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Endlich erkannte Julian auf einer noch fernen Anhöhe schwärzliche Mauern: die Zitadelle von Besançon.
»Wie herrlich wäre es«, seufzte er, »wenn ich diese stolze Feste begrüßte, um als Leutnant in eins der Regimenter einzutreten, die den Platz zu verteidigen haben!«
Besançon ist nicht nur eine der hübschesten Städte Frankreichs. Es ist auch reich an guten gebildeten Menschen. Aber Julian, das arme Bauernkind, hatte nicht die Mittel, sich vornehmen Leuten zu nähern.
Er hatte sich von seinem Freunde Fouqué einen bürgerlichen Rock geliehen, und so überschritt er die Zugbrücke der Festung nicht in geistlicher Tracht. Den Kopf voll von der Geschichte der Belagerung von Besançon im Jahre 1674, wollte er die Burg und die Wälle besichtigen, ehe er sich im Seminar einkerkern ließ. Beinahe hätten ihn die Posten arretiert, weil er sich bis in Gebiete wagte, die der Militarismus der Allgemeinheit verbot, um daselbst für vier bis fünf Taler Heu im Jahre zu ernten.
Die Höhe der Mauern, die Tiefe der Gräben und der drohliche Anblick der Geschütze fesselten ihn mehrere Stunden. Alsdann begab er sich nach dem Boulevard. Vor einem Kaffeehause blieb er staunend stehen und las das ihm rätselhafte Wort CAFÉ, das in Riesenbuchstaben über den beiden breiten Eingangstüren des Lokals prangte. Das war ihm etwas ganz Wunderbares. Nach einem Kampfe mit seiner Schüchternheit nahm er sich ein Herz und trat ein. Es war ein dreißig bis vierzig Schritt langer, mindestens sechs Meter hoher Saal. An diesem Tage kam sich Julian sowieso wie in einem Märchen vor.
Auf zwei Billards wurde gespielt. Die Kellner riefen die Points aus, und die Spieler liefen um die von Zuschauern umlagerten Billards.
Julian konnte sich nicht satt sehen. Die stattlichen Männergestalten, ihre massigen Schultern, ihr schwerfälliger Gang, ihre riesigen Backenbärte und ihre langschößigen Röcke, alles das fesselte ihn. Die edlen Bürger des alten Bisontium redeten nicht wie gewöhnliche Menschen: sie schrien wie Wilde auf dem Kriegspfade. Regungslos stand Julian da. Das war also die Kreishauptstadt Besançon! Welche Pracht und Herrlichkeit! In seiner Bewunderung traute er sich nicht, einen der hochmütigen Herren, die die Points ausriefen, um eine Tasse Kaffee zu bitten.
Dem Fräulein am Büfett war das hübsche Gesicht des ländlichen jungen Mannes nicht entgangen, der, seinen kleinen Rucksack am Arm, drei Schritt vom Ofen entfernt dastand und die an der Wand postierte weiße Gipsbüste des Landesherrn anstaunte. Sie war eine Freigrafschaftlerin, groß, von prächtiger Figur und nett gekleidet, wie das ein gutes Kaffeehaus heischt. Schon zweimal hatte sie Julian mit leiser Stimme, die nur er hören sollte, angerufen: »Pst! Pst!«
Er wandte sich um, blickte in ein paar große blaue, gar zärtliche Augen und merkte, daß der Zuruf ihm galt. Rasch näherte er sich dem Büfett und dem hübschen Mädchen, als marschiere er gegen einen Feind. Dabei verlor er im Eifer seinen Rucksack. »Ich muß offen mit ihr sein«, nahm er sich vor, indem er sich alle Mühe gab, seine Schüchternheit zu überwinden.
»Verehrtes Fräulein«, begann er, »ich bin zum erstenmal in meinem Leben in Besançon. Ich möchte gern gegen Bezahlung eine Tasse Kaffee und ein Brötchen.
Das Fräulein lächelte ein wenig und wurde rot. Es hätte ihr leid getan, wenn der hübsche junge Mensch den Spott und die Witze der Billardspieler auf sich gezogen hätte. Das konnte ihn auf Nimmerwiederkehr verscheuchen.
