Hermann Stegemann
Die letzten Tage des Marschalls von Sachsen
Hermann Stegemann

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Eliane von Bauffremont und Moritz von Sachsen waren allein. Eliane hielt die Augen noch auf die Tür geheftet, als sie sich schon lang geschlossen hatte.

Moritz von Sachsen blickte sie forschend an, sein Zorn war verflogen. Eine merkwürdige, ihm selbst fremde Leichtigkeit erfüllte plötzlich sein ganzes Wesen. Er mußte lächeln.

Er lächelte über seine eigene Aufwallung, über die Unvorsichtigkeiten des Herrn von La Peyrouse, über den Witz der Frau von Jumilhac und, weiß der Himmel, er lächelte sogar über das schöne, traurige, blasse Gesicht Elianens, die seine Gegenwart ganz vergessen hatte und immer noch nach der Tür blickte, hinter der die letzten Schritte längst verklungen waren. Er sah plötzlich nur die heitere Seite dieses ernsten Anlasses, aber er schonte sich selbst 171 dabei mitnichten, kam sich täppisch, bauernschlau und – auf Ehre – ein wenig lächerlich vor, und hätte doch am liebsten den Hut von sich geworfen, das Knie gebeugt, die schmalen Hände, die nervös in den grauen Schleierfalten wühlten, an die Lippen gezogen und diesem holden Frauenbild die süßesten Namen gegeben, sich gern als La Peyrouse gefühlt, nein, sich, ach, so gern wieder als Moritz von Sachsen gefühlt, als der verwöhnte Liebling des Glücks und der Frauen und dieses verwundete, verarmte, verhärmte Herz an sich gerissen und mit seiner eigenen Leidenschaft erfüllt! Ja, so töricht, so verliebt, so lächerlich hätte der arme Moritz sich benommen, wenn er noch die Fähigkeit besessen hätte, die große Müdigkeit zu überwinden, die plötzlich entspannend durch seine Glieder schlich und ihn zwang, mit einer um Entschuldigung bittenden Gebärde einen Sitz zu suchen. Armer Moritz!

Als der Marschall sich niederließ, kehrten Elianens Augen zu ihm zurück. Eine feine Blutwelle stieg in das blasse Gesicht, ein hartes Licht erschien in ihren Augen, ihre Brauen zuckten, die Flügel der schmalen, gebogenen Nase bebten. Reglos lagen in den Schleier gekrampft, dicht unter die Brust gerafft, die geballten Hände. Ihre Stimme hatte keinen Klang, so heftig ging ihr Atem.

172 »Sie suchten eine Unterredung unter vier Augen, Herr Marschall! Sie machten Frau von Jumilhac zur Mittlerin, so daß ich nicht gut nein sagen kann! Sie drängen sich in mein Geheimnis! Sie verteidigen Herrn von Bauffremonts grausame Handlungsweise! Sie vergessen die Galanterie, die man der Frau schuldet! Sie haben mir gestern meine Fassung zerbrochen und mir den Weg, den ich um Mitternacht gegangen bin, dadurch zu einem schweren Gang gemacht! Sie häufen Hohn auf meine Verbannung zu den grauen Damen von St. Sulpice! – Mit welchem Recht drängen Sie sich in mein Leben, Marschall von Sachsen?«

Ihr Atem jagte, mit Mühe bändigten die Hände das pochende Herz. Die dunkle Bläue ihrer Augen war schwarz, ein silberner Schein stand spitz darin und zitterte wie eine abgebrochene Klinge. Um die Flügel der Nase, unter den Augen, und in den Winkeln des halbgeöffneten, feuchten, roten Mundes spielten Schatten, schweiften Lichter, wie sie sonst nur die Wollust weckt.

Moritz von Sachsen starrte hingerissen, von einem Schauer überlaufen, der sich zwischen seinen Schultern und unter den Rippenbogen in den Nervensträngen ballte, auf die ekstatisch durchglühte Frau. Seine Schläfen hämmerten, denn sein Herzstoß 173 warf Welle auf Welle stockenden Blutes aus. Er achtete nicht auf ihre Worte, sah nichts als dieses von entfesselter Leidenschaft erleuchtete Gesicht, in dem sich die Sehnsüchte, die Kasteiungen, die Begierden, die Schmerzen dreier Jahre offenbarten. Er wollte sprechen, wollte die Arme heben, sie an sich reißen. Aber er rührte keine Hand, saß vorgebeugt, mit eingesunkener Brust, hochgezogenen Schultern, sah sie plötzlich wie vor einem Schreckbild zurückbeben, senkte den Kopf, seufzte tief auf und schwieg. Über seine entfärbten, grau angelaufenen Wangen zog langsam eine Tränenspur, glitzerte, schmolz ein, erlosch.

Doch so rasch dieser Zusammenbruch über ihn kam, ebenso rasch riß er sich wieder in die Höhe. Die Züge versteinerten, die Brauen schürzten sich, eine Wolke schattete auf der Stirn des Marschalls von Sachsen, er straffte sich in den Schultern und blickte auf. Er war durch eine jähe Erschütterung seines Wesens aus einer letzten lüsternen, sich selbst belügenden Begierde aufgeschreckt worden.

Als ihm die Hände nicht mehr gehorchten, als ihm in einem Augenblick, da er sich ganz von Verlangen nach dem Weibe beherrscht fühlte, das ihm in seiner Erregung so schön, so begehrenswert erschienen war, daß er es am liebsten an sich gerissen 174 hätte, die Arme, die Hände nicht mehr gehorchten und das Herz schwer in die Brust zurücksank, zerbrach in ihm der mühsam genährte Glaube an sich selbst und an seine abenteuerliche Vergangenheit im großen Liebesspiel der von allen Lüsten gepeitschten, in unbekümmertem Genuß schwelgenden Geschlechter.

Aber da er sich schon seit seinem triumphierenden Einzug in den Königssitz Chambord nur noch in der Verklärung als sieghafter Held fühlte, dem Cupido ebensooft nach Gefallen gedient hatte wie der Gott des Krieges, traf ihn diese Erkenntnis nicht unvorbereitet. Alles was er sich in den letzten Tagen vorgespiegelt hatte, war ja nichts anderes als der Wunsch, zu scheinen, was er in Wirklichkeit nicht mehr war. Er war nicht mehr der alternde Liebhaber, er war nicht mehr der »arme Moritz«, der sich selbst verspottete, weil er sich bemitleidete, er war von einer großen, ganz anders gearteten Liebe erfüllt, als er je empfunden hatte. Er konnte lieben ohne zu begehren, ja er konnte nur noch lieben, weil er aufhörte zu begehren. Cupido floh, Amor hatte seinen letzten Pfeil versandt, und dieser trug keine vergiftete Spitze mehr.

Moritz von Sachsen lächelte ernst. Die drohende Wolke, die seine Stirn verschattete, löste sich, und die einzelne Träne, die ihm Scham und Ohnmacht 175 erpreßt hatten, ließ einen reinern, tieferen Glanz in seinen einst vielbewunderten Augen zurück, deren blaue Iris jetzt schon von einem feinen Altersring umgeben war und von rötlichen Aderschlänglein bedrängt wurde.

Seine Stimme fiel ruhig, weichgetönt in das erregte, atemlose Schweigen, das auf Elianens leidenschaftlichen Ausbruch gefolgt war.

»Sie glauben, einen Feind, einen Eindringling und einen Mann vor sich zu sehen, der kein Recht hat, in Ihr Schicksal zu greifen, Frau von Bauffremont. Sie sind von Bitterkeit erfüllt, Sie denken an Dinge, die nicht mehr sind. Ich bitte Sie, mich trotzdem anzuhören. Ich liebe Sie, Eliane – werfen Sie sich nicht zurück – ich liebe Sie heute, liebte Sie gestern schon, wie man liebt, was man nicht mehr zu besitzen wünscht.

»Erinnern Sie sich des ersten Tages, der mich in Ihre Nähe führte? – Ich bitte Sie, diese Erinnerung aus Ihrem Gedächtnis zu tilgen.

»Erinnern Sie sich der Werbungen, der galanten Künste, die ich aufbot, mich in Ihre Gunst zu setzen? – Ich bitte Sie, alles zu vergessen.

