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Von der heftigen Erkrankung, die sich am nächsten Morgen bemerkbar machte, kann ich mit Gleichmut reden, da es der letzte ungemischte Schmerz war, der meinen Herrn befiel. Vielleicht war sie in Wirklichkeit eine Gnade, denn welche körperlichen Schmerzen konnten den Qualen seiner Seele gleichkommen? Mrs. Henry und ich wachten an seinem Bett. Der alte Lord bat von Zeit zu Zeit um Benachrichtigung, aber überschritt im allgemeinen nicht die Schwelle. Einmal, so erinnere ich mich, als alle Hoffnung beinahe geschwunden war, trat er ans Bett, blickte eine Weile in das Antlitz seines Sohnes und wandte sich ab mit einer einzigartigen Bewegung des Kopfes, die Hand nach oben geworfen, die wie etwas Tragisches in meinem Gedächtnis geblieben ist: so viel Schmerz und so viel Verachtung der Dinge dieser Erde drückte sie aus. Aber die meiste Zeit hatten Mrs. Henry und ich das Zimmer für uns allein, indem wir uns nachts abwechselten und tags einander Gesellschaft leisteten, denn die Wachen waren sehr langweilig. Mr. Henry trug den geschorenen Kopf in einem Handtuch, warf sich ununterbrochen hin und her und schlug mit den Händen auf die Bettdecke. Seine Zunge stand niemals still, seine Stimme floß ununterbrochen wie ein Strom, so daß mein Herz ihres Klanges sehr überdrüssig war. Es war bemerkenswert und für mich unbeschreiblich qualvoll, daß er immer nur von Dingen sprach, die keinerlei Wichtigkeit besaßen: von Ankunft und Abreise, von Pferden, die er stets zu satteln befahl, weil er wohl glaubte – die arme Seele –, er könne seinem Elend entwischen; von Gärtnereiangelegenheiten, von Lachsnetzen und – was anzuhören mich besonders zornig machte – fortgesetzt von seinen Geschäften, indem er Ziffern nannte und sich mit den Pächtern herumstritt. Niemals ein Wort von seinem Vater oder seinem Weib, geschweige denn von dem Junker. Nur ein oder zwei Tage weilte sein Geist ganz in der Vergangenheit, und er glaubte sich wieder Knabe bei unschuldigen Kinderspielen mit seinem Bruder. Das war um so erregender, als es schien, der Junker schwebe in Lebensgefahr, denn er schrie auf: »Oh! Jamie ertrinkt – oh, rettet Jamie!«, was er mit großer Leidenschaft mehrmals wiederholte.
Das war, wie ich sagte, sowohl für Mrs. Henry als für mich erregend, aber im großen ganzen waren die Phantasien meines Herrn seinem Charakter nicht entsprechend. Es schien, als habe er die Absicht, die Verleumdungen seines Bruders zu rechtfertigen und zu beweisen, daß er ein Mann von trockener Natur sei, der darauf ausgehe, Geld zu machen. Wäre ich allein gewesen, hätte mich das nicht gerührt, aber immer, wenn ich lauschte, berechnete ich die Wirkung auf die Gattin des Mannes und sagte mir, daß er täglich in ihrer Achtung sinken müsse. Ich war der einzige Mensch auf Erden, der ihn verstand, und ich wollte es erzwingen, daß noch ein zweiter vorhanden war. Ob er nun sterben mußte und seine guten Eigenschaften mit ihm untergingen, oder ob er gerettet wurde und sein Gedächtnis, das Erbe seiner Qualen, wiedererlangte: ich wollte, daß er im ersten Fall von Herzen betrauert und im zweiten unumwunden willkommen geheißen wurde von dem Menschen, den er am meisten liebte, nämlich von seinem Weibe.
Da ich keine Gelegenheit zur freien Aussprache fand, entschloß ich mich endlich zu einer Art dokumentarischer Beweisführung. Ich benutzte einige Nächte, als ich keine Wache hatte und schlafen sollte, zur Vorbereitung dessen, was ich meine Abrechnung nennen möchte. Aber das war, wie ich herausfand, der leichteste Teil meiner Arbeit, und der Rest, nämlich die Überreichung an die Herrin des Hauses, ging beinahe über meine Kraft. Mehrere Tage ging ich umher, meine Papiere unter dem Arm, und suchte nach einer Wendung des Gesprächs, die mir als Überleitung dienen konnte. Ich will nicht leugnen, daß sich manchmal eine günstige Gelegenheit bot, aber dann klebte meine Zunge am Gaumen, und ich glaube, daß ich mein Paket bis auf den heutigen Tag tragen würde, wenn nicht ein glücklicher Umstand mich von meinem Zögern befreit hätte.
Es war eines Nachts, als ich wieder unverrichteter Sache und verzweifelt über meine eigene Feigheit das Zimmer verlassen wollte.
»Was tragen Sie dort mit sich herum, Mr. Mackellar?« fragte sie. »Ich sehe Sie in den letzten Tagen immer mit dem gleichen Armvoll Papiere aus und ein gehen.«
Ich wandte mich ohne ein Wort um, legte die Papiere auf den Tisch vor ihr nieder und ließ sie allein, damit sie alles läse. Was es war, davon will ich nun eine knappe Vorstellung geben, und das beste wird sein, ich schreibe den Brief ab, den ich meiner Abrechnung vorausschickte, und von dem ich nach meiner ausgezeichneten Gewohnheit den Entwurf aufbewahrt habe. Er wird auch meine Mäßigung in dieser Angelegenheit beweisen, die von manchen unverantwortlicherweise in Frage gezogen wurde.
Durrisdeer 1757
»Sehr geehrte gnädige Frau!
Ich bin gewiß, daß ich nicht ohne besondere Veranlassung die Grenzen, die meine Stellung mir vorschreibt, überschreiten würde, aber ich sehe, daß durch den unglücklichen und nie genannten Fehler der Verschwiegenheit in der vergangenen Zeit sehr viel Unglück über alle Mitglieder Ihres edlen Hauses gekommen ist. Die Schriftstücke, die ich mir erlaube, Ihrer Beachtung zu empfehlen, sind Familiendokumente und alle im höchsten Ausmaß Ihrer Aufmerksamkeit wert.
