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Unsere deutsche Literatur, reicher an dichterischen Individualitäten als manche andere, weist auch eine Reihe von Persönlichkeiten auf, in denen der Gelehrte mit dem Dichter ein Bündnis eingegangen ist, Männer, deren Name sowohl in ihrer Wissenschaft als auch in der schönen Literatur einen guten Klang hat, deren wissenschaftliche Arbeiten durch den erhöhten Reiz der Darstellung sich größere Kreise erschlossen haben als manche grundgelehrten Werke, und deren poetischen Leistungen die Fülle und Tiefe des Wissens ihrer Urheber durchaus zugute kommt.
Freilich, nicht immer ist die Mischung in solchen Persönlichkeiten gut geraten, zuweilen bedeutet das innere Schwanken zwischen Wissenschaft und poetischem Schaffen einen Konflikt, und wir wissen z. B. von Scheffel, daß ihm in seiner späteren Zeit sinkenden Selbstvertrauens nicht mehr möglich war, den Gelehrten durch den Dichter zu zwingen und mitzureißen. Auch die s. Z. plötzlich in den Vordergrund geratene und vom Publikum stark überschätzte »Professorenpoesie«, wie sie im archäologischen Roman ihre nicht allzunachhaltigen Erfolge feierte, legt Zeugnis davon ab, daß die Mischung von Dichter und Gelehrtem vor allem dann nicht gerät, wenn die Muse erst nachträglich zu Gevatter gebeten wurde.
Männer wie Freytag, Riehl, Wilhelm Hertz hat Kritik wie Publikum natürlich nie unter die dichtenden Professoren gerechnet; daß Geibel und Kinkel zeitweilig Literaturprofessoren gewesen, ist den wenigsten bekannt und in der Tat auch unwesentlich. Bei einem aber hat Publikum wie Kritik den Dichter über dem Literaturprofessor lange Jahrzehnte nicht zur Geltung kommen lassen, und die wissenschaftlichen Fachgenossen haben den Poeten in ihm scheel angesehen. So ist es gekommen, daß Adolf Stern einerseits unter den archäologischen Dichtern nur eben mitgenannt und darum nicht seinem Wesen und Leisten entsprechend gewürdigt, ja beachtet, andrerseits von den zünftigen Literarhistorikern gern umgangen worden ist – solange beides eben möglich war.
Es gibt nun zu allerlei nachdenklichen Betrachtungen Anlaß, den allmählichen Umschwung in der Schätzung Adolf Sterns als Dichter und Literarhistoriker zu verfolgen. Der letztere drang zuerst durch. Ihren Ausdruck fand diese Tatsache in der gemeinsamen Otto Ludwig-Ausgabe von Adolf Stern und Erich Schmidt (1891), für welche Stern eine der schönsten Dichterbiographien schrieb, die unsere Sprache besitzt. Nicht nur als Dichter war er dazu besonders berufen, sondern ihm kam diese Aufgabe zu, weil er, mit dem großen Realisten vor und in seinen Krankheitsjahren in persönlicher Berührung, mit seinen ästhetischen Anschauungen früh auf das genaueste bekannt, zuerst seine literaturgeschichtliche Stellung erkannt und somit die Auffassung begründet hat, daß die Wurzeln der modernen deutschen Literatur in der realistischen Bewegung der fünfziger Jahre liegen. Auch für Hebbel, mit dem er noch als Strebender in Briefwechsel trat, hat er diesen Aufklärungsdienst geleistet, und in der Frühzeit der Liszt-Wagner-Bewegung stand er unter den Vertrauenden. Seine vermittelnde Wirksamkeit ist aus dem Gange der deutschen literarischen Entwicklung gar nicht herauszulösen. Der Dichter begann sich allmählich durchzusetzen mit dem Erscheinen des Romans »Die letzten Humanisten« (1881). Allerdings langsam. Das Buch ist still seinen Weg gegangen und wird ihn weiter gehen, bis es eingereiht ist in den eisernen Bestand der Bücher, durch die die gebildete, ernst strebende Jugend hindurch muß, um reicher und stärker zu werden und künstlerisch zu reifen, und zu denen der reife Mann von Zeit zu Zeit immer wieder greift, um sich zu vergewissern, ob er sich selber treu blieb in dem Streben nach Wahrheit, Freiheit und Menschlichkeit.