»Erinnern Sie sich unserer letzten Begegnung? Wie ich zu Ihnen eilte, um Ihnen die Kunde von Betoux zu bringen und Sie mich um die Eskorte 176 baten, nein, die Eskorte befahlen, die Sie zu Ihrem Gatten bringen sollte? – Ich bitte Sie, ich ersuche Sie, auch dieser Beziehung nicht mehr zu gedenken.

»Vielleicht bliebe mir auch zu wünschen, daß Sie die Worte vergäßen, die Sie gestern so schmerzlich berührten, aber ich glaube, daß dies nicht möglich ist, denn diese Worte sind nicht von den Erlebnissen dieses Tages zu trennen. Sie sind im Protokoll der Leichenfeier des Herrn von Bauffremont verzeichnet, und der Marschall von Sachsen muß zu ihnen stehen. Ich schäme mich ihrer nicht. Der Soldat hat sie gesprochen.«

Er lehnte sich zurück und holte Atem. Eine große Ruhe war über ihn gekommen.

Eliane von Morane blickte in ein durchgeistigtes, von einem milden, ein wenig ironischen, zugleich schwermütigen Lächeln erhelltes Gesicht, in dem die Verwüstung wie von weicher Hand geglättet erschien, ein Gesicht, das sie nicht kannte. Ihre Hände lösten sich und sanken geöffnet in ihren Schoß. Es war wie eine Bitte, fortzufahren.

Aber Moritz schüttelte abwehrend den Kopf.

»Ich habe Ihnen nichts mehr zu sagen, Eliane, bevor Sie nicht mehr Vertrauen zu mir fassen. Wie soll ich Ihnen helfen, wie kann ich den Stachel 177 aus Ihrem Herzen ziehen, solange ich nicht aus Ihrem Munde weiß, was sich zugetragen hat, seit Sie mein Feldlager verließen? Aber davon zu sprechen kann Ihnen erst gelingen, wenn Sie vergessen, was Sie von Erinnerungen an unsere Beziehungen bewahrt haben. Nein, sicherlich nicht bewahrt haben, es hatte keinen Wert für Sie, sondern was ich in Ihnen aufgeweckt habe durch mein Erscheinen, meine Gegenwart, meine Dazwischenkunft und durch meinen – ich gestehe es frei – meinen unvernünftigen Versuch, zu scheinen, was ich nicht mehr bin. Es ist nicht leicht, sich selbst Vernunft zu predigen – halten Sie mir das zugut, Eliane! Das Gift stirbt nicht mit der Schlange, die man getötet. Es wirkt in uns fort. Man muß noch ein übriges tun. Ich habe das Heilmittel gefunden. Es ist die Liebe des Wunschlosen, der Wunsch, Sie glücklich zu machen und glücklich zu sehen. Eine kleine Genugtuung für den, der sich nie Illusionen über den Wert des Glückes gemacht hat, aber immer in Illusionen lebte und nicht aufhörte, dem Glücke nachzujagen. Das Leben, die Frauen, der Ruhm, Kronen und Reiche, sind das nicht alles Illusionen? – Erzählen Sie mir Ihre Rückkehr aus dem Felde!«

Seine Augen wandten sich von ihr ab und 178 schweiften zum geöffneten Fenster hinaus. Der Abend zog herauf. Die Vögel waren verschwunden, das Stückchen Landschaft, das man in der Ferne aus dem Flußtal aufsteigen sah, lag nicht mehr silbern verschleiert, sondern rosig und goldgelb überflammt. Die Sonne sandte vom fernen Ozean herüber ihre letzten Strahlen in den Garten Frankreichs.

Zweimal setzte Frau von Bauffremont zur Antwort an, zweimal scheute sie vor dem ersten Wort. Unsicher suchten ihre Augen den Blick Moritzens, der ruhig, sachlich, beinahe kühl auf ihr lag. Endlich überwand sie sich, und nun entlastete sie ihr Herz, war sie plötzlich, von seiner veränderten Haltung beeinflußt, ihm auf eine Weise nahegerückt, die sie voll Vertrauen zu ihm aufsehen ließ.

Eliane erzählte:

»Wir fuhren auf schlechten Wegen, als ich von Cortessem und Tongern nach Namur rollte. So schlecht, daß ich keine Ordnung in meine Gedanken brachte. Der Abschied von Herrn von Bauffremont war mir gegenwärtig, aber ich verlangte trotzdem zu ihm zurück. Ich hatte ihm schreiben wollen, als mir der Besuch des Marschalls von Sachsen gemeldet wurde, was, weiß ich nicht mehr. Aus der Empörung und Zerrissenheit meines Herzens schreiben, 179 vielleicht Abscheuliches – ich weiß es nicht mehr. Ich dachte nicht einmal daran, daß er schwer verwundet war, denn ich lebte noch ganz in der Szene, in der er von mir Abschied genommen hatte.

»Er war schon seit einigen Tagen ganz verändert in seinem Benehmen. Zuerst, als ich ihn kennenlernte, erwies er sich von so großer, kühler Höflichkeit, daß ich kein Verhältnis zu ihm finden konnte. Aber ich war ja so froh, einem Elend zu entrinnen, das mir nur noch den Rückweg ins Kloster offengelassen hätte, daß ich diese Werbung als eine Fügung betrachtete. Ehrerbietung, Rücksicht, Heiterkeit, alles brachte ich ihm entgegen und erfuhr von seiner Seite nach der Hochzeit eine Behandlung, die mir dies nicht schwer machte. Nur eins: Herzliche Zuneigung bewies er mir nicht. Da er sich in seiner kühlen Zurückhaltung gefiel, brachte er auch in mir nichts an Wärme zustande. Ich war zu jung, um ohne Wärme zu leben, zu begierig, Wärme zu empfangen, um mich dareinzufinden, ohne Liebe zu leben, und ich wurde zu sehr von meiner Jugend getrieben, um nicht zu lieben, als mir von einem andern Liebe bezeugt wurde.

»Hätte Herr von Bauffremont mir als der Erste solche oder wie immer geartete Neigung entgegengetragen, so wäre mir vielleicht das schwer 180 geworden, was andern so leicht fällt, nämlich sich einer Liebe hinzugeben und der schuldigen Treue zu vergessen. Heute weiß ich, daß wir in einer Zeit leben, die uns die Treue erläßt, damals ahnte ich dies nur und scherzte darüber, wie man über verbotene Dinge scherzt, um nicht zu zeigen, daß sie uns reizen. So aber hatte ich eine große Entschuldigung für meine Liebe zu Herrn von La Peyrouse: die Kälte meines Gatten, die Kälte, nicht das Alter!«

Eliane verstummte und blickte verloren vor sich hin.

»Die Kälte, nicht das Alter,« hallte es in Moritz nach, und er fühlte, wie wahr das klang! Aber es erhitzte seine Einbildungskraft nicht mehr – er wartete auf den Schluß der Erzählung, um selbst zu Wort zu kommen.

Jetzt blickte Eliane auf. Der Schein eines schelmischen Lächelns flog über ihr Gesicht und das verwirrte den Marschall noch mehr als ihre ersten Sätze.

»Erinnern Sie sich unserer ersten Begegnung, Herr Marschall? Unserer zweiten, dritten, der Aufmerksamkeiten, die Sie der, ach, so jungen Frau des Herrn von Bauffremont erwiesen? Ich kann sie nicht aus meiner Erinnerung streichen, wie Sie wünschen, weil Ihre Huldigungen mir meine 181 Liebe sichern halfen. Zürnen Sie nicht, fühlen Sie sich nicht gekränkt, Moritz von Sachsen – Sie waren ja damals nach Ihrem eigenen Geständnis noch um meine Gunst bemüht – und lassen Sie mich Ihnen sagen, daß ich Ihnen großen Dank schuldig bin! Jetzt kann ich es Ihnen ja sagen –«

»Um der Liebe Gottes willen, schonen Sie mein, Eliane!« flehte, drohte, lachte Moritz von Sachsen und hob pathetisch die diesmal leicht gehorchenden Hände.