Ich füge eine Tabelle mit einigen notwendigen Anmerkungen bei und verbleibe, sehr geehrte gnädige Frau, Ihr ergebenster und gehorsamster Diener
Ephraim Mackellar.«
Verzeichnis der Schriftstücke:
*
Obgleich ich durch Nachtwachen und Seelenqualen erschöpft war, war es mir unmöglich, Schlaf zu finden. Die ganze Nacht wanderte ich in meinem Zimmer auf und ab, sann nach, was der Erfolg sein werde, und bedauerte manchmal die Verwegenheit meiner Einmischung in diese privaten Angelegenheiten. Beim ersten Morgengrauen war ich an der Tür des Krankenzimmers. Mrs. Henry hatte die Fensterläden und auch das Fenster aufgeworfen, denn die Temperatur war milde. Sie blickte unentwegt hinaus, aber es war nichts zu sehen als das Blau des Morgens, das zwischen den Bäumen herauskroch. Beim Geräusch meiner Schritte wandte sie mir nicht einmal das Gesicht zu, ein Umstand, aus dem ich viel Schlimmes schloß.
»Gnädige Frau«, begann ich, und dann wieder: »Gnädige Frau«, aber weiter gelangte ich nicht. Auch kam mir Mrs. Henry mit keinem Wort zu Hilfe. Nun begann ich die Papiere zusammenzunehmen, die auf dem Tisch verstreut lagen, und sofort bemerkte ich, daß sie zusammengeschmolzen waren. Ich überflog sie ein- und zweimal, aber nirgend war die Korrespondenz mit dem Staatssekretär, auf die ich für die Zukunft so stark gerechnet hatte, aufzufinden. Ich blickte in den Kamin: zwischen der glühenden Asche flatterten schwarze Fetzen im Luftzug, und nun verflog meine Zaghaftigkeit.
»Großer Gott, gnädige Frau!« rief ich, mit einer Stimme, die sich für ein Krankenzimmer nicht schickte, »großer Gott, gnädige Frau, was haben Sie mit den Papieren angestellt?«
»Ich habe sie verbrannt«, sagte Mrs. Henry und wandte sich um. »Es ist genug, es ist übergenug, daß Sie und ich sie gesehen haben.«
»Eine nette Arbeit, die Sie in dieser Nacht verrichtet haben!« rief ich aus. »Und alles, um den Ruf eines Mannes zu schützen, der sein Brot verzehrte, wenn er das Blut seiner Kameraden vergoß, wie ich esse, wenn ich Tinte vergieße.«
»Um den Ruf der Familie zu schützen, deren Diener Sie sind, Mr. Mackellar«, entgegnete sie, »und für die Sie stets so viel getan haben.«
»Eine Familie«, rief ich aus, »der ich nicht länger dienen will, denn man treibt mich zur Verzweiflung. Sie haben mir das Schwert aus den Händen geschlagen, Sie haben uns alle der Verteidigung beraubt. Diese Briefe hätte ich stets über seinem Haupte schütteln können, und nun – was soll jetzt geschehen? Unsere Lage ist so schief, daß wir nicht wagen dürfen, diesem Menschen die Tür zu weisen, das Land ringsum würde sich aufbäumen gegen uns! Diese einzige Waffe besaß ich gegen ihn, und nun ist sie verloren, nun kann er morgen zurückkehren, und wir müssen alle mit ihm bei Tisch sitzen, auf der Terrasse mit ihm spazierengehen, mit ihm Karten spielen und alles tun, um seine Langeweile zu zerstreuen! Nein, gnädige Frau! Gott verzeihe Ihnen, wenn er es in seinem Herzen vermag, ich kann es nicht.«
»Ich wundere mich, daß Sie so einfältig sind, Mr. Mackellar«, sagte Mrs. Henry. »Welchen Wert legt dieser Mensch auf seinen Ruf? Aber er weiß, wie hoch wir den unseren schätzen, er weiß, daß wir eher sterben würden, als diese Briefe zu veröffentlichen. Und glauben Sie, daß er sich diese Erkenntnis nicht zunutze machen würde? Was Sie Ihr Schwert nennen, Mr. Mackellar, und was zweifellos gegen jeden Mann, der einen Rest Ehrgefühl besitzt, eine Waffe gewesen wäre, würde gegen ihn nur einen Papiersäbel bedeutet haben. Er hätte Ihnen ins Gesicht gelacht bei einer solchen Drohung. Seine Würdelosigkeit ist seine Stärke, man kämpft vergeblich gegen derartige Charaktere.«
Den letzten Satz rief sie ein wenig verzweifelt aus, und dann sagte sie mit mehr Ruhe: »Nein, Mr. Mackellar, ich habe die ganze Nacht über diese Angelegenheit nachgedacht, es gibt keinen Ausweg. Schriftstücke oder keine Schriftstücke, die Tür dieses Hauses steht offen für ihn, er ist in Wahrheit der rechtmäßige Erbe. Wenn wir versuchten ihn fernzuhalten, würde sich alles gegen den armen Henry auflehnen, und ich würde von neuem zusehen müssen, wie er auf offener Straße gesteinigt wird. Ach, wenn Henry stirbt, liegen die Dinge anders. Sie haben den Besitz aus eigennützigen Absichten aufgeteilt. Das Erbe geht an meine Tochter, und ich will den sehen, der einen Fuß darauf setzt. Aber wenn Mr. Henry am Leben bleibt, mein armer Mr. Mackellar, und jener Mensch kehrt zurück, müssen wir leiden: diesmal aber alle zusammen.«
Im ganzen war ich mit der Seelenverfassung Mrs. Henrys wohl zufrieden, und ich konnte nicht leugnen, daß das, was sie über die Papiere vorzutragen hatte, in gewissem Sinne zwingend war.
»Wir wollen nicht mehr darüber reden«, sagte ich, »ich kann nur bedauern, daß ich einer Dame die Originale anvertraute, ein Verfahren, das zumindest ungeschäftsmäßig war. Was ich gesagt habe über das Aufgeben meiner Stellung in der Familie, war nur mit der Zunge geredet, Sie können sich darüber beruhigen. Ich gehöre zu Durrisdeer, Mrs. Henry, als ob ich dort geboren wäre.«
Ich muß gerecht genug sein zu bemerken, daß sie völlig beruhigt schien, so daß wir diesen Tag mit gegenseitiger Nachsicht und Hochschätzung begannen, die wir uns viele Jahre hindurch bewahrten.
