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Dr. Lanyons Bericht

Am 9. Januar, heute vor vierzehn Tagen, erhielt ich mit der Abendpost einen eingeschriebenen Brief, der von der Hand meines Kollegen und alten Schulkameraden Henry Jekyll überschrieben war. Ich war sehr überrascht; denn wir pflegten nicht schriftlich miteinander zu verkehren. Ich hatte ihn erst am Abend vorher gesehen und mit ihm zusammen gespeist, und ich konnte mir nicht denken, daß etwas in unserem Verkehr die Förmlichkeit eines eingeschriebenen Briefes notwendig machen könnte. Der Inhalt des Briefes vermehrte meine Verwunderung; denn er lautete folgendermaßen:

 

»Lieber Lanyon – Du bist einer meiner ältesten Freunde, und obwohl wir vielleicht zeitweise in wissenschaftlichen Fragen verschiedener Meinung gewesen sind, kann ich mich doch nicht erinnern, daß unsere freundschaftliche Zuneigung jemals einen Bruch erlitten habe – wenigstens ist das auf meiner Seite nicht der Fall gewesen. Niemals hat es einen Tag gegeben, an dem ich nicht, wenn Du zu mir gesagt hättest: ›Jekyll, mein Leben, meine Ehre, meine Vernunft hängen von Dir ab‹ – ohne Bedenken sofort mein Vermögen oder meine linke Hand geopfert haben würde, um Dir zu helfen. Lanyon! Mein Leben, meine Ehre, meine Vernunft stehen ganz und gar in Deiner Hand; wenn Du mich heute abend im Stich läßt, bin ich verloren.

Du könntest, nach dieser Vorrede, vielleicht annehmen, daß ich vielleicht etwas Unehrenhaftes von Dir verlangen wollte. Urteile selber:

Ich bitte Dich, für heute abend alle anderen Verpflichtungen hintenanzusetzen – ja, selbst wenn Du an das Krankenbett eines Kaisers gerufen würdest! Ich bitte Dich, eine Droschke zu nehmen, wenn nicht etwa Dein eigener Wagen gerade in dieser Minute vor Deiner Tür steht, und mit diesem Briefe in der Hand auf dem nächsten Wege nach meinem Hause zu fahren. Mein Haushofmeister Poole hat seine Befehle; Du wirst ihn mit einem Schlosser auf Deine Ankunft wartend finden. Hierauf ist die Tür meines Arbeitszimmers zu erbrechen. Dann mußt Du allein hineingehen, den mit dem Buchstaben E bezeichneten Glasschrank zur linken Hand öffnen, sollte er verschlossen sein, das Schloß erbrechen, und mit dem gesamten Inhalt, wie er steht und geht, die vierte Schieblade von oben herausziehen – oder, was dasselbe ist, die dritte von unten. In meiner ungeheuren Aufregung habe ich eine Todesangst, Dir eine falsche Bezeichnung zu geben; aber selbst wenn ich mich irren sollte, kannst Du die richtige Schieblade an ihrem Inhalt erkennen: dieser besteht aus mehreren Pulvern, einer Phiole und einem Notizbuch. Diese Schieblade bitte ich Dich mit Dir nach Deiner Wohnung am Cavendish Square zu nehmen, und zwar genau so wie Du sie vorfindest.

Dies ist der erste Teil des Dienstes, den ich von Dir erbitte; jetzt zum zweiten! Wenn Du sofort nach Empfang dieses Briefes Dich aufmachst, solltest Du lange vor Mitternacht wieder zu Hause sein; aber ich will die Frist bis dahin ausdehnen – nicht nur in der Befürchtung, daß eines von jenen Hindernissen eintritt, die sich weder verhindern noch voraussehen lassen, sondern auch weil eine Stunde, zu der Deine Diener im Bett liegen, für das, was dann noch zu tun bleiben wird, vorzuziehen ist. Ich bitte Dich also, punkt zwölf Uhr nachts allein in Deinem Konsultationszimmer zu sein, eigenhändig einen Mann, der sich in meinem Namen vorstellen wird, in Dein Haus einzulassen und ihm die Schieblade zu übergeben, die Du aus meinem Arbeitszimmer mitgebracht haben wirst. Damit wirst Du Deine Aufgabe erfüllt und Dir meine vollständigste Dankbarkeit erworben haben. Fünf Minuten später wirst Du, wenn Du auf einer Erklärung bestehst, begriffen haben, daß diese Anordnungen von einer Wichtigkeit auf Leben und Tod sind, und daß die Vernachlässigung einer einzigen von ihnen, so phantastisch sie Dir auch erscheinen müssen, Dein Gewissen vielleicht mit meinem Tod oder mit dem Zusammenbruch meiner Vernunft hätte belasten können.