»Doch, doch – großen Dank, denn Herr von Bauffremont bemerkte wie alle anderen Ihre Huldigungen, Ihre Bemühungen um meine kleine Person und sah mit Genugtuung, daß der Sieger von Fontenoy umsonst Sturm lief und umsonst artige Parlamentäre in der Gestalt von teuren holländischen Blumen, Pariser Marzipan, flandrischer Seide und Brüsseler Spitzen aussandte. Niemand ahnte, daß diese Manöver das Geheimnis meiner Liebe schützend umgaben. Schelten Sie mich herzlos, kokett, listig, ränkevoll – ich will es mir heute nicht ohne Verwirrung gefallen lassen.«

Moritz von Sachsen achtete kaum auf den Nachsatz, in dem die dritte Eliane die zweite beiseiteschob.

»Also darum wiesen Sie mich nicht ganz von 182 sich? Deshalb dieses halbe Gewährenlassen, dieses reizvolle Spiel, das mich immer wieder zu Ihnen zurückzwang! Ach, wen hätte eine Frau noch nicht getäuscht!«

Er ergriff ihre Hand und küßte sie. Es war, als wollte er ihr damit zu verstehen geben, daß er ihr das Spiel verzeihe, das seiner Eitelkeit auch jetzt noch Wunden schlug.

Da hielt sie seine Hand fest, legte ihre Linke darüber und fuhr mit ernsten, angstvoll geweiteten Augen fort:

»Als die Armee mit Kling und Klang, von Lustbarkeiten erheitert, wie Moritz von Sachsen allein sie zwischen den Schlachten zu veranstalten weiß, um seine Truppen bei guter Laune zu halten, siegreich von Brüssel und Löwen auf Lüttich und Bergen rückte, schöpfte Herr von Bauffremont Verdacht. Ich erriet ihn nicht, war ganz von meiner Liebe eingefangen, war nicht mehr gewohnt, in ihm meinen Gatten zu sehen, denn er war noch mehr erkaltet und mir innerlich längst entrückt. War ich unvorsichtig? Verstand ich nicht, als Intrige erscheinen zu lassen, was mein ganzes Herz erfüllte? Ich weiß es nicht, aber am Abend vor dem großen Gegenmarsch der Armee, als Herr von Bauffremont zur Deckung dieser Bewegung bei Betoux 183 stehenblieb, da ersuchte er mich um eine Unterredung und eröffnete mir, daß ich mit den königlichen Equipagen ins Hauptlager abreisen müsse und bis zum Austrag des Treffens dem Schutze des Marschalls von Sachsen unterstellt bleibe. Er aber werde mit seinem Stab und seinen Leuten bis zum bittern Ende fechten. Es solle mir auch nicht gestattet sein, die Abschiedsgrüße seiner Offiziere entgegenzunehmen. Doch werde er dafür sorgen, daß ich sofort Botschaft erhielte, ob er oder Herr von La Peyrouse oder beide Herren das Feld deckten.

»›Warum nennen Sie Herrn von La Peyrouse?‹ rief ich, zu Tod erschreckt. ›Genügt es mir doch, von Ihnen zu hören!‹ Es war ein ungeschickter Versuch, ihm die Angst um Herrn von La Peyrouse zu verhehlen und ihm die nicht minder große Angst um den Gatten deutlich zu machen. Ich Unglückliche bangte ja um beide, ja, ich bangte auch um einen Gatten, der mir als Mann von Ehre und hohem Charakter, ja, ich gesteh's, der mir in diesem Augenblick auf eine mir selbst nicht klar bewußte Weise unendlich teuer war. Aber meine Worte riefen ein bitteres, verächtliches Lächeln auf seine Lippen. Er hatte die Antwort bereit.

»›Bemühen Sie sich nicht, mich zu täuschen, Eliane!‹ sprach er kalt. ›Achten Sie im Feldlager 184 besser auf Ihre Briefschaften, die der Wind leicht in fremde Hände trägt, und erwarten Sie mit Geduld und schuldiger Würde, was der Tag bringt. Ich mache Ihnen keine Vorwürfe, denn ich habe Sie schlecht behütet und Ihr flatterndes Herz übel bewahrt.‹

»Darauf verließ er mich, ohne mich weiter anzuhören. Als ich ihm nacheilen wollte, verwehrte man mir den Ausgang. Die Karosse fuhr vor, das Geleit trat an, die Hast und der Lärm des Aufbruchs rissen mich mit sich fort, und als ich in den Wagen stieg, stand Herr von Bauffremont mit dem Hut in der Hand am Schlag, küßte mir leicht die Hand und wünschte mir gute Reise. Kein Offizier war in der Nähe. Royal-Pologne und Royal-Piemont hielten abgesessen hinter dem Dorfe, und ich sah die Herren vor den Eskadronen die Hüte heben, als ich an ihnen vorüberfuhr. Royal-Piemont – Royal-Pologne! – Herrn von La Peyrouse sah ich nicht und von Herrn von Bauffremont, als ich mich aus der Karosse lehnte und verzweifelt zurückblickte und winkte, nur noch einen Schattenriß, der schwarz im hellen Abendlicht vor der weißen Blache eines Troßkarrens stand . . .«

Sie brach ab, hatte leise, immer leiser gesprochen, hielt die Hand des Marschalls umklammert und 185 bewegte noch die Lippen, als sie schon keine Worte mehr fand.

Moritz von Sachsen strich ihr mit der Linken über die erkalteten Finger, die seine rechte Hand krampfhaft umfaßt hielten.

»Lösen Sie sich von dieser Erinnerung, Eliane, wühlen Sie nicht darin, Herr von Bauffremont hat auf seine Weise wie ein Mann von Herz und Ehre gehandelt.«

»Hat er das?« lachte sie aufschluchzend. »Hat er nicht grausame Qualen über mich gebracht? Hätte er nicht besser getan, zu schweigen und es dem Schicksal zu überlassen, mich zu treffen? Nie war ich sicherer, daß er mich nicht liebte, als in diesem Augenblick! Nie war ich meiner Gefühle für ihn weniger sicher als in diesem unwiederbringlichen Augenblick!«

Staunend, voller Rührung und dennoch ein wenig skeptisch, blickte Moritz auf die weinende Frau. War's echter, nicht aus der Erinnerung und Selbstvorwürfen künstlich aufgeschürter Schmerz? War's Komödie des Herzens, das sich selbst belügt, betört, verleugnet und verherrlicht? Ratlos strich er ihr die Hände. Erschüttert und seiner Erschütterung heimlich spottend, um seiner Rolle als frivoler Lebenskünstler treuzubleiben, streichelte er 186 väterlich, von keiner sinnlichen Erregung mehr gestachelt, ihre schmalen, kalten Hände.

»Kommen Sie zum Ende!« bat er. »Erzählen Sie, was einzig ich zu hören wünsche, wie Sie aus meinem Feldlager nach Namur gelangten.«

Da löste sie die Hände und zog sich auf sich selbst zurück.

»Sie haben recht, Herr Marschall, mich zu mahnen. Alles rückt an seinen Platz, wenn ich Ihnen dies berichte. Es war eine schlimme Fahrt. Zweimal wurden wir angeschossen, dann kamen wir am hohen Mittag des zweiten Tages glücklich durch die Tore. Ich eile in das Hospital der Schwestern St. Annae, wo Herr von Bauffremont lag. Ich werde von der Oberin empfangen und bringe meinen Wunsch vor. Man bittet mich zu warten. Ja, Herr von Bauffremont galt trotz hohen Wundfiebers nicht als verloren, war bei voller Besinnung und man war imstande, ihn von meiner Anwesenheit zu unterrichten. Die Oberin übermittelt einer Schwester meine Bitte, zu ihm geführt zu werden, bleibt bei mir, sucht mich zu trösten, zu unterhalten, ich sitze und warte, warte, warte. Endlich kehrt die Schwester zurück: Herr von Bauffremont will mich nicht empfangen. Die Ärzte erlauben kurzen Besuch, aber er will mich nicht sehen. Eine 187 Musketenkugel hat ihm Wange und Kinnlade durchbohrt, das Band der Zunge zerrissen, den Gaumen zerstört – man hat sie herausgezogen, ihm eine silberne Röhre eingesetzt – er will mich nicht sehen. Ich lasse ihm sagen, ich bliebe zu seiner Verfügung, werde warten, solange es ihm gefalle – er will mich nicht sehen. Ein Billett von seiner Hand, nein, eine Schiefertafel, die Worte tief eingeritzt: ›Reisen Sie, sobald Sie sich erholt haben, nach Tours. Sie werden dort meine Anordnungen erhalten. Reisen Sie! Ich wünsche nicht, daß Sie mich sehen. Ich erwarte, daß Sie mir Folge leisten. Reisen Sie!‹«