Die volle Anerkennung als Dichter errang sich Stern – leider müssen wir sagen: erst – durch die Veröffentlichung seiner »Ausgewählten Novellen« 1898, wie Adolf Bartels richtig vorausgesagt hat. Eine der darin enthaltenen Novellen war damals bereits 33 Jahre alt, eine andere beinahe 20, der Dichter selbst 63 Jahre.
Habent sua fata libelli, oder besser noch poetae! Doch wir wollen uns lieber freuen, daß der Dichter durch die Aufnahme in diese Volks-Bücherei, wie auch in andere ähnliche Sammlungen in gerechter Anerkennung seiner Bedeutung auch äußerlich an die Stelle gerückt ist, wo die Besten versammelt sind und nun über den Kreis der Gebildeten hinaus zum ganzen Volke reden dürfen. –
Wir wollen nun von seinem Leben und poetischen Schaffen erzählen.
Adolf Stern (ursprünglich Adolf Ernst geheißen) wurde am 14. Juni 1835 zu Leipzig geboren. Durch ungünstige Verhältnisse seiner Familie genötigt, die regelmäßige Schullaufbahn abzubrechen und sich autodidaktisch weiterzubilden, erfuhr er frühzeitig, was dazu gehört, sich emporzuarbeiten und zur Geltung durchzuringen. Er machte es möglich, von 1852 ab erst in Leipzig, dann in Jena Geschichte, vergleichende Sprachwissenschaft, Literatur und Kunstgeschichte zu studieren und erhob sich bald durch seine umfassenden Kenntnisse, die sich nach und nach auf alle Literaturen ausdehnten, über die Belletristen der damaligen Zeit, obwohl selber vorläufig auf eine reine Literatenexistenz angewiesen. Sein früh erwachtes poetisches Talent (1855 erschien seine erste Gedichtsammlung) fand bei seiner ernsteren Richtung zunächst nur wenig fruchtbaren Boden, und die Anregungen, die ihm Leipzig bot, waren damals, wie auch Otto Ludwig anderthalb Jahrzehnt früher erfahren hatte, nicht ergiebig genug, um ein Schöpfen aus dem Vollen zu ermöglichen. Durch ausgebreitetes und tiefgehendes Studium der Geschichte gelang es ihm dann, jene »Fülle der Gesichte«, die der Dichter braucht, zu schauen, seiner Phantasie eine Welt zu erschließen, aus der er immer wieder schöpfen und Gestalten und Bilder mit einer erstaunlich sicheren Darstellungskraft heraufbeschwören konnte, als wäre er der vertraute Weggenoß dieser vergangenen Menschen und der mitfühlende Teilnehmer ihrer Schicksale gewesen. Dieses Ergreifen vergangenen Lebens mit der Phantasie und dem Herzen zugleich, das sich jedem Leser seiner historischen Novellen und Romane sehr bald fühlbar macht, rückt ihn von den archäologischen Dichtern weit ab in die Reihe der selbständig Schaffenden. Mit der ersten Sammlung der »historischen Novellen« 1865 steht er bereits auf der Höhe epischer Kunst.
Inzwischen hatten sich seine Lebensverhältnisse gefestigt. Wichtige persönliche Beziehungen waren geknüpft worden: mit dem Lisztschen Musiker- und Schriftstellerkreise in Weimar, mit dem vielverheißenden Dichterkomponisten Peter Cornelius und Felix Dräseke; mit Hebbel trat er in brieflichen Verkehr, von Otto Ludwig empfing er entscheidende Anregungen und trat ihm persönlich nahe. Alles das hat seine Früchte getragen nicht nur für ihn selbst, sondern für die literarische und künstlerische Entwicklung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
1860 wurde Stern Lehrer der Geschichte und Literatur am Krauseschen Institut in Dresden, 1861 setzte er in Jena seine Geschichts- und Sprachstudien fort und verheiratete sich 1863 mit der Landschaftsmalern Malvine Krause, der »Jone« seiner Gedichte. Er lebte erst in Schandau, dann in Dresden als Schriftsteller und wurde 1868 außerordentlicher und 1869 ordentlicher Professor der Literaturgeschichte an der technischen Hochschule daselbst. In dieser Stellung ist er unausgesetzt wissenschaftlich tätig geblieben und hat, namentlich durch seine »Geschichte der neueren Literatur« (7 Bände 1882–1884), »Zur Literatur der Gegenwart« 1880, »Studien zur Literatur der Gegenwart« 1895, 2. Auflage 1898, »Die deutsche Nationalliteratur vom Tode Goethes bis zur Gegenwart« (Fortsetzung zu Vilmars G. d. d. Nat. Lit., 4. Auflage 1901) und die Biographie Otto Ludwigs (1891) eine führende Stellung errungen, die, wie wir sahen, zuweilen die Zeitgenossen vergessen ließ, daß er eigentlich als Dichter begonnen hatte und immer dichterisch tätig geblieben war.