An diesem Tage, der zweifellos zur Freude vorbestimmt war, bemerkten wir das erste Anzeichen der Genesung bei Mr. Henry. Ungefähr um drei Uhr nachmittags fand er die Besinnung wieder und nannte meinen Namen mit stärksten Anzeichen der Zuneigung. Mrs. Henry war ebenfalls im Zimmer und stand zu Füßen des Bettes, aber er schien sie nicht zu bemerken. Tatsächlich verschwand das Fieber, und er war so schwach, daß er nur diese eine Anstrengung machte und dann wieder in seine Lethargie zurücksank. Der Verlauf der Wiedergenesung war nun langsam, aber gleichmäßig, jeden Tag nahm der Appetit zu, jede Woche konnten wir ein Anwachsen der Kraft und des Körpergewichts feststellen, vor Ende des Monats hatte er das Bett verlassen, und man konnte ihn bereits im Liegestuhl auf die Terrasse tragen.
Ungefähr um diese Zeit waren Mrs. Henry und ich geistig am meisten bedrückt. Die Sorge um sein Leben war zu Ende, aber eine schlimmere Befürchtung machte sich nun geltend. Es war uns bewußt, daß wir uns jeden Tag der Aussprache näherten, aber die Tage flossen dahin, und nichts geschah. Mr. Henry nahm an Kräften zu, er führte mit uns lange Gespräche über alle möglichen Themen, sein Vater kam, saß bei ihm und ging wieder fort, und doch wurden die Tragödie oder die früheren Qualen, die sie heraufbeschworen hatten, nicht erwähnt. Erinnerte er sich und verbarg das furchtbare Wissen, oder war alles aus seinem Geiste ausgelöscht? Das war die Frage, die uns am Tage, wenn wir bei ihm waren, im Zustand der Beobachtung und in Furcht hielt, und uns nachts, wenn wir in unseren einsamen Betten lagen, nicht schlafen ließ. Wir wußten nicht einmal, worauf wir hoffen sollten, denn beides erschien unnatürlich und ließ auf einen verwirrten Verstand schließen. Nachdem die Befürchtung einmal aufgetaucht war, beobachtete ich seine Haltung mit emsiger Genauigkeit. Er zeigte etwas von einem Kinde: eine Heiterkeit, die seinem früheren Charakter ganz fremd war, ein Interesse, das leicht erregt wurde und dann an Dingen kleinlicher Natur zäh haftete, die er bisher verachtet hatte. Wenn er früher niedergeschlagen war, zog er nur mich ins Vertrauen, und ich kann sagen, ich war sein einziger Freund, während er mit seiner Frau in Zwiespalt lebte. Nach seiner Genesung wandelte sich alles, die Vergangenheit war vergessen, seine Frau war die Erste und sogar Einzige in seinen Gedanken. Er wandte sich an sie mit allen seinen Gefühlsäußerungen wie ein Kind an die Mutter und schien ihrer Teilnahme gewiß zu sein, er rief sie in allen seinen Nöten mit jener etwas unmutigen Vertraulichkeit, die der Gunst sicher ist, und ich muß sagen, um seiner Frau Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: sie enttäuschte ihn nie. Für sie war sein verändertes Benehmen in der Tat unaussprechlich aufregend, und ich glaube, sie empfand es heimlich wie einen Vorwurf, so daß ich sie in den ersten Tagen manchmal aus dem Zimmer fliehen sah, um sich auszuweinen. Aber mir erschien der Wechsel nicht natürlich, und während ich ihn betrachtete, begann ich mit viel Kopfschütteln zu überlegen, ob seine Vernunft vollkommen erhalten sei.
Da dieser Zweifel viele Jahre anhielt, ja bis zum Tode meines Herrn ertragen werden mußte und alle unsere Beziehungen nunmehr überschattete, darf ich wohl ein wenig länger dabei verweilen. Als er imstande war, seine Geschäfte einigermaßen wieder aufzunehmen, fand ich manche Gelegenheit, ihn genau zu prüfen. Das Verständnis und der Wille zu gebieten waren vorhanden, aber das alte zähe Interesse ganz geschwunden. Er wurde rasch müde, begann zu gähnen und behandelte Geldangelegenheiten mit einer Leichtherzigkeit, die gewiß nicht am Platze war und an Leichtsinn grenzte. Allerdings, seit wir die Ansprüche des Junkers nicht mehr zu befriedigen hatten, war es nicht mehr so notwendig, die Einschränkung zum Prinzip zu machen und um jeden Pfennig zu kämpfen. Andererseits ging diese Nachlässigkeit auch nicht allzuweit, sonst hätte ich sie nicht mitgemacht. Aber alles das wies auf einen Wandel hin, sehr geringfügig, aber doch deutlich bemerkbar. Und obgleich niemand behaupten konnte, mein Herr habe etwa seinen Verstand eingebüßt, so konnte doch auch niemand leugnen, daß er seinen Charakter verändert hatte. Dasselbe galt von seinen Gewohnheiten und seiner äußeren Erscheinung. Etwas von der Hitze eines Fiebers war in seinen Adern geblieben, seine Bewegungen waren ein wenig hastig, die Sprache bemerkenswert wortreicher, wenn auch keineswegs wirklich verwirrt. Seine ganze Seele war offen für glückliche Eindrücke, die er willkommen hieß, und aus denen er sich viel machte, aber die geringste Andeutung von Sorge und Kummer nahm er mit sichtbarer Ungeduld entgegen und streifte alles sofort erleichtert wieder ab. Dieser Gemütsverfassung verdankte er das Glück seiner späteren Lebenslage, und doch konnte man deshalb, wenn überhaupt davon die Rede sein konnte, den Mann nicht für geistig krank erklären. Ein großer Teil unseres Lebens geht dahin mit der Betrachtung der Dinge, die wir nicht ändern können, aber Mr. Henry mußte, wenn er die Sorge nicht durch Überlegungen bannen konnte, sofort und unter allen Umständen den Ursachen zu Leibe gehen, so daß er abwechselnd die Rolle eines Straußes und eines Stieres spielte. Dieser außergewöhnlichen Furcht vor dem Leiden muß ich alle jene unglückseligen und außergewöhnlichen Unternehmungen seines späteren Lebens zuschreiben. Ohne Zweifel war dies die Ursache, weshalb er McManus, den Kammerdiener, schlug, eine Handlung, die seiner früheren Art völlig widersprach und seinerzeit so viel Unwillen erregte.
Dies war auch der Grund, warum nahezu zweihundert Pfund verloren wurden, von denen ich mehr als die Hälfte hätte retten können, wenn seine Ungeduld es gestattet hätte. Aber er zog den Verlust oder eine verzweifelte Kraftanstrengung jeder andauernden geistigen Bedrückung vor.