Wiederum verstummte Eliane, wiederum starb ihre Stimme, aber diesmal nicht von Tränen, sondern von unsäglicher Bitterkeit erstickt. Nach einer Weile murmelte sie:

»Was wollen Sie noch, Herr Marschall? Ich habe ihn nicht mehr wiedergesehen! Lebend nicht mehr, und im Tode so, wie Sie ihn sahen. Den Hut auf Mund, Kinn und Brust gedrückt, starr, kalt und abgeschieden in seinem gläsernen Sarg. Ein fremdes, verschlossenes Gesicht!«

Erschöpft lehnte sie sich in den Sessel, ihr Kopf neigte sich zur Seite und ihre Schläfe ruhte an der Stelle, auf der vor einer Stunde die Hand des Herrn von La Peyrouse gelegen hatte.

188 »Sie haben keinen zweiten Versuch gemacht, die Schranken zu brechen, Eliane?« fragte Moritz leise.

»Ich habe meine Bitte während drei Jahren viermal wiederholt. Die Antwort war zweimal dieselbe. Er ließ mir sagen, die Zeit sei noch nicht da. Das drittemal – es war vor drei Monaten – schrieb er: ›Ich bitte Sie, noch ein wenig Geduld zu haben. Ihre Güte rührt mich.‹ Dann antwortete ich: ›Rufen Sie mich, mein Herr, und ich eile zu Ihnen. Aber wenn Sie nicht rufen, ich habe Zeit, ich werde warten.‹ Darauf jagte er eine Stafette zurück, statt erst nach einer Reihe von Tagen den königlichen Boten zu benützen, der von Vendôme über Blois und St. Sulpice nach Tours reitet, und ich las: ›Sie werden nicht mehr lange zu warten haben. Gott ist gnädig!‹«

Moritz von Sachsen fuhr auf, ergriff ihre Hände wieder, blickte ihr voller Strenge in die Augen:

»Und Sie mißverstanden diese Botschaft, Eliane! Sie errieten ihren wahren Sinn nicht! Ein Sterbender schrieb!«

»Ich erriet, daß er mich nicht wiedersehen wollte!« antwortete sie herb.

»Daß er Gottes Gnade lobte, weil ihm Erlösung kam, errieten Sie nicht?«

189 »Nein, mein Freund, das – erriet – ich – nicht.«

Die Worte fielen hart, schwer, jedes für sich abgebrochen. Ihre Augen waren groß und starr, ihre Hände wie von Eis.

»Sie hätten alle Türen sprengen und zu ihm dringen, jede Macht gebrauchen müssen, um vor ihn zu gelangen!«

»Es wäre vergeblich gewesen. Er lag verschanzt hinter der Rücksichtnahme auf mich, die er vorgeschoben hatte, um die Welt zu täuschen. Ich war ihm nichts. Er hat mich nie geliebt.«

Moritz ließ ihre Hände los und sank wie erschöpft von hartem Kampf und ungeheurer Anstrengung zurück. Frau von Jumilhac hatte recht: er kannte, verstand die Frauen nicht, niemand kennt sie, sie kennen sich in sich selbst nicht aus, fühlen sich nur und geben im Gefühl sich ganz.

Er verzichtete auf jede Antwort.

Die Stille war so groß, daß man das Wasser unter den Brückenjochen des Flusses rauschen hörte. Die Sonne war von neuaufsteigenden Schleiern aufgesogen worden, nur noch eine schwache Röte zog sich, wie zerstossenes, langsam sich bräunendes Blut durch die Nebelbänder. Ganz in der Ferne rumpelte die Trommel einer marschierenden Truppe. 190 Dann lachten und jauchzten irgendwo Kinder in den engen Gassen von Vendôme.

Langsam, schwerfällig und doch nicht ohne Würde erhob sich der Marschall von Sachsen, um Abschied zu nehmen. Er wußte nichts mehr zu sagen, nichts zu ordnen, es war nichts mehr zu tun. Eliane war sich selbst überlassen, mußte mit diesen Erinnerungen allein fertig werden und dadurch zur Klarheit gelangen. Er aber schied, von allem geheilt, was noch an faunischen Gefühlen in ihm war, aus einem Liebeshandel, der nur in ihm selbst wirksam gewesen war und kehrte zurück nach Chambord zu seinen Sachsenreitern, seinem Ballett, seiner Musika, seinem Gestüt, seinem Hofstaat, seinem Briefwechsel mit Königen und schönen Frauen, seinen Erinnerungen, seinem ungestillten Ehrgeiz und seinem Siechenlager, nur noch bemüht, die große heldische Rolle zum Ende zu steigern, die er als Abenteurer königlichen Geblüts, Feldherr und Frauenfreund an den Thronen Europas, auf den Schlachtfeldern Deutschlands, Polens und der Niederlande und auf den Parketten und in den Alkoven zu Dresden, Warschau, Wien, Paris und Versailles gespielt hatte.

Er sucht nach einem schönen Abschiedswort und findet es nicht. Als Frau von Bauffremont wie 191 ungefähr den Kopf hebt und ihn plötzlich wieder mit dem verängstigten, graziösen Lächeln der Nymphe anblickt, das er nicht mehr in diesem tragisch verschatteten Frauenantlitz zu finden vermeinte, bricht die Pose des schönen Abgangs, zu der er sich innerlich aufgeschwungen, auf einen Schlag zusammen.

Moritz von Sachsen hat sich zu der schlanken Gestalt in den grauen Schleiern niedergebeugt, sie zu sich emporgezogen, hält sie an sich gedrückt und spricht mit rauher Stimme:

»Nicht das Alter, die Kälte hat Sie Ihrem Gatten abwendig gemacht, Eliane! Nicht, daß er Sie verstieß, weil Sie Ihr Herz verschenkt, sondern daß er Sie nicht liebte, hat Sie unglücklich gemacht – wie einfach, wie menschlich, wie weiblich ist das alles! Nun aber ist dieses tragische Spiel zu Ende, und Sie werden es in dem Schleier begraben, der morgen von Ihren Schultern fällt. Ich weiß, daß Sie nicht allein gelitten haben. Nehmen Sie Ihr Herz nicht zurück, Herr von Bauffremont reckt seine Hand nicht über das Grab hinaus, lassen Sie Herrn von La Peyrouse die Hoffnung, auf die er Anspruch hat!«

»Sie sprechen für Herrn von La Peyrouse?« fragte sie verstört, aber schon wieder von einem Glücksschauer gestreift.

192 »Nein, ja – für mich, so wie ich mich in La Peyrouse sehe, wie ich hätte sein mögen, wenn ich nicht der Marschall von Sachsen wäre!«

Sie staunt, zweifelt, läßt die letzte Feuchte in ihren Wimpern zerfließen, richtet sich auf, entgleitet leicht seinen Armen, läßt beinahe den Schleier, an dem er sie zu halten sucht, in seinen Händen, entweicht mit dem ängstlichen und zugleich triumphierenden Lächeln der Nymphe von Valenciennes und flüchtet in den Hintergrund des Gemaches.

Da wendet Moritz von Sachsen sich rasch zum Gehen. Er nimmt Stock und Hut, verbeugt, bedeckt sich und schreitet ein wenig schwerfällig, die Beine mit ungeheurer Willenskraft zum Dienst zwingend und mit einem köstlichen Brausen in den Ohren aus dem Empfangsgemach der Frau von Bauffremont.

So war's doch ein schöner Abgang geworden, ein bißchen gestelzt, aber Moritz freute sich darüber und suchte hinter dieser Befriedigung seiner ältlich gewordenen Eitelkeit das wahre, warme Gefühl zu verbergen, das aus seiner frivolen Natur wie Korn aus dem Märzenschnee aufgeschossen war.