Als Dichter ist Adolf Stern vor allem Epiker. Aber was er erzählt, ist zugleich so von Stimmung gesättigt, daß auch eine starke lyrische Begabung anerkannt werden muß. Hiervon geben seine 1900 in vierter Auflage erschienenen Gedichte das schönste Zeugnis. (Vergl. des Verf. Studie in der wissenschaftlichen Beilage der Leipziger Zeitung vom 11. April 1901.) Neben den seiner ersten, ihm 1877 wieder entrissenen Gemahlin gewidmeten Liedern bedeuten die »Margretlieder« die Krone der Sammlung. Sie geben erschütternde Kunde davon, wie auch der Schmerz im Leben des Dichters sich sein Heimatsrecht erzwungen, und lassen uns ahnen, welchen Anteil an der lebenswahren Gestaltung seiner Dichtungen überhaupt eigenes schweres Erleben gewonnen hat: seine zweite Gemahlin, die ausgezeichnete Liszt-Schülerin Margarete Herr, mit der er sich 1881 vermählte, wurde ihm 1899 nach unvergeßlichen Jahren sonnigen Spätherbstglückes wieder durch den Tod entrissen.
So stimmungsvoll Sterns Novellen und Romane sich geben, so wenig wird der feste epische Gang durch die Stimmung aufgelöst: es ist eine sichere Künstlerhand über diesen schlichten und doch so ergreifenden Gebilden tätig, ein Meister der Erzählungskunst, der alle Fäden fest in seiner Hand behält, mit erstaunlicher Sicherheit Situationen und Charaktere herausarbeitet und doch der künstlerischen Ökonomie die Lebenswahrheit nicht opfert.
Die Reihe seiner epischen Werke ist groß. Wir unterscheiden reine Versepen: »Jerusalem« 1858 und das bedeutendere »Gutenberg« 1872, das man, wie Bartels richtig hervorhebt, mit Lenaus und Hamerlings gleichartigen Dichtungen zusammenstellen muß, um es richtig zu würdigen.
Neben diesen stehen Romane, zwei moderne »Bis zum Abgrund« 1861 und »Ohne Ideale« 1882. In dem letzteren gewährt neben der scharfen Charakteristik der Personen, der ernsten Grundstimmung und der tiefen Einsicht in die Seelen der Menschen, die mit den Mächten der Zeit ringen oder sich rücksichtslos durch sie auf die Höhe zu bringen trachten, vor allem die Symmetrie der Komposition hohen künstlerischen Genuß. Die äußere Spannung wird durch die innere überwogen, so bedeutend auch in der Schilderung der Grubenkatastrophe – vor Zolas Germinal – die Meisterschaft Sterns in der Darstellung einer drangvollen Situation hervortritt.
Zwei historische Romane schließen sich an: »Die letzten Humanisten« 1881, von uns schon oben gewürdigt, und »Camoës« 1886. Den Roman »Camoës« muß man neben Tiecks denselben Stoff behandelnden »Tod des Dichters« (1833) halten, und man wird nicht im Zweifel sein, wo das stärkere epische Talent, die größere Kraft und leuchtendere Farbenglut der Darstellung zu suchen sei. Daß gewisse Züge des Tieckschen Comoëns auf den jüngeren Dichter gewirkt haben, halte ich nicht ganz für ausgeschlossen, neige auch mit Bartels Urteil mich zu der Meinung, daß die Entwicklungslinie zu Sterns Novellen über Tieck führt. Schicksalswendungen sind bei Stern das hauptsächlichste Novellenmotiv, wie bei Tieck die Überraschungen zur Technik gehören, nur ist Sterns psychologische Arbeit in der Vorbereitung derselben viel tiefer und feiner, seine Novellen haben mehr Blut, mehr Gemüt und viel mehr künstlerische Konzentration.