Obgleich ich die Zuversicht hege, daß Du diese Anrufung Deiner Freundschaft nicht als etwas Gleichgültiges behandeln willst, stockt mir der Herzschlag und zittert mir die Hand bei dem bloßen Gedanken an eine solche Möglichkeit. Stelle Dir vor, daß ich in dieser Stunde, an einem unheimlichen Ort, unter einer schwarzen Verzweiflung leide, die keine Phantasie übertreiben kann, und daß ich trotzdem gewiß weiß, daß meine Not vorüber sein wird wie eine Geschichte, wenn sie erzählt ist, sobald Du nur meine Bitte pünktlich erfüllen willst. Hilf mir, mein lieber Lanyon, und rette

Deinen Freund
H. J.

Nachschrift: Ich hatte diesen Brief bereits versiegelt, als ein neuer Schrecken meine Seele ergriff. Es ist möglich, daß der Postdienst versagt, und daß dieser Brief erst morgen früh in Deine Hände kommt. In diesem Fall, lieber Lanyon, erfülle meine Bitte im Laufe des Tages zu einer Stunde, die Dir am besten paßt, und erwarte meinen Boten ebenfalls um Mitternacht. Vielleicht ist es dann schon zu spät, und wenn diese zweite Nacht ohne die Ankunft des Boten vorübergeht, wirst Du wissen, daß Du von Henry Jekyll das Letzte gesehen hast.«

 

Als ich diesen Brief gelesen hatte, war ich überzeugt, daß mein Kollege wahnsinnig sei; aber solange mir dies nicht mit Ausschluß jeder Möglichkeit eines Zweifels bewiesen war, fühlte ich mich verpflichtet, sein Begehren zu erfüllen. Je weniger ich von diesem Unsinn verstand, desto weniger befand ich mich auch in der Lage, die Wichtigkeit des Geschreibsels zu beurteilen, und ein Aufruf, der in solchen Worten an mich erging, konnte von mir nicht unberücksichtigt gelassen werden, ohne mich einer schweren Verantwortlichkeit auszusetzen. Ich stand daher von meinem Abendessen auf, setzte mich in einen Hansom und fuhr stracks nach Jekylls Haus. Der Haushofmeister wartete bereits auf meine Ankunft; er hatte mit der gleichen Abendpostbestellung wie ich einen eingeschriebenen Brief mit den entsprechenden Vorschriften erhalten und sofort nach einem Schlosser und nach einem Tischler geschickt. Die Handwerker kamen, während wir noch miteinander sprachen, und wir gingen alle zusammen in das anatomische Amphitheater des alten Dr. Denman, durch welches man – wie Dir zweifelsohne bekannt ist – am bequemsten in Jekylls Arbeitszimmer gelangt. Die Tür war sehr stark, das Schloß ausgezeichnet; der Tischler erklärte, er würde große Mühe haben und viel Schaden anrichten müssen, wenn die Tür mit Gewalt erbrochen werden müßte, und der Schlosser war beinahe in Verzweiflung. Aber dieser letztere war ein geschickter Arbeiter, und nach zweistündiger Anstrengung war die Tür offen. Der Glasschrank mit dem Buchstaben E wurde aufgeschlossen, ich zog die Schieblade heraus, ließ sie mit Stroh ausfüllen und in ein Leintuch einwickeln und fuhr damit nach Cavendish Square zurück.

Hier machte ich mich daran, den Inhalt der Schieblade zu untersuchen. Die Pulver waren sauber genug verpackt, aber doch nicht so exakt, wie ein Apotheker von Beruf es macht; sie waren also offenbar von Jekyll selber angefertigt; und als ich eins von den Päckchen öffnete, fand ich ein Pulver, das mir ein einfaches, kristallisches Salz von weißer Farbe zu sein schien. Die Phiole, auf die ich sodann meine Aufmerksamkeit richtete, mag etwa halbvoll von einer blutroten Flüssigkeit gewesen sein, die sehr scharf und stechend roch und mir Phosphor und irgendeinen flüchtigen Äther zu enthalten schien. Welche Bestandteile sie sonst noch enthalten mochte, konnte ich nicht vermuten. Das Buch war ein gewöhnliches Schulheft und enthielt wenig mehr als eine Reihe von Datum-Eintragungen. Diese erstreckten sich über einen Zeitraum von sieben Jahren; aber ich bemerkte, daß die Eintragungen vor etwa einem Jahr ganz plötzlich aufgehört hatten. Hier und da war einem Datum eine kurze Bemerkung beigefügt, gewöhnlich nicht mehr als ein einziges Wort: »doppelt«. Dies kam vielleicht sechsmal unter mehreren hundert Eintragungen vor. Einmal, und zwar ziemlich zu Anfang der Liste, und mit mehreren Ausrufungszeichen versehen, hieß es: »vollkommen mißglückt!!!!«