»Le roi fait battre tambour,« summte er vor sich hin und stieg, von Herrn von La Peyrouse erwartet und begleitet, in die Karosse, die sein Hofdienst bereitgestellt hatte.

193 Es waren nur wenige Schritte bis zum Quartier, aber das Maß der Ermüdung war voll, er drängte nach Chambord zurück.

La Peyrouse saß mit angezogenen Ellbogen und geschürzten Brauen an seiner Seite. Eifersucht, Neid, tückische Begierde und ehrlicher Zorn ballten sich in der Enge der Karosse.

Da sagte der Marschall leichthin: »Ich habe mich wieder verplaudert. Sie werden gut tun, Vorspann anzufordern und zwei Postillone aufsitzen zu lassen, um Zeit zu gewinnen, Herr von La Peyrouse.«

»Wie der Herr Marschall befehlen!«

Moritz wandte den Kopf und blickte nachsichtig lächelnd in das starre Gesicht.

Die Kutsche hielt schon, als er nachdrücklich fortfuhr:

»Vergessen Sie nicht, daß ich Sie spätestens in zehn Tagen in Chambord erwarte, La Peyrouse. Sie werden einige Tage bei mir verweilen. Wir müssen eine Parade gegen das infernale Pelotonfeuer zu finden suchen, das man in Potsdam Schlag auf Schlag abbrennt. Die Hannoveraner haben schon zuviel davon angenommen. Die Salve von Fontenoy hat geringern Schaden getan, als solch rollendes Feuer uns in einer rangierten Schlacht 194 zufügen kann. Friedericus Rex wird über den Sottisen des Herrn Voltaire nicht vergessen, seine Kerle noch weiter auszubilden. Aber trösten Sie sich, Sie werden auch Gelegenheit haben, von unsern galanten Vergnügungen zu kosten und Besuche in unserer Nachbarschaft zu machen. Sie werden dazu alle Freiheit haben, die Sachsen zu vergeben hat. Man wird Sie überall mit offenen Armen empfangen.«

»Herr Marschall!«

»Bitte auszusteigen, Herr Oberstleutnant – ich brauche Ihre Hilfe.«

Beflissen und verwirrt sprang La Peyrouse aus dem Gehäuse. Nie sah Moritz von Sachsen ein glückstrahlenderes Gesicht als das des Herrn von La Peyrouse, der ihm Hand und Schulter als Stütze bot.

»Ich sagte Ihnen ja, Sie könnten mein Sohn sein,« murmelte Moritz, um spöttisch beizufügen: »Wenn ich Wert darauf legte, Söhne zu hinterlassen.«

Dann begab er sich in seine Gemächer und ließ sich von Espagnac die Berichte an den Minister vorlegen, billigte sie und setzte seinen Namen darunter. Er zerdrückte eine Feder dabei, denn die Hand wog wieder wie Blei.

Riesenhaft aufgestellt, breit auseinandergezogen, 195 stand der Anfangsbuchstaben seines Namens auf dem Papier, wie zerhacktes Gestrüpp stürzten die übrigen nach. Nur im X des französisch geschriebenen Titels, den August der Starke ihm Anno 1711, als der Kurfürst von Sachsen zum Verweser des Heiligen Römischen Reiches bestellt war, aus seiner Machtfülle verliehen hatte, sprühte noch ein vulkanischer Blitz. Maurice de Saxe, das war der Name, den er unsterblich gemacht hatte. Mit ungeheuerm Stolz blickte er auf die langsam trocknende Schrift.

Dann sprach er, zu Espagnac gewendet, der ihn mitleidig beobachtet hatte und sich unter seinem Blick rasch zusammenriß:

»Lassen Sie das mit Korsika! Es ist eine zu spät gelegte Petarde. Der große Ludwig konnte in dem schönen Ballett »Flora« noch mit fünfundfünfzig Jahren die Bühne betreten, ohne Schaden zu nehmen an seiner königlichen Majestät, ich möchte nicht in einer geschmacklosen Pantomime den König von Korsika spielen, nachdem ich Kurland und Sachsen-Polen entsagt habe. Marschall von Sachsen, das genügt!«

Er winkte ihm zu gehen, verlangte noch nach Belart, dann übernahm ihn die Müdigkeit, die schon lange auf ihre Stunde gewartet hatte.

196 Als er sich mit Hilfe des Arztes ein wenig erholt hatte, befahl er Herrn von La Peyrouse zur Abmeldung. »Gute Reise, beeilen Sie sich, man weiß nie –.«

Die Stimme brach, ein morbider Glanz erschien und erlosch in dem zerfallenen Gesicht. Stumm neigte sich La Peyrouse über die entkräftete Hand.

Die Dämmerung war schon so stark geworden, daß die spitzen Giebel der Altstadt ins Dunkel stachen, als der Reisezug des Marschalls von Sachsen Vendôme verließ. Drei Karossen und vierzig Reiter zogen über den Loir. Trabende Hufe und rollende Räder wiegten den Marschall von Sachsen, der diesmal allein in seiner Prunkkarosse saß.

Er sah die grauen Schleier über den breiten, welligen Fluren stehen und vor den schwarzen Wäldchen einzelne Nebelgestalten auftauchen, die, von der gesammelten Wärme emporgetrieben, wie Luft- und Waldgeister über dem Erdboden schwebten. Endlos dehnte sich das tiefgründige, fette Gefilde der Beauce.

Die rohe, nur zum Nutzen bearbeitete Landschaft war nicht nach seinem Geschmack. Er liebte auch den neuen englischen Stil nicht, der die großartigen symmetrischen Gartenanlagen Le Nôtres zu verdrängen begann. Er mußte festgegliederte Formen 197 um sich haben, Straßensterne, die ihre Strahlen nach allen Seiten schossen, schöne, geradegezogene Hecken, Statuen und Boskette, Wasserkünste, die nach seiner Laune sprangen, klar herausgeschnittene Fernblicke, die nicht im Chaos sich verloren. Strenge Ordnung verlangte seine krause, abenteuerlich schweifende Phantasie als Halt und Zwang zur Größe und zur Harmonie.

Nymphen, die als wilde Waldgeister wie Kuhmägde mit nackten, beschmutzten Füßen umherliefen und kreischten, waren keine Göttinnen. Die Damen des Olymps trugen sich anders.

Er beneidete Herrn von Bauffremont immer noch um die Rolle, die er hätte spielen können und verschmäht hatte. Aber Bauffremont hatte Elianen nicht geliebt, ja, er war nicht einmal in sie verliebt gewesen. Wie anders hätte er ihr sonst so schwer nachtragen können, was keines Vorwurfs wert war! Es war wohl verwundete Eitelkeit im Spiel gewesen. Aber er bewunderte die Strenge des Marquis, der zugleich so edelmütig gehandelt hatte, denn die Erklärung, Eliane müsse seiner Person ferngehalten werden, damit ihr sein Anblick erspart bliebe, und die Verwandlung der Pönitenz in eine ihr erwiesene und schuldige Rücksichtnahme zeugten ohne Zweifel von vornehmer Gesinnung. Freilich 198 konnte so nur ein Mann handeln, der sich durch keine Faser des Herzens und durch keinen Reiz der Sinne mit seiner Frau verbunden fühlte, und daher imstande war, sie von sich fernzuhalten, statt ihrer bis zum letzten schönen Augenblick zu genießen.

Nein, Eliane wäre wirklich nicht so sehr zu bedauern, wenn sie nicht selbst als Unglück betrachtet und als unerhörte Kränkung empfunden hätte, was nur eine Intrige Amors und die Maßregel eines in seiner kalten Eigenliebe gekränkten Gatten war . . .

Kommandorufe, eintönige Trommelschläge und ein Klirren von Fußfesseln rissen Moritz von Sachsen aus seinen Träumereien. Die Karosse rollte an einem Transport von Landstreichern, aufgegriffenen Bettlern, Dirnen und freigestellten leibeigenen Bauern vorbei, die zur Auffüllung der Bevölkerung Louisianas bestimmt waren. Gleichgültig blickte der Marschall auf die schleichende, mit Trommelschlag und Rutenstreichen vorwärtsgetriebene Kolonne. Als er noch hoffte, die Antilleninsel Tabago einzuhandeln und selbst Kolonisten suchte, um sein erträumtes Kazikenreich zu bevölkern, hatte er eher auf solche Begegnungen geachtet. Nun war ihm das völlig gleichgültig.

