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Am nächsten Morgen machten wir uns frühzeitig an die Arbeit. Gray und Ben Gunn kamen und gingen mit dem Boot, während die anderen den Schatz am Strande aufhäuften. Ich selbst, der ich zum Tragen nicht viel taugte, blieb während des ganzen Tages in der Höhle und packte das gemünzte Geld in Brotsäcke. Es war eine ebenso seltsame Kollektion der verschiedensten Münzen wie die in Billy Bones Kiste. Englische, französische, spanische, portugiesische Münzen, Louis, Dublonen, Doppelguieneen, Moideras und Seguineen mit den Bildern aller Könige Europas aus den letzten hundert oder hundertfünfzig Jahren. Daneben auch orientalische Stücke, die gestempelt waren mit Wappen, die aussahen wie Stücke von Spinngeweben, runde und viereckige Stücke, andere mit einem Loch in der Mitte, als ob man sie um den Hals tragen wollte. Jede nur erdenkliche Münze war vertreten in dieser Kollektion, so zahlreich wie die Herbstblätter. Rücken und Finger taten mir weh beim Sortieren.
Tagelang ging die Arbeit weiter. Am Ende eines jeden Tages hatten wir ein neues Vermögen an Bord verstaut. Am dritten Tage erstieg ich mit dem Doktor den Hügel, von wo man eine weite Aussicht hatte auf den anderen Teil der Insel. Da hörten wir plötzlich drunten einen schrillen Ton, halb Schreien, halb Singen. Nur einen Augenblick. Dann war wieder alles still.
»Gott vergebe ihnen,« sagte Doktor Livesey, »es sind die Meuterer!«
»Alle betrunken, Herr,« ließ sich hinten Silvers Stimme vernehmen.
»Betrunken oder rasend,« antwortete der Doktor grob.
»Sehr richtig, Herr,« antwortete Silver, »uns kann das ja wohl gleich bleiben.«
»Ich glaube kaum, daß Sie Anspruch auf Menschenfreundlichkeit erheben,« antwortete der Doktor mit bitterer Miene, »und so mögen Sie einigermaßen erstaunt sein, wenn ich Ihnen jetzt sage, daß ich augenblicklich ihnen mit meiner ärztlichen Kunst zu Hilfe käme, wenn ich sicher wäre, daß einer von ihnen sich im Fieberdelirium befinde.«
»Ich erlaube mir zu bemerken, daß Sie daran sehr unrecht täten,« bemerkte Silver. »Sie würden dabei nur Ihr kostbares Leben verlieren. Ich bin jetzt ganz auf Ihrer Seite und würde es sehr bedauern, wenn unsere Partei durch einen Verlust noch weiter geschwächt würde, am allerwenigsten durch Sie, der ich Ihnen so viel verdanke. Die Leute dort unten aber könnten ihr Wort nicht halten – nein, selbst dann nicht, wenn sie wollten. Und was schlimmer ist: sie könnten auch nicht glauben, daß ein anderer es halte.«
»Nein,« sagte der Doktor, »aber Sie sind der Mann, der sein Wort halten kann, das haben wir ja erfahren.«
Das war aber auch das letzte, was wir von den Piraten zu hören bekamen. Nur einmal hörten wir noch einen Gewehrschuß aus weiter Ferne. Wir hielten eine Beratung ab, und zur großen Freude Ben Gunns und mit der eifrigen Zustimmung Grays beschlossen wir, sie auf der Insel zurückzulassen. Wir überließen ihnen einen ansehnlichen Vorrat von Pulver und Blei, den größten Teil des gesalzenen Ziegenfleisches, etwas Medizin, Werkzeuge, Kleider, ein Reservesegel, zwei oder drei Faden Tau und auf Anraten des Doktors auch einen ansehnlichen Vorrat von Tabak.
Das war unsere letzte Arbeit auf der Insel. Wir nahmen Trinkwasser und setzten Segel unter denselben Farben, unter denen der Kapitän in der Palisade gekämpft hatte.
Nun stellte sich heraus, daß die drei Burschen uns seither genauer beobachtet hatten, als wir vermutet hatten. Als wir beim Passieren des Ausgangs dicht unter der Südspitze vorbeifahren mußten, sahen wir alle drei mit flehend erhobenen Händen auf der Sandbank knien. Der Anblick ging uns allen sehr zu Herzen, aber wir konnten uns nicht der Gefahr einer zweiten Meuterei aussetzen, und es wäre auch eine grausame Wohltätigkeit gewesen, wenn wir sie nur als Beute für den Galgen nach Hause gebracht hätten. Der Doktor rief sie an und sagte ihnen, wo die zurückgelassenen Vorräte lagen; aber sie riefen uns immer weiter bei Namen und flehten uns an, sie um Gottes willen nicht auf dieser Insel sterben zu lassen. Als sie aber sehen mußten, wie das Schiff sich immer weiter entfernte und bald außer Hörweite kam, sprang einer von ihnen – man konnte nicht erkennen welcher es war – auf seine Füße mit einem heißeren Aufschrei, riß sein Gewehr an die Schulter und sandte einen Schuß, der pfeifend über Silvers Kopf hinweg in das Großsegel fuhr.