Sterns novellistische Tätigkeit zieht sich von 1863 an, die anderen Arbeiten begleitend, durch sein ganzes Leben. 1863 erschien die Sammlung: »Am Königssee«, 1866 »Historische Novellen«, 1868 »Das Fräulein von Augsburg«, 1875 »Neue Novellen«, 1879 »Auf fremder Erde«, »Aus dunklen Tagen«, 1886 »Venezianische Novellen«, 1891 die Sammlung »Auf der Reise«. 1898 wählte er aus den bisher veröffentlichten mit fast zu strenger Selbstkritik neun als »Ausgewählte Novellen« heraus und ermöglichte so eine Übersicht und Gesamtwertung seines Schaffens auf diesem Gebiete. 1901 folgten noch »Vier Novellen«, die von unverminderter Kraft zeugen.
Mit unbefangenem Blick sieht der Dichter ins Leben, seine Tiefen sind ihm nicht verborgen, aber seine Höhen zu sehen und zu zeigen gilt ihm als unverjährbares Dichterrecht. Er weiß sehr wohl, daß die Gründe unseres Handelns oft in eine Tiefe hinabreichen, die uns selbst verhüllt ist; er weiß aber zugleich, daß unsere dunkelsten Empfindungen meist unsere wahrsten sind und uns zu einem Handeln nötigen, das uns selbst überrascht und dennoch das richtige gewesen ist: weil unser Gemüt es war, das uns nach dieser Seite trieb. Das Erlebnis ist der Ausgangspunkt seiner Novellen. Alle seine Menschen reifen irgendwie an einem Schicksal, und besonders reizvoll gestaltet sich das Motiv, wenn, wie so oft, zwei Menschen in demselben Erlebnis sich ihr Schicksal schaffen, wie sie müssen.
Der Dichter will nicht über seinen Gestalten stehen, er führt uns in das Innere seiner Menschen ein und zwingt uns mit tiefstem Anteil ihr Geschick mitzuerleben. In den Geschichten aus der Vergangenheit zieht ihn nicht das historische Problem an, sondern die inneren Kämpfe der einzelnen Menschen, welche in der Flut der großen Begebenheiten mit fortgerissen werden. Mit sicherer Meisterschaft weiß er die Handlung auf solche Höhepunkte zu führen, wo das allgemein Menschliche aus der geschichtlichen Hülle heraus sieghaft und ergreifend zugleich in die Erscheinung tritt. Wie auf der Bresche in Leydens Mauern Mutter und Sohn nach langer Trennung und Entfremdung sich in die Arme sinken, wie der alte Münstersche Schwarmgeist Bernhard Rotmann dem zum Renegaten gewordenen Jugendfreund als Richter gegenübertritt; solche und ähnliche Situationen in den »Schuldgenossen«, »Violanda Robustella«, »Flut des Lebens« prägen sich unvergeßlich ein und sie gelingen nur dem Meister. Aber der Dichter braucht nicht die verklärte Ferne der Vergangenheit, um zu ergreifenden Wirkungen zu gelangen: ebenso gelingt ihm die Herausarbeitung des rein menschlichen Kerns in den aus dem gegenwärtigen Leben geschöpften Novellen. So schlicht das Wiederfinden in »Heimkehr« geschildert ist, so tief müssen wir miterleben, was die beiden Menschen nach langer Trennung und Trübung innerlich doch wieder zusammenführt.
Neben Storm, Heyse, Riehl und Jensen, neben Wilhelm Raabe als historischen Novellisten gehört auch Adolf Stern: und wer die nachfolgenden beiden Erzählungen aus der Hand legt, der wird das Verlangen empfinden, auch andere Schöpfungen des Dichters kennen zu lernen. Nicht nur der Reiz vollendeter künstlerischer Darstellung wird den Leser gefangen nehmen, sondern vor allem auch die milde, abgeklärte, ernste und feste Persönlichkeit, die solche Gestalten geschaffen, solche Schicksale geschildert hat.
Danzig, im Januar 1904.
Heinrich Löbner.