Da die Karosse langsamer lief, riß er ungeduldig an der Schnur.

199 »Platz, Platz für den Marschall von Sachsen!« rief der Leibkutscher und schwang die Peitsche. Das Geleit stob nach vorn und drängte die übelriechende Kohorte zur Seite, deren Ausdünstung durch das geöffnete Luftscheibchen ins Innere der Karosse quoll. Rascher rollten die Räder.

Es war kein beschwerliches Fahren. Rütteln und Schütteln war Moritz gewohnt, der sein halbes Leben auf den Wagenfedern und im Sattel verbracht hatte, und der alte Königsweg war noch leidlich imstande, so wenig auch dazu getan wurde, seit die Provinzgouverneure die strenge Hand Louvois' nicht mehr über sich wußten und das Geld, das unter der Regentschaft des Prinzen von Orléans vertan worden war, nicht mehr nachgefordert werden konnte, weil Ludwig XV. nicht die Kraft besaß, dem ausgesogenen Lande neue Lasten aufzuerlegen und der Hof die geleisteten Tribute mit tausend hungrigen Mäulern verschlang.

Als der Reisezug des Marschalls den verschlafenen Flecken Salomnes hinter sich gelassen hatte und aus den Buschwäldchen in die freie Ebene hinaustrat, die sich sanft gewölbt zum Tal des Cisseflüßchens hinüberschwang, verdampften die Herbstdünste im Licht des abnehmenden Mondes, der in einer bunten Ätherschicht über der Beauce schwebte.

200 Moritz von Sachsen war entschlossen, bis Blois zu fahren, dort zu frühstücken und hoffte, Chambord noch bei guter Tagesstunde zu erreichen. Zehn kommune Meilen boten keine Schrecken, mochten auch ein paar Gäule aus dem Geschirr fallen und den Reitern die Beine steif werden. Nur um Juno sorgte er sich. Lief sie auch ledig am langen Zügel, so war sie doch schon bei Jahren und stand lieber unter seiner Last einen Tag im Pulverdampf auf dem Feldherrnhügel, statt eine Nacht auf weichen Wegen ungeritten hinter der Karosse zu traben. Er ließ daher halbwegs zwischen Salomnes und Blois anhalten, wo die mächtigen Kornschober der Beaucebauern wie vorsintflutliche Riesentiere oder kleinen Redouten ähnlich in der Ebene zerstreut lagen, und befahl, eine Stunde Rast einzulegen.

Der Reisezug fuhr vor einem großen Hofgut auf, und der Quartiermeister forderte im Namen des Marschalls von Sachsen Wasser und Stroh, Brot und Wein. Moritz ließ nach der Herrschaft fragen, der der Bauer zinste, und erfuhr, daß das Gehöft zur Herrschaft Bauffremont gehöre. Da fiel ihm ein, daß da noch ein großes Erbe zu regeln bliebe, und er besann sich auf die Entsiegelung des Testaments des Herrn von Bauffremont, die am 13. November vor dem königlichen Gericht in Blois stattfinden sollte.

201 Moritz hatte Elianen beruhigt und ihr gesagt, daß sie nichts mehr binde, aber wer wußte, welche Überraschung unter diesen Siegeln schlief! Wer wußte, was der verschlossene, kühl berechnende Mann ausgesonnen hatte, um seine Hand doch noch aus dem Grabe zu strecken und Elianen an sich zu fesseln! Wer wußte, ob er nicht noch einen Pfeil abschnellte, der über Elianen hinweg La Peyrouse erreichte, dem der Marquis keine andere Beachtung mehr geschenkt, von dem er seltsamerweise keine Rechenschaft mehr gefordert hatte seit dem Tage von Betoux!

Diese Gedanken beschäftigten und beunruhigten den Marschall so sehr, daß er sie während der ganzen Fahrt nicht mehr verscheuchen konnte.

Als die Karosse Blois verließ, über die große Loirebrücke fuhr und aus dem Loirebecken ins sanft umrahmte Tal des Cossonflüßchens gelangte, war es Mittag geworden. Ein Morgenregen hatte alle Dünste zur Erde zurückgesandt. Strahlend stand die Sonne über dem buntflimmernden Park des Schlosses Chambord.

Da warf Moritz von Sachsen die ganze Intrige hinter sich. Er war nur zwei Tage fort gewesen, aber es war ihm, als ob er lange Zeit irgendwo in der Ferne geweilt hätte.

202 Kam er aus dem Feldzug des Jahres 1733, in dem er unter dem Marschall Berwick in französischen Diensten zum erstenmal bei Straßburg den Rhein überschritten hatte, um die Festung Kehl zu berennen und die polnische Krone für den dicken Stanislaus aus den kaiserlichen Bataillonen herauszuhauen?

Kehrte er aus Böhmen zurück, wo er Anno 1741 sein Bestes getan hatte, Prag und Eger zu Fall zu bringen und dafür von Kaiser Karl VII. belobt und bedankt worden war, oder befand man sich im Jahre 1748, und hatte er soeben seinen letzten großen Feldzug beendet, Flandern und die Niederlande erobert, Ypern, Gent, Brüssel, Namur, Bergen op Zoom und Maastricht genommen und einundsechzig Bataillone und hundertundzehn Schwadronen mit bekränzten Fahnen und Standarten im Triumph zurückgeführt, um dann als kranker, von der Lust des Lebens und der noch größeren Lust des Wirkens im Felde verzehrter Mann hier ein vergoldetes Asyl und sein Sterbelager zu suchen?

Er lacht, stößt einen rauhen Schrei aus, richtet sich hoch auf in der ratternden Kutsche und gebietet kurz vor der Einfahrt in den unermeßlichen Park Halt.

Nicht verstaubt und verdreckt, mit schlappen Kerlen auf Stolpergäulen, abgedroschenen 203 Kleppern und nickenden Kutschern – nicht so will er einziehen in ein Schloß, vor dem eine träge Wache Maulaffen feilhält und in dem gelangweilte Kavaliere und schlecht gepuderte Grisetten aus den Fenstern gähnen. Er jagt einen Offizier voraus, um Lärm zu machen, befiehlt Paradeeinzug mit vollem Zeremoniell, verlangt die Puderquaste, den großen Federnhut, Orden und Bänder, läßt die Trompeten blasen, die Rotten aufschließen, die Pagen auf die Sattelgäule springen, die Kutscher großen Trab anschlagen und hält, von Pauken und Trompeten, Fahnen, Jubelgeschrei, dienenden Kavalieren und winkenden Schönen begrüßt, seinen letzten Einzug in Chambord.

Zwischen den Trophäen hindurchschreitend, auf die der König ihm zu Ehren verzichtet hatte, betrat er sein Schloß. Sechs Kanonen schmückten den Ehrenhof, polnische, türkische, spanische und englische Waffen hingen an den Wänden des Vorsaals, die Fahnen, die man Herrn von Bauffremont nachgetragen, steiften ihre Falten wieder auf den Galerien, zwei versilberte niederländische Pauken, die man im viermal bestürmten Laafeld erobert hatte, glänzten auf dem Treppenabsatz, der zu seinen Privatgemächern führte.

Alle Welt verwunderte sich über sein stattliches 204 Aussehen. Man hatte munkeln hören, daß er einen seiner Wutausbrüche erlitten habe, aber er erschien frischer, aufgeräumter als seit langer Zeit. Er zeigte sich auch sehr leutselig, sagte den Herren verbindliche Worte und den Damen übertriebene Schmeicheleien und lud sogar einige seiner Vertrauten zur Abendtafel.

Dann zog er sich zurück und schlief einen traumlosen ruhigen Schlaf, aus dem er neugestärkt erwachte.

Er bat Herrn Belart zu sich.

Es war noch früh am Tage. Die schöne Witterung hielt an, in den großen vergoldeten Vogelhäusern war ein Zwitschern, Gurren, Flattern und Flügelschlagen wie im Mai. Von der Roßweide klang der Trompetenton übermütiger Jährlinge, und in den Blumenbeeten glühten letzte Rosen düfteschwer.

