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Sonnengelb leuchtete die Landstraße, die der Grenze entgegenzieht, und rosenrot ist das letzte Haus auf unserer Seite.
Auf der Landstraße steht der große, schlacksige Grenzwächter mit dem breiten schwarzen Schnauzbart.
Einsam steht er da, wie ein alter, behäbiger Wartturm, und seine Blicke streifen über die Bühne jenseits der Grenze. Zahlreiche Männer stehen, sitzen, liegen da umher und warten von morgens früh bis abends spät auf etwas ganz Geheimnisvolles.
Ach, gar zu selten haben sie die Gelegenheit, aufzuspringen, um ein Gewühl zu entfachen, für einen, der toderschrocken die Drahtgitter durchschreitet. 6
Hellblau ist das Haus, wohin, dicht umringt, der Toderschrockene geleitet wird und wo vor einem großen schwarzen Buch ein kleiner, dunkelhaariger Mann mit durchbohrenden Blicken und den Allüren eines großen Korsen sitzt.
Schwer ist es festzustellen, ob der Toderschrockene nicht Petrucci Felice, der Bombenwerfer, oder Bianci Andrea, der Fahnenflüchtige, ist.
Aber er ist es nicht.
Er tritt aus dem blauen Hause und schreitet aufatmend auf der sonnengelben Landstraße davon.
Der Grenzwächter diesseits der Grenze lächelt und betrachtet nicht ohne Wohlgefallen einen jungen Soldaten, dem die schwarzblauen Hahnenfedern über den Nacken wippen, und der gar zu gerne Felice, den Bombenwerfer, in ein sicheres Gewahrsam gebracht hätte.
Der große Grenzwächter geht langsamen Schrittes ins rosenrote Haus, und dort erzählt 7 er mir die Geschichte vom Hahne Caligula und einer Henne unbekannten Namens.
»Caligula, der Hahn, war Herr der Hühnerschar jenseits der Grenze und der schönste Hahn, den ich je gesehen habe. In vielen Farben schillerte sein Gewand schon von frühester Jugend an und wurde immer prächtiger, je älter er wurde. Schließlich wußte man gar nicht mehr, wo eine schöne Farbe anfing, um in eine noch schönere überzugehen.
Die Hühner des blauen Hauses liebten ihren schönen Hahn außerordentlich, und wenn Caligula ein ordinärer Hahn gewesen wäre, so hätte er sich mit ihrer Liebe zufrieden gegeben; denn sie waren alle groß, gesund, kräftig und legten prächtige Eier von einer ganz delikaten Färbung. Aber Caligula war kein ordinärer Hahn, und seine Hennen sagten ihm wenig oder gar nichts. Er liebte das zarte, weiße, etwas kränklich dreinblickende Hühnchen, welches in diesem Hause heimatberechtigt war.
Wie oft sah ich den stolzen, 8 buntbewimpelten Caligula seine gackernde, empörte Hennenschar verlassen und erhabenen Schrittes die Grenze passieren, um dem zarten, weißen, etwas kränklich dreinblickenden Hühnchen eine Visite zu machen.
Dann standen sich die beiden lange Zeit gegenüber, der große, stattliche Hahn und das winzig kleine Hühnchen und sahen sich liebend in die Augen.
Erst wenn die Hennen jenseits der Grenze zu laut ihrer Empörung Ausdruck gaben und immerfort schrien: der Mann gehört uns, der Mann gehört uns, dann machte plötzlich die kleine Weiße kehrt und ruderte fort, irgendwohin.
