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Man hört vor Beginn des Aufzuges bei geschlossener Gardine von Ottilie gesungen, vom Piano begleitet, Eichendorff-Schumanns Mondnacht.
Es war, als hätt' der Himmel
die Erde still geküßt,
daß sie im Blütenschimmer
von ihm nur träumen müßt!
Die Luft ging durch die Felder,
die Ähren wogten sacht,
es rauschen leis die Wälder,
so sternklar war die Nacht.
Es hebt sich die Gardine. Der Pfarrer sitzt accompagnierend am Klavier, Ottilie singt; Christian, Wilhelm, Philipp Ernst, Oels, Otto und Sofie sind als Zuhörer im Zimmer.
Ottilie:
Und meine Seele spannte
weit ihre Flügel aus,
flog durch die stillen Lande
als flöge sie nach Haus.
Christian: Himmlischer Schumann!
Pfarrer: Großer Eichendorff!
Christian: Besonders: Und meine Seele spannte ... ( Summt weiter.)
Ottilie: ( mit Blick auf Wilhelm summt): Als flöge sie nach Haus.
Pfarrer: Mendelssohn, Schubert, Schumann – ein genußreicher Abend. Aber es ist reichlich spät. Darf ich mich empfehlen, Exzellenz?
Christian ( ihn nach hinten geleitend): Auf Wiedersehen und herzlichen Dank für alles.
Pfarrer: Nichts zu danken, Exzellenz. ( Exit.)
Philipp Ernst ( zu Oels): Kommt deine Schwester bald? ... sich hier musikalisch langweilen zu lassen. Schade um meinen neuen Frack.
Oels: Ottilie war heute nicht gnädig. Glaubst du an meine Chancen?
Philipp Ernst: Sie sind dir von zwei Gentlemen garantiert. Schade um den Frack.
Oels ( zeigt auf Wilhelm): Wer ist die schwarze Sache?
Philipp Ernst: Sekretär.
Oels: A peu près domestique?
Philipp Ernst: Je ne suis pas sùr.
Ottilie: Du siehst elend aus, Vater.
Christian: Worüber warst du den ganzen Tag so erregt?
Ottilie: Ich bin in deinem Sinne entschlossen.
Christian: Gegen sie?
Ottilie: Ich werde nicht unterliegen.
Christian: Bravo! ( Zu Wilhelm.) Meine ersten Telegramme haben im Haag hinreichend Gegenwirkung getan. Aber heute abend erst, in diesen Minuten etwa, platzt dort die Bombe.
Sofie ( zu Otto): Ich bin unruhig. Im Haag ist etwas geschehen, sonst hätten wir Entscheidung.
Otto: Die Mumie sieht aus, als stürze sie im nächsten Augenblicke tot hin.
Sofie: Ich bin furchtbar unruhig.
Christian ( zu Sofie): Du hast deinen beau jour. Wir wollen nachher noch ein Stündchen plaudern.
Sofie: Gern. ( Zu Otto.) Es geht los. Laß mich später allein.
Otto: Beherrschung! Verstanden!
Sofie: Gott steh mir bei!
Philipp Ernst: Du hast mich verwirrt, es kann mit Vater nicht so schlimm stehen.
Sofie: Man muß unbedingt auf alles gefaßt sein. Im Fall ...
Philipp Ernst: Eines Zwischenfalls ... ( Trocknet sich die Stirn.) Nur keine Rechnereien.
Sofie: Wie besprochen: du läßt uns deinen Anteil in Form einer Hypothek, deren Zinsen dir mit vier Prozent als feste Rente garantiert werden.
Philipp Ernst: Was kommt für mich heraus?
Sofie: Mindestens das Fünffache von heute.
Philipp Ernst: Charmant. Und kein Brutto und Netto?
Sofie: Alles pränumerando.
Philipp Ernst: Charmant.
Otto ( tritt hinzu): Das ist das Fabelhafte: Eine einfache Strippe wollte er als Uhrkette tragen.
Philipp Ernst: Wie Strippe?
Oels: Als Uhrkette?
Sofie: Wer?
Otto: Der verstorbene Siekermann.
Philipp Ernst: Ein smarter Junge.
Christian ( der mit Ottilie und Wilhelm im Hintergrund sitzt, ruft herüber): Was habt ihr mit Philipp Ernst?
Otto: Von einer Uhrkette ist die Rede.