Nach dieser Erfahrung hielten wir uns unter Deckung der Bordwand, und als ich wieder aufzusehen wagte, waren sie von der Sandbank verschwunden und diese selbst begann zu verschwimmen in dem Dunste der Ferne. So war das nun auch überstanden, und noch vor der Mittagsstunde versank zu meiner unaussprechlichen Freude auch der höchste Gipfel der Schatzinsel im blauen Meere.
Wir waren so knapp an Mannschaft, daß jedermann an Bord mit Hand anlegen mußte, mit Ausnahme des trotz merklicher Besserung doch immer noch ruhebedürftigen Kapitäns, der auf einer Matratze auf dem Achterdeck seine Befehle erteilte. Da wir ohne neue Mannschaft die Heimreise nicht wagen konnten, segelten wir nach dem nächsten Hafen von Spanisch-Amerika, den wir auch in recht angegriffenem Zustand erreichten, denn widrige Winde und einige kräftige Stürme hatten uns sehr zugesetzt.
Gerade vor Sonnenuntergang gingen wir vor Anker in einer schönen, landumschlossenen Bai, wo wir alsbald umringt wurden von Landbooten voller Neger, Mexikaner, Indianer, Mestizen, die Früchte und Gemüse anboten und nach zugeworfenen Münzen tauchten. Der Anblick so vieler gutgelaunter Gesichter (besonders der schwarzen), der süße Geschmack der tropischen Früchte und vor allem die Lichter, die in der Stadt aufzublitzen begannen, bildeten einen angenehmen Gegensatz zu unseren dunklen und blutigen Erlebnissen auf der Insel. Der Doktor und der Gutsherr nahmen mich mit an Land, wo wir den Abend verbrachten. Sie kamen ins Gespräch mit dem Kapitän eines englischen Kriegsschiffes, der sie mit an Bord seines Schiffes nahm, wo sie sich so gut amüsierten, daß sie erst bei Tagesanbruch wieder nach der »Hispaniola« zurückkamen.
Ben Gunn empfing sie allein an Deck und begann sogleich mit wunderlichen Umschreibungen ein Bekenntnis abzulegen. Silver war fort. Ben Gunn selbst hatte ihm vor einigen Stunden dazu verholfen, und er versicherte uns nun, daß er das nur getan hätte, um unser Leben zu retten, das sicherlich verfallen gewesen wäre, wenn jener einbeinige Seemann noch länger an Bord geblieben wäre. Aber das war noch nicht alles. Silver war nicht mit leeren Händen gegangen. Es war ihm gelungen, unbemerkt ein Loch durch die Zwischenwand zu schlagen und einen der Geldsäcke im Werte von etwa drei- oder vierhundert Guineen als Zehrgeld für seine weiteren Wanderungen zu entwenden. Wir waren froh, daß wir ihn so billig los geworden waren.
Ich will nun eine lange Geschichte kurz machen und nur noch berichten, daß wir nach einer guten Überfahrt den Hafen von Bristol gerade in dem Augenblick erreichten, als Mr. Blandly anfing ein Hilfsschiff für uns auszurüsten. Nur fünf Mann waren noch zurückgekehrt, »Rum und der Teufel, die holten den Rest«, und zwar gründlich, wenn der Fall auch nicht ganz so schlimm war wie jener, von dem es im Liede heißt:
»Nur einer von der Mannschaft rührt sich,
Die fuhr zur See mit fünfundsiebzig.«
Jeder von uns bekam seinen Anteil am Schatz, von dem er, je nach seiner Veranlagung, einen klugen oder närrischen Gebrauch machte. Kapitän Smollett ist heute pensioniert. Gray, der sein Gold wohl hütete, bekam es plötzlich mit dem Ehrgeiz zu tun und ging zur Steuermannsschule. Heute ist er erster Offizier und Anteilseigner eines schönen Vollschiffs. Außerdem ist er verheiratet und Familienvater. Ben Gunn bekam tausend Pfund, die er in drei Wochen, genauer gesagt in neunzehn Tagen, durchbrachte, denn am zwanzigsten bettelte er schon wieder vor unserer Türe. Nun sollte ihm doch noch das passieren, was er auf der Insel befürchtet hatte. Er bekam eine Stelle als Portier und lebt so heute noch als großer Liebling und zuweilen auch als Prügelknabe der Dorfjugend, vor allem auch als gesuchter Sänger im Kirchenchor an Sonn- und Feiertagen.
Von Silver habe ich nichts mehr gehört. Jener gefürchtete seefahrende Mann mit einem Bein ist endlich ganz aus meinem Leben verschwunden. Ich darf wohl annehmen, daß er seine alte Negerfrau getroffen hat und noch heute mit ihr und Kapitän Flint in Frieden lebt. Ich glaube, ich hoffe es sogar, denn seine Aussichten auf irgendwelche Bequemlichkeiten in einer anderen Welt sind nur sehr gering.
Die Silberbarren und die Waffen liegen, so viel ich weiß, noch immer da wo Flint sie einst begraben hat, und dort sollen sie auch liegen bleiben, soweit ich dabei in Frage komme. Ochsen und Gaitaue könnten mich nicht mehr zurückziehen nach jener verfluchten Insel, und es gehört zu meinen schlimmsten Träumen, wenn ich nachts die Brandung an der Küste höre oder wenn ich plötzlich aufschrecke im Bett und die scharfe Stimme des Kapitän Flint mir in den Ohren klingt: »Dukaten! Dukaten!«