Aber Caligula folgte ihr nicht. Ein kleines Weilchen stand er noch da, dann schritt er langsam zurück in den Kreis seiner Hennen. Einen Augenblick herrschte Stille, dann stieß Caligula seinen Schnabel rechtshin und linkshin, Geflatter, Gegacker, Geplärr: einsam auf der Landstraße stand Caligula, der Hahn, 9 und schaute sehnsüchtig zu uns herüber.« »Ich glaube«, fuhr der Grenzwächter fort, »die Liebe der beiden war eine rein platonische, und die Eifersucht der jenseitigen Hennen war unberechtigt. Jedoch merkwürdig bleibt es: das weiße Huhn legte Eier von besonderer Größe und Schönheit. Damit läßt sich aber nichts beweisen und besonders einem Hahn gegenüber.«
»Damals stand jenseits der Grenze«, sagte der Grenzwächter, »ein Kollege und langweilte sich akkurat so dort, wie ich mich hier. Dann aber kam dort eines Tages noch einer, und die Langweile verdoppelte sich, bis sie sich allmählich vervielfachte und zahlreiche Männer in Uniformen und Hemden an der Grenze saßen, standen und lagen.
Für Caligula wurde es wirklich schwer, zwischen all diesen Stiefeln mit Sporen und ohne Sporen, gelben breiten und schwarzen schmalen Halbschuhen hindurch zu seiner kleinen Weißen zu gelangen. Mühsam flatterte 10 und kletterte er herüber auf unsere Seite. Aber die Liebe kennt keine Hindernisse, und selbst Verwundungen, die er eines Tages von einem bewaffneten Stiefel erhielt, bedeuteten ihm nichts. Blutend, aber stolz stand er vor seinem etwas kränklich dreinblickenden Hühnchen, kratzte ein wenig die Erde, sah ihm liebend in die Augen und eilte, nach einigem Zaudern, wieder über die Grenze zurück.
Dann aber kam der Tag, den ich nie mehr vergessen werde.
Drüben an der Grenze fuhr ein mächtiges Automobil der Firma Caromana, Drahtgitterfabrik, vor, und kräftige Arme enthoben ihm hohe Drahtgitterballen. In Eile zogen die Mannen das Drahtgitter über die Straße, und nur in der Mitte blieb eine schmale Oeffnung, gerade groß genug, daß sich ein Wagen oder ein Automobil durchzwängen konnte. Aber auch diese Oeffnung wurde durch eine Drahttüre abgeschlossen. Zwei Mann stehen Tag und Nacht daran, um sie den Passanten zu öffnen 11 und gleich wieder zu schließen. Aber sie haben nicht übermäßig zu öffnen und zu schließen.
An diesem Tage begann die Tragödie, die ich Ihnen heute erzähle.
Ich sehe noch, wie Caligula aus dem blauen Hause stürzte, um sein weißes Hühnchen zu besuchen. Er hatte noch keine Ahnung, welches Hindernis sich quer über die Straße türmte. Eilig stürmte er dahin, von dem triumphierenden Gegacker seiner gut unterrichteten Gemahlinnen begleitet. Ei, ei, um alles in der Welt hätten sie ihm nicht die betrübliche Nachricht mitgeteilt. Er sollte sich nur den Kopf anstoßen, der Schwerenöter, der es so gut haben könnte zu Hause und der sich mit fremdrassigen Hennen in der Fremde umhertrieb.
Wie rannte Caligula gegen das Drahtgitter an! Wütend stieß er mit dem Schnabel dagegen. Ja, er kletterte ein gutes Stück an dem Gitter empor; aber es war zu hoch. Er eilte ein paar Schritte zurück, nahm einen kurzen Anlauf und versuchte über das Hindernis 12 hinwegzuflattern; aber das Gitter war zu hoch. Er gebärdete sich wie toll, prustete und krähte zum Gotterbarmen; aber das Hindernis war nicht zu bewältigen.
Caligula war so erregt, daß er nicht merkte, wie er der Mittelpunkt eines Kreises von Soldaten und Beamten wurde.«
»Ja, mein lieber Caligula«, sagte der junge Alpenjäger, dem die blauschwarze Feder in den Nacken wippte, »du solltest ein besserer Patriot sein! Was gehen dich die ausländischen Hühner an? Du hast die schönsten Hennen weit und breit, und es ist eine reine Rasse. Schäme dich, Caligula!«
Aber Caligula schämte sich nicht. Er kehrte nach einiger Zeit ganz erschöpft zu seinen Gemahlinnen zurück, würdigte sie aber keines Blickes, geschweige denn einer Tat, und stand kurz nach der Futterzeit wieder am Drahtgitter.
