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Himmel über Heidelberg. Der Heiligenberg drüben vom Fuß bis zum Bismarckturm weiß von Blüten, oben grün vom jungen Laub. Lachender, kühler Aprilwind durch das offene Fenster. Er schüttet rosafarbene Pfirsichblüten über den schwarzen Spiegel des Tintenfasses, zaust die Blätter der Dissertation auf dem Schreibtisch, wirbelt das oberste durch das Zimmer ... »Der Staatssozialismus in Theorie und Praxis, Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Universität Heidelberg, vorgelegt von Werner Winterhalter, cand. philos.«.« Flieg du nur zu ... du sollst noch weit fliegen ... über die Neckarstadt hinaus ... in deutsche Lande ... Und wenn ihr noch jung seid, meine Gedanken, und Sturm und mehr noch gärender Most als klarer Wein, webt nur und wirkt und seid trotziges Leben von heute statt vermuffeltes, eingebüffeltes Wissen von gestern! Lieber eigener heißer Irrtum als die wasserdünne Weisheit der Gerechten ... Werner Winterhalter hob das Blatt wieder auf, legte es auf die andern, durchlas die letzte, noch tintenfeuchte Seite, stützte den dunklen Kopf auf die linke Hand, vom Frühling schwer ... seinen Hauch um die Wangen ... im Ohr ein Summen und Wandern: »Der Neckar rauscht ... die Sonne geht, der Wind von Wolke zu Wolke weht ... und Storch und Krähen fliegen ... juchhe – in langen Zügen« ... Sonnengeglitzer über den grauen, alten Dächern der Musenstadt ... dort drüben, ein paar hundert Schritte weit, auch am offenen Fenster eines Giebelstübchens, zwischen windbewegten Gardinen, ein blonder Mädchenkopf, das Gesicht in den Händen vergraben, über ein Buch gebeugt wie er. Er lächelte unwillkürlich über den Ernst seiner Arbeit hinweg, hob sein Taschentuch und schwenkte es, lachenden Übermut in den dunklen Augen. Drüben, über dem bläulichen Rauch der Küchenschlote, flatterte ein weißer Gruß dagegen wie ein kleines Banner der Wissenschaft. Dann wußten die beiden, der Kandidat und die Studentin, plötzlich nichts mehr voneinander, schauten angestrengt auf ihre Arbeit nieder, Werner Winterhalter hier und Eva Römer dort. Und er runzelte die Stirn und überlas mit murmelnden Lippen seinen letzten Satz: »So liegt der Unterschied zwischen uns modernen Menschen allen weniger darin, was wir tun, sondern ob wir es sagen. Wenn ich am Schalter eine Postmarke kaufe oder eine Fahrkarte löse, erkenne ich das Monopolrecht des Staates unter zwangsweiser Ausschaltung des Unternehmergewinns an, befinde mich also eigentlich schon mitten im Zukunftsstaat, der ...« Ein Schmetterling vor dem Fenster. ... Ein Zitronenfalter ... der Himmel dahinter blau ... drüben der blonde Kopf mit den eigensinnigen Schnecken am Ohr. Jetzt kann man sie deutlich sehen ... wo die kleine Römer nicht mehr beim Repetieren die Fäuste dagegen stemmt, sondern Exzerpte in ihr Heftchen kritzelt ... die glaubt immer noch alles ... denkt nicht, sondern lernt ... na ja ... unser täglich Brot gib uns heute ... der Mensch will leben. ... Vor einem das Leben ... so bunt, so weit, wie drüben, unermeßlich verschwimmend, die grüne Rheinebene. Unter einem, in enger Gasse, der Lärm der Stadt, Geschrei der Buben, Bellen der Hunde, Rädergerassel, Peitschengeknall. ... Da fahren sie drüben über die Neckarbrücke zur Mensur, in langen Wagenreihen, bunte Mützen. ... Das war ich auch einmal – zwei Jahr ist's her – vorbei, ohne Trauer. ... Was werden will, das häutet sich und wandert, sucht sich und seinen Sinn. ... Gegenüber wieder die zitterige Geige, dünn wie die herbe, zarte Vorfrühlingsluft ... der lange Theologe vom »Wingolf« spielt sie, mit andächtigem Augenaufschlag unter der Brille, spielt »Die Lore am Tore«. Alter Sohn, wie kommst denn du auf Liebeslieder? Setz dich lieber über dein Altes Testament, wie ich über List und Rodbertus und ... ja, wo war man denn stehengeblieben? ... »Im Zukunftsstaat, der ...« Nur nicht immer an den blonden Kopf dort drüben denken! Die Eva, die ist so recht wie der April da vor den Fenstern, auch noch so herb, erster Frühling mit verschlossenen Knospen. ... Und auch so launisch wie der April, störrisch, eigensinnig, schaut doch überhaupt nicht mehr von ihrem Schmöker auf, obwohl sie genau weiß, daß man hier ... Meinetwegen! Tun wir's auch! Wie du willst! ... Die Wissenschaft benimmt sich weit manierlicher, die läuft einem nie davon, steht still wie ein Packesel, läßt sich viel aufladen ...