Alles das hatte mich unsere unmittelbare Sorge beinahe vergessen lassen, ob er sich der entsetzlichen Tat erinnerte oder sie vergessen hatte, und wenn er sich erinnerte, in welchem Licht er sie sah. Die Wahrheit wurde uns plötzlich offenbar, und sie war tatsächlich eine der größten Überraschungen meines Lebens. Er war schon einige Male draußen gewesen und begann ein wenig umherzugehen, wenn man ihm den Arm reichte, als ich zufällig mit ihm auf der Terrasse einmal allein war. Er wandte sich mir mit einem eigenartig versteckten Lächeln zu, wie Schuljungen es an sich haben, wenn sie ertappt werden, und sagte leise flüsternd und ohne jede Überleitung: »Wo habt Ihr ihn begraben?«
Ich konnte kein Wort als Antwort herausbringen.
»Wo habt Ihr ihn begraben?« wiederholte er. »Ich will sein Grab sehen.«
Ich hielt es für das beste, den Stier bei den Hörnern zu packen. »Mr. Henry«, sagte ich, »ich kann Ihnen etwas mitteilen, das Sie außerordentlich erfreuen wird. Nach aller menschlichen Berechnung sind Ihre Hände rein von Blut. Ich urteile nach gewissen Anzeichen, und nach diesen scheint es sicher, daß Ihr Bruder nicht tot ist, sondern in einer Ohnmacht an Bord des Kutters getragen wurde. Heute wird er wohl völlig wieder genesen sein.«
Was in seinen Zügen lag, konnte ich nicht lesen. »James?« fragte er.
»Ihr Bruder James«, antwortete ich. »Ich möchte keine Hoffnung erwecken, die sich als Täuschung erweisen könnte, aber in meinem Herzen halte ich es für sehr wahrscheinlich, daß er lebt.«
»Ah!« sagte Mr. Henry, und plötzlich erhob er sich mit größerer Lebhaftigkeit, als er sie bisher gezeigt hatte, aus seinem Stuhl, setzte einen Finger auf meine Brust und rief mir mit einer Art heiser krächzendem Geflüster zu: »Mackellar« – das waren seine Worte –, »nichts kann diesen Menschen töten. Er ist nicht sterblich. Er sitzt mir für alle Ewigkeit im Nacken – für Gottes ganze Ewigkeit!«
Und dann setzte er sich wieder und verfiel in hartnäckiges Schweigen.
Ein oder zwei Tage später sagte er mit demselben geheimnisvollen Lächeln, und nachdem er zuvor um sich geblickt hatte, um sich zu versichern, daß wir allein waren: »Mackellar, falls Sie irgend etwas hören, lassen Sie es mich auf alle Fälle wissen. Wir müssen ihn im Auge behalten, sonst überfällt er uns, wenn wir es am wenigsten vermuten.«
»Er wird sich hier nicht wieder blicken lassen«, entgegnete ich.
»O ja, bestimmt«, sagte Mr. Henry, »wo immer ich bin, dort wird auch er sein.« Und wieder blickte er um sich.
»Sie müssen bei solchen Gedanken nicht verweilen, Mr. Henry«, sagte ich.
»Nein«, sagte er, »das ist ein sehr guter Rat. Wir wollen nie daran denken, außer wenn Sie Nachrichten erhalten. Und wir wissen ja noch nicht«, fügte er hinzu, »er kann ja tot sein.«
Die Art, wie er das sagte, überzeugte mich durchaus davon, was ich kaum zu vermuten gewagt hatte: daß er, weit entfernt, Reue über die Tat zu zeigen, nur den Fehlschlag beklagte. Es war eine Entdeckung, die ich für mich behielt, denn ich fürchtete, sie würde ihn bei seinem Weibe mißliebig machen. Aber ich hätte mir diese Sorge sparen können, sie hatte alles selbst erraten und fand das Gefühl ganz natürlich. In der Tat, ich kann nur sagen, daß wir alle drei in derselben Stimmung waren und keine Nachricht auf Durrisdeer freudiger begrüßt hatten als die vom Tode des Junkers.
Das veranlaßt mich, von der einzigen Ausnahme zu sprechen, dem alten Lord. Sobald die Sorge für meinen eigenen Herrn etwas nachließ, bemerkte ich eine Veränderung bei dem alten Edelmann, seinem Vater, die tödliche Folgen befürchten ließ.
Sein Gesicht war bleich und geschwollen. Wenn er über seinen lateinischen Büchern am Kamin saß, pflegte er plötzlich einzuschlafen, wobei die Schriften ins Feuer fielen. An manchen Tagen schleppte er einen Fuß nach, an anderen stotterte er beim Sprechen. Die Liebenswürdigkeit seines Benehmens schien aufs äußerste getrieben, er entschuldigte sich eingehend wegen der geringsten Bemühung und hatte das Wohl aller im Auge. Mir gegenüber war er von schmeichelhafter Höflichkeit. Eines Tages, als er seinen Rechtsanwalt zu sich gebeten hatte und lange Zeit allein mit ihm geblieben war, begegnete er mir, als er mit qualvollen kleinen Schritten durch die Halle ging, und nahm mich vertraulich bei der Hand. »Mr. Mackellar«, sagte er, »ich hatte oft Gelegenheit, Ihre Dienste voll zu würdigen, und heute habe ich mir die Freiheit genommen, als ich mein Testament neu aufstellte, Sie als einen meiner Testamentsvollstrecker einzusetzen. Ich glaube, daß Sie unserem Hause hinreichend Liebe entgegenbringen, um mir diesen Dienst zu erweisen.« Zu jener Zeit verbrachte er den größten Teil des Tages im Schlummer, aus dem er oft nur schwer geweckt werden konnte. Er schien alle Beziehungen zur Gegenwart verloren zu haben und rief mehrmals, besonders wenn er aufwachte, nach seiner Frau und einem alten Diener, dessen Grabstein bereits mit Moos grün bewachsen war. Unter Eid hätte ich erklären müssen, daß er unfähig war, sein Testament zu machen, und doch wurde nie ein letzter Wille sorgfältiger in jeder Einzelheit aufgesetzt und zeigte ein vorzüglicheres Urteil über Menschen und Dinge.
