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Neuntes Kapitel
Wie Northmour seine Drohung ausführte

Es würde mir sehr schwer fallen, zu erzählen, was unmittelbar nach diesem tragischen Ereignis folgte. Wenn ich in der Erinnerung auf diesen Augenblick zurückschaue, sehe ich nur verworrene und schwankende Bilder, wie ein Schläfer, den der Alp drückt.

Ich erinnere mich, daß Clara einen gebrochenen Seufzer ausstieß; sie wäre zu Boden gesunken, wenn nicht Northmour und ich ihren bewußtlosen Körper aufgefangen hätten.

Ich glaube nicht, daß wir angegriffen wurden; ich erinnere mich nicht einmal, einen Angreifer gesehen zu haben, und ich glaube, wir ließen den alten Huddlestone liegen, ohne uns auch nur nach ihm umzusehen. Ich weiß nur noch so viel, daß ich wie von einem panischen Schrecken erfaßt nur immerzu lief; bald trug ich Clara in meinen Armen allein, bald teilte ich ihre Last mit Northmour, bald versuchten wir abwechselnd der eine dem anderen die teure Gestalt zu entreißen. Weshalb wir nach meinem Lager in der Hemlock-Kuhle liefen oder wie wir es erreichten, das ist vollständig aus meinem Gedächtnis verschwunden.

Meine Erinnerung beginnt erst mit dem Augenblick, als wir Clara an der Außenseite meines kleinen Zeltes niedergelegt hatten. Northmour und ich taumelten gleichzeitig zu Boden und er schlug mit dem Kolben seines Revolvers in verhaltener Wut nach meinem Kopfe. Er hatte mich bereits zweimal verwundet, und dem Blutverlust, der dadurch entstand, möchte ich es zuschreiben, daß ich plötzlich wieder bei voller Besinnung war.

Ich packte ihn am Handgelenk und rief:

»Northmour, du kannst mich später töten, laß uns erst für Clara sorgen.«

Er lag in diesem Augenblick auf mir. Kaum waren diese Worte über meine Lippen gekommen, so war er auch schon aufgesprungen und lief auf das Zelt zu; und im nächsten Augenblick preßte er Clara an seine Brust und bedeckte Hände und Gesicht des bewußtlosen Mädchens mit langen Küssen.

»Pfui!« rief ich, »schäme dich!«

Und obgleich ich immer noch schwindlig war, schlug ich ihn mehrere Male auf den Kopf und die Schultern.

Er ließ Clara los und sah mir in dem trüben Mondlicht ins Gesicht. Dann sagte er:

»Ich hatte dich unter mir, und ich ließ dich gehen. Und jetzt schlägst du mich! Feigling!«

»Du bist der Feigling,« antwortete ich. »Wünschte sie deine Küsse, als sie noch bei Bewußtsein war? O nein! Und jetzt stirbt sie vielleicht, und du vergeudest diese kostbare Zeit durch Mißbrauch ihrer Hilflosigkeit. Tritt zur Seite und laß mich dir helfen!«

Er sah mir einen Augenblick blaß und drohend ins Gesicht; plötzlich trat er beiseite und sagte:

»So hilf ihr denn!« Ich warf mich neben ihr auf die Knie und öffnete, so gut ich es verstand, ihr Kleid und ihr Mieder; aber während ich damit beschäftigt war, packte plötzlich eine eiserne Faust meine Schulter, und Northmour rief wütend:

»Laß deine Hände von ihr! Denkst du, ich habe kein Blut in den Adern?«

»Northmour,« rief ich, »wenn du weder selber ihr helfen, noch mich ihr helfen lassen willst – dann muß ich dich töten! Verstehst du mich?«

»Das ist auch besser! Laß auch sie sterben – was liegt daran? Weg von dem Mädchen! Und komm heran!«

»Du wirst bemerken,« sagte ich, indem ich mich halb aufrichtete, »daß ich sie noch nicht geküßt habe.«

»Wage es nur!« schrie er.

