Rudolph Stratz
Friede auf Erden!
Rudolph Stratz

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10.

Der Herbststurm fuhr über das verödete Land. Selten, daß die Windsbraut da und dort einen einsamen Wanderer, einen versprengten Reiter auf den regendurchweichten Pfaden und Feldern traf, dem sie den Mantel um die Ohren schlagen konnte, daß er einen grimmigen Blick zu dem graubewölkten Himmel hinaufwarf.

Es war wenig Volks mehr in der Gegend um Augsburg. Längst waren die Schweden und Franzosen gegen Osten gezogen, um nach erfochtenem Siege in die österreichischen Erblande einzufallen, und allmählich nur wagten sich jetzt wieder, von Salzburg her, die Kriegsknechte des Kaisers und des Kurfürsten in die bayerischen und schwäbischen Gefilde zurück.

Kleine Reitertrupps schwärmten ihnen voraus. Die mochten noch am ersten in den verdorbenen Dörfern Notdurft für Mann und Roß gewinnen. Und die brauchten sie. Zum Lagern im Freien war die Zeit nicht mehr angetan. In Reifnächten und Regenschauern verkündete – zum einunddreißigsten Male seit Beginn des Krieges – der Winter sein Nahen, und der Pferdehuf verhallte dumpf in dem welken Herbstlaub, das in feuchten Klumpen den Boden bedeckte.

Das war den beiden Kürassieren lieb, die einsam ihres Weges trabten. So hörte niemand, den es nichts anging, von ihrem Ritt.

Paradeiser zu Villach, der dicke Quartiermeister, hatte eine Weile in tiefen Gedanken zwischen den Pferdeohren hindurch auf den unter ihm hingleitenden Waldboden gestarrt. Jetzt wandte er sich plötzlich zu dem schwarzen Nickel, der, das Faustrohr in der Hand, neben ihm ritt.

»Und er lebt doch!« sprach er gewichtig – »ich sage dir, er lebt!«

Der schwarze Nickel zuckte die Achseln.

»Ich lasse nicht ab, ihn zu suchen!« fuhr Herr Paradeiser fort. »Kein Mensch hat ihn auf dem Schlachtfeld gefunden! Wir haben beim Widerpart anfragen lassen, und was kam für Meldung? ›Es sei den Herren herzlich leid, aber der Herr Obriste sei noch nicht in ihrer Gewalt!‹ – Kein Troßbub hat seinen Hengst gesehen – kurzum, er selbst und alles, was mit ihm war, ist wie vom Erdboden verschwunden.«

»Aber wo kann er denn geblieben sein?« knurrte der andere.

»Ich hab's schon zwei- oder dreimal erlebt,« sprach der Quartiermeister, »daß wir im einsamen Walde Menschen fanden, die da vor sich hin hausten und sich in Abscheu von uns wandten und in ihrem zerstörten Geiste nichts mehr mit der Christenheit gemein haben wollten. Das kann leichtlich einem widerfahren, der mit Wunden im Dickicht liegen gelassen ward und, wenn er wieder aufkommt, allein mit sich blieb und dem bösen Geiste – und davor will ich den Herrn Obristen bewahren!«

Der schwarze Nickel lachte. »Dem frommen Herrn kann der böse Geist nicht beikommen!«

Herr Paradeiser faltete verzweifelt die Hände.

»Hast du's denn nicht gesehen, du Tropf? Als wir am Tage vor der Zusmarshauser Schlacht den Herrn Obristen zum erstenmal suchten, siehe – da kam er angeritten auf einer schlechten Bauernstute, und das Unwesen saß hinter ihm im Sattel und verwirrte seine Vernunft, daß wir am nächsten Morgen keine Fortune wider die Königsmarckschen Reiter hatten und er selbst verloren ging –«

»Des ist das Fräulein doch nicht schuldig!«

Der Quartiermeister seufzte über so viel Verblendung. »Ein Fräulein?! Wisse – am selben Abend sah ich sie noch im Hof zur Trauben. Als ich in aller Gottesfrühe wiederkam, war sie verschwunden. Kein Mensch wußte, wie und wohin – und ward so wenig mehr gesehen wie er! Merkst du nun etwas?«