Philipp Ernst: Aber wie denn – Strippe?
Otto: Zwischen zwei Platinkarabinern an den Enden sollte ein einfacher Bindfaden von der Uhrtasche zum Knopfloch laufen. Siekermanns Tod hat die Ausführung vereitelt.
Philipp Ernst: Strippe?
Otto: Zum Frack.
Philipp Ernst: Teufel!
Oels: C'est épatant!
Philipp Ernst: Otto, versprich mir, ich habe mit Sofie – kurz und gut – auf irgend etwas verzichtet.
Sofie: Erlaube!
Philipp Ernst: Ich weiß: keine Rechnerei. Dennoch – als Äquivalent: sprich mit niemand von der Strippe. Oels, das ist meine Sache! Ich ließ dir die Redingote, mache dir die Geschichte mit Ottilie fix und fertig. Sie ist vollkommen erledigt.
Sofie ( zu Oels): Haben Sie Absichten, Prinz?
Oels: Darf ich auf Ihre Unterstützung rechnen, gnädigste Gräfin?
Sofie: Wir sprechen darüber.
Philipp Ernst: Laßt mir die Strippe, Kinder. Abgemacht? Und ernstlich: reinen Mund halten zu jedermann! Ihr verbindet mich für ewig. ( Er reicht allen einzeln die Hand und geht in den Hintergrund.) Was wird Easton sagen?
Christian: Ist eines Systems Höhe erreicht, steht die Möglichkeit eines Wechsels stets vor der Tür.
Wilhelm: Exzellenz sehen die Sache historisch. Auf materialistische folgen idealistische Epochen. Übersättigung ...
Christian: Will Abwechselung.
Wilhelm: Aber ich behaupte: Deutschlands besseres geistiges Teil ist Ton einem so grenzenlosen Haß gegen die Herrschaft des Geldes und jeder Überlegenheit, die aus seinem Verbrauch folgt, erfüllt, daß nur Ausrottung des Prinzips es beruhigen kann.
Sofie: Als theoretische Forderung.
Wilhelm: Sie mag für den Anfang genügen.
Sofie: Wer will sie bedeutend genug formulieren? Durch wessen Stimme wird sie als tödliche Klage durchdringend hörbar?
Christian: Das ist das wichtigste. Folgt das gesamte Volk einmal einem tönenden Schrei – wer weiß? Aber wo ist das Hirn, das Selbstbewußtsein und das Gewissen?
Wilhelm: Es wird zur Zeit da sein, wie das Notwendige stets pünktlich erschien.
Ottilie: Bestimmt. ( Blickwechsel mit Wilhelm.)
Sofie: Umgekehrt. Ist erst der Mann da, folgt die Zeit.
Christian: Krey hat die Vermutung, es ist nicht mehr weit zu ihm.
Wilhelm: Ich habe höchste Wahrscheinlichkeit
Sofie: Und dann?
Wilhelm: Kein Mitleid, Gräfin.
Sofie ( lacht): A la guerre comme à la guerre.
Wilhelm: Tabula rasa.
Sofie: Apostel und Predigten schrecken uns nicht. Was not tut ...
Wilhelm ( stark): Feuer und Schwefel! Wir sind einig, Frau Gräfin. ( Er erhebt sich.)
Christian ( lacht): Teufel!
Sofie: Il est fou.
Philipp Ernst: Krieg?
Christian: Revolution, Philipp Ernst!
Philipp Ernst: Ich gehe in einen Badeort ( Zu Oels.) Man munkelt Krieg und so weiter. Hoffentlich passiert nichts, bis ich mit meiner Uhrkette – ça c'était bête. Ich gehe schlafen. Gute Nacht die Kompagnie.
Christian ( zu Wilhelm): Deutschland liegt in Ihrem Sinne tief zu Boden, armer Kerl.
Wilhelm: Noch ein Etwas, und es schwebt auf!
Christian ( zu Wilhelm): Gehen Sie jetzt. Morgen brauche ich Sie früh, da Sie nur noch achtundvierzig Stunden bleiben wollen.
Wilhelm ( Verbeugung, exit.)
Philipp Ernst und Oels ( exeunt.)
Christian ( zu Ottilie): Er nimmt es verdammt ernst – der!
Ottilie: Er darf es.
Christian: Liebst du?
Ottilie: Vielleicht, Vater. Ich glitt, mitgerissen, in eine Bahn.