»Setzen Sie sich hierher in meine Nähe!« sagte sie und wies auf einen kleinen Marmortisch, der neben dem riesigen, in den Saal hineinstehenden Mahagonibüfett fast verschwand. Sie beugte sich heraus, wobei sie Gelegenheit hatte, ihre prächtige Figur zu zeigen. Julian schaute sie an und bekam verliebte Gedanken. Das schöne Mädchen stellte ihm eine Tasse, Zucker und ein Brötchen hin. Nur zögerte sie, einen der Kellner herbeizurufen, die das Einschenken des Kaffees besorgten. Sie wußte, daß ihr Alleinsein mit dem jungen Mann dann zu Ende war.
Julian war nachdenklich geworden. Unwillkürlich verglich er die blonde fröhliche Schönheit mit gewissen Erinnerungen, die ihn häufig heimsuchten. Der Gedanke an die leidenschaftliche Liebe, die ihm in Verrières und Vergy zuteil geworden war, nahm ihm fast alle Schüchternheit. Die schöne Blondine schaute ihm einen Moment in die Augen und wußte Bescheid.
»Es ist rauchig hier. Sie werden Husten bekommen«, sagte sie. »Kommen Sie morgen früh vor acht zum Frühstück her! Da bin ich so gut wie allein.«
»Wie heißen Sie?« fragte Julian mit dem schmeichlerischen Lächeln beglückter Schüchternheit.
»Amanda Binet.«
»Erlauben Sie mir, daß ich Ihnen etwa in einer Stunde ein kleines Paket, etwa so groß wie dieser Rucksack, zur Aufbewahrung sende?«
Die schöne Amanda dachte einen Augenblick nach.
»Ich werde überwacht«, sagte sie, »und so könnte mir Ihre Bitte Unannehmlichkeiten bereiten. Ich will Ihnen aber meine Wohnung auf eine Karte schreiben. Schicken Sie das Paket getrost dorthin!«
»Mein Name ist Julian Sorel«, erklärte Julian. »Ich habe in Besançon weder Verwandte noch Bekannte.«
»Ich verstehe«, erwiderte ihm das junge Mädchen erfreut. »Sie wollen hier Rechtswissenschaft studieren?«
»Ach nein«, antwortete er. »Ich soll aufs Seminar.«
Amandas Gesicht spiegelte Ihre tiefste Enttäuschung. Sie rief einen der Kellner. Jetzt hatte sie den Mut dazu. Der Herbeigerufene goß dem Gast den Kaffee ein, ohne ihn weiter anzusehen. Amanda hatte Geld einzukassieren, und Julian war stolz darüber, daß er ehrlich zu reden gewagt hatte.
An einem der Billards entstand Streit. Der Lärm und die lauten Erörterungen der Spieler schallten durch den hohen Raum. Es herrschte ein Mordsspektakel, wie ihn Julian noch nie erlebt hatte. Amanda träumte mit halbgeschlossenen Augen.
»Wenn es Ihnen recht ist, Fräulein«, begann Julian von neuem, »so will ich sagen, ich sei ein Vetter von Ihnen.«
Dieser beinahe befehlerisch klingende Vorschlag gefiel Amanda. »Das ist kein dummer Mensch!« dachte sie. Ihre Augen spähten nach allen Seiten aus, ob sich jemand ihrem Schanktische nähere. Ohne Julian anzusehen, gab sie hastig die Antwort: »Ich bin aus Genlis gebürtig, aus der Nähe von Dijon, Sagen Sie, Sie seien auch aus Genlis. Sie seien ein Neffe meiner Mutter.«
»Das werde ich tun.«
»Die Herren Seminaristen kommen im Sommer jeden Donnerstag um fünf Uhr an unserm Café vorüber«, erzählte sie.
»Wenn Sie noch an mich denken, dann halten Sie ein Veilchensträußchen in der Hand, wenn ich vorbeigehe.«
Amanda sah ihn erstaunt an. Ihr Blick steigerte Julians Mut zur Verwegenheit. Trotzdem ward er über und über rot, als er hinzufügte: »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr Sie mir gefallen. Ich liebe Sie.«
»Reden Sie nur nicht so laut!« bat sie erschrocken.
Julian bemühte sich, verliebte Wendungen aus der Neuen Heloise, von der er in Vergy eine zerlesene alte Ausgabe gefunden hatte, in die Erinnerung zurückzurufen. Sein vorzügliches Gedächtnis ließ ihn nie im Stich. Zehn Minuten lang trug er der schönen Amanda aus Rousseaus Roman vor. Er war selig, solchen Mut zu haben, als die hübsche Freigrafschaftlerin plötzlich ein unnahbares Gesicht aufzog. Einer ihrer Verehrer erschien in der Tür des Cafés.