Dies alles stachelte zwar meine Neugier an, aber es sagte mir wenig Bestimmtes. Hier war eine Phiole mit irgendeiner Flüssigkeit, ein Papier mit irgendeinem Salz, und die Aufzählung einer Reihe von Experimenten, die – wie nur zu viele von Jekylls Forschungen – zu einem tatsächlichen, brauchbaren Ergebnis nicht geführt hatten. Wie konnte die Anwesenheit dieser Gegenstände in meinem Hause die Ehre, die geistige Gesundheit oder das Leben meines phantasievollen Kollegen im geringsten berühren? Wenn sein Bote in mein Haus gehen konnte, warum konnte er nicht auch in ein anderes gehen? Und selbst wenn ich zugeben wollte, daß irgendein Hindernis dagegen sprechen könnte – warum mußte dieser Herr von mir im geheimen empfangen werden?

Je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr wuchs meine Überzeugung, daß ich es mit einem Fall von Gehirnkrankheit zu tun hätte; und obgleich ich meine Dienerschaft zu Bett schickte, lud ich einen alten Revolver, um mich im Notfall einigermaßen verteidigen zu können.

Kaum hatte es auf den Londoner Kirchtürmen zwölf Uhr geschlagen, da schlug der Klopfer sehr leise an meine Haustür. Ich ging selber hin und fand einen kleinen Mann, der sich gegen die Säulen des Portals drückte.

»Kommen Sie von Dr. Jekyll?« fragte ich ihn.

Er antwortete mir »ja«, wobei er sich sichtlich Zwang antat; und als ich ihn einzutreten bat, folgte er mir, nicht ohne einen forschenden Blick hinter sich in die Dunkelheit des Square zu werfen. In kurzer Entfernung näherte sich ein Schutzmann mit geöffneter Gürtellaterne, und es kam mir vor, wie wenn bei dessen Anblick mein Besucher zusammenführe und hastiger in mein Haus hineinschlüpfte.

Ich gestehe, daß diese Wahrnehmungen mich unangenehm berührten; und als ich hinter ihm her in mein hellerleuchtetes Konsultationszimmer ging, hielt ich meine Hand an meiner Waffe. Hier konnte ich ihn endlich deutlich sehen. Er war mir nie zuvor zu Gesicht gekommen – soviel war gewiß. Er war klein, wie ich bereits gesagt habe; außerdem fiel mir sein abstoßender Gesichtsausdruck auf, mehr noch eine anscheinend große Muskelstärke, die mit einer sichtlich schwachen Gesundheit verbunden war; am allermeisten aber – obgleich ich dies zuletzt erwähne – die seltsame Störung, die seine Nähe in meinen eigenen Nerven hervorrief. Es war, wie wenn eine Art Starrkrampf mich erfassen wollte, der sich durch ein auffallendes Sinken des Pulsschlages ankündigte. In jenem Augenblick erklärte ich mir diese Erscheinung durch eine Art von ideosynkratischem persönlichem Ekel und wunderte mich nur darüber, daß die Symptome sich so scharf kundgaben; seitdem aber erhielt ich Grund zu glauben, daß die Ursache viel tiefer in der Natur des Menschen lag und von edlerer Art war, als ein bloß persönlicher Haß.

Der Mann – der gleich beim ersten Anblick in mir ein Gefühl erweckt hatte, das ich nur als eine von Ekel begleitete Neugier beschreiben kann – war in einer Weise gekleidet, die einen Menschen gewöhnlicher Art lächerlich gemacht haben würde: seine Kleider waren nämlich, obgleich sie aus sehr gutem und unauffälligem Stoff bestanden, ungeheuer viel zu groß für ihn – der Hosenboden hing tief auf seine Schenkel herunter, und die Beinlinge waren aufgekrempelt, um sie von der Berührung des Bodens abzuhalten; die Weste ging bis über die Hüften herab, und der Hemdkragen saß ihm mitten auf den Schultern. Merkwürdig zu berichten: ich konnte über diesen lächerlichen Anzug durchaus nicht lachen, im Gegenteil – wie schon etwas Unnormales, Mißgeschaffenes im Wesen selbst dieser mir gegenüberstehenden Gestalt lag – etwas Packendes, Überraschendes und Empörendes – so schien dieser unpassende Anzug nur dazu zu passen; und so kam zu meinem Interesse für die Natur und den Charakter dieses Menschen noch ein neugieriger Wunsch hinzu, etwas über seine Herkunft, sein Leben und seine Stellung in der Welt zu erfahren.