Christian: Angekurbelt? Dann los ins Leben! Bist flügge, Junges. Sag adjeh dem Alten. Nun kommst du schon irgendwo an mit ihm oder ohne ihn; was macht's, da du fliegen kannst? Adjeh; adjeh!
Ottilie: Gute Nacht, schlaf gut, Vater. ( Umarmung, exit.)
Christian: Gehst du auch schon hinauf, Otto?
Otto: Ich bitte, mich zu beurlauben, Exzellenz! ( Exit.)
Christian: Ein Haupthahn, unser Otto. Immer korrekt.
Das Licht ist bis auf eine Lampe gelöscht.
Sofie: Warum ermutigst du diesen Nichtstuer in seinem platonischen Geschwätz?
Christian: Krey setzt Leben an die Sache, hat einen Auftrieb, der mir schon warm machte.
Sofie: So sieht der Mensch nicht aus, der Völker erschüttert.
Christian: Seine Gedanken zur Sache sind bedeutend. Trifft er erst völlig ins Schwarze – dem Publikum nicht allein steckt Grauen in den Knochen, die Eingeweihten schlottern vor dem Brüllen der Goldlawinen, die wir über uns angehäuft, und die jetzt mit Herabsturz drohen. Was sagst du zu einem Streik der Konsumenten?
Sofie: Aus welchen Ursachen heraus?
Christian: Aus einer sittlichen Forderung. Jeder Verbraucher sparte ein wenig, nur einen Schuhknopf, einen Nagel, ein Stück Papier ...
Sofie: Warum sollte er, da wir sie immer billiger produzieren?
Christian: Weil ihm der Dreck über denselben Leisten, den wir ihm aufhängen, endlich zum Hals heraushängt. Weil er vielleicht wieder einmal Anständiges in der Hand haben will. Weil der massenweise Verschleiß aller Lebensutensilien ihn erzogen hat, auf das einzelne nicht mehr zu achten, und er Gefühle, Urteile und sich selbst hinwirft und verbraucht wie das übrige und ihnen keine Qualität mehr geben kann. Weil ihn das endlich in tiefster Seele ekelt. Oft habe ich euch gesagt, laßt neben dem rastlosen Nachdenken, wie man von dem gleichen Artikel in derselben Zeit das Doppelte und Vielfache herstellen kann, in allen Betrieben Laboratorien darüber arbeiten, wie gleichzeitig die Materie verbessert würde.
Sofie: Man kann nicht mit zwei Prinzipien arbeiten, die einander widersprechen. Wir dringen auf Simplizität, Massen, nicht Maßgeschäft. Alles Besondere ist uns Greuel, da es aufhält.
Christian: Das sehe ich, Toren. In den Glaswerken triumphiert die Glühlampe aus schlechtem Glas, zu zehn Millionen gepreßt, und die Qualität der Mikroskope ist zum Gotterbarmen. Ich habe mich stets diesem Drang entgegengestellt.
Sofie: Solche Gedanken finde ich im Gegenteil ganz neu an dir: vielleicht schon die Früchte der Kreyschen Lehrsätze und erste Angstzustände. Wer hat Kapitalien gehäuft, monopolisiert und unablässig fusioniert? Wer hat immer neue Millionen aus der Vorstellung gestampft, die jetzt verzinst werden sollen? Womit um Gottes willen? Unsere Generation hat den Industriestaat fertig von euch übernommen und lehnt für seine Basis alle Verantwortlichkeit weit von sich ab. Jedes Rezept habt ihr uns und das Hauptbestandteil aller Rezepte übermacht: Skrupellosigkeit. Wir gründen wie ihr, weit vorsichtiger und geschäftskundiger sogar, ohne freilich irgendwie sehen zu können, wohin das alles geht.
Christian: Und ein unglücklicher Krieg?
Sofie: Man wird sehen. Ich habe keine Angst.
Christian: Nach uns Zusammenbruch! Wir sind reif. Hätte dieser Mann nur ein wenig unsere Kenntnis.
Sofie: Es ist immer nur ein wenig, was der Welt zu Erlösungen fehlt. Übrigens sind diese Sentiments an dir erstaunlich.
Christian: Ich habe sie nie ganz verloren. Was hat man Besseres in Ermangelung von Gefühlen?
Sofie: Willen.