»Aber auch rein politisch schreitet die Entwicklung des letzten Jahrhunderts unaufhaltsam auf der Linie des Staatsgedankens fort. Die allgemeine Wehrpflicht, das allgemeine Wahlrecht sind Pol und Gegenpol neuen bürgerlichen Lebens, das« ...
Im Nebenraum war ein leichtes Geräusch. Werner Winterhalter sah von seiner Arbeit auf und durch das mit Eichenmöbeln aus dem schweren Reichtum des Elternhauses ausgestattete Gemach und dachte sich: Da schreibe ich von der Gleichberechtigung aller Menschen. Und dicht dabei im Schlafzimmer hantiert mein Diener. So bin ich. ... So sind wir alle ... der Sozialismus in Theorie und Praxis. ... Und morgen das Doktorexamen. Und dann steh ich am Scheideweg, ob man mich nach meinen Worten oder nach meinen Werken richten soll. »Karl, was trampeln Sie denn da auf einmal herum? Ich hab Ihnen doch befohlen, mich nicht zu stören!«
»Einer von den Herren Professoren ist draußen, Herr Winterhalter!«
»Donnerwetter!«
Werner Winterhalter sprang vom Schreibtisch auf. Da stand der Professor schon auf der Schwelle, den Schlapphut in der Hand, im blonden Vollbart, noch jung, trotz seiner Ordinariuswürde, kaum ein Dutzend Jahre dem Kandidaten voraus, seinen Studenten, eher ein älterer Kamerad. Burschikos und unbefangen.
»Na, Sie Prüfling ... Wie ist Ihnen denn nun so zumute vor morgen? Warten Sie nur, wenn ich Sie erst zwacke! Wie? Sie haben kein Kanonenfieber? Brauchen Sie auch nicht! Wir kennen Sie doch aus den Seminaren ... Eine Zigarre soll ich nehmen? Na, bei Ihnen wird's ja wohl ein rauchbares Kraut geben. Sie ... Sie junger Krösus ...« Er nahm Platz und schaute sich, die Havanna zwischen den Lippen, in dem reich ausgestatteten Raum um. »Aus dieser Umgebung saugen Sie wohl die umstürzlerischen Gedanken, mit denen Sie unsere ehrwürdige Ruperto-Carola ängstigen? Haben Ihnen in letzter Zeit nicht die Ohren geklungen, mein Lieber? Wegen Ihnen sind in der Fakultät die Geister aufeinandergeplatzt, daß ... na, ich will nicht aus der Schule schwatzen ...«
Er beugte sich vor und wurde plötzlich ernst.
»Also hören Sie mal: Ich beglückwünsche Sie zu Ihrer Dissertation, obwohl ich Sie ja nicht in Nationalökonomie, sondern in einem Nebenfach prüfe! Aber mit einem Tropfen sozialen Öls sind wir ja heutzutage alle gesalbt ... bei Ihnen ist's schon mehr ein Kübel! Ein paar von den älteren Herren der Fakultät waren geradezu entsetzt ...«
Werner Winterhalter lachte.