Der schwarze Nickel bekreuzigte sich. »So hat ihn der Böse geholt!«

»Das fürchte ich fast,« sprach Herr Paradeiser bekümmert. »Den wurmte das gottgefällige Treiben des Herrn Obristen, und er führte ihn listig in Versuchung –«

Der Quartiermeister brach jäh ab und es bäumten sich die beiden, mit angstvollem Zügelriß parierten Rosse, von deren Rücken ihre Reiter erbleichend und bebend auf den Waldpfad starrten.

»Gerade wie damals!« murmelte Herr Paradeiser und schlug blitzschnell ein Kreuz nach dem anderen, »das ist er selbst – nur abgemagert und mit großem Barte.«

»Der Herr Obrist selbst,« bestätigte flüsternd der Genosse, »wenn's nicht sein Geist ist!«

»Und das ist sein Pferd,« fuhr der Quartiermeister fort, »und da – siehst du: da sitzt es wieder hinter ihm im Sattel wie damals und schmeichelt ihm und weicht nicht von dem armen Herrn!«

»Das ist ein schlimmer Handel!« Der schwarze Nickel fürchtete sich und wäre am liebsten fortgeritten. Aber er bezwang sich und blieb, indes die beiden langsam auf ihrem starken Rosse den Waldpfad heraufkamen.

Herr Paradeiser räusperte sich und holte tief Atem. Auch ihm war nicht geheuer zu Mut. »Ich suche den Herrn Feldobrist von Habstein,« sprach er endlich laut und mit schwankender Stimme und sah den Fremden an, als könne der plötzlich vor seinen Augen in Dunst und Staub vergehen.

Der aber lachte!

»Der kaiserliche Feldobrist von Habstein ist tot. Den hat bei Zusmarshausen eine schwedische Musketenkugel also aus dem Sattel geworfen, daß er das Aufstehen vergaß. Wenn Ihr aber einen armen und reumütigen Sünder sucht, der sich Albinus von Habstein nennt, der ist da und freut sich, seinen alten Quartiermeister noch einmal zu treffen.«

Er reichte ihm die Hand, und Herr Paradeiser erkannte, daß er es hier mit einem Wesen von Fleisch und Blut zu tun habe. »Wo waren Ihre Gnaden?« fragte er scheu. Denn ihm ahnte nichts Gutes.

Herrn Albins Gesicht war ernst geworden.

»Ich lag im Walde,« sprach er langsam, »drei Monde lag ich in Schmerzen und Todesnot, und wenn ich aufzukommen gedachte, warf es mich von neuem nieder und zwang mich platt hin auf die Stätte, wo wir alle, ich und Ihr, einst mit Morden und Sengen wie die Unmenschen und nicht wie Christen gehaust. Und ich sah die Trümmerstellen um mich her und bereute meine Sünden und tat, von Tag zu Tag des Todes gewärtig, immer von neuem Buße, bis sich der Herr meiner erbarmte und mir das Leben ließ!«

Der Quartiermeister und sein Begleiter tauschten einen sorgenvollen Blick.

»Wenn dem so ist,« sprach Herr Paradeiser, »so wollen wir dem Himmel danken. Ihre Gnaden kehren zu guter Zeit ins Lager zurück. Zwar hier ist ringsum vom Feinde nicht viel zu spüren, aber im Böhmischen hat er Prag selbst genommen und uns überall geschlagen, und es steht so übel um unsere gute Sache wie nie zuvor!«

Der Habsteiner schaute ihn ernst und mitleidig an. »Wohl werde ich ins Lager reiten,« sprach er, »da ich wieder genesen bin und wir im Herbstwetter im Walde drinnen nicht ausdauern können. Aber lange bleibe ich nicht unter Euch! So wie ich vom neuen Generalissimus aus Eid und Pflicht entlassen bin, gehe ich davon –«

»Wohin, Herr?«

»Ins Baseler Land oder nach Bern, oder wo man sonsten ackert und säet und erntet, statt sich mit Feuer und Schwert zu erwürgen!«

Herrn Paradeisers böser Verdacht wurde schon fast zur Gewißheit. »Ich höre die Stimme des Herrn Feldobristen,« sprach er, »ich sehe sein Gesicht, wenn es auch verfallen und verwandelt ist. Aber ihn selbst finde ich nicht mehr!«

Und wieder lächelte der von Habstein.