Christian: Ist er eisern bewiesen? Klein habe ich angefangen, meine Eltern hatten drei Stuben, Magd, Kanarienvogel. Mich gedrückt habe ich anfangs, geschoben und nachgemacht; ich war Abenteurer und Snob. Schließlich angekommen, ohne Vorurteil. Mit einigen geretteten Sentiments.
Sofie: Man sollte meinen, es geht dir schlecht.
Christian: Es geht mir schlecht. Ich mache Bilanz und fühle, von menschlichen Empfindungen mehr als von eigenen besessen; möchte es diesem oder einem anderen gelingen, von Grund auf die Zustände zu erschüttern, die wir geschaffen.
Sofie: Das ist Konkurs. Wie es falliten Firmen geht – du erlaubst, ich ziehe mich für meine Person und meine Geschäfte entschieden von dir zurück.
Christian: Du hast es ganz entschieden schon getan. Was ich aber soeben anvertraut, ist verwandtschaftliches Geheimnis, mehr schon Kunde aus dem Jenseits. Aus Gründen der Repräsentanz fordere ich für mein irdisches Leben, du schenkst den Befehlen des Generalchefs unserer Häuser in Zukunft mehr Aufmerksamkeit als letzthin.
Sofie: Es ist unmöglich, vom Krankenzimmer große Entscheidungen sicher zu treffen, wie aus dem Brennpunkt der Betriebe.
Christian: Der ist immer noch hier! ( Zeigt seine Stirn.) Wo das kleinste Rad der winzigsten Maschine einst konzipiert und in Gang gesetzt wurde. Dich habe ich als meinen Buchhalter auf den Kontorstuhl gesetzt.
Sofie: Auch ich sehe heute in die letzte Verzahnung des Wirtschaftsgetriebes wie du. Mein Lehrlingsstück habe ich abgelegt.
Christian: Die Herausgabe von Aktien eines Unternehmens, das arbeitend gar nicht existiert, erst in fünf Jahren zu leben anfängt?
Sofie: Ist das ein neuer Gedanke?
Christian: Er ist albern, weil so verbrecherisch, daß ihn der Dümmste durchschaut und der Urheber bis ins Mark blamiert sein muß.
Sofie ( reicht ihm ein offenes Telegramm): Das Aktienkapital ist überzeichnet.
Christian: Einhundertfünfzig Millionen. In fünf Jahren zu vereinnahmende Zinsen vierzig Millionen Mark Gewinn. Passiva?
Sofie: Der Aufsichtsrat hat das Recht, den Aktionären eine Dividende von vier Prozent zu zahlen.
Christian ( lacht laut): Das Recht – ist wundervoll!
Sofie: Der Ausdruck ist von mir. Aber die Aktionäre kein Recht, sie zu fordern. ( Lacht.)
Christian: Die Tragik solchen Vorgangs sollte Krey für die Welt mit meinen Augen sehen können – und die Komik.
Sofie: Was haben die Nörgler unserer Systeme solchen Erfindungen entgegenzusetzen?
Christian: Nichts als ein reines Herz, wenn's hoch kommt. Es ist zum Lachen! Also gut gemacht. Die vierzig gestohlenen Millionen gefallen mir. Du bist die Kanaille, für die ich dich halte.
Sofie: Danke.
Christian: Erscheinen deine Einfälle maßvoll neben den meinen, mag's hingehen. Wie aber wagst du, meine Befehle zu kontrekarieren?
Sofie: In der Frage der betreffenden Gewehrlieferung schien mir und anderen meine Auffassung überlegen.
Christian: Was dir scheint. – ( Schreit): Wie darfst du bei Untergebenen die Überzeugung von meiner Unfehlbarkeit schwächen?
Sofie: Weil ich die Meinung von der meinen stärken muß, von der meines Gatten will ich sagen.
Christian: Dieser Wallach!
Sofie: Ich bin schwanger!
Christian: Du lügst!
Sofie: So wahr mir Gott helfe!
Christian: Eine Rasse Beeskow in meinem sauberen Nest? Das kann der Himmel als meinen Lohn nicht wollen! Den Jungen, Ottilie um ihr Erbe bestehlen und von meinem Sessel her, von meinen Gnaden Weisheit orakeln, Täubchen? Gleich sollst du sehen, wie feurig mein Wille noch dagegen arbeitet.
Sofie: Die holländische Regierung akzeptiert unsere Lieferung.
Christian: Akzeptiert sie? Haben wir den Auftrag? Heraus mit dem Bestätigungstelegramm, Püppchen! Warum zögerst du?