Diese Beobachtungen, deren Niederschrift hier einen so großen Raum eingenommen hat, wurden indessen in wenigen Sekunden von mir gemacht. Schon deshalb, weil mein Besucher vor Aufregung glühte und mit dem Ausruf auf mich losfuhr: »Haben Sie es? Haben Sie es?«

Und seine Ungeduld war so lebhaft, daß er sogar seine Hand auf meinen Arm legte und mich zu schütteln versuchte.

Ich fühlte bei dieser Berührung einen eiskalten Schlag in meinem Blut, schob ihn von mir hinweg und sagte:

»Bitte, mein Herr, Sie vergessen, daß ich noch nicht das Vergnügen Ihrer Bekanntschaft habe. Nehmen Sie bitte Platz.«

Und ging ihm mit dem Beispiel voran und setzte mich selber auf den Stuhl, auf dem ich bei Konsultationen zu sitzen pflege. Ich versuchte dies mit derselben Miene zu tun, mit der ich meine Patienten empfange, wenn sie mich um Rat fragen. Es mag mir allerdings in dieser vorgerückten Stunde und infolge meiner Zweifel, sowie des Abscheues, den ich gegen meinen Besucher empfand, nicht ganz gelungen sein.

»Ich bitte Sie um Verzeihung, Dr. Lanyon,« antwortete er mir ganz höflich. »Was Sie da sagen, ist vollkommen berechtigt – meine Ungeduld hat meiner Höflichkeit einen Streich gespielt. Ich komme zu Ihnen auf Veranlassung Ihres Kollegen, Dr. Henry Jekyll, in einer Angelegenheit von recht großer Bedeutung, und ich war der Meinung …,« er stockte und fuhr mit der Hand an seinen Hals, und ich konnte, obwohl er sich zusammennahm, deutlich sehen, daß er gegen einen beginnenden hysterischen Anfall zu kämpfen hatte, »ich war der Meinung, eine Schieblade …«

Die Aufregung meines Besuchers tat mir leid; vielleicht veranlaßte mich auch meine immer mehr sich steigernde Neugier, ihm zu sagen:

»Da ist sie!«

Und damit deutete ich auf die Schieblade, die hinter einem Tisch auf dem Fußboden lag und wieder in das Tuch eingewickelt war.

Er sprang auf sie zu, blieb vor ihr stehen und preßte seine Hand auf das Herz; ich konnte seine Zähne wie bei einem Kinnbackenkrampf knirschen hören, und sein Gesicht war so entsetzlich anzusehen, daß ich für sein Leben und seinen Verstand zu fürchten begann.

»Fassen Sie sich,« sagte ich.

Er wandte sich mit einem fürchterlichen Lächeln zu mir um und riß dann, wie wenn ihn die Verzweiflung zu einem Entschluß triebe, das Tuch von der Schieblade hinweg. Beim Anblick des Inhalts stieß er einen lauten Seufzer so ungeheurer Erleichterung aus, daß ich wie versteinert dasaß. Und im nächsten Augenblick fragte er mich mit einer Stimme, die er schon wieder so ziemlich in seiner Gewalt hatte:

»Haben Sie ein gradiertes Glas?«

Ich stand mit einer ziemlichen Anstrengung von meinem Stuhl auf und gab ihm das Gewünschte.

Er dankte mir lächelnd mit einem Nicken, maß eine winzige Menge von der roten Tinktur ab und schüttete eines von den Pulvern dazu. Die Mischung, die anfangs eine rötliche Farbe gehabt hatte, begann, je mehr die Kristalle schmolzen, dunkler zu werden, hörbar zu brausen und kleine Rauchwolken auszustoßen. Plötzlich, und zwar gleichzeitig, hörte das Brausen auf, und die Farbe wurde dunkelpurpurrot, um sich dann, aber langsamer, in ein wässeriges Grün zu verwandeln. Mein Besucher, der diese Wandlungen mit scharfem Blick beobachtet hatte, lächelte, setzte das Glas auf den Tisch, drehte sich dann um und sah mich mit forschender Miene an.