Seine Auflösung vollzog sich, obgleich sie nicht sehr lange Zeit in Anspruch nahm, in unendlich feinen Abstufungen. Seine Fähigkeiten nahmen ständig miteinander ab, die Kraft seines Körpers war fast ganz dahingeschwunden, er war außerordentlich taub, seine Stimme war nur noch leises Flüstern, und doch brachte er es zuwege, bis zu seinem Ende etwas von seiner früheren Liebenswürdigkeit und Freundlichkeit zu bewahren. Jedem, der ihm half, drückte er die Hand, mir schenkte er eines seiner lateinischen Bücher, in das er sorgfältig meinen Namen geschrieben hatte, und auf tausenderlei Weise wurde uns die Größe des Verlustes klar, den wir beinahe schon jetzt erlitten hatten. Kurz vor dem Ende kehrte die Klarheit der Sprache blitzähnlich zurück, es schien, als habe er die Kunst des Sprechens nur vergessen, wie ein Kind seine Aufgabe vergißt, und als erinnere er sich zeitweise an Einzelheiten. In der letzten Nacht seines Daseins brach er plötzlich das Schweigen mit diesen Worten Virgils: »Gnatique pratisque, alma, precor miserere«, die er deutlich und mit richtiger Betonung aussprach. Beim ersten klaren Laut wurden wir von unseren Beschäftigungen aufgeschreckt, aber wir wandten uns ihm vergeblich zu, er saß schweigend und allem Anscheine nach teilnahmslos da. Ein wenig später wurde er mit größeren Schwierigkeiten als je zuvor ins Bett getragen, und zu irgendeiner Zeit der Nacht entfloh sein Geist ohne jeden heftigen Todeskampf.
In viel späterer Zeit sprach ich zufällig mit einem Doktor der Medizin, einem Mann von so großem Ruf, daß ich mich scheue, seinen Namen anzuführen, über diese Besonderheiten. Nach seiner Ansicht litten Vater und Sohn beide an derselben Krankheit: der Vater durch die Last seiner unnatürlichen Sorgen, der Sohn vielleicht durch die Hitze eines Fiebers. Jedem war ein Blutgefäß im Gehirn gesprungen, und wahrscheinlich, so fügte der Arzt hinzu, liege in der Familie eine gewisse Neigung zu Anfällen dieser Art. Der Vater starb, der Sohn gewann alle Anzeichen eines gesunden Menschen wieder, aber wahrscheinlich blieben jene zarten Gewebe etwas zerstört, in denen die Seele wohnt und ihre irdischen Geschäfte verrichtet – ihre himmlischen, so möchte ich hoffen, können durch diese körperlichen Zustände nicht beeinträchtigt werden. Jedoch, wenn man es reiflich überlegt, spielt alles das keine Rolle: er, der Gericht halten wird über die Taten unseres Daseins, hat uns selbst mit unserer Zerbrechlichkeit geschaffen.
Der Tod des alten Lords war die Ursache einer neuen Überraschung für uns, die wir das Benehmen seines Nachfolgers beobachteten. Für jeden überlegenden Menschen hatten die beiden Söhne den Vater zwischen sich erschlagen, und derjenige, der zum Schwerte griff, so könnte man sagen, hatte ihn sogar mit seiner eigenen Hand erschlagen, aber den neuen Lord schien ein solcher Gedanke nicht zu beschäftigen. Er war den Umständen entsprechend ernst, aber ich könnte kaum behaupten betrübt, oder jedenfalls war sein Kummer mit einer gewissen Befriedigung gepaart. Er sprach von dem Toten mit bedauernder Heiterkeit, erzählte Beispiele seiner Charaktereigenschaften, belächelte sie mit gutem Gewissen und erfüllte am Tage der Beerdigung seine Hausherrnpflichten in korrekter Haltung. Ich konnte überdies feststellen, daß er die Nachfolge des Titels mit großer Befriedigung antrat und ihn sorgsam zur Geltung brachte.
Und nun erschien ein neuer Schauspieler auf der Bühne, der seine Rolle in dieser Geschichte auch spielt. Ich meine den gegenwärtigen Lord, Alexander, dessen Geburt am 17. Juli 1757 den Freudenkelch meines armen Herrn bis zum Rande füllte. Nichts blieb ihm damals zu wünschen übrig, noch fand er Muße, sich etwas zu wünschen. Wohl niemals gab es einen so liebevollen und hingebenden Vater wie ihn. Er war ständig unruhig, wenn sein Sohn nicht anwesend war. War der Sohn draußen, so pflegte der Vater die Wolken zu beobachten, ob es regnen könne. In der Nacht erhob er sich von seinem Lager, um den Schlummer des Kindes zu beobachten. Seine Unterhaltung wurde für Besucher sogar langweilig, weil er fast nur von seinem Sohne sprach. In allen Dingen, die den Besitz betrafen, wurde alles unter besonderem Hinblick auf Alexander geordnet. So hieß es: »Wir wollen das sofort in Angriff nehmen, damit der Wald herangewachsen ist, wenn Alexander großjährig wird.« Oder: »Das wird gerade bei Alexanders Hochzeit vorzüglich von Nutzen sein.«
Die Inanspruchnahme aller geistigen Fähigkeiten des Mannes in dieser Richtung wurde täglich deutlicher, und manche Einzelheiten waren rührend, manche auch sehr tadelnswert. Bald konnte das Kind mit ihm nach draußen gehen, zuerst auf die Terrasse, Hand in Hand mit ihm, und später in die Ländereien. Das wurde die Hauptbeschäftigung des Lords. Der Klang ihrer beiden Stimmen, weithin hörbar, weil sie laut sprachen, war in der ganzen Umgebung bekannt, und ich für meinen Teil fand sie angenehmer als den Gesang der Vögel. Schön war es, das Paar zurückkommen zu sehen, mit wilden Rosen bekränzt, der Vater ebenso sonnenverbrannt und manchmal auch ebenso schmutzig wie das Kind, denn sie teilten alle knabenhaften Vergnügungen miteinander, gruben im Sand der Bucht, bauten Dämme und trieben sonst allerlei. Ich habe einmal gesehen, wie sie mit derselben kindlichen Neugier das Vieh durch einen Zaun beobachteten.