Herr von Lestang, dem die Pflege der Treibhäuser und der Tafelschmuck unterstellt waren, hatte dem Marschall einige wundervolle Kamelien übersandt. Die seltenen fremden Blüten leuchteten in einer Vincenner Vase auf der Kredenz, als der Arzt ins Zimmer trat.

Moritz betrachtete sie voll Entzücken.

»Sehen Sie nur, gleichen diese Blumen nicht 205 verzauberten Mädchen? Man sagte mir, sie blühten gemeinhin erst im März und bei besonderer Pflege im Winter. Diese aber eilten, sich schon im Herbst zu entfalten. Wie unendlich vornehmer sie sind als die dicken Tulpen dieser holländischen Krämerseelen!«

Belart bewunderte die seltenen Blüten und das frische Aussehen des Marschalls.

»Ja, ich weiß, Sie sorgten sich sehr um mich in Vendôme,« erwiderte Moritz leichthin, aber sein Blick lag forschend auf dem Gesicht des Arztes.

Als dieser sich wegen seiner Beflissenheit entschuldigte, fiel ihm Moritz ins Wort.

»Es ist etwas vorgegangen, von dem ich nichts weiß. Leugnen Sie nicht, Belart! Ich will wissen, was es war.«

Er nahm eine weiße Kamelie aus der Vase, steckte sie an den Aufschlag seines Rockes und tändelte gezwungen:

»So wird man diese Blumen tragen! Sie müssen von Kavalieren einzeln dicht am Herzen getragen werden. Sprechen Sie, mein Freund!«

Dabei blickte er zu den geöffneten Balkontüren hinaus, als handelte es sich um eine Angelegenheit, die ihm nicht im mindesten naheging, aber ein dumpfer Druck preßte seine Brust, und die Kamelie wurde vom schweren Schlag seines Herzens erschüttert.

206 Der Arzt suchte sich mit Anstand aus der Sache zu ziehen, indem er erklärte, der Jähzorn habe den Herrn Marschall übernommen, und da möge ihn wohl einen Augenblick sein Hirn im Stich gelassen haben, so daß eine Verwirrung eingetreten sei, wie sie der Wein zu erzeugen pflege. Doch sei ihm die Selbstbesinnung so rasch zurückgekehrt, daß ihm kaum eine Gedächtnislücke geblieben sei. Diese auszufüllen lohne sich nicht. Sonst sei nichts geschehen.

Moritz von Sachsen blickt eine Weile in die Wipfel des Parkes, dann wendet er sich um. Sein Gesicht ist hart gespannt. Er spürt kalten Schweiß auf der Stirn, eine heimliche Angst sitzt dicht dahinter, aber er hat sich auf seine Rolle besonnen, schöpft Kraft aus ihr, bändigt die Angst und festigt sich in seinem Stolz, indem er antwortet:

»In der Tat, das ist nichts – aber ich glaube Ihnen nur, weil ich mir in Chambord dieses Vergnügen leisten darf. Der Marschall im Felde dürfte Ihnen keinen Glauben schenken, denn sogar eine solche zufällige, aus dem Nichts ins Nichts zurückkehrende Abkehr von sich selbst machte ihn unfähig, die Kraft des Heeres zu lenken. Sie sprachen dem Marschall von Sachsen den Feldherrnstab ab, Herr Belart.«

Belart hob beschwörend die Hände.

207 »Keine Sorge, mein Freund, ich werde ihn nicht fallen lassen, so wenig wie ich mein Leben zu ändern gedenke, denn mein Leben bin ich selbst.«

Da wagte der Arzt sich vor.

»Ich sah Sie seit langer Zeit nicht so straff, so jugendlich, teuerster Herr. Als ich Ihnen bei Fontenoy die Stiefel mußte aufschneiden lassen und Sie, von Atemnot und Durst gequält, dem König nur noch durch Zeichen Ihre Ergebenheit ausdrücken konnten, da es ihm beliebt hatte, Sie zu umarmen, um Ihnen für den großen Sieg zu danken, da war Ihr Zustand kritisch zu nennen.«

»Ja, ich weiß – gewisse Herren behaupteten damals, ich sei nicht recht im Kopfe, litte an Gehirnschwund, weil ich den linken Flügel bei Barry geschwächt, die Stellung bei Fontenoy und Antoing verstärkt hatte und noch im letzten Augenblick Redouten aufführen ließ, während unsere linke Flanke dem Feinde offen lag – ich weiß das alles. Nachher, als der Feind zwischen Fontenoy und Antoing durchbrach und die Schlacht gewonnen wurde, weil wir ihn im letzten Augenblick von drei Seiten packen konnten, war der Marschall von Sachsen der Kriegsgott selber.«

Er lachte verächtlich.

»So ist es, gnädiger Herr, aber nicht dies machte 208 mir Kummer, sondern die Misanthropie, der Sie sich in den letzten Wochen des abscheidenden Herbstes ergaben. Nicht Ihr Leiden, sondern die Art, wie Sie es tragen, bestimmt den Lauf Ihres Lebens.«

»Das haben Sie schön und verschwiegen ausgedrückt, Freund Belart.«

Moritz zog die Tabaksdose, deren er sich seit einigen Tagen mit sicherer Hand bediente, und ließ sich in eine Bergère gleiten.

»Wirklich schön und verschwiegen ausgedrückt. Ja, ich war der Melancholie und ihrer grämlichen Schwester, der Misanthropie, verfallen. Aber kämpfe ich nicht immer mit diesen beiden häßlichen Frauenzimmern? Sie waren einmal stärker als ich, das ist alles! Glauben auch Sie, daß man aus einem Stück ist? Sei's ein Held, sei's ein Lüderjan, sei's ein Tugendspiegel, sei's ein Kujon! Daß man nicht seine guten und schlechten, schwachen und starken Seiten hat und die Phiole immer erst tüchtig geschüttelt werden muß, bevor man die Zusammensetzung ihres ganzen Inhaltes aus einem Tropfen errät? Sitzt uns nicht allen die Canaille im Genick! In meiner Vorstellung aber bin ich nicht, der ich bin, sondern ich bin der Mensch, der ich zu sein wünsche, der ich sein will. Nicht immer gelingt's, und wo ein Kotillon winkt, bin ich's nur 209 so lange, als mich Größeres lockt. Aber ist nicht das zugleich auch der große Reiz des Lebens! Geben Sie mir etwas Besseres zu tun, als ich hier zu tun habe, und ich werde Melancholie und Misanthropie wie junge Hunde erwürgen.«

Er lachte über dieses kühne Bild, nahm eine zweite Prise und schlug die Dose zu. Ungeduldig wippte das überschlagene Bein, hochmütig zuckten die Lippen.

Als Belart um den Puls bat, streckte er ihm die Hand hin und spannte die Faust, daß die Knöchel weiß aus der Haut sprangen.

»Sehen Sie nur – die Sintflut hat sich verlaufen! Die Kissen sind verschwunden, die Adern streichen glatt.«

Der Arzt bestätigte lächelnd den günstigen Befund.

»Sie sind verjüngt, Herr Marschall. Der Puls könnte eine Mühle treiben. Sie kehren von der Leichenfeier des Herrn von Bauffremont wie aus dem Bade zurück.«

»Verjüngt! Ich möchte nicht jünger sein, als ich bin. Die Kälte, nicht das Alter macht uns die Frauen abtrünnig, Belart. Lassen Sie mir meine vierundfünfzig Jahre, geben Sie mir noch zehn dazu, aber erhalten Sie mir die Wärme der Gefühle – mehr braucht es nicht.«

210 Diese merkwürdigen Worte veranlaßten Herrn Belart, die Brauen heraufzuziehen und warnend zu sprechen: »Verjüngt ist ein Ausdruck, den ich mit Bedacht wählte, mein teurer Herr. Ich meinte von einem volleren, reineren Blut durchflossen und aus der Unlust herausgehoben, da ich nicht von einer Heilung sprechen durfte. Die Gunst der Frauen zu genießen hieße dieser erstaunlichen Besserung ein jähes Ende machen.«

Lachend sprang Moritz auf die Füße.