»Ihr müßt es tragen! Ein anderer mag Euch jetzt in die Feldschlacht führen und in Mord und Streit mit Euch zu Jesus und Maria um Hilfe schreien. Ein anderer mag Euch jetzt anweisen, den Bauer zu erschlagen und seine Habe zu verwüsten. Meiner mögt Ihr nicht mehr gedenken. Wir sind geschieden für jetzt und immer!«

Nun war kein Zweifel mehr. In bitterer Betrübnis sah der alte Reiter seinen Herrn, den einst so furchtbaren Kriegshelden, an.

»Ich weiß es wohl, woher das Unglück stammt!« sprach er traurig. »Euer Kopf war geschwächt von der Wunde. Da hat ihn das Schweigen des Waldes verworren gemacht, und er ward Eurer Meister.«

»Wer denn?«

Herr Paradeiser blickte feindselig auf Ruth, die lächelnd zu ihm herabsah.

»Ich kenne das Fräulein wohl!«

Da lachte der Habsteiner.

»Höret, Paradeiser!« sprach er, »das ist gar kein Fräulein!«

Der greise Quartiermeister seufzte: »Das dünkt mir auch so, Herr, daß das kein Menschenkind ist!«

»Kein Fräulein,« fuhr Herr Albin fort, »sondern mein Eheweib, mit dem ich auf dem Schlosse meiner Väter hausen werde, wann uns endlich der Friede beschert ist.«

Die beiden Reiter erschraken heftig, denn nun sahen sie, daß es mit ihres Obristen Vernunft für immer vorbei war.

Herr Paradeiser zuckte mitleidig die Schultern: »So fanden Ihre Gnaden inmitten der Waldwildnis Kirche und Pfarrherrn zu christlicher Trauung?«

»Ich habe sie gefunden.« Der von Habstein nickte ihm heiter zu. »Wohl war das Kirchlein zerstört und war der Pfarrherr von anderem Glauben, aber unseren Bund hat er gesegnet fürs Leben, ehe wir von ihm Abschied nahmen und feierlich wieder in die Welt hinausritten!«

Der alte Reitersmann schaute auf Herrn Albin und dann auf Ruth, die sich im Sattel an ihn schmiegte. »Das ist eine arge Zeitung,« sprach er endlich, »und ist wenig Trost darin. So müssen wir uns auch fürderhin ohne den Herrn Obristen im Kampfe gegen die Feinde behelfen!«

»Das müßt Ihr,« erwiderte Herr Albin, »und tut mir herzlich leid. Macht Frieden miteinander und kämpft wider Euch selbst! So wäret Ihr gut beraten.«

Er trieb sein Pferd an, die anderen folgten ihm, und schweigend ritten sie dahin.

Weiter und weiter durch Wald und Feld. Schon dämmerte es leise um das einsame Häuflein. Da stiegen wiederum, wie an jenem Maienabend, mächtige Kirchtürme am Horizont in die Höhe. Ein Meer von spitzgiebeligen Dächern hob sich langsam vor ihren Blicken empor, von grauem, riesigem Gemäuer und Turmwerk eingedämmt. Eilfertig zogen die Herbstwolken im Sturm über des heiligen Reiches Stadt Augsburg hin, und ein dumpfes, gewaltiges Glockenläuten wandelte feierlich und endlos im Winde über das Land.

Ein Reiter des Regiments Habstein kam ihnen im Galopp entgegen.