Ich weiß nicht, was über mich kam; es war einer von den Augenblicken in meinem Leben, deren ich mich am tiefsten schäme, obgleich ich – wie meine Frau später oft sagte – wohl wußte, daß meine Küsse ihr stets willkommen sein würden, einerlei, ob sie lebte oder tot wäre. Ich warf mich wieder auf die Knie, strich ihr das Haar aus der Stirn und drückte in zärtlichster Ehrfurcht einen Augenblick meine Lippen auf ihre kalte Stirn. Es war ein Kuß, wie ein Vater ihn geben könnte; es war ein Kuß, wie ihn wohl ein Mann, der bald sterben sollte, einem Weibe geben durfte, das bereits tot war.

»Und jetzt,« sagte ich, »steh ich Ihnen zu Diensten, Herr Northmour.«

Aber ich sah zu meiner Überraschung, daß er mir den Rücken zugekehrt hatte.

»Hören Sie nicht?« fragte ich.

»Ja,« sagte er; »ich höre. Wenn du fechten willst – ich bin bereit. Wenn nicht, so tu was du willst und rette Clara. Mir ist alles eins.«

Ich ließ mir dies nicht zweimal sagen, sondern beugte mich wieder über Clara und bemühte mich von neuem, sie ins Leben zurückzurufen. Sie lag immer noch bleich und leblos da; ich begann zu fürchten, daß ihre liebe Seele wirklich entflohen sei, ohne Wiederkehr, und Entsetzen und völlige Trostlosigkeit packten mein Herz.

Ich rief in den zärtlichsten Tönen ihren Namen; ich streichelte und rieb ihre Hände; bald legte ich ihren Kopf tiefer, bald stützte ich ihn wieder auf meinen Schoß; aber alles schien vergeblich zu sein – schwer lagen ihre Lider über den Augen.

»Northmour,« sagte ich, »da liegt mein Hut. Um Gottes willen, bringe etwas Wasser von der Quelle.«

Fast im Nu war er mit dem Wasser an meiner Seite.

»Ich habe es in meinem eigenen gebracht,« sagte er; »du mißgönnst mir doch nicht diesen Vorzug?«

Northmour, wollte ich sagen, während ich ihr Kopf und Brust wusch; aber er unterbrach mich zornig und sagte:

»Oh, halt den Mund!« rief er. »Sage gar nichts! Das ist das Beste, was du tun kannst!«

Ich hatte sicherlich keine Lust zu sprechen; ich hatte nur Gedanken für die teuere Geliebte und ihren Zustand. Und so fuhr ich schweigend fort, mich nach Kräften zu bemühen, um sie wieder zu Bewußtsein zu bringen; und als der Hut leer war, gab ich ihn Northmour und sagte nur das eine Wort:

»Mehr!«

Er hatte mehrere Male frisches Wasser geholt, als endlich Clara ihre Augen wieder aufschlug. Da sagte er:

»Nun, da es ihr jetzt besser geht, so kannst du mich entbehren, nicht wahr? Ich wünsche Ihnen gute Nacht, Herr Cassilis!«

In demselben Augenblick war er im Dickicht verschwunden. Ich zündete ein Feuer an; denn vor den Italienern hatte ich keine Furcht mehr; sie hatten ja alle meine kleinen Habseligkeiten, die in meinem Lager waren, unangetastet gelassen.

Clara war infolge der Aufregung und der entsetzlichen Katastrophe des Abends völlig zusammengebrochen; doch gelang es mir, ich weiß selber nicht wie, durch Zureden, ermutigende Worte, Wärme und ein paar einfache Arzneimittel, die ich gerade zur Hand hatte, sie körperlich und seelisch wieder etwas zu Kräften zu bringen.

Der Tag war schon angebrochen, da hörte ich ein scharfes »Hist!« aus dem Dickicht. Ich sprang auf, aber gleich darauf hörte ich Northmour in ruhigstem Ton sagen:

»Komm mal her, Cassilis – aber allein; ich möchte dir etwas zeigen.«

Ich befragte Clara mit meinen Augen, und da ich ihre schweigende Erlaubnis erhielt, so ließ ich sie allein und kletterte aus der Kuhle heraus. In einiger Entfernung sah ich Northmour sich an einen Holunderbusch lehnen. Sobald er mich bemerkte, begann er nach dem Strande hinunterzugehen. Ich hatte ihn beinahe eingeholt, als er den Waldsaum erreichte. Da blieb er stehen und sagte:

»Sieh!«

Noch ein paar Schritte, und ich war im Freien. Das Morgenlicht lag kalt und klar über der wolkigen Umgegend. Das Dünenhaus war nur noch eine rauchgeschwärzte Ruine; das Dach war eingestürzt, desgleichen eine der Giebelwände; fern und nah waren die ganzen Dünen mit kleinen verbrannten Holzstückchen übersät. Ein dicker Qualm stieg kerzengerade in die windstille Morgenluft empor, und ein großer Haufen glühender Kohlen füllte die nackten Wände des Hauses aus, wie Kohlen in einem offenen Kamin. Dicht bei dem Inselchen lag eine Schonerjacht, und ein gut bemanntes Boot ruderte mit kräftigen Schlägen dem Strande zu.

»Der ›Red Earl‹!« rief ich. »Der ›Red Earl‹ zwölf Stunden zu spät!«

»Greife mal in deine Tasche! Bist du bewaffnet?« fragte Northmour.

Ich folgte seiner Aufforderung, und ich glaube, ich muß totenbleich geworden sein. Mein Revolver war mir fortgenommen worden.

»Du siehst, ich habe dich in meiner Gewalt,« fuhr er fort. »Ich entwaffnete dich heute nacht, während du dich um Clara bemühtest; aber heute morgen – hier! – nimm deine Pistole! Keinen Dank!« rief er, indem er abwehrend die Hand hob. »Ich liebe so was nicht; es ist das einzige, womit du mich noch ärgern könntest.«

Er schritt durch die Dünen nach dem Boot hinunter, und ich ging ein paar Schritte hinter ihm. Als wir am Dünenhaus vorüberkamen, blieb ich stehen und suchte nach der Stelle, wo Huddlestone gefallen war; aber es war keine Spur von ihm zu sehen, nicht einmal eine Blutlache.

»Der Triebsand von Graden Floe,« sagte Northmour.

Er ging weiter, bis wir den Strand erreicht hatten. Da sagte er:

»Nicht weiter, bitte! Möchtest du sie nach Schloß Graden schaffen?«

»Ich danke dir. Ich will versuchen, sie zum Pfarrer in West-Graden zu bringen.«

Der Bug des Bootes lief knirschend auf den Sand auf, und ein Matrose mit einem Tau in der Hand sprang an Land.

»Warte eine Minute, Junge!« rief Northmour; und dann sagte er mir leise ins Ohr:

»Du brauchst ihr von dem allen nichts zu sagen.«

»Im Gegenteil!« rief ich laut; »sie soll alles wissen, was ich ihr sagen kann.«

»Du verstehst mich nicht,« antwortete er mit großer Würde. »Es hat keinen Zweck, daß du es ihr sagst; sie erwartet es von mir. Leb wohl!«

Er nickte mir zu. Ich reichte ihm meine Hand; aber er sagte:

»Entschuldige mich. Ich weiß, es ist kleinlich; aber das kann ich nicht über mich bringen. Ich will keine Gefühlsduselei, mich als weißhaariger Wanderer an eurem Herde niederzulassen und so weiter. Ganz im Gegenteil, ich hoffe zu Gott, daß meine Augen weder dich noch sie jemals wiedersehen.«

»Nun, Gott behüte dich, Northmour!« sagte ich herzlich.

»O ja,« erwiderte er.

Er ging über den Strand hinunter. Der Matrose, der an Land gesprungen war, half ihm ins Boot hinein; dann schob er es ins Wasser und schwang sich selber auf den Bug hinauf. Northmour ergriff das Steuer; das Boot erhob sich auf die Wogen, und die Riemen in den Dollen klangen scharf und taktmäßig durch die Morgenluft.

Sie waren noch nicht Halbwegs zum »Red Earl« hinüber, und ich sah ihnen immer noch nach, wie sie fuhren, da stieg die Sonne aus der See herauf.


Noch ein Wort, und meine Geschichte ist fertig. Jahre nachher fiel Northmour unter Garibaldis Fahnen im Kampfe für die Befreiung Tirols.

 


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