Die Erwähnung dieser Streifzüge bringt mich auf eine eigenartige Szene, deren Zeuge ich war. Einen Spaziergang gab es, den ich selbst nie ohne Bewegtheit unternahm: so oft war ich dort mit beklagenswerten Aufträgen gegangen, so viel Leid hatte dort das Haus Durrisdeer befallen. Aber der Weg war von allen Punkten jenseits des Muckle Roß leicht zu erreichen, und alle zwei Monate wurde ich trotz meines Widerwillens veranlagt, ihn vielleicht einmal zu wählen. Es traf sich, daß ich, als Mr. Alexander sieben oder acht Jahre alt war, am Morgen jenseits des Hügels etwas zu erledigen hatte, und ich betrat das Gehölz auf dem Heimwege ungefähr um neun Uhr an diesem schönen Vormittag. Es war zu jener Zeit des Jahres, da die Bäume alle ihre Frühlingsfarben tragen, das Dorngestrüpp in Blüte steht und die Vögel am schönsten singen. Im Gegensatz zu dieser heiteren Umgebung war das Gehölz um so düsterer und ich durch die Erinnerungen, die es erweckte, um so mehr niedergeschlagen. In dieser Seelenverfassung überraschte es mich sehr unangenehm, etwas weiter vorn Laute zu hören und die Stimmen des Lords und Mr. Alexanders zu erkennen. Ich strebte vorwärts und wurde bald von ihnen bemerkt. Sie standen beisammen auf dem freien Platz, wo das Duell stattgefunden hatte, der Lord hatte die Hand auf die Schulter des Sohnes gelegt und sprach ziemlich ernst auf ihn ein. Jedenfalls glaubte ich beobachten zu können, daß seine Miene sich aufhellte, als er seinen Kopf hob und mir entgegenblickte.
»Ah!« sagte er, »dort kommt der gute Mackellar. Ich habe Sandie gerade die Geschichte dieses Ortes erzählt und von dem Manne gesprochen, den der Teufel in Versuchung führte, jemanden zu töten, und wie nahe er daran war, statt dessen den Teufel zu töten.«
Ich hielt es für sehr sonderbar, daß er das Kind zu diesem Platz führte, aber daß er die Tat selbst erwähnte, überstieg alles Maß. Jedoch das Schlimmste kam noch, denn er wandte sich an seinen Sohn und fügte hinzu: »Du kannst Mackellar fragen, er war dabei und sah es.«
»Ist das wahr, Mr. Mackellar?« fragte das Kind, »und haben Sie wirklich den Teufel gesehen?«
»Ich habe nichts von der Geschichte gehört«, erwiderte ich, »und ich habe es sehr eilig.«
Ich sagte das etwas bitter und kämpfte gegen die Verwirrung, in die ich geraten war. Und plötzlich überfiel meinen Geist der Schrecken der Vergangenheit und das Entsetzen jenes Ereignisses beim Kerzenlicht. Ich überlegte, daß dies Kind vor mir nie das Licht des Tages erblickt hätte, wenn die Parade damals sich um eine Sekunde verzögert hätte, und die Erregung, die stets in meinem Herzen zitterte, wenn ich dies dunkle Gehölz betrat, machte sich in Worten Luft. »So viel ist richtig«, rief ich aus, »daß ich den Teufel in diesem Wald antraf und ihn unterliegen sah. Dank sei Gott, daß wir mit dem Leben davonkamen, Dank sei Gott, daß in den Mauern von Durrisdeer ein Stein noch auf dem anderen ist! Und, oh! Mr. Alexander, wenn immer Sie an diesem Ort vorüberkommen, und wenn das auch nach vielen Jahren geschieht, und wenn Sie mit den fröhlichsten und höchstgestellten Persönlichkeiten des Landes kommen, ich würde beiseitetreten und ein kleines Gebet sprechen.«
Der Lord beugte ernst sein Haupt. »Ja«, sagte er, »Mackellar hat immer recht. Komm, Alexander, nimm deine Mütze ab.« Und damit entblößte er sein Haupt und streckte seine Hand aus. »O Herr«, sagte er, »ich danke dir, und mein Sohn dankt dir für deine tausendfältige Gnade. Laß uns eine Weile Frieden haben, behüte uns vor dem bösen Menschen. Wirf ihn nieder, o Herr, auf seinen lügnerischen Mund!« Der letzte Satz brach aus ihm hervor wie ein Schrei, und damit wurde er plötzlich ganz stumm, sei es nun, daß Erinnerung und Zorn seine Lippen schlossen, oder daß er begriff, wie sonderbar ein solches Gebet sei. Nach einer Weile setzte er seinen Hut wieder auf.
»Ich glaube«, sagte ich, »Sie haben etwas vergessen, mein Lord: Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern, denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.«
»Ach, das ist leicht gesagt«, erwiderte der Lord, »das ist sehr leicht gesagt, Mackellar. Aber ich und verzeihen! Ich glaube, ich würde eine sehr lächerliche Figur machen, wenn ich den Mut hätte, das vorzutäuschen.
»Das Kind, mein Lord!« sagte ich ziemlich ernst, denn ich glaubte, daß diese Redewendungen sich wenig für die Ohren eines Knaben eigneten.
»Ja, sehr wahr«, sagte er, »das sind traurige Dinge für ein Kind. Wir wollen zu unserem Nest zurückkehren.«
Ich weiß nicht mehr, ob es am selben Tage war, jedenfalls bald nachher eröffnete mir der Lord, als er mich allein fand, einiges mehr über diese Dinge.
»Mackellar«, sagte er, »ich bin jetzt ein sehr glücklicher Mensch.«
»Das glaube ich auch, mein Lord«, sagte ich, »und der Anblick macht mein Herz leicht.«
»Glück verpflichtet – glauben Sie das nicht auch?« fuhr er nachdenklich fort.
»Auch das glaube ich«, sagte ich, »und der Kummer ebenfalls. Wenn wir auf Erden nicht bemüht sind, unser Bestes zu tun, ist es für alle Teile meiner unmaßgeblichen Meinung das beste, so rasch wie möglich zu sterben.«
»Ja, aber wenn Sie in meiner Haut steckten, würden sie ihm verzeihen?« fragte der Lord.
Die Plötzlichkeit dieses Überfalls verwirrte mich ein wenig. »Es ist eine Pflicht, die uns streng auferlegt ist«, antwortete ich.
»Pah!« sagte er, »das sind Redensarten! Verzeihen Sie dem Menschen?«
»Nun – nein!« erwiderte ich. »Gott verzeih mir, ich nicht.«
»Geben Sie mir die Hand darauf!« rief der Lord mit einer Art Heiterkeit.