»Sie sind wie Espagnac ein Pedant, Belart. Ich lache Ihrer Warnung.«

Aber sein Lachen, das wie Übermut geklungen, endete in einem leichten Seufzer. Er pflückte die Kamelie aus dem Aufschlag des Rockes.

»Da – sehen Sie, was ich angerichtet habe. Die seltenste, makelloseste aller Blüten ist von Tabakstaub besteckt. Bemerken Sie, wie das braune Gift sich in den zarten Schmelz gefressen hat? Die Blätter kräuseln und verfärben sich schon zu raschem Verfall.«

Er warf die Blume aus dem Fenster.

»Solcher Frauen Gunst zu genießen ist mir versagt, Belart. Ich habe in meinem Leben zu vielen Geschmacklaunen nachgegeben, um so reine Freuden noch zu begehren. Und andere, gemeinere reizen mich 211 heute nicht. Ich werde das Programm innehalten, von dem ich zu Ihnen und zu Espagnac sprach: werde meine taktischen Studien auf neuen Stand bringen, in meinen Briefkassetten wühlen, in Herrn von Espagnacs Manuskripten blättern, um festzustellen, ob er nicht zuviel Mohn unter die Ähren gestreut hat, ein wenig Musik machen, nein, viel Musik machen, schöne Feste geben und werde auf Herrn von La Peyrouse warten, da ich weder auf einen Thron noch auf einen neuen Feldzug zu warten habe.«

Der Arzt verneigte sich und trat zurück.

Moritz hielt ihn nicht. Die Audienz war zu Ende. Aber der Marschall war im Innersten nicht so erhobener, ausgeglichener Stimmung wie er, von seinem Stolz getrieben, selbst vor seinem Arzte erscheinen wollte. – Eine große Unruhe fraß an ihm, und diese Unruhe wuchs mit den langsam schleichenden Tagen, die er durch gehäufte und vielfältige Tätigkeit zu kürzen suchte.

Er ließ seine Reiter in der großen Stechbahn mit Lanzen antreten, um den Gefechtswert dieser Waffe zu erforschen; er rief das ganze Regiment schon vor Tagesanbruch aus den Federn und hielt Paraden ab, die den Offizieren qualvolle Seufzer entlockten; er befahl ein großes neues Ballett 212 einzuüben, zu dem er selbst die Anregung gab; er stürzte seine Briefkassetten und zog den Briefwechsel mit Königen, Diplomaten, Generalen und schönen Frauen hervor, um ihn zu ordnen und sich zugleich in die Vergangenheit zu versenken; er arbeitete manche Stunde mit Espagnac an der Geschichte der Feldzüge, die Frankreich während des polnischen, des bayerischen und des österreichischen Erbfolgekrieges am Rhein, an der Donau, in Böhmen und in den Niederlanden geführt hatte; er ließ große Jagden vorbereiten und entwarf das Modell eines sinnreichen Schleusenwerkes, mit dem er den Cossonfluß zu stauen gedachte, um neue Wasserkünste anzulegen, und er saß im Aurorazimmer des Dianapavillons und sann, dämmerte, brütete, von orgiastischen Wunschträumen besessen, stundenlang vor sich hin.

Er wartete auf La Peyrouse.

Das Bild Elianens hatte seine letzte Gestalt noch nicht gewonnen. Als er wieder allein war in Chambord, war auch die alte Verliebtheit wieder erwacht und noch einmal zu wilder Besitzgier entbrannt. Glühende Eifersucht stachelte ihn, wenn er an sie dachte. Aber er bemühte sich vergebens, diese Eifersucht auf La Peyrouse zu lenken, immer schob sich das Bild des Toten dazwischen, erstand Herr von 213 Bauffremont kalt, hochmütig, selbstbewußt und selbstbeherrscht aus dem Grabe und reckte die Hand gebietend über Eliane von Morane.

Moritz von Sachsen hatte diesen untadeligen, aszetischen, mit keiner liebenswürdigen Schwäche behafteten Edelmann nie gemocht. Er hatte ihn im Jahre 1741 im Lager vor Budweis kennengelernt. Das Regiment Bauffremont focht damals unter dem Befehl des Generalleutnants Grafen von Segur, war von diesem aber mit etlichen Schwadronen von Linz gen Prag entsandt worden, um die Verbindung mit den Truppen des Kurfürsten von Sachsen sicherzustellen, die Moritzens Halbbruder, Graf Rutowsky, ein Sohn der Gräfin Esterle, als Sukkurs heranführte.

Da hatte Moritz, der mit geringer Macht vor Budweis lag, Herrn von Bauffremont vergebens zum Beistand aufgefordert. Der Marquis berief sich auf die Anweisung Segurs, sich auf kein Gefecht einzulassen, das ihn von seinem Zweck abziehe, und war tatenlos stehengeblieben, während Moritz mit seinen paar tausend Mann Budweis berannte. Nun, Budweis war trotzdem gefallen, und Bauffremont hatte befehlsgemäß gehandelt, aber es gibt Lagen, die uns über die ergangenen Befehle hinausführen, und in einer solchen Lage hatte Herr von 214 Bauffremont verschmäht, sich vom Buchstaben loszureißen und Ingenium zu entfalten.

Moritz hatte ihm dies nicht nachgetragen, aber sein Urteil war gemacht, und als Bauffremont als Brigadier unter ihm in Flandern diente, hütete sich der Marschall von Sachsen, ihn anders zu verwenden als seiner gebundenen, starren Art entsprach. Bauffremont hatte vor Ypern, bei Fontenoy und bei Laafeld seinen Mann gestellt, ohne sich vom Befehl zu lösen. Er war der richtige Mann, die Rückschwenkung der Armee zwischen Tongern und Hasselt zu decken und nicht um eines Lagerfestes oder einer Intrige willen seinen Auftrag abzukürzen. Deshalb vertraute Moritz ihm den Befehl über die Brigade Orléans-Dauphin und vierzehn der schönsten Eskadronen und wies ihn an, bei Betoux stehenzubleiben, bis die Armee samt dem großen Gepäck und den Equipagen den Fluß überschritten habe und befahl ihm haarscharf, den Ort nicht vor Einbruch der Nacht zu räumen. Er hatte keinen Augenblick daran gedacht, daß dieser Auftrag anders ausgelegt werden könnte.

Und da war es nun geschehen, daß der alte, pedantische, auf den Wortlaut eines Befehls eingeschworene Soldat diesen Befehl überschritten, das Treffen zweimal erneuert und seine ganze Kolonne 215 daran gewagt hatte, um noch einen vollen Tag zu gewinnen. Er hatte den Marschall dadurch instand gesetzt, dem Feinde völlig zu entschwinden und plötzlich neuausgerichtet in dessen linker Flanke zu erscheinen! Herr von Bauffremont hatte aber nicht nur den Befehl des Generalissimus nach eigenem Ermessen ausgelegt, sondern auch den Rat seines Stabsoffiziers mißachtet, wie Herr von La Peyrouse in Vendôme ausdrücklich zu Protokoll gegeben – wahrlich, das war ein erstaunliches Unterfangen, und so wenig im Einklang mit dem Bilde, das der Marschall von Sachsen sich von Bauffremonts militärischer Verwendbarkeit und seinem Charakter gemacht hatte, daß Moritz an seiner eigenen Menschenkenntnis zu zweifeln begann. Frau von Jumilhac hatte ihm gesagt, er kenne die Frauen nicht, kannte er am Ende auch die Männer nicht, Männer, wie den Marquis von Bauffremont, der klar und kantig wie ein Stück Kristall, auch ebenso durchsichtig schien wie dieses farblose Mineral?

Moritz von Sachsen betrachtete oft, lange und inbrünstig das Emailkunstwerk, auf dem er Elianen zu erkennen geglaubt hatte. Ja, sie war's, nein, sie war es nicht, aber die Satyrn, die sie zu vergewaltigen suchten, die kannte er. Einer war Bauffremont, der andere er selbst. Sie aber flüchtete ängstlich, 216 verwirrt und dennoch ihres Liebreizes gewiß und voller Selbstvertrauen vor den bocksfüßigen Herren und ließ das Schleiergewand in ihren Händen, um nackt, leuchtend schön in die Arme eines Geliebten zu enteilen, der sich schon in ihren Augen spiegelte . . .


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