»Ich hab davon gehört, Herr Professor!«
»Na ... wir haben gesagt: Lassen wir das Enfant terrible! Barrikaden wird er nicht gleich auf der Hauptstraße bauen! Und wenn er ein bißchen zu lebhaft die rote Fahne schwenkt, es braucht ja nicht jeder gleich der Ochse zu sein, der darauf losgeht ... Mir zehnmal lieber als der herkömmliche Musterknabe mit dem kurzen Gedärm! Sie haben den Mut, die großen Fragen der Zeit wirklich zu durchleben ... in sich zu brechen, lieber Winterhalter ... Unterschreiben will ich ja Ihre polizeiwidrigen Seitensprünge nicht alle als offizieller Mensch in Amt und Würden! Aber ich hab mich in diesem Fall – mehr noch als sonst – gegen jeden akademischen Maulkorb ausgesprochen!«
Der Professor brach ab und rauchte. Werner Winterhalter saß ihm lächelnd gegenüber. Vogelhuschen vor dem Fenster ... Herrgott ... waren denn wirklich schon die Schwalben da? Kein Wunder bei d e m Frühling ... dem tiefen Blau über Heidelberg ... der goldenen Sonne ... dem blonden Kopf da drüben ... dem wehmütigen Geigenspiel des Wingölfle oben aus der Dachkammer:
»Von all den Mädchen so blink und so blank
Gefällt mir am besten die Lore ...«
Der frische Frühlingswind, der die dünnen Töne über die alten Dächer trägt, den zarten Scheitel drüben zaust: Studier nicht so viel ... Das Leben lacht! ... Das Leben liegt vor uns ... Das Leben ist weit ... Herrgott ja: da vor einem sitzt ja der Professor! Man muß aus seiner verliebten Verträumtheit zu sich kommen, wenn der da drüben auch gar nichts ahnt, sondern kopfschüttelnd den silbergrauen Aschenturm seiner Havanna betrachtet.
»So 'ne Zigarre ist an sich eigentlich schon ein Bestechungsversuch, Verehrtester! ... Ja, ja, wer so vorsichtig in der Wahl seiner Herren Eltern war wie Sie ... denn ein Privatdozent ohne Geld ... Sie wollen doch jedenfalls Privatdozent werden?«
»Ich weiß nicht, Herr Professor, ob ich je die rechte Ruhe zur Wissenschaft besitzen werde!«
»Die Wissenschaft kann schon einen Puff vertragen, mein Lieber!«
Der junge Hochschullehrer lachte und stand auf. Werner Winterhalter mit ihm.
»Das Denken ist ja sehr schön, Herr Professor! Aber ich denk immer an den Faust: Im Anfang war die Tat!«
»Was denn für eine?«
»Etwas, wodurch man sich frei macht. Ich hab immer das niederträchtige Gefühl: es geht mir zu gut! Unverdientermaßen! Das muß ich abarbeiten! Irgendwie!«
»Na ... da wollen wir Sie mal vor allem morgen erst ordentlich in die Zwickmühle nehmen! Adieu!«
Werner Winterhalter hatte seinen Besucher bis an die Treppe gebracht. Die Stubentür flog ihm fast aus der Hand, als er zurückkam, so fegte der Frühlingswind durch das Zimmer. Er stellte sich mit heißen Wangen ans Fenster, schaute hinaus, im Durcheinander der Gedanken ... Morgen mittag um zwölf in Frack und weißer Binde ... pah ... den Kopf rissen sie einem nicht ab, der Dekan und das gelehrte Kleeblatt am Museumsplatz. Nach zwei Stunden gab's ein Händegeschüttel und aus, und vor einem steht's tausendtönig, tausendfältig rufen die Dinge, lockt das Leben ... wo fass' ich dich? Wo ist mein Platz? Wo bewähre ich meine junge Kraft? Die Erde ist so groß ... der Himmel blau ... schwere, weiße Frühlingswolken fliegen wie wilde Schwäne im Sturm an ihm dahin, die rostigen Wetterfahnen knarren auf den Dächern ... ein dummes Sehnen und Singen wandert mit dem Wind. Der Theologe da oben fiedelt immer noch in Lenz und Sonne hinaus sein Lied von der Lore:
»Sie ist mein Gedanke bei Tag und bei Nacht
Und wohnet im Winkel am Tore!«
Nein! Der Winkel drüben am Fenster ist leer! Der blonde Kopf verschwunden. Wo ist denn das dumme Mädel wieder hin? Womöglich allein aus dem Haus und weg, ohne einem etwas zu sagen! Sieht ihr so recht ähnlich, dem Dickkopf! Nun kann man sie suchen! Oder nicht! Mag sie! ... Aber bei dem Prachtwetter bleibe der Kuckuck daheim, mit der Unruhe im Blut. ... Werner Winterhalter wandte sich stürmisch vom Fenster, streifte dabei mit dem Ellbogen den Bücherstoß auf dem Schreibtisch. Da segelt das »System der erworbenen Rechte« hinunter auf den Fußboden, das »Kapital« plumpst schweratmig hinterher ... Vertragt euch da unten, ihr zwei Genossen Lassalle und Marx ... »Ach lassen Sie die Schmöker nur ruhig liegen, Karl! Ich brauch' sie vorläufig nicht mehr! Geben Sie mir lieber meinen Strohhut ... rasch ... ich muß weg.«
Wie er auf der Straße war, sagte er sich: So, warum muß ich denn? Kein Mensch muß müssen! Und lief dabei immer rascher durch die krummen, engen Gassen und bog um die Ecke und stand nach hundert Schritten vor einem zopfigen alten Haus.
Eva Römer trat gerade, zum Ausgehen fertig, auf die Schwelle. In weißem Kleid, weißen Schuhen, weißem Hut. Eine kleine schwarze Mappe in der Hand. Unter der breiten, schattenspendenden Krempe das Gesicht nicht mehr so ahnungslos vergnüglich wie zur halben Backfischzeit, sondern mit zarteren Zügen, feiner, blasser, nur noch das unbekümmerte Schlenkern in den Schultern, wie sie gemächlich daherkam und ihm kameradschaftlich zunickte. Er war böse.
»Wohin läufst du denn?«
»Na, ich kann doch gehen, wohin ich will!«
»Ohne mir ein Wort zu sagen?«
»Bist du mein Vormund?«
Es klang patzig. Sie hatte noch immer die tiefe Stimme. Was sie sprach, kam dadurch entschiedener heraus, als es ihre schlanke, blonde Mädchenhaftigkeit erwarten ließ. Er runzelte die Stirn und ging stumm zu ihrer Linken her. Neben ihnen rauschten frühlingsbraun, geschwellt vom Schmelzschnee der Rauhen Alb, die Neckarwogen. Von der Neuen Brücke sah man hoch auf sie hinab. Zickzack des Schwalbenflugs über den Wassern ... Gekräusel kleiner, flußaufwärts laufender Wellen unter den brandenden Windstößen von Westen ... Spiegelung fliehender Wolken in der Flut ... Frühling ... Frühling in Unrast und Unruhe und Brausen. Eine Weile schwiegen sie beide und schauten trotzig in die Tiefe.
»Dickköpfig bist du heute wieder mal, Eva ...«
»So? Ich?«
»Die ganze Zeit redest du keinen Ton.«
»Na, du etwa?«
Plötzlich mußten sie alle zwei lachen und bummelten weiter durch das weiße Wunder der Bergstraße.
Es war, als hätte es geschneit unter blauem Himmel und heißer Frühlingssonne, so deckte weithin weißer Blütenglast die Hänge, dehnte sich in die Rheinebene hinaus, schwankte in tausend schimmernden Sternen über dem klaren jungen Mädchengesicht. Sie pflückte sich lachend ein paar kleine Zweige, verbarg sie vorsichtig vor dem Flurschütz in der Mappe