»Es ist ein übles Gefühl, darauf die Hand zu geben«, sagte ich, »jedenfalls für Christen. Ich will sie Ihnen lieber bei einer christlicheren Angelegenheit reichen.«
Ich sagte das ein wenig lächelnd, aber was den Lord betrifft, so verließ er das Zimmer laut lachend.
Für die sklavische Zuneigung des Lords zu dem Kind kann ich keinen angemessenen Ausdruck finden. Er verlor sich ganz an diesen Gedanken; Geschäft, Freunde und Frau waren völlig vergessen, oder er erinnerte sich ihrer nur mit einer qualvollen Anstrengung, wie einer, der mit einem Gespenst kämpft. Besonders auffällig war das in bezug auf sein Weib. Seit ich Durrisdeer kannte, war sie der ständige Gegenstand seiner Gedanken und der Magnet seiner Augen gewesen, und jetzt war sie völlig ausgeschaltet. Ich habe ihn zur Tür eines Zimmers kommen sehen, er blickte rund umher und übersah die Dame des Hauses, als ob sie ein Hund vor dem Kamin wäre. Er suchte Alexander, und die gnädige Frau wußte es wohl. Ich habe gehört, wie er so rauh zu ihr sprach, daß ich mich beinahe aufraffte, dazwischen zu treten: der Grund war immer derselbe, sie hatte aus irgendeinem Grunde mit Alexander gezankt. Ohne Zweifel war das eine Art gerechte Strafe für die Lady, ohne Zweifel hatte sich das Blatt jetzt so sehr gegen sie gewandt, daß nur die Vorsehung dahinterstehen konnte. Sie, die so viele Jahre hindurch jedem Anzeichen von Zärtlichkeit gegenüber kalt geblieben war, wurde jetzt vernachlässigt. Um so lobenswerter war es, daß sie ihre Rolle gut spielte.
Eine sonderbare Situation ergab sich: wir hatten wieder zwei Parteien im Hause, und ich stand nun auf seiten der Dame. Nicht, daß ich je die Liebe verloren hätte, die ich meinem Herrn entgegenbrachte. Aber erstens bedurfte er weniger meiner Gesellschaft, und zweitens konnte ich den Fall Mr. Alexanders nicht mit dem Miß Katharines vergleichen, für die der Lord niemals die geringste Neigung aufbrachte. Und drittens verletzte mich die veränderte Haltung, die er seinem Weibe gegenüber einnahm, was mir wie Untreue vorkam. Außerdem konnte ich ihre Standhaftigkeit und Liebenswürdigkeit nur bewundern. Vielleicht war ihr Gefühl dem Lord gegenüber, das von Anfang an ja auf Mitleid beruhte, eher das einer Mutter als das einer Frau, vielleicht auch freute es sie, wenn ich so sagen darf, ihre beiden Kinder, Vater und Sohn, so glücklich miteinander zu wissen, um so mehr, als der eine früher so viel gelitten hatte. Jedenfalls mußte sie, obgleich ich nie die geringste Spur von Eifersucht bemerkte, sich jetzt Miß Katharine, die sie früher vernachlässigte, mehr widmen, und ich meinerseits gelangte dazu, meine freien Stunden mehr und mehr mit Mutter und Tochter zu verbringen. Man könnte diesen Zwiespalt leicht zu sehr betonen, denn im großen ganzen war es ein angenehmes Familienleben, wenn man alles in Betracht zieht. Und doch war er vorhanden, aber ob der Lord es wußte, bezweifle ich. Ich glaube es nicht, er war völlig mit seinem Sohn beschäftigt, doch wir andern wußten es und litten gewissermaßen darunter.
Was uns jedoch am meisten bewegte, war die große und wachsende Gefahr für das Kind. Der Lord war ganz wie sein Vater, und es war zu befürchten, daß sein Sohn ein zweiter Junker werden würde. Die Zeit hat gelehrt, daß diese Befürchtung sehr übertrieben war. Ohne Zweifel gibt es in ganz Schottland augenblicklich keinen würdigeren Gentleman als den siebenten Lord Durrisdeer. Es ziemt mir nicht, über meinen Austritt aus seinen Diensten zu sprechen, besonders nicht in einem Schriftstück, das nur abgefaßt wurde, seinen Vater zu rechtfertigen . . .
(Anmerkung des Herausgebers: Fünf Seiten von Mr. Mackellars Manuskript sind hier ausgelassen. Beim Durchfliegen habe ich den Eindruck gewonnen, daß Mr. Mackellar im vorgerückten Alter ein ziemlich anspruchsvoller Beamter war. Gegen den siebenten Lord Durrisdeer, mit dem wir auf alle Fälle nichts zu tun haben, wird nichts Bemerkenswertes ins Treffen geführt. R. L. S.)
. . . Wir fürchteten damals, er würde in der Person seines Sohnes eine zweite Ausgabe seines Bruders heranzüchten. Die Lady hatte versucht, einige wohltuende Strenge walten zu lassen, aber sie war froh, das bald wieder aufgeben zu können, und blickte jetzt mit heimlicher Enttäuschung allem zu. Manchmal sprach sie andeutungsweise darüber zu mir, und manchmal, wenn sie Kenntnis erhielt von einer ungeheuerlichen Nachsichtigkeit des Lords, verriet sie sich durch eine Geste oder einen Ausruf. Ich selbst wurde von dem Gedanken Tag und Nacht verfolgt, nicht so sehr im Interesse des Kindes, als vielmehr in dem des Vaters. Der Mann war in Schlaf verfallen, er träumte einen Traum, und ein rauhes Erwachen mußte unweigerlich tödlich wirken. Daß er eine Enttäuschung überleben würde, war unmöglich, und ich bedeckte mein Antlitz aus Furcht vor einer Entehrung seiner Liebe.
Diese ständige Sorge peinigte mich so, daß ich schließlich den Mut fand zu widersprechen, ein Ereignis, das wert ist, genau berichtet zu werden. Eines Tages saßen der Lord und ich an einem Tisch bei einer langweiligen Geschäftsangelegenheit. Ich sagte schon, daß er das frühere Interesse an solchen Dingen verloren hatte, er war offenbar verärgert und wollte gehen, er sah mißmutig, gelangweilt und, wie mir schien, auch älter aus, als ich je zuvor festgestellt hatte. Ich glaube, sein unglückliches Gesicht veranlaßte mich plötzlich zu meinem Vorstoß.