»Eilt Euch, Herr, ins Lager zu kommen!« schrie er dem Quartiermeister schon von weitem zu.

Der Quartiermeister zügelte sein Roß. Sein geübtes Ohr unterschied ferne Kanonenschläge.

»Ist der Feind unversehens da?« fragte er erregt.

»Vom Feind ist nichts bekannt. Aber es ward strenger Befehl, nicht mehr mit Streifpartien auszugehen. So weit man hört, liegen die Armaden reglos still in ihren Lagern.«

»Ein Waffenstillstand?« murmelte der Habsteiner zweifelnd. Aber immer gewaltiger hallten der Glockenklang und Geschützdonner durch die Lüfte.

Da kam ein Bauer des Weges. Verstört und, wie es schien, auf der Flucht.

Er hielt ihn an. »Was gibt's in Augsburg?«

Der Bauer schüttelte den struppigen Kopf.

»Sie sagen, der Kommandant sei närrisch geworden! Er läßt von allen Wällen ins Blaue hinein Feuer geben und bloßes Pulver in die Stücke laden, daß er niemand verletzen kann. Auch rüsten sie im Rathaus ein großes Mahl. Die Leute, die davor stehen, sprechen: So wolle der Kommandant und seine Offiziere, um die ihnen beiwohnende Pietät zu zeigen, erst zur Kirche gehen und dann mit den Bürgern tafeln!

Ein Aufleuchten ging über des Habsteiners Gesicht. »Und darum, meinst du, ist der Kommandant närrisch?«

»Nicht nur er, Herr! Alle Menschen in Augsburg sind närrisch! Sie kommen aus den Häusern gelaufen und umarmen sich und knien auf offener Gasse nieder und haben die Augen voll Tränen. Und alle Kirchen sind voll und alle Glocken läuten.«

»Großer Gott,« murmelte der Quartiermeister, »sollte das gar –«

Er wagte das Wort nicht zu nennen. Eilig trabte er mit den Seinen dem nächsten Tore zu, um dort Gewisses zu vernehmen.

Der Feldobrist von Habstein aber sprach das Wort aus. Er schaute sich im Sattel nach Ruth um. »Weißt du, was das heißt?« sagte er, »was dort die Glocken läuten? Ich kann es mir selbst kaum denken. Aber es ist der Frieden! Es muß der Frieden sein!«

»Der Frieden!« Ruth schüttelte traurig das Haupt. »Ich weiß nicht, wie er ist' Ich hab' ihn nie gekannt und nie gesehen!«

»Wir beide werden ihn sehen!« sprach Herr Albin, während sie langsam der Stadt zuritten, »den Frieden im Odenwald, wenn unser Schloß aus Schutt und Asche wieder aufsteigt.«

Das Abenddämmern umhüllte sie. Ein Trupp Bauern kam an ihnen vorbei. Sie hoben dräuend die Fäuste zu dem einsamen Kriegsmann empor. »Nun ist es aus mit unserer Not! Nun plackt Ihr uns nicht mehr!«

»Ist Friede?« fragte Herr Albin mit bebender Stimme aus dem Sattel.

»Reitet zum Rathaus, so könnt Ihr's hören! Dort blasen alle Trompeten, und ein kaiserlicher Herold verkündet den Frieden in allen deutschen Landen –«

Sie schwanden im Dunkel. Herr Albin hielt sein Roß an und zog Ruth an sich und küßte sie auf den Mund.

»Ich bin auferstanden von den Toten, Ruth, und siehe: alles erstehet jetzt auf! Ich bin genesen von meinen Wunden, und auch das deutsche Land will genesen! Ein neuer Geist ist in mich gefahren und fahret mit diesen Glocken über das heilige Reich und heißet Friede. Wir wissen nicht, was Frieden ist, Ruth, und freuen uns doch seiner. Denn wir wissen: er wird uns segnen, nach schwerer Zeit. Wir wollen ihm dienen und er wird jeden belohnen, der ihm mit einfältigem Herzen dient: dich, mich und alles, was in deutschen Landen lebt!«

 


 


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