Sofie: Es muß jede Stunde eintreffen.
Christian: Muß es? Denn wir haben ein bengalisches Streichholz abgebrannt. Hoch Calvin, hoch die Augsburgische Konfession! Göttlich! Aber was macht plötzlich der Papa – was macht denn, Gott verdamm mich, das alte, schon abgetakelte Papachen? ( Er macht ein paar Tanzsprünge.)
Sofie: Beherrsch dich!
Christian: Daß dir die Leibesfrucht verdorre! Was macht dieses Genie, ( reißt sie an den Armen zu sich her) dieses wirkliche Genie von Maske Vater? Was erfindet die prachtvolle Kruke schließlich und schlägt die ganze Wallachei und ihr verschmitztes Plänchen platt in den Boden? ( Er dreht sich hüpfend weiter.) Hast du nicht gesehen – er –
Sofie ( ist hinausgelaufen).
Christian: Wo bist du, daß ich dich mit meinem Sieg zertrümmere! ( Er stürzt ihr taumelnd nach, hinaus.)
Wilhelm ( erscheint auf der Galerie. Über grauen Unterbeinkleidern trägt er einen alten Überzieher. Er späht über das Geländer und kommt, da er das Zimmer leer findet, nach unten. Er spricht nach oben): Ich hole nur noch meine Papiere. ( Entnimmt dem Schreibtisch ein Bündel Schriftstücke.) Das ist alles. Wie glücklich der liebe Junge ist, daß ich so eins, zwei, drei mit ihm komme. Aber wer konnte seinem Ansturm länger widerstehen? ( Er geht zur Treppe zurück, summt): Und meine Seele spannte ... Zugleich tue ich etwas für des Mädchens Phantasie. Der Unbeugsamkeit ihres sittlichen Willens ist noch nicht zu trauen; darum wird meine Flucht heute nacht sie tausendmal mehr in die Vorstellung von mir, in mein Gedächtnis zwingen. Flucht auf der Voraussetzung dessen, was durch Blicke gestanden, zwischen uns schon schwebt, muß ihr romantisch erscheinen, macht ihr mein Heldentum bis zu seiner Erfüllung plausibler als die erhabensten Ideen. ( Er ist ans Fenster getreten; sieht hinauf und hinaus.) Lebewohl! Denn ich kenne die Abgründe zwischen uns besser als du und gehe. Weil ich weiß, du mußt die gesellschaftliche Kluft zu mir erst mit unstillbarer Sehnsucht ausfüllen. Tausendmal wird dich erst noch Stolz in dich und deine Sphäre zurückschnellen, immer wieder muß erst unwiderstehliches Begehren nach dem Unbekannten, Fremden deiner Hirnrinde eingeätzte Vorstellungen besiegen. Wie du selbst nur aufs manierlichste dich bewegst, selbst in Batist und Seide gehst, aus denen du dich jetzt entkleidest – da! Ihr Schatten! Schlaf wohl Ottilie – träume! – Hast du vom Männerauftritt, Männeranzug deine eherne Meinung, und ihr Gegenteil erscheint dir unbegreiflich, qualvoll, lächerlich. ( Er hat sich dem Sofa und den Koffern Eastons genähert und stößt einen derselben mit dem Fuß hervor.) Als ob, hat man die Mittel, es Verdienst wäre, solchen Firlefanz zu tragen. Verdienst nicht, Notwendigkeit denkt sie. ( Er hat einen bunten, sehr eleganten Morgenanzug, aus einem weiten Beinkleid und einem westenähnlichen geärmelten Jackett bestehend, hochgenommen.) So entspricht's deiner Vorstellung. Das wäre auch von meinem Negligé deine Erwartung. In den kühnsten Träumen noch, selbst wo ich als hehrster Held, als reiner Tor erscheine, dieses Höschen, ( lachend hat er sich die Hose übergestreift) solche Jacke, ( er zieht sie an) so stehe ich im Spiegel deiner Einbildung. Noch das Kettchen in die Tasche, die Mütze auf und, unbeschadet innerer Eigenschaften, ist erst jetzt das korrekte Klischee des wirklichen Mannes fertig. ( Vor dem Spiegel.) Nicht, daß es übel ist ... ( Summt): Weit ihre Flügel aus ... Zur breiten Allgemeinheit ist man sofort distanziert. – Die Hemdärmel heraus, wirklich könnte man, das alles mit Kennerschaft besitzend, gerade den Kreisen frei entgegentreten, die man mit Pest und Tod bekämpft. Einen Taschentuchzipfel heraus ...