Pfeifend und mit den Schultern wiegend ging der Ankömmling auf das Büfett zu. Julian bekam einen scharfen Blick zugeworfen. Im Nu füllte sich seine Phantasie, die mit Vorliebe in das Extreme sprang, mit Duellgedanken. Er ward leichenblaß, schob seine Tasse beiseite, nahm eine dreiste Miene an und blickte seinem Rivalen fest in die Augen. Der senkte den Blick und goß sich am Schanktische gelassen ein Glas Schnaps ein. Diesen Moment benutzte Amanda, Julian durch einen Blick zu bedeuten, daß er den neuen Gast nicht fixieren solle. Er gehorchte und saß in den nächsten Minuten unbeweglich auf seinem Platze. Blaß und entschlossen, dachte er nur an die Weiterentwicklung der Szene. Dabei sah er wirklich forsch aus.
Der andre war über Julians Anstarren betroffen gewesen. Nachdem er seinen Likör in einem Zuge hintergegossen hatte, sagte er ein paar Worte zu Amanda, steckte beide Hände in die Seitentaschen seines langen Rockes und schritt, von neuem pfeifend, auf eins der Billards zu, wobei er Julian scharf ansah. Der sprang zornig auf, wußte aber nicht, wie er seinen Rivalen reizen könne. Seinen Rucksack im Stiche lassend, schlenderte er so geckenhaft wie nur möglich ebenfalls an das Billard.
Umsonst warnte ihn seine Vernunft: »Wenn du gleich bei deiner Ankunft in Besançon in Händel gerätst, so verdirbst du dir deine geistliche Laufbahn von vornherein!«
»Meinetwegen!« sagte er sich trotzig. »Aber man kann mir wenigstens nicht nachsagen, ich ließe mir Unverschämtheiten gefallen!«
Amanda durchschaute seine Absicht. Sie fand, sein Mut bilde einen reizenden Gegensatz zu seinem schlichten Wesen. Im Moment gefiel ihr Julian mehr als der bessere junge Herr im langen Rocke. Sie erhob sich von ihrem Stuhle und tat so, als schaue sie jemandem draußen auf der Straße nach. Dabei vertrat sie Julian behend den Weg zum Billard.
»Vermeiden Sie einen Streit mit dem Herrn da! Es ist mein Schwager!«
»Was geht mich das an? Er hat mich fixiert!«
»Wollen Sie mich unglücklich machen?« flehte sie ihn an. »Gewiß hat er Sie angesehen. Vielleicht spricht er Sie sogar an. Ich habe ihm gesagt, Sie wären ein Verwandter meiner Mutter und aus Genlis gekommen. Er ist auch aus der Freigrafschaft, ist aber nie über Dôle hinaus ins Burgundische gekommen. Sagen Sie ihm, was Sie wollen! Sie brauchen keine Angst zu haben ...«
Noch überlegte Julian, aber sie redete rasch weiter. Ihr Geschäft brachte es mit sich, daß sie jederzeit eine Menge Lügen zur Hand hatte.
»Er hat Sie allerdings angesehen, aber nur im Augenblick, als er mich fragte, wer Sie seien. Er ist gegen jedermann flegelhaft. Er hat Sie nicht beleidigen wollen.«
Julian verfolgte den angeblichen Schwager mit seinem Blicke. Er sah, wie er sich eine Nummer zur Poule am hintern Billard kaufte, und vernahm, wie er in herausforderndem Tone rief: »Auf zum Kampf!«
Sofort wollte Julian an Amanda vorbei nach dem Billard stürzen. – Da faßte sie ihn am Ärmel: »Bitte, erst zahlen!«
»So! So!« dachte Julian bei sich. »Sie hat Angst, ich könne durchbrennen.«
Amanda war ebenso erregt wie er und hochrot geworden. Indem sie ihm, so langsam sie nur konnte, Kleingeld herausgab, flüsterte sie ihm zu: »Verlassen Sie augenblicklich das Café – oder ich will nichts mehr von Ihnen wissen. Ich habe Sie sehr gern.«
In der Tat ging Julian, wenn auch zögernd. »Wäre es nicht meine Pflicht«, fragte er sich, »diesen frechen Lümmel zu stellen und ihm ordentlich die Meinung zu sagen?«
Er wußte sich selber keinen Bescheid zu geben. Unschlüssig blieb er noch eine ganze Stunde auf der Straße vor dem Café stehen und paßte auf, ob der Mensch nicht herauskäme. Aber er kam nicht, und so ging Julian schließlich.