»Mein Lord«, sagte ich, während ich den Kopf senkte und so tat, als ob ich mit meiner Beschäftigung fortführe, »oder gestatten Sie mir lieber, Sie wieder Mr. Henry anzureden, denn ich fürchte Ihren Zorn und möchte, daß Sie sich der alten Zeiten erinnerten –«
»Mein guter Mackellar«, sagte er, und zwar in einem Ton, der so liebenswürdig war, daß ich mein Vorhaben beinahe aufgegeben hätte. Aber ich erinnerte mich, daß ich zu seinem Besten sprechen wollte, und fuhr hartnäckig fort.
»Haben Sie sich jemals überlegt, was Sie tun?«
»Was ich tue?« wiederholte er, »ich habe Rätsel nie gut lösen können.«
»Was Sie mit Ihrem Sohn tun!« sagte ich.
»Nun«, rief er etwas mißtrauisch aus, »was tue ich denn mit meinem Sohn?«
»Ihr Vater war ein sehr guter Mensch«, sagte ich und wich vom direkten Wege ab, »aber glauben Sie, daß er ein weiser Vater war?«
Er schwieg eine Weile, bevor er antwortete, und dann sagte er: »Ich sage nichts gegen ihn. Ich hätte vielleicht viel Grund dazu, aber ich sage nichts.«
»Sehen Sie, das ist es«, entgegnete ich, »Grund hätten Sie also auf alle Fälle. Und doch war Ihr Vater ein guter Mann, ich habe nie einen besseren kennengelernt, bis auf den einen Punkt, und nie einen klügeren. Wo er stolperte, kann ein anderer leicht fallen. Er besaß zwei Söhne –«
Der Lord schlug plötzlich heftig auf den Tisch.
»Was soll das?« schrie er. »Sprechen Sie!«
»Gut, ich will es«, sagte ich, aber meine Stimme wurde vom Hämmern meines Herzens beinahe erstickt. »Wenn Sie fortfahren, Mr. Alexander zu verziehen, werden Sie in die Fußtapfen Ihres Vaters treten. Hüten Sie sich, mein Lord, daß Ihr Sohn, wenn er aufwächst, nicht in die des Junkers tritt!«
Ich hatte nie die Absicht gehabt, die Sache so weit zu treiben, aber im Zustand der äußersten Furcht besitzt man eine Art grausamen Mutes, den grausamsten überhaupt, und ich verbrannte meine Schiffe, als ich diese Worte sprach. Eine Antwort habe ich nicht bekommen. Als ich meinen Kopf hob, war der Lord aufgestanden, und im nächsten Augenblick schlug er heftig zu Boden. Der Anfall dauerte nicht sehr lange, er kam halbwegs zu sich, legte die Hand auf den Kopf, den ich stützte, und sagte mit gebrochener Stimme: »Ich bin krank«, und etwas später: »Helfen Sie mir.« Ich richtete ihn auf, und er hielt sich ziemlich gut, obgleich er sich am Tisch festklammerte. »Es ging mir schlecht, Mackellar«, sagte er. »Etwas zerbrach, Mackellar, oder ich selbst zerbrach, und dann verschwamm alles. Ich glaube, ich war sehr zornig. Nehmen Sie es nicht übel, Mackellar, nehmen Sie es nicht übel, guter Freund. Kein Haar auf Ihrem Haupte möchte ich krümmen. Wir haben zuviel miteinander erlebt, zwischen uns besteht ein gewisses Etwas . . . aber ich denke, Mackellar, ich will zu Mrs. Henry gehen – ich denke, ich will zu Mrs. Henry gehen«, sagte er und schritt ziemlich aufrecht aus dem Zimmer, während ich von Reue übermannt zurückblieb.
Bald darauf flog die Tür auf, die Lady stürzte mit brennenden Augen herein und rief: »Was soll das alles? Was haben Sie meinem Gemahl angetan? Werden Sie nie Ihre Stellung in diesem Hause begreifen? Werden Sie nie aufhören, sich in alle möglichen Dinge einzumischen?«
»Gnädige Frau«, sagte ich, »seit ich in diesem Hause bin, habe ich viele harte Worte entgegengenommen. Zeitweise waren sie mein tägliches Brot, und ich schluckte sie alle hinunter. Was den heutigen Tag anbetrifft, so mögen Sie mich schelten, so viel Sie wollen: nie werden Sie Worte finden, die meinen Mißgriff scharf genug kennzeichnen. Und doch meinte ich es gut.«
Ich erzählte ihr alles ohne Beschönigung, wie ich es hier beschrieben habe, und als sie mich angehört hatte, wurde sie nachdenklich, und ich konnte bemerken, daß ihre Erregung gegen mich nachließ. »Ja«, sagte sie, »Sie haben es gut gemeint, ich hatte selbst schon den Gedanken gefaßt, oder vielmehr, ich wäre beinahe derselben Versuchung unterlegen, und das läßt mich Ihnen verzeihen. Aber, guter Gott, können Sie nicht verstehen, daß er nicht mehr ertragen kann? Er kann nicht mehr ertragen!« rief sie aus. »Der Bogen ist bis zum Äußersten gespannt. Was geht uns die Zukunft an, wenn er nur ein paar gute Tage erlebt?«
»Amen«, sagte ich, »ich werde mich nicht mehr einmischen und bin glücklich genug, daß Sie meine gute Absicht anerkennen.«
»Ja«, sagte die Lady, »aber wenn ich es recht überlege, hat Ihr Mut Sie im Stich gelassen, wie ich annehme, denn was Sie gesagt haben, haben Sie sehr grausam gesagt.« Sie hielt eine Weile inne, blickte mich an, lächelte plötzlich ein wenig und sagte ein sonderbares Wort: »Wissen Sie, was Sie sind, Mr. Mackellar? Sie sind eine alte Jungfer!«
Nichts von Bedeutung ereignete sich in der Familie weiterhin, bis zur Rückkehr jenes unglückseligen Menschen, des Junkers. Aber ich muß hier einen zweiten Auszug geben aus den Memoiren des Chevalier Burke, der, an sich schon interessant, für meine Absichten aber von größter Wichtigkeit ist. Es ist der einzige Einblick in die Reisen des Junkers in Indien, und die erste Erwähnung von Secundra Daß. Eine Tatsache, so wird man feststellen, erhellt hier sehr deutlich, die uns viel Unheil und Kummer erspart hätte, wenn wir sie zwanzig Jahre früher gewußt hätten: daß Secundra Daß Englisch sprach.