»Und jetzt«, sagte er, »müssen wir uns noch wegen des übrigen verständigen. Wollen Sie weise sein? Wollen Sie einem guten Rat folgen? Wollen Sie mich dies Glas in meine Hand nehmen und mich aus Ihrem Hause entfernen lassen, ohne daß wir weiter über diese Sache reden? Oder ist Ihre Neugier zu stark? Überlegen Sie, bevor Sie antworten – denn es soll so geschehen, wie Sie sich entscheiden. Je nach Ihrer Entscheidung soll alles sein wie zuvor, und Sie werden weder reicher noch klüger sein, abgesehen davon, daß das Gefühl, einem Menschen in Todesnot geholfen zu haben, zu den Reichtümern der Seele gezählt werden kann. Oder, wenn Sie dies vorziehen, es wird ein neuer Bereich des Wissens, es werden neue Wege zu Ruhm und Macht Ihnen eröffnet werden – hier, in diesem Zimmer, in diesem Augenblick; und Ihre Augen sollen begnadet werden mit dem Anblick eines Wunders, das den Unglauben Satans erschüttern würde!«

»Mein Herr,« sagte ich mit einer angenommenen Kühle, die ich in Wirklichkeit keineswegs fühlte, »Sie sprechen in Rätseln und werden sich vielleicht nicht darüber wundern, daß Ihre Worte keinen sehr starken Eindruck von Glaubwürdigkeit auf mich machen. Aber ich bin mit meinen mir selber rätselhaften Diensten zu weit gegangen, als daß ich aufhören möchte, bevor ich auch das Ende gesehen habe.«

»Gut!« erwiderte mein Besucher. »Lanyon, Sie erinnern sich Ihrer Gelübde: was jetzt folgt, ist dem Siegel unserer Amtsverschwiegenheit anvertraut. Und jetzt – Sie, der Sie so lange in den engsten, materiellsten Ansichten befangen waren, Sie, der Sie die Bedeutung der transzendentalen Medizin geleugnet haben, Sie, der Sie Männer, die über Ihnen stehen, verlacht haben – sehen Sie!«

Er setzte das Glas an seine Lippen und trank es mit einem Schluck aus. Dann folgte ein Schrei; er schwankte, taumelte, griff nach dem Tisch und hielt sich an diesem fest, mit verdrehten Augen vor sich hinstarrend, mit offenem Munde keuchend – und als ich auf ihn hinsah, da kam, so schien es mir, eine Veränderung: er schien anzuschwellen, sein Antlitz wurde plötzlich schwarz, seine Gesichtszüge schienen zu schmelzen und sich zu ändern – und im nächsten Augenblick war ich auf meine Füße gesprungen und gegen die Wand zurückgetaumelt und erhob meinen Arm, um mich gegen das Ungeheuerliche zu wehren. Meine Seele ganz von Entsetzen erfüllt, schrie ich: »O Gott!« und immer wieder und wieder: »O Gott!«

Denn dort vor meinen Augen, bleich und zitternd und halb ohnmächtig und mit den Händen vor sich hintastend, wie ein Mensch, der von dem Tode auferstanden ist – stand Henry Jekyll!

Was er mir in der nächsten Stunde erzählte, kann ich mich nicht entschließen zu Papier zu bringen. Ich sah, was ich sah – ich hörte, was ich hörte – und meine Seele wurde krank davon. Und doch: jetzt, da der Anblick aus meinen Augen entschwunden ist, frage ich mich selber, ob ich es glaube – und kann darauf nicht antworten.

Mein Leben ist bis in seine Wurzeln erschüttert; kein Schlaf kommt mehr zu mir; tödlichste Angst sitzt bei mir in jeder Stunde des Tages und der Nacht; ich fühle, daß meine Tage gezählt sind und daß ich sterben muß; und doch werde ich ungläubig sterben.

An die moralische Schändlichkeit, die jener Mensch mir, wenn auch unter Tränen der Reue, enthüllte, kann ich selbst in der Erinnerung nicht denken, ohne vor Entsetzen aufzufahren. Ich will nur eins sagen, Utterson, und dies – wenn Du Dich entschließen kannst, es zu glauben – wird mehr als genug sein: Das Geschöpf, das in jener Nacht in mein Haus kroch, war nach Jekylls eigenem Geständnis bekannt unter dem Namen Hyde und wurde in jedem Winkel des Landes verfolgt als der Mörder Carews.

Hastie Lanyon.


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