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Des Korrektors Neujahrsmorgen und Einführung des Lesers bei Sohn und Söhne.
Neujahrstag, Neujahrsmorgen! – sicherlich, wenn er kommt, dem alt gewordenen Menschengeschlechte zu verkündigen, daß unser aller noch viel ältere Mutter Erde, immer unermüdet, wieder ihren Lauf begonnen hat, so bedürfen viele, viele, ob sie nun in dunklen Kellern, hinter hellen Spiegelscheiben oder unter Dächern wohnen, einer dröhnenden Posaunenstimme, sich aus dem schwindelnden Kreislaufe des Leichtsinns, der Sicherheit, des Hochmuts aufschrecken zu lassen, in den sie gebannt sind. Aber mit mildem Lächeln trete der Neujahrsmorgen an alle die Kleinmütigen, Gedrückten und Versäumten heran, die unbeachtet, als müßte es so sein, am Boden liegen, während der stolze Triumphwagen unsrer hochberühmten Kultur über sie hinwegfährt (wie bei Dschaggernauts Götzenfest); und wo sie lautlos und ohne Murren leiden, da lächle er am mildesten, dahin sende die Neujahrssonne ihren freundlichsten Strahl!
Und das that sie auch am Morgen dieses Kapitels in der Langenstraße Nr. 110, vier Treppen links. Seht, wie sie mit holdem Gruße durchs Fenster blickt und sich gar nicht scheut, ihr königliches Angesicht, hehr und milde, gerade dem ärmlichen Lager zuzukehren, auf dem dort der Kranke nach unruhigen Fieberträumen den Schlaf der Erschöpfung schläft. Gracioso bückt sich zu ihm hin: sein Atem fliegt, aber nichts mehr von jener Ängstigung im Freundesangesicht, die ihn die Nacht hindurch so erschreckt hat. Nein, nein; er wird nicht sterben – er wird wieder aufkommen und leben. Leben! – wozu? Zu neuem vergeblichen Kampf mit dem Würgeengel Not und Mutlosigkeit, der ihm alle schwellenden Blüten vom Baume der Hoffnung abgeschlagen hat und ist ihm mit eiserner Faust an die Kehle gesprungen! – Gracioso denkt's und schaudert –
Er hat vorhin die Unglücksbriefe gefunden mit dem krächzenden Neujahrsgruß, hat den hoffnungslosen Nachtgesang gelesen und die kummervolle Frage, die daneben geschrieben stand. Der Hinfall aller so zärtlich gehegten Hoffnungen hat auch des Schattenspielers Herz wie mit Staub und Trümmerschutt überdeckt und tief niedergeschlagen. Hat er nicht diese Hoffnungen so unbedacht genährt und trägt jetzt mit die Schuld dieses Jammers? O, wäre er doch nicht selbst so bettelarm, so ohnmächtig zu helfen und so ratlos!
Er erhebt sich und geht leise zur Flurthür, die Treppe hinunter zu horchen: Wird sie jetzt kommen? Soll er wünschen, daß sie komme? Ja, die Freude kann dem Kranken nicht schaden und sie wird ihn aufrichten, und wie sehr wird er sich freuen über der Mutter Freude. –
Andres hat sich wieder neben die Lagerstatt gesetzt und blickt lauschend hin nach dem Geliebten – o, wie liebt er ihn: Schmeichelnd spielt der rötliche Strahl auf der Bettdecke, auf den Händen, auf der sich hebenden und senkenden Brust. Jetzt hat er ihn erweckt, aber sanft und ohne ihn zu blenden. Ludwig schlägt die Augen auf. O, nach so vielen dunklen Bildern welch ein heitres: dort das im Morgenlichte blinkende Fenster – ist's ihm nicht aus seiner goldenen Kindheit her bekannt? schimmert nicht da mit leuchtender Blüte seiner Patin Heliotrop? und meint er nicht auch den süßen Duft der Blume zu spüren? Ach, und der Knabe dort am selben Fenster, um dessen Haar das klare Sonnenlicht glänzend wogt, ist's nicht er selbst, so allein und schutzlos in der Welt und doch so fröhlich? Horch – die feine Stimme versucht die Töne eines Kinderliedes: wird die Greisin nicht einstimmen? –
Er sieht sich um, und die Täuschung zerrinnt.
»'s war eine schlimme Nacht, Andres,« sagt er und zwingt sich zum Lächeln, als er des Freundes bekümmertes Angesicht wahrnimmt.
»Aber sie ist vorüber, Herr K'rektor, und 's wird allesß gut.«
Unter diesen Worten hat sich das Kind am Fenster umgewendet und nickt lachend dem Kranken zu. Beim Anblick des Gesichtleins zerreißt der letzte Schleier, der noch das wache Bewußtsein verhängte, und vor Ludwigs Seele steht wieder hoch aufgerichtet das Schreckbild der grausamen Wirklichkeit.
»Das arme Kind,« flüstert er, »Andres, sie werden es wieder zu Flapser bringen – o, und ich maßte mir an, es zu retten, es zu führen.« Ein leiser Seufzer kam von seinen Lippen, aber ein unendlich wehevoller. Wie schnitt er Andres durchs Herz!
»Nein, Herr K'rektor,« begann er, ihm zuredend, »bitt ßön, ängßtigen Sie sich drum nicht. Dahin kommt's Kind nimmer – wir haben seine Mutter wiedergefunden – denken Sie, Herr K'rektor, seine Mutter!«
Aber Ludwig war wieder zurückgesunken und seine Seele abgestoßen vom Ufer des wachen Lebens, jener stillen Küste zu, die in der Stunde der Kraft und Gesundheit uns meist so völlig im Dunkeln liegt, in denen der Krankheit und der Schmerzen aber gern mit den deutlichsten Bildern winkt. Und welch ein freundlicher Pilot dahin war ihm das zuletzt wiederholte Wort, welches sein Ohr traf!
»Mutter,« sprach er leise noch, »meine Mutter, du warst viel zu weichen Herzens für diese rauhe Welt – aber nun schwindet sie, und du winkst mir, winkst, ja ich komme!«
Nun ward er still, und auch der Knabe am Fenster sang sein Lied nicht mehr. Nach einer Weile hörte Andres an der Flurthür ein schüchternes Klopfen. Eilig ging er hinaus aufzuthun und nach kurzem, geflüstertem Gespräch kehrte er zurück, ihm zur Seite ein Weib, gramvoller Miene und doch voll freudiger Erwartung im suchenden Blick. –
»Sie ist's,« rief das Kind mit lauter Stimme, »mein Traum, mein Traum!« und sprang der Kommenden entgegen.
Sie sagte nichts; sie sank in die Kniee, schloß ihr Kind in ihre Arme, küßte es, sah ihm in die Augen und küßte es wieder.
Vom Ausruf des Kindes, vom Freudengeschluchz der Mutter war Ludwig erweckt worden. »Florentine!« rief er aufgerichtet und mit bebenden Lippen.
Sie erkannte beim ersten Laut die Stimme wieder. »Du, Ludwig, mein Retter und meines Kindes?!« so sprach sie im höchsten Erstaunen und wollte im ersten Sturm ihres Dankgefühls ihm zueilen, der seine Hand ihr entgegenhielt. Aber plötzlich hemmte sie ihren Schritt, sie blieb stehen und senkte den Blick zur Erde.
»Nein,« sprach sie tonlos, »ich darf dir nicht danken, Ludwig, ich bin's nicht wert – ich hab' dich verraten damals und dir den ersten bittern Schmerz angethan, daß du irre wurdest an Liebe und Freundschaft – ich bin danach ehrlos geworden und elend und eine große Sünderin, aber du bist rein geblieben und gut, wie du's damals warst, als ich mich von dir gewandt hab' – o, verachte mich, Ludwig, den ich gekränkt hab' einst, und jetzt bin ich wieder schuldig an dir durch meinen Frevel, ja, verachte mich, Ludwig, und sei nicht gütig gegen mich – aber heiß mich nicht gehen: laß mich dir dienen, laß mich hier bleiben, solang du mich brauchst, und wenn du kannst, denk nicht dran, was ich einst gewesen bin, sondern denk, die Florentine von damals sei tot –.«
Aber Ludwig hielt noch immer seine Hand ausgestreckt und seinen Blick voll reiner Freude auf sie gerichtet. »Nein,« sprach er sanft, »daß du lebst, Florentine, und wieder vereinigt bist mit deinem Kinde, daß du gerettet bist aus der dunklen Flut und nicht bloß aus ihr, sondern will's Gott, auch aus Verzagtheit und finstrer Verzweiflung zu neuem Anfang der Hoffnung und der Geduld: daran wollen wir beständig denken, dafür Gott preisen und seinen Finger erkennen.«
Wie das Kind in die offne Hand seine kleine gelegt hatte, während er sprach, so zog es jetzt auch die Mutter nach. Reue und Dank, Schmerz und Freude rangen zu stark in ihrem übervollen Herzen, als daß sie nur ein Wort zu reden vermocht hätte, da sie seinen zitternden Händedruck fühlte. Vielleicht ward ihm erst jetzt, da sie, vom Sonnenlicht getroffen, nahe vor ihm stand, all das Elend bemerklich, das ihr Angesicht verwüstet hatte. Er weinte auch mit ihr und sagte nur leise: »Arme Florentine, du hast hart gebüßt.«
Aber alsbald schienen neue Lebensgeister ihn zu beseelen, als er mit voller Freude seinem Freunde, der auch herangetreten war, zurief: »Andres, Andres, welch ein Wiedersehen, welch ein Wiederfinden!«
Der Schattenkünstler war sich durchs Haar gefahren und über die Augen, hatte seine buschigen Brauen gehoben und gesenkt, sein Schnurrbart war unruhig hin und her gezuckt: kurz Gracioso hatte sich auf das Seltsamste gebärdet während des letzten Auftritts.
»Herr K'rektor,« versetzte er jetzt mit lebhaftester Zustimmung, »sagt' ich's nicht immer, 's würd' zu Neujahr 'ne große Freude geben? Dacht' nur an 'ne andre, als wie zum Beißpiel die nun gekommen ist.«
»Aber ich,« begann Ludwig wieder, »gab diese Nacht dem finstern Geiste Raum; ich Narr und Blinder ließ Glauben und Gottvertrauen sinken und sah nichts um mich als Nacht; ich widerstand nicht dem argen Rat, der mich aus dem gottlosen Buche ansprach, und nun beschämst du mich, Gott, und führst mich ins Licht und ich sehe deine glänzende Spur in dieser verworrenen Welt!«
Es war ein verklärender Glanz, der unter solchen Worten über sein Angesicht ging. Gracioso bemerkte ihn wohl und fühlte dabei, daß von der Seele seines Freundes sich jetzt die Ängste und Sorgen lösen, von denen sie so fest umschnürt worden war.
»O Andres,« fuhr der Korrektor fort, »vielleicht lebe ich noch, lebe wieder, und das Glück flieht mich nicht länger, da ich es nun nicht mehr für mich begehre, sondern für diese Seelen, die hilfsbedürftiger sind, als ich.«
Eine unendliche Liebe wallte auf in seinem Herzen, und als ob das Kind ihren Ruf verstünde und ihren Segen, lehnte es, ohne seine Hand aus der seinen zu ziehen, den Kopf an seine Brust und blickte ihn beseligt an. – Davon zog auch über Ludwigs Angesicht wie der Glanz einer sanften Freude, und liebkosend strich er mit seiner freien Hand durch des Kindes Haar.
Jetzt hob er seinen Blick auf und ließ ihn, wie zur Sammlung seiner Gedanken, eine Weile unbewegt. Dann wandte er ihn seinem Freunde zu und fragte ruhig: »Andres, ist nicht von Sohn und Söhne ein Bescheid gekommen? Hofften wir nicht auf heute?«
»Es war mir zugesagt, Herr K'rektor,« antwortete Gracioso kleinlaut, »ßpätestens zu Neujahr sollt' er hier sein.«
»Und wenn er günstig wäre,« fuhr Zirbel mit zunehmender Lebhaftigkeit fort, »dann wiese uns niemand auf die Straße hinaus und wir könnten hier bleiben?«
»O,« sagte Andres und nickte dem Kranken bestätigend zu, »dann hätten wir genug, Herr K'rektor, übergenug, auf lange.« –
»'s ist heut' Neujahrstag, Andres.«
»Ja, gewiß, Herr K'rektor, und ich hätt' Ihnen längst 'n fröhliches Jahr wünßen sollen.«
Ludwig hatte den Blick wieder zu seinem Kinde vor ihm niedergesenkt und strich ihm mit sanfter Hand durchs Haar wie zuvor. »Wenn es sich erfüllte,« sprach er leise dabei und wiederholte, als wollte er sich selbst zur Hoffnung ermutigen, »wenn sich's erfüllte.«
Seines Freundes zukunftsfrohere Stimmung beflügelte auch des Schattenkünstlers Hoffnung. Die Bewunderung, die er dem Gelehrten gegenüber hegte, hatte ja nie einen Zweifel in ihm aufkommen lassen, daß, wenn die Verdienste desselben nur erst aus ihrer Verborgenheit heraus und der Welt unter die Augen träten, diese keinen Augenblick mit dem schuldigen Lob und Lohn zurückhalten würde. Und jetzt wäre ihre Anerkennung nicht bloß dem Kranken die wirksamste Arznei zur Genesung, sondern wirklich Rettung aus der höchsten Bedrängnis. Er, Andres Grim, fragte nichts danach, daß er für sich am äußersten Rande der Verarmung angelangt war, unnütz wie er war in der Welt; aber wenn nun die Stunde käme, in der er seinen bewunderten Freund dem Elend preisgegeben sähe – jetzt, gerade jetzt so nahe drohend?! Er blickte hin nach dem geliebten Angesicht dort mit der breiten Stirn und den eingesunkenen Wangen, in das die Spuren so vieler in Mühen und Entbehrungen durchlebter Jahre mit freudlosen Tagen und durchwachten Nächten eingezeichnet waren; aber jetzt lag es im milden Glanze einer erglommenen Hoffnung und stillen Geduld! »O,« dachte er, »es kann nicht sein; es wird so nicht kommen. Gewiß liegt die gute Antwort schon bereit und wir sorgen und quälen uns hier ohne Not.«
Damit trat er ans Lager heran. Jetzt lag die Hand still auf des Kindes Haupt und die Augen waren geschlossen. Er schlief, und wie sanft! Nun bückte sich Andres, um den Knaben vom Bett hinwegzuwinken, an dem er lehnte. Aber auch das Kind war eingeschlafen. Da löste Gracioso die beiden Hände, die sich auch im Schlaf noch umschlossen hielten, von einander und nahm den Knaben sanft in seine Arme. Nur eine kleine Weile sah er umher, wohin er am besten den Knaben niederlegen könnte, daß er nicht erwachte; dann trug er seine leichte Last mit geräuschlosen Schattenschritten hin in die Ecke am zweiten Fenster, wo das Weib sich auf einen Schemel niedergesetzt hatte, wie zur Wache und als käme ihr kein andrer Ort in diesem Raume zu als dieser äußerste Winkel. Wie nun Andres ihr das Kind auf den Schoß gleiten ließ und ihre Arme es umfingen, sah sie zu Gracioso mit einem großen Blick süßen Schreckens und frohen Dankes auf, aber sie sagte nichts. Doch wie das Kind mit der frei gewordenen Hand wie suchend hin und her getastet hatte, aber sogleich sie still hielt, als die mütterliche sie umfaßt hielt, da wandte die Mutter ihr Gesicht seitwärts, damit die rinnenden Thränen nicht das schlummernde kleine benetzten, das sich dicht an ihre Brust gedrückt hatte.
Andres that, als bemerkte er nichts von ihrer Rührung, und sagte nur, auf Ludwig weisend: »Sie bleiben wohl hier, Frau, und geben acht auf ihn, bis ich wiederkomm'. Ich denk', ich werd' nicht so gar lang aus sein und vielleicht bring' ich dann eine große Freude mit für ihn.«
Er wollte gehen und hatte schon nach seinem Hut gegriffen; aber sie hatte gar so bekümmert vor sich hingestarrt bei der Erwähnung einer Freude, die er für den Kranken bereit hätte, und war gewiß all des Grams und aller Not erinnert worden, die dort dem Leidenden von ihr gekommen war. Sie dauerte den Schattenkünstler so sehr, und wie er selbst jetzt frohe Aussicht hegte, so hätte er die Bekümmerte gern auch ermutigt. Er kehrte also noch einmal um und küßte, wie wenn er das nur vergessen hätte, des Kindes Haar; denn die Wange etwa zu berühren wagte er nicht seines Künstlerbartes wegen. Dabei sagte er, als fiele es ihm eben jetzt gerade ein: »Er hält viel vom Kind, Frau, – nicht? Und's Kind von ihm auch, und ich glaub', er hat kein größres Glück in seinem ganzen Leben gehabt und weiß von keinem größern, als daß er's gefunden hat in Rebkau. Ja, Frau, gewiß,« wiederholte er, ihr heiter zuwinkend, »ich kenn' ihn, wir dürfen's glauben.« –
Ohne Zweifel hat jeder unsrer Leser (er wäre sonst keiner) schon oft auf der Titelseite eines ausgezeichneten Buches, das er in Händen hatte, unten die Angabe gefunden: »Verlag von Sohn und Söhne«, und als Litteraturkundiger den lebhaften Eindruck von der weitgreifenden Bedeutung dieses thatkräftigen Verlages für unser vaterländisches Schrifttum gewonnen, so daß es ihm, wie offen gestanden uns selber auch, höchlich erwünscht ist, durch den Gang unsrer Geschichte jetzt sich zum Verharren in der Grimschen Gesellschaft aufgefordert zu finden; denn sie führt uns nirgend anders wohin als geradeswegs zu Sohn und Söhne.
Andres hat seine ohnehin sehr weiten Schritte sehr schnell genommen, als gälte es, die eifrigsten Neujahrsgratulanten noch zu überholen oder ihnen zu entgehen, so daß er auch uns vorausgeeilt ist und wir ihn erst einholen, nachdem er bereits im Empfangszimmer von Sohn und Söhne auf einem geschnitzten Sessel an der Thür gerade unter der Idealbüste Platos (oder Sophokles' oder Menanders, oder irgend eines andern klassischen Jemandes) Platz genommen hat.
Ja, Andres Grim, alias Andrea Gracioso, saß zwar an der Thür, aber im wirklichen Empfangszimmer von Sohn und Söhne auf einem wirklich gepolsterten Sessel, und war, sein Anzug und Aufzug mochte nun sein wie er wollte und konnte, auf dem legitimsten Wege dahin gelangt, nämlich durch die freundlichst erteilte Erlaubnis und mit rhythmischer Handbewegung ausgedrückte Aufforderung von Sohn und Söhne selber. Denn am Neujahrstage spannte die Firma den Kreis der zugelassenen Klienten weit und erhob sich möglichst über die Beachtung jener gesellschaftlicher Schranken, die im Erdenleben etwa von Schneiderrechnungen, bezahlten und unbezahlten, aufgerichtet werden.
Also unser Freund Grim sah sich im Empfangssalon von Sohn und Söhne, und dort am Erkerfenster, von den samtnen Vorgardinen stark beschattet, Sohn und Söhne selber, den echten und wahrhaften Herrn Sohn, ob es nun der Herr Vater war, oder einer der Herren Söhne, oder wie sonst der vielleicht nur mystische Kollektivbegriff der Firmeninhaber sich in Fleisch und Bein verdichten mag; jedenfalls hatte Gracioso da den vollberechtigten, unanfechtbaren und der Welt einzig und allein bekannten Repräsentanten von Sohn und Söhne vor seinen leiblichen Augen – auch vor seinen Ohren, so daß sich vor dem Besucher die ganze Persönlichkeit des Gewaltigen entfaltete. Denn Herr Sohn war im Gespräch mit einem Herrn, dem er vor sich einen Sitz angewiesen hatte; wenigstens wenn der Lehnstuhl, den der erwähnte Herr einnahm, von ihm selber frei gewählt war, so konnte diese Wahl keine glückliche heißen. Der Herr war sehr klein von Gestalt, aber sein Sitz so niedrig, daß der Inhaber desselben, so gerade er sich auch zuweilen auf seinem Polster aus den Schultern reckte, recht eigentlich vor dem Verlagsinhaber auf dem Fußteppich zu kauern schien, und wieder, wenn er seine Versuche, zu seinem Gegenüber weniger aus der Tiefe emporzublicken, aufgab und, vielleicht um den Schein der Unbefangenheit zu retten, sich nach hinten lehnte, so sank er so tief in die Rückenkissen des Fauteuils, daß er beinah in eine gestreckte Lage geriet und einen hilflosen Eindruck machte, als stünde ihm Chloroformierung und Amputation bevor.
Doch vorerst blieb Andres' Aufmerksamkeit ausschließlich auf den Firmenchef gelenkt; denn dieser führte das Wort – mit Nachdruck und Gravität, wie denn der ganze Mann vom Scheitel bis zur kleinen Zehe voll Nachdruck und Gravität war und sein ganzes Wesen etwas entschieden geheimrätlich Goethesches hatte, oder wenn das zuviel behauptet sein sollte, wenigstens an den alten Herrn Baron Cotta erinnerte, so nämlich, wie wir den uns vorstellen, als er und unsre Klassiker zur Größe (jener zur finanziellen, diese zur litterarischen) sich aneinander emporrankten. Sogar Herrn Sohns Hausrock (denn er trägt einen in unsrer Szene wie des alten Hamlet Geist bei seiner zweiten Erscheinung) fiel in allerlei stilvolle Falten, als hätte der klassische Jemand über Graciosos Haupt dazu den Schnitt angegeben.
»Um also unser Gespräch wiederaufzunehmen, mein teurer junger Freund,« so hörte jetzt Andres den Verlagsinhaber mit leichter Neigung seines Hauptes gegen den vor ihm sitzenden Herrn die Rede beginnen, »so denke ich, wir werden darin einverstanden sein, daß der Autor, der auf seine Zeit wirken will, vor allem über das zur Klarheit kommen muß, was ich die geistigen Instinkte des Publikums nennen möchte; er muß die Haupt- und Grundströmung des nationalen Geschmackes zu diagnostizieren verstehn, er muß Witterung davon haben, wohin die innersten litterarischen Bedürfnisse seiner Zeit gravitieren! – Dies also sei seine erste Sorge!«
Dieser seine Erklärung abschließenden Mahnung gab Herr Sohn durch ein blaues Gewölke, das er jetzt nach einem gravitätischen Zuge an seiner Havana aus dem Munde entließ, einen besondern Nachdruck. Denn, hierin seinen klassischen Vorbildern untreu – er rauchte. Aber die aufsteigende Wolke umschwebte ihn wie eine olympische, und ihr feiner Duft drang bis zu Graciosos Geruchsorganen, dem davon, sofern das möglich war, seine Ansicht von der Wichtigkeit des Gewaltigen noch gestärkt ward und damit zugleich die Hoffnung auf die Glücksfülle, die von diesem Wolkensitze auf seinen Korrektor herniederfließen sollte. –
»Dies also sei seine erste Sorge,« wiederholte der Olympiker, mit sanfter Strenge seine Sentenz betonend.
»Aber des Dichtergemüts Aspirationen – der Drang seines Herzens?« wagte der kleine Herr auf dem niedrigen Sessel zu äußern, indem er zur schwachen Kundgebung eines Versuchs, seine Prinzipien hochzuhalten, auf den Vorderrand seines Samtsitzes rückte und (um seine Haltung turnerisch zu bezeichnen) sich in »Armstütz« brachte.
Herr Sohn winkte mit seiner nach außen gekehrten zigarrenfreien Hand in abgemessenem Bogen nach der Thür hin, als drängte sich dort eine ganze Korona von Disputanten herein, bereit seine Ansicht zu verfechten, die er mit höflicher Entschiedenheit bäte, sich zurückzuziehen und seinen Gegner ihm allein zu überlassen.
»Aspirationen des Dichtergemüts – Drang des Herzens?« begann er darauf, den Herrn vor sich mit einem Blicke nachsichtiger Mißbilligung betrachtend – »mein sehr werter Herr Eisenbeiß, so haften auch Sie also noch an dieser Meinung von der Notwendigkeit des Impulses, der vom Dichter selbst ausgeht?«
»Ja,« bezeugte der Gefragte etwas erregt, »ist der denn nicht der erste und letzte bei der poetischen Hervorbringung?«
» War, war, mein werter Herr,« erwiderte der Verlagschef; »aber eben in diesem Unterschiede zwischen Einst und Jetzt liegt der Schlüssel zum Verständnis der gegenwärtigen Litteratur und (bei diesen Worten bestrahlte ihn sichtlich der Ruhm der Sohn und Söhneschen Verlagsfirma) – das Geheimnis jeden litterarischen Erfolges. – Gewiß,« fuhr er fort, »es gab Zeiten, nehmen wir etwa die letztvergangene klassische Periode, in welcher die Individualität des Autors die Führung hatte. Er durfte mit dem hervortreten, zu dem er sich frei von innen heraus getrieben fühlte, und das überraschte Publikum mochte zusehn, wie es sich mit den immer wechselnden Eingebungen seiner Muse zurechtfand. Ein Goethe kam heute mit den zierlichen, glatten Leipziger Liedern und Lustspielen, morgen mit dem überderben Götz, gleich darauf mit dem empfindsamen Werther und so fort. Niemand konnte ahnen, welchen Weg der Autor auf den Parnaß einschlagen würde, er selbst sah auch wohl nicht rechts noch links – genug, wenn er nur aufwärts stieg und höher klomm.«
»Glückliche Zeit!« rief der kleine Herr, unwillkürlich seinen Ausruf mit einem Seufzer begleitend.
»Freilich,« fuhr der Verlagsinhaber fort, »aber sie ist verschwunden, unwiederbringlich verschwunden. In der Gegenwart ist die Stellung des Dichters zum Publikum und des Publikums zum Dichter eine völlig andre geworden, und hierüber, mein teurer Herr, – erlauben Sie dem erfahrenen Verleger das zu sagen – sollte sich der Autor von heute vor allem klar werden; denn sein ganzes litterarisches Schicksal hängt von dieser Einsicht ab.«
Herr Eisenbeiß sank mit äußerst kleinmütiger Miene auf die Lehne seines Sitzes zurück.
»Eine Sache begreifen,« erklärte sich Herr Sohn weiter, »– sagt nicht Spinoza so – heißt: aufhören, sich darüber zu verwundern oder in Affekt zu geraten. Was aber, frag' ich, ist begreiflicher, als daß auch die schriftstellerische Produktion heutzutage von Grund aus andre Gesetze zu befolgen hat, als die vom vorigen Jahrhundert? Die Geschichte des kleinsten Knopfes an Ihrem Anzuge und des geringsten Fadens, mit dem er festgenäht ist, hat nichts, gar nichts mehr gemein mit der Herstellung dieser Dinge in der alten guten Zeit. Damals kümmerlicher Handbetrieb, jetzt Maschine, Dampfkraft, Elektrizität.«
»Himmel,« rief Herr Eisenbeiß und brachte sich nicht ohne Anstrengung aus seiner Patientenlage wieder in aufrechten Kantensitz, »die Schriftstellerei ist doch keine Fabrikarbeit!«
Der Verlagschef machte eine versöhnende Handbewegung zum Zeichen, daß er wegen des erhobenen Widerspruchs nicht zürnte und sich noch völlig im Bezirke seiner Seelenruhe und Seelengröße wußte. »Aber in der Fabrikarbeit – gut, brauchen wir dies Wort –« sagte er, »äußert sich der herrschende Geist unsrer Zeit. Die Individualität tritt zurück, und die nach einer Regel arbeitende Menge gibt den Ausschlag. Wir leben eben im Zeitalter der Majoritäten. Kein Fürst wagt mehr ohne Parlament zu regieren, kein Solon bringt seine Gesetze durch, wenn er sich nicht auf Stimmenmehrheit stützen kann, und kein Achilles nützt im Kampf, wenn er nicht mit Regimentern aufmarschiert!« –
»Aber ich sehe nicht,« bemerkte der kleine Herr, »welche Folgerung hieraus der Autor für seinen Beruf zu ziehen haben soll!« –
»Die,« erklärte Sohn und Söhne mit Nachdruck, »daß er die Wichtigkeit des Publikums anerkenne und bedenke, daß es sich viel zu sehr fühlt, um den Kreuz- und Querzügen, den unberechenbaren Sprüngen dessen zu folgen, was man so den Genius des Dichters nennt; sondern es ist dahin gekommen, selbst die Führung zu übernehmen, und will in der Kunst und Literatur den Ausdruck seines Geschmacks, seiner Wünsche, – sagen wir: seiner Ideale – wiederfinden.«
Herr Eisenbeiß rieb zur Versinnbildlichung verhaltenen Grolls den Rücken seiner zur Faust geballten Hand in dem Teller seiner linken, indem er sagte: »O, auch seiner Schwächen, seiner Gedankenlosigkeit, seines Ungeschmacks!«
»Hm!« fuhr Herr Sohn und Söhne gelassen fort, »damit mag sich der Autor abfinden, wie er mag; nur, mein lieber Herr Eisenbeiß, gebe er jede Opposition gegen das Publikum als hoffnungslos auf (er sah einem an der Decke zerfließenden blauen Wölkchen aus seiner Havana nach), als völlig hoffnungslos!«
»Ach, es ist ein Elend!« rief der so Ermahnte im Jammerton und fiel in seine hilflose Lage zurück.
»Seien wir maßvoll, mein sehr verehrter Herr,« der Firmenchef sprach die Worte nicht ohne erhöhte Würde, »in der Beurteilung der literarischen Gegenwart und gestatten wir keinem Affekte, die Klarheit unsers Blickes zu trüben! – Was kommt bei der Wertbestimmung unsrer Literatur in Betracht? Die Werke natürlich zuerst, die erzeugt werden; sodann das Publikum, welches sie würdigt, und endlich die Autoren, wie sie für ihre Leistungen Anerkennung finden. In keiner dieser Beziehungen, meine ich, braucht sich die heutige Zeit schelten oder anklagen zu lassen. Welche Fülle der Produktion, welche Regsamkeit auf dem Büchermarkte, welcher Ruhmesglanz und Erfolg, der, von der dankbaren Nation gezollt, die Lieblingsdichter beglückt! Bei der größten Mannigfaltigkeit der Bestrebungen«, fuhr er fort, »sehen wir dem früheren Wirrsal gegenüber, da jeder so zu sagen auf eigne Hand auf dem Helikon sich ansiedelte, jetzt die Einzelnen zu wohl disziplinierten Abteilungen vereinigt, unter leitende Führer geordnet, in große, übersichtliche Massen verteilt. – An bestimmte Namen heften sich ganz bestimmte Erwartungen, und sie werden nie getäuscht. Die Losung, von einem vorderen Rufer im Streit ausgegeben, hallt, wenn auch immer schwächer werdend, von Glied zu Glied weiter, und die hintersten Hintermänner wissen sich danach zu richten.«
Sohn und Söhne rückte sich zu einer, soweit es möglich war, noch imponierenderen Haltung zurecht und hob dann wieder an:
»Es wäre ungerecht, das wesentliche Verdienst an dieser Organisation, so schwierig herzustellen, so leicht in ihrem Bestande gefährdet, nicht der bedeutenden Entwickelung des geschäftlichen Betriebes auf dem litterarischen Gebiete zuzuschreiben, und auch unsre Firma darf sich wohl einiger Thatkräftigkeit, Weite und Größe in der Mitwirkung zur Hebung und Belebung unsrer Litteratur rühmen, sofern Anerkennung von seiten der Autoren und des Publikums zu solcher Meinung berechtigen.«
Herr Eisenbeiß, der wieder am vorderen Rande seines Polsters saß, verfehlte nicht, ein Gemurmel seiner vollkommensten Zustimmung zu dem angezogenen Zeugnis der Autoren und des Publikums hören zu lassen. Er blieb dabei in sich gebückt, wie Goethes Veilchen, vielleicht von dem Glanze des vor ihm aufgerollten Bildes zu sehr geblendet.
Aber er sah erwartungsvoll auf, als sein Gegenüber fortfuhr: »Wohin drängt nun aber die Richtung unsrer gegenwärtigen Litteratur, wohin weisen den aufmerksamen und unternehmenden Verleger ihre Konjunkturen? Denn Sie verstehen gewiß, werter Herr, daß solche Frage gerade beim Beginn eines neuen Jahres uns vorzulegen unsre Pflicht ist, wenn wir mit unsern Unternehmungen uns nicht vom Zufall treiben lassen, sondern die unsern bisherigen Erfolgen entsprechende Leitung behaupten wollen. Wir müssen uns ein deutliches Bild unsrer geschäftlichen Gebarung entwerfen. – Also worauf deutet das litterarische Bedürfnis unsrer Zeit?«
Herr Sohn und Söhne zögerte ein wenig mit der Antwort, offenbar, um seines Zuhörers Erwartung möglichst zu spannen. –
»Auf die Kollektions-Ausgabe, mein werter Herr,« erklärte er dann mit Würde, »und der Rat, den wir unsern Autoren nicht ernstlich genug ans Herz legen können (bei besonders wichtigen Anmahnungen verstärkte sich Herr Sohn und Söhne durch den Firmenplural), unser dringender Rat ist: verschließen Sie sich nicht länger der Notwendigkeit, sich zu Kollektionen zusammenzuschließen. Mit der Kollektion ebnen wir dem lesenden Publikum den Weg zum literarischen Genuß: es wird von der Qual der Wahl befreit, es wird in Atem erhalten, und wie unbemerkt, leicht und bequem schiebt sich auch dem unlustigen Käufer zum ersten Bande der zweite, dritte und jedesmal folgende in die Hände, wenn alle zusammen unter der Flagge eines ansprechenden Kollektionstitels und -planes dahersegeln. – Auf Plan und Titel freilich kommt viel, kommt fast alles an. Und hier, mein verehrter Herr, erwarten wir im Vertrauen auf unsre bisherigen so angenehmen Beziehungen Ihre wirksame Mithilfe.«
Der Verlagschef beugte sich freundlich vor, und der kleine Herr verneigte sich zur Bezeugung seiner Verbundenheit.
»Wir haben uns,« sagte Herr Sohn und Söhne weiter, »zur Veranstaltung einer Kollektion im großen Stile von unfraglich durchschlagendem Erfolge entschlossen; wir werden uns mit der ganzen Wucht und Kraft unsers Einflusses und unsers Ansehns in die Förderung dieses Unternehmens werfen und haben uns bereits die Mitarbeiterschaft der berufensten Autoren gesichert. Aber nun gilt es, vor allem auch das Publikum gleich von Anfang an zu gewinnen, zu kaptivieren. Nichts ist dazu nötiger, als ein packender Gesamttitel und ein wirksamer Prospekt. Ihrem schönen Talente, Ihrer geschickten Feder, mein werter Herr, wird es leicht fallen, in beiden das Beste zu treffen. Wir zählen auf Sie!«
Vor dem innern Auge des Verlagschefs standen alle die Schriftsteller, die glücklich sein würden, mit einem Auftrage von ihm beehrt zu werden, und er begleitete seine letzte Zutrauensversicherung mit einer glückwünschenden Handbewegung.
Aber der kleine Herr schien keineswegs von der ihm gewordenen Auszeichnung hingerissen; sondern brachte eine bescheidne Entschuldigung vor und daß ihm in solchen Dingen alle Erfahrung und Übung abginge.
Aber Sohn und Söhne ließ durchaus keine Einrede gelten und war von der Fähigkeit des Herrn Eisenbeiß zur glänzenden Lösung jeder litterarischen Aufgabe unbedingt überzeugt, wies dabei auch immer wieder auf die bestehenden »so angenehmen« Beziehungen zwischen der Verlagshandlung und dem postulierten Titelfinder und Prospektenschreiber hin, daß dieser endlich sich fügte und um nähere Auskunft über den Kollektionsplan bat, die der Verlagschef mit virtuoser Geläufigkeit ihm erteilte.
»Der kulturhistorische, der vaterländische, der soziale, der politische, der Salon-, der Bauernroman,« sagte er, »jeder hat sein Publikum und, um mich landwirtschaftlich auszudrücken, gedeiht bei rationellem Anbau auf dem günstigen Boden. Die Verlagsfirma erwog bei der Planung ihres Kollektionsunternehmens die Chancen jeder Abart auf das sorgfältigste. Am meisten schien sich eine Kollektion kulturhistorischer Romane zu empfehlen; denn diese Spezialität, schon durch die Präsumtion gelehrter Studien sich dem bildungsbedürftigen Publikum empfehlend, wird noch immer bevorzugt. Allein nach manchen Anzeichen fängt es bereits an, vielleicht infolge zu schonungsloser Überfütterung, schwierig zu werden; und die Erfahrungen, die wir mit unsrer letzten Unternehmung in dieser Richtung haben machen müssen, raten uns, sie nicht weiter zu forcieren: ohne Zweifel, die Höhe ihrer Geltung hat sie hinter sich. – Allein, mein verehrter Herr, an den Bildungstrieb des deutschen Volkes wendet man sich nie vergeblich, und ich bitte hierauf als auf einen Beweis des deutschen Idealismus in Ihrem Prospekt ja hinzuweisen (solch ein Appell ist immer wirksam); – und so denken wir einen neuen und doch das Publikum ansprechenden Weg einzuschlagen: unsre Kollektion soll eine fortlaufende Serie ethnographischer Romane bringen. Das Interesse an der Ethnographie ist weit verbreitet, wir haben eine Fülle vorzüglicher Reisebeschreibungen: es ist Zeit, die Bemühungen unsrer Forscher nun auch belletristisch nutzbar zu machen. Welche Ausbeute winkt hier nicht dem gewandten Erzähler in dem immer neuen Wechsel der Szenerie, welche Fülle von Farben, in die er seinen Pinsel tauchen kann; denn wir denken, auch nicht das wildeste, nicht das verborgenste, insularste Volk zu übergehen, sondern in möglichster Vollständigkeit sollen die Sippen der den Erdball bevölkernden Menschheit in ihren sprechendsten Lebensäußerungen novellistisch charakterisiert werden.«
Herr Sohn und Söhne unterbrach seine beredte Darlegung der ingeniösen ethnographischen Kollektionsidee; denn der mit der Abfassung des Prospekts beehrte Herr Eisenbeiß hatte sich erhoben und gab durch Hervorlangen eines dunklen Gegenstandes (offenbar seine zusammengefalteten Handschuhe) aus der Rocktasche zu erkennen, daß er sich verabschieden wollte.
»Ach, ich darf Sie nicht länger aufhalten,« bemerkte der Verlagschef dazu, »meine Andeutungen werden Ihnen ja auch vollauf genügen.«
Sie müssen auch uns vorläufig genügen, bis Titel, Prospekt und Riesenkollektion selbst (hoffentlich währt es nicht mehr lange) in unsern Händen sind.
Herrn Eisenbeiß' Kopf war im Verhältnis zu seinem Rumpf entschieden zu groß, wie anderseits das Maß seiner Arme zu dem der Beine augenscheinlich zu lang. Dafür saß ihm sein Rock zu weit, seine Hose zu eng, seine Bestiefelung zu lose und sein Halskragen zu knapp: kurz unserm Freunde Andres, der jetzt, während der Prospektenschreiber sich zum Gehen anschickte, diese Mißverhältnisse bequem zu beobachten Gelegenheit hatte, konnte nicht unbemerkt bleiben, daß sie auf das gesamte Benehmen des Herrn Eisenbeiß einen Druck ausübten, als bemühte er sich beständig, sie zu verbergen oder auszugleichen, und fühlte zugleich die völlige Vergeblichkeit solcher Versuche. Besonders Herrn Sohn und Söhne und dessen prunkender Würde gegenüber mußte er sich klein vorkommen und es deutlicher denn sonst als sein Schicksal erkennen, daß es zwischen ihm und der Welt niemals und nirgend »klappte«.
Er war schon der Thür nah, zu welcher ihn der Verlagsherr geleitete, als er plötzlich stehen blieb, ganz ohne Grund seinen viel zu weiten Rock wieder aufknöpfte und ebenso ohne sichtlichen Grund gleich darauf anfing, ihn wieder zuzuknöpfen.
»Mir fällt eben noch ein,« sagte er dabei und versuchte unbefangen und sorglos auszusehen, zeigte aber, weil er ein verräterisches Zittern seiner Stimme merkte, unmittelbar darauf eine desto schüchternere und verlegenere Miene. Er hüstelte also zu mehrerer Mutsammlung und begann aufs neue: »Ja, mir fällt eben noch ein, Herr Rat!« (Herr Sohn und Söhne war also Kommissions- oder vielleicht Kommerzienrat) – »wie hat sich denn der Absatz meines Buches gemacht?«
In der That hatte er diese Frage die ganze Zeit seines Besuches auf dem Herzen gehabt, und als er jetzt sie gestellt hatte, war die Unruhe der Erwartung so groß, daß er, sie zu verbergen, aufs neue hüstelte, während er mit der Hand zwischen Hals und knappen Kragen fuhr.
»Ach, Ihr ›Gottlieb‹?« antwortete Herr Sohn, »die feine, eigenartige Dichtung – Sie erinnern sich, daß ich gleich anfangs bemerkte, es gelänge nicht, ein klares Bild der geschäftlichen Behandlung in diesem Falle zu gewinnen – immer ein ungünstiges Omen für das Schicksal eines Buches – ein höchst ungünstiges.«
»So ist nach dem Buche keine Nachfrage gewesen?« Der Halskragen des Herrn Eisenbeiß war wirklich gar zu eng und beklemmte ihm den Atem.
»Es ist allerdings,« sagte der große Verleger wieder, »der von uns Ihnen gewährte Vorschuß noch nicht beglichen, was ja aber durchaus nichts zu bedeuten hat; Ihr Prospekt –«
»Mein armer ›Gottlieb‹!« Der enttäuschte Autor seufzte traurig bei diesem Ausruf.
»Gegen den Titel hatte ich sofort erhebliche Bedenken, er klingt zu unbestimmt, zu schlicht, zu geräuschlos. Für solche Sachen, mein werter Herr, begeistern sich Liebhaber, aber sie bleiben vereinzelt; die ausschlaggebende Presse schweigt, und das Publikum nimmt davon keine Notiz.«
»Hm, das Publikum,« wiederholte Eisenbeiß resigniert.
»Doch nur keine Entmutigung,« begann Herr Sohn wieder, »die Firma wird fortfahren, Wert auf ihre Beziehungen zu Ihnen zu legen. Hoffentlich bethätigt sich Ihr schönes und liebenswürdiges Talent recht bald auf einem erfolgreicheren Gebiete; vielleicht dürfen wir schon im Prospekte der ethnographischen Kollektion auch Ihre Mitarbeiterschaft anzeigen. In der That, möchten Sie nicht eine oder die andre Nummer derselben übernehmen? Eine Novelle aus dem Volksleben der Fulbes oder der Bantus etwa würde bei dem Interesse des Publikums für Afrika von sicherster Wirkung sein.« –
»Ach, mein ›Gottlieb‹!« seufzte Eisenbeiß noch einmal und hielt den Ärmel seines zu langen Armes gegen die Stirn seines viel zu großen Kopfes.
»Vielleicht bringen wir ihn bei unsrer ethnographischen Kollektion noch mit unter,« sagte der Verlagschef, »und spielen ihn so unbemerkt in die Hände des Publikums.«
Eisenbeiß erwiderte auf diese Eröffnung neuer Aussichten nichts, er seufzte auch nicht mehr, sondern verneigte sich schweigend und ging. »Es klappt eben nirgend,« dachte er bei sich selbst, als er die Treppe hinunterstieg. –
»Und womit kann ich Ihnen dienen?« Mit diesen Worten wandte sich Sohn und Söhne zu unserm Andres, der sich von seinem Sitze erhoben hatte. Die Länge des Schattenkünstlers, mit der er die Leibesgröße des Herrn Verlagsinhabers noch überragte, sein buschig gelocktes Haupthaar, der energische Knebelbart, die kühn vorspringende Nase, die dräuenden Brauen brachten Herrn Sohn auf die Vermutung, als gedächte hier jemand ihm zu imponieren; er steigerte daher diesem Besuche gegenüber seine klassische Würde und half ihr schön nach durch eine bewußtere Herablassung. Schwerlich hätte Gracioso vor der niederdrückenden Magie dieser Hoheit standgehalten, sondern in der Anbringung seines Anliegens alles verwirrt, wenn hier eine eigne Sache zu betreiben gewesen wäre. Aber vor seinen Augen schwebte das Bild seines armen Freundes, und daß es für den galt Trost und Hilfe zu bringen. So sammelte er sich denn und trug dem großen Manne, wiewohl unter vielfachem Stocken und in sehr unklassischen Redewendungen den Beweggrund seiner Vorsprache in leidlicher Verständlichkeit vor.
»Herr Zirbel, einer unsrer Korrektoren?« fragte Sohn und Söhne, als Andres innehielt.
»Er ist«, sagte der Künstler ergänzend, »sehr elend – hm – ja wirklich, sehr elend und krank.«
»Das hör' ich ungern, mein lieber Herr –?«
»Grim, Andres Grim,« schaltete der Schattenspielmann ein.
»Mein lieber Herr Grim,« fuhr Herr Sohn mit leichtem Kopfnicken fort, »das hör' ich ungern. Ich fürchte fast, Herr Zirbel läßt es an der nötigen Schonung fehlen und Pflege; Sie müssen als sein Freund durchaus darauf dringen, daß er sich schont und pflegt, mein lieber Herr –?«
»Grim,« ergänzte Andres wieder.
»Danke, Herr Grim. Was nun sein uns zugesandtes Manuskript betrifft, so sind wir ja leider noch immer nicht in der Lage, dem Herrn unsre Entscheidung mitteilen zu können. Wir haben es unserm wissenschaftlichen Berater übergeben, dessen Beurteilung noch aussteht, und Herr Zirbel wird begreifen, daß es nicht angeht, den vielbeschäftigten Gelehrten zu drängen.«
Andres fragte zögernd, ob er seinem Freunde nicht wenigstens Mitteilung von günstigen Aussichten heimbringen dürfte; »er wartet sehr darauf,« setzte er hinzu, »und ich hofft' es auch.« –
»Sehr begreiflich,« erklärte der Firmeninhaber mit milder Freundlichkeit, die alle nur denkbaren Entschuldigungsgründe für des harrenden Autors Ungeduld gelten lassen zu wollen schien, »durchaus begreiflich; aber wir sind noch durchaus nicht in der Lage, irgendwie eine Aussicht zu eröffnen, ehe uns das erbetene Gutachten vorliegt.«
Auf diesen Bescheid blickte Andres Herrn Sohn wie ein Gestrandeter an, der inne wird, daß das Schiff, von dem er Rettung gehofft hat, ihm nicht näher kommt, sondern sich entfernt. –
»Ich will Herrn Zirbel keineswegs die Aussicht auf Annahme seines Verlagsanerbietens nehmen; durchaus nicht,« sprach Herr Sohn weiter, »obwohl bei einem Erstlingswerk und dazu einem wissenschaftlichen, religionsphilosophischen es immer schwer ist, sich ein sichres Bild von der geschäftlichen Behandlung zu machen; ein Umstand, den der erfahrene Verleger in erster Linie zu erwägen hat.«
Mit dieser seiner Lieblingsphrase schien sich Herr Sohn die vorliegende Angelegenheit hinlänglich klar gelegt und durchaus mit ihr abgeschlossen zu haben. Er schwieg und sah mit einem Blick voll innrer Harmonie nach der klassischen Büste an der Wand.
Andres stand, ohne sich von seiner Stelle zu rühren, unschlüssig, ob er drängen, bitten, ob er die ganze Wahrheit von seinem Freunde sagen sollte. Durfte er es? Hatte er ein Recht, vor diesem Manne, der sich in so vornehmer und gemessener Entfernung hielt, all die Not und Drangsal zu enthüllen, die sein Freund so keusch und demütig-stolz vor der Welt verborgen hielt? Und dann, förderte er dadurch sein Bestes, schädigte er es nicht vielleicht desto mehr? –
Herr Sohn hielt noch immer stumme Zwiesprach mit seinem klassischen Seelenverwandten an der Wand, wer es auch war.
»Herr Zirbel ist sehr krank und elend,« sagte endlich Andres wieder.
»O wirklich, wirklich, das hör' ich ungern.« Der Firmenchef fühlte sich augenscheinlich gedrängt, diese Versicherung seiner innigen Teilnahme dem antiken Herrn aus Gips zu geben, denn er sah ihn noch immer an; desgleichen auch bei den folgenden Worten, als machte er vertrauensvoll, aber strengstens das Griechengesicht für Zirbels Wohl verantwortlich: »Er muß sich unbedingt schonen,« sagte er, »gute Pflege, Bewegung, stärkende Diät gelte ihm als die wichtigste Pflicht gegen sich selbst.«
Als er nach einer Pause seinen Blick gelassen wieder seinem Besucher zuwandte, hatte er eben noch Zeit, demselben mit gemessener Handbewegung Lebewohl zuzunicken; indessen diese Verabschiedung, wie rhythmisch gewinnend sie auch ausgeführt ward, fand die verdiente Würdigung nicht, da Andres bereits hinter der Thür verschwand.
Er hatte sich geräuschlos verzogen, wie von der Bühne beim Schattenspiel.
Nur wenige Schritte war er auf der Straße gegangen, als er aus den trüben Gedanken, mit denen er seinen Weg angetreten hatte, geweckt wurde.
Herr Eisenbeiß stand vor ihm, der hier auf ihn gewartet haben mußte.
»Wir haben uns oben zum erstenmal gesehen,« sagte er.
Andres nickte.
»Wir werden uns wahrscheinlich nie wiedersehen,« sagte der kleine Herr wieder.
Andres stimmte auch dieser Vermutung zu.
»Wir sind uns völlig unbekannt!«
Auch diese Thatsache war unwidersprechlich.
»Aber wir trafen uns beide bei Herrn Sohn und Söhne; wir hatten Beweggründe, ihm aufzuwarten. Dies ist eine Schicksalsverschwisterung. Der Neujahrstag verstärkt sie. Darum richte ich eine Bitte an Sie.«
Andres streckte, seine Bereitwilligkeit zu bezeugen, Herrn Eisenbeiß die Hand entgegen.
»Ich wußte es,« sagte der Prospektenschreiber und berührte mit seiner Rechten, die noch immer den zusammengewickelten Handschuh hielt, die Graciosos.
»Sehen Sie dort drüben am Ende der Straße das Haus mit der langen Front?« begann er darauf, die gemeinte Richtung mit erhobenem Arme bezeichnend.
Andres versicherte, es ganz genau wahrzunehmen.
»Gut,« sagte Eisenbeiß befriedigt, »so haben Sie die Güte, sich morgen in den Buchladen zu begeben, den Sie dort finden werden – der Mann ist auch Antiquar – und ›Gottlieb‹ (vergessen Sie ja den Titel nicht), › Gottlieb‹ von Eisenbeiß zu verlangen.«
»Sie brauchen nichts zu besorgen,« fuhr der Autor mit einem Aufblick in Grims bedenkliche Miene fort, »er hat's nicht auf Lager, ist viel zu vorsichtig. Aber wenn die Nachfrage geschehen ist, um die ich Sie bitte, dann nimmt er mir wohl meine drei Freiexemplare ab, schön gebunden, die ich ihm übermorgen für den halben Preis anbieten will.«
Als er zu erneuter Versicherung seines Vertrauens und seiner Dankbarkeit dem Schattenkünstler die Hand schüttelte, ehe ihre Wege sich trennten, bemerkte er wohl die Niedergeschlagenheit in Andres' Miene. »Schicksalsverschwisterung!?« sagte er mit geheimnisvoller Betonung und einem scheuen Winke nach dem Sohn und Söhneschen Prachtbau.
So klein nun unsers Zirbels Stubengesell auch seine Schritte nahm und soviel er unterwegs grübelte, für seinen Freund noch irgend einen aufrichtenden Trost zu bringen, so befand er sich doch nur allzubald vor dem Hause Langestraße Nr. 110 mit der unveränderten Last seiner Sorge um seine Hiobspost.
Immer wenn er über den Hof ging, um zur Hintertreppe zu gelangen, pflegte er die Krempe seines biegsamen Hutes auf die linke Seite niederwärts zu ziehen; denn so vermied er auf die unbefangenste und vorwurfsfreieste Weise den Anblick des Rohrdrommelschen Gesichts, welches aus dem Fenster der Vizewirtswohnung die Hofpassanten zu beobachten liebte. Er wußte ja, ihre Stellung zu einander mangelte des erwünschten Einvernehmens, und wenn er sich freilich sagte, daß eine gründliche Aussprache leicht die Vorurteile zerstreuen und Klarheit herstellen würde, so fehlte ihm gegenüber der Rohrdrommelschen Überlegenheit in der Redefertigkeit dazu gänzlich der Mut, und so wurden seine Beziehungen zur Tischlerwitwe je länger desto unklarer und schwieriger. Dagegen nahm in ihrem Verhalten zu ihm eine unausgesprochene, vorwurfsvolle Entschiedenheit merkbar zu, durch welche seine Scheu vor der Dame, als stünde er unter hochpeinlichen, nur noch nicht formulierten Anklagen, erheblich verstärkt ward.
Heut aber ganz nur in seine Kümmernis versenkt, hatte er die gewohnte Vorsichts- und Schutzmaßregel zu treffen völlig vergessen und begegnete also, da er zur Thür des Hinterhauses hinein wollte, mit seinen Blicken gerade der Vizewirtin, die hinterm Fenster stand und ihn musterte.
Gewiß hilft zur Würdigung des Rohrdrommelschen Kraftgeistes, welche leider ja der einstige Rohrdrommel selber so gänzlich schuldig geblieben war, die Thatsache stark, daß ihre bloße Erscheinung hinterm Fenster Graciosos erschrockene, zwischen der Absicht zu fliehen, sich unbefangen zu stellen und ihr zu trotzen schwankende Seele durch alle diese Stadien in der Kürze eines Momentes bis dahin sicher hindurchzulenken vermochte, daß er nicht allein höflich hinüber grüßte, sondern auch, als die Witwe bei seinem Eintritt ins Haus in ihrer Thür stand und ihn hineinwinkte, ohne das geringste Widerstreben, ja was mehr ist, ohne an die so sehr gefürchtete Aussprache zu denken, Folge leistete.
Und doch kam es zu einer Aussprache und zwar zu einer wichtigen und folgereichen. Wir können ihr zwar nicht beiwohnen, da die beiden allein zu sein wünschen; dürfen aber hoffen, von ihren Ergebnissen und Wirkungen im folgenden Kapitel ein Mehreres zu erfahren.