. Eines Tages, im Jahre 1874, kündigte sie mir ihre Verlobung mit unserem Onkel, dem Prinzen Philipp von Sachsen-Coburg-Gotha, an. Ich verstand nicht, was das eigentlich bedeutete, und freute mich nur, nun einen Schwager zu haben, viele Verwandte zu sehen, Feierlichkeiten mitzumachen und die prächtigen Geschenke zu bewundern. Und wirklich, die Feste jagten einander. Alle Verwandten herzten und verwöhnten mich, schenkten mir Bonbons und Gaben aller Art, während meine Schwester Schmuck, Spitzen und eine königlich prächtige Ausstattung erhielt. Je näher der Tag der Trauung rückte, um so weniger sah ich Louise, die mit den vielen Vorbereitungen beschäftigt war. Einige Tage vor ihrer Hochzeit rief sie mich zu sich und erklärte mir, daß wir uns nun trennen müßten. Ich brach in Tränen aus. Ich verstand endlich, daß unser köstliches Leben zu zweit aufhören sollte; ich würde allein bleiben mit der ganz kleinen Schwester, und meine treue Toni würde mein einziger Trost sein.
Aus vielen Ländern kamen die Verwandten: Vater, Mutter, Brüder und Schwestern des Bräutigams, aber auch diejenigen meiner Mutter: ihr Bruder, Erzherzog Joseph, und ihre Schwester, Erzherzogin Elisabeth.
Die Hochzeit fand am 18. Februar 1875 statt. Louise war entzückend in ihrem silbergestickten Brautkleid und einem prachtvollen Schleier aus Brüsseler Spitzen. Ihr schönes Haupt trug einen Myrthen- und Orangenblütenkranz. Ihr blondes Haar leuchtete wie Gold. Schlank und groß gewachsen, bewegte sie sich mit wunderbarer Anmut. Ihr durchsichtig frischer Teint glich jenen Blüten, die sie trug.
Aber ihr Blick war traurig und ernst. Noch sehe ich sie vor mir am Fuße des Altars kniend, sehe sie sich erheben und sich mit vollendeter Grazie vor ihren Eltern, dem König und der Königin, verneigen, bevor sie das entscheidende Wort sprach, das Wort, das sie für immer an den Mann kettete, den sie nicht selbst gewählt, sondern für den sie bestimmt wurde.
In der Kirche und während der Hochzeitsfeierlichkeiten war der jüngste Bruder des Bräutigams, Prinz Ferdinand von Sachsen-Coburg-Gotha, der spätere Zar von Bulgarien, mein treuer Begleiter. An seinem Arm kam ich mir sehr wichtig vor.
Als das festliche Dejeuner beendet war, zog mich meine Schwester in unser Mädchenzimmer, um mich an ihr Herz zu drücken und mir gute Ratschläge zu erteilen. Ich war vom Abschied tief erschüttert und schluchzte lang, doch wagte ich nicht, meiner Mutter etwas zu sagen – sie hatte für weiche Regungen kein Verständnis. Meiner lieben guten Toni gelang es endlich, mich zu beruhigen.
In den ersten Tagen und Wochen nach unserer Trennung war die Leere um mich fast unerträglich. Alles erinnerte mich an Louise – die Zimmer, in denen wir geschlafen, die kleinen Altäre, an denen wir zusammen gebetet, die Wege und Alleen des Parkes, die Tiere, mit denen wir gespielt; ununterbrochen erinnerte mich alles an ihre liebe Gegenwart. Einsam lag ihr kleiner Garten da, den sie mit soviel Liebe und Eifer gepflegt hatte. Alle Blumen und Blüten schienen sich wie in Trauer zu neigen. Nun waren sie meiner Obhut anvertraut, und ich pflegte sie mit der gleichen Liebe, mit der wir den verwaisten Garten unseres verstorbenen Brüderchens gemeinsam betreut hatten. Nun war alles in meinen Händen, bis zu dem Zeitpunkt, da meine kleine Schwester Clementine es übernehmen würde. Sie war jetzt zweieinhalb Jahre alt, ich schloß mich immer inniger an dieses herzige Kind an.
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