Wie ein Panther an den Eisenstäben seines Gitters ruhelos kreuzt, so rannte auch Caligula 13 an der Grenze entlang und spähte nach einem Spalt, der ihm gestattete, über die Grenze zu kommen.
Aber sehen Sie, ganz selten wurden in diesen Tagen die Grenzpforten geöffnet, und es gelang ihm nicht, sich durchzuschlängeln. Ja, es ist für die Menschen schon nicht so einfach, glatt über die Grenzen zu kommen. Sollte es da ein Hahn leichter haben, der in manchen Beziehungen nicht ganz einwandfrei war?
Ein Panther ist ein zäher Kerl, so zäh ist ein Hahn nicht, und eines Morgens, früh im Herbst, fand man ihn tot vor dem Drahtgitter.
Es war nichts mehr an ihm, nur noch Haut und Knochen; selbst für eine Suppe war er nicht mehr verwendbar. Der Tritt eines Zollbeamten beförderte ihn in den Straßengraben. So endete Caligula, der Hahn.«
»Und was wurde aus dem weißen Hühnchen?« frug ich.
»Ja«, sagte der Zollbeamte, »das ist das 14 Merkwürdige, das beinahe Unheimliche, das ganz Große in der Geschichte.
Das kleine, weiße, unscheinbare Hühnchen hat seinen Caligula in einer beinahe infernalischen Weise gerächt. Bis in die Landeshauptstadt ist seine Rache gedrungen, und ein sehr großer Mann hat stirnrunzelnd über einem langen Dokument gebrütet. Eine ganze Stunde hat das weiße Hühnchen dem großen Mann von seiner kostbaren Zeit geraubt.
Also, ich trete eines Tages, kurz nach dem Tode des Hahnes Caligula, hinaus auf die Straße – es war früh am Morgen – und betrachtete das Drahtgitter.
Was sehe ich?
Nicht weit vom Boden entfernt hängt in den Maschen ein großes, wundervolles Ei.
Ei, ei, denke ich, das soll ein feines Frühstück werden.
Ich hatte aber nicht mit einem Kollegen von der anderen Seite gerechnet.« 15
»Lassen Sie gefälligst das Ei«, sagte er, »es befindet sich auf diesseitigem Boden.«
»Nein!« erwiderte ich, »es liegt nicht auf Ihrem Boden, sondern es schwebt in der Luft, und außerdem befindet sich die größere Hälfte auf unserem Gebiet!«
»Falsch«, tönte es aus der Ansammlung auf der anderen Seite, »das Ei hängt in einem Draht, der nachweislich unser ist.«
»Kurzum, das Ei wurde der Mittelpunkt einer langen Auseinandersetzung, die erst dieser Tage durch ein gütliches Uebereinkommen beendet wurde. Und ich glaube sogar, es ist nur ein vorläufiges Uebereinkommen. Wer weiß, was man noch alles erwarten kann.«
In diesem Augenblick kam ein dickes, weißes Huhn in das Zimmer gelaufen, genierte sich nicht im geringsten, sprang auf den Tisch und pickte eifrig einige Brotkrümel auf.
»Das ist das Huhn«, sagte der Grenzwächter, »dick und fett ist es geworden; es hat seinen Caligula vergessen, so geht's nun eben.« 16
Es war, als ob das Huhn die Worte verstanden hätte. Es richtete sich auf, sah mich an und gackerte. Und sein Gackern klang triumphierend und ironisch und endete in einem kleinen separaten Ton, der wie ein Seufzer klang.
Es sprang vom Tisch, eilte durch die offene Tür auf die Straße und der Grenze zu.
Kurz vor dem Drahtgitter stand es still und gackerte noch einmal, laut und herausfordernd. 17