Christian ( stürzt herein): Sie läßt sich nicht finden, will mich um die letzte Wollust betrügen. Wo ist sie? Wer ist das? Hört mich, alle herbei! Beleuchtung, Rampe! ( Er schreit): Aus ist's im Haag mit dem Karfreitagszauber! ( Er packt Wilhelm.) Guter Freund, steht sie da? Halt mich aufrecht – sagte dir doch, du wirst die Glorie noch erleben. Ich reiße den Mund auf ...
Ottilie ( tritt auf im Nachtgewand und bleibt auf der Schwelle).
Christian ( auf sie zu): Da ist sie, die der stolzen Fregatte Wind aus dem Segel nehmen wollte, Sofie, die kenternde Schaluppe. Katholisch – krepiere – tot ist dein Witz, und Holland wendet sich mit Grausen. Siehst du, Doktor, den Bruch in ihrem Auge? Katholisch, allen Zeitungen telegraphieren, wurde Christian Maske A.-G. – – wurde heute katholisch! Lichtstrahl!! ( Er fällt vor der Schwelle tot zu Ottiliens Füßen.)
Ottilie ( Aufschrei): Vater!
Aus allen Türen kommen des Hauses Insassen in Nachtkostümen. Diener heben schnell den Toten aus dem Zimmer. Es entsteht durch die offene Tür ein lebhaftes Hin und Her aller zwischen dem Raum, in dem man die Leiche geborgen, und der Szene. – Ein Diener erleuchtet die Bühne. Man erkennt jetzt die modisch übertriebene Pracht der Nachtkostüme, insbesondere Philipp Ernsts und des Prinzen Oels, die wie Wilhelm eine Art Turban dazu tragen, und ihre Übereinstimmung in etwa mit dem Anzug Wilhelms. Wilhelm, scheu in eine Ecke des Proszeniums gedrückt, steht, beide Hände vor dem Gesicht, sich in sich selbst verkriechend. Alle Anwesenden drücken einander durch Händedruck und Umarmung ihr Beileid aus.
Oels ( zu Philipp Ernst): Armer Junge!
Philipp Ernst: Ein schrecklicher –
Wilhelm ( wankt auf die Treppe zu).
Philipp Ernst ( zu ihm): – furchtbarer Zwischenfall. Danke, danke! ( Reicht ihm die Hände. Mit Oels exit.)
Wilhelm ( bleibt vor der Treppe und schluchzt hoch auf).
Ottilie ( steht vor ihm).
Wilhelm ( verbirgt von neuem das Gesicht in Händen).
Ottilie: Ich bin allein. Führe du mich! ( Sie umarmt ihn.)
Friedrich ( erscheint auf der Galerie, den Hut in der Hand. Er eilt die Treppe herunter, steht dicht vor dem Paar)
Ottilie ( löst sich von Wilhelm).
Friedrich ( der jetzt erst Wilhelm erblickt, macht eine Geste des entsetzten Schreckens, und hebt dann die Hand gegen Wilhelm hoch zum Schlag).
Wilhelm ( außer sich): Höre mich erst!
Friedrich ( mißt Ottilie, mißt Wilhelms Anzug mit einem unbeschreiblichen Ausdruck, läßt die Hand sinken und macht eine große, trennende Gebärde).
Wilhelm ( hat das Haupt gesenkt und läuft fluchtartig hinaus).
Ottilie ( folgt, nachdem sie Friedrich hochmütig gemessen).
Friedrich ( setzt den Hut auf).
Ein alter Diener tritt auf.
Friedrich: Den Ausgang, bitte?
Der Diener: Durchs Vestibül – Wollen Herr Doktor nicht bis zum Morgen bleiben?
Friedrich: Nein!
Der Diener: Darf ich Pferde bestellen? Durch die Nacht ...
Friedrich: Ich finde den Weg.
Der Diener. Es ist schwarz. Ein Licht?
Friedrich: Muß sich finden! Gebe Gott – Leuchte zum großen Ziel. ( Durch die Mitteltür exit.)
Diener löscht mit einem Schlag sämtliches Licht, öffnet das Fenster. Es weht vom Winde die Gardine ins Zimmer.
Finis