Er war erst wenige Stunden in Besançon, und schon war er nicht mit sich zufrieden. Der alte Stabsarzt hatte ihm seinerzeit trotz seiner Gicht etwas Fechtunterricht erteilt. Was er da gelernt hatte, das war die ganze Kunst, die ihm bei einem Ehrenhandel zu Gebote gestanden hätte. Das wäre ihm indessen völlig gleichgültig gewesen, wenn er nur gewußt hätte, wie man jemanden zu einer Forderung nötigt, ohne ihm gerade eine Ohrfeige zu verabreichen. Wenn es bloß zu einer Prügelei gekommen wäre, hätte ihn sein Rivale, ein Riesenkerl, einfach verhauen und auf der Straße liegenlassen.
Da fiel ihm das Seminar ein.
»Für einen armen Schlucker meines Schlages, ohne Gönner und ohne Geld, ist das Seminar ein Gefängnis. Ich muß meine Zivilkleider in irgendeinem Gasthof lassen, wo ich mich umziehe. Wenn ich einmal ausgehen darf, auf ein paar Stunden, könnte ich Fräulein Amanda in Zivil besuchen.«
Das war gut und schön; nur wagte sich Julian in keinen Gasthof hinein, obwohl er an mehreren vorüberkam. Schließlich ging er am Hôtel des Ambassadeurs vorbei. Da begegneten seine spähenden Blicke denen der Wirtin, die am Tore stand, einer behäbigen, noch ziemlich jungen Frau. Aus ihrem frischen Gesicht strahlte Glück und Frohsinn.
Er ging auf sie zu und trug ihr sein Begehren vor.
»Sehr gern«, sagte sie, »mein lieber kleiner Abbé, sehr gern hebe ich Ihnen Ihre Zivilkleider auf. Ich werde sie sogar öfters ausklopfen lassen. Im Sommer ist es nicht ratsam, einen Tuchanzug einfach hängen zu lassen.«
Sie nahm einen Schlüssel vom Brett und führte Julian selbst in ein Zimmer. Dann riet sie ihm, ein Verzeichnis aller der Sachen anzufertigen, die er dalassen wolle.
»Bei Gott! So sehen Sie wirklich nett aus!« sagte sie zu Julian, als er nach einer kleinen Weile im schwarzen Rock in die Küche herunterkam. »Jetzt will ich Ihnen etwas Ordentliches zu essen vorsetzen.«
Und leise fuhr sie fort: »Was andre mit einem Taler bezahlen, soll Sie nur zehn Groschen kosten! Ich möchte Sie nicht Ihrer Ersparnisse berauben.«
»Ich besitze zweihundert Franken«, entgegnete Julian.
»Allmächtiger!« erwiderte die Dicke ängstlich. »Sagen Sie das nicht so laut! Hier in Besançon gibt es sehr viel Gauner. Man maust Ihnen Ihr Geld im Handumdrehen. Meiden Sie vor allem die Kaffeehäuser! Dort wimmelt es von Spitzbuben.«
»Das will ich glauben!« meinte Julian mit einem Male nachdenklich.
»Kommen Sie nur immer zu mir! Ich werde Ihnen einen guten Kaffee kochen. Vergessen Sie nicht, daß Sie hier stets eine Freundin und ein anständiges Mittagessen für einen Franken finden. Das lassen Sie sich hoffentlich gesagt sein. Jetzt setzen Sie sich zu Tisch. Ich werde Sie selbst bedienen.«
»Ich werde nicht viel essen können«, entgegnete er. »Ich bin zu aufgeregt. Wenn ich Sie verlassen habe, trete ich in das Seminar ein.«
Die brave Frau entließ ihn nicht, ohne ihm die Taschen mit allerlei Vorräten vollgestopft zu haben. Endlich machte er sich auf nach dem Schreckensort. Die Wirtin wies ihm vor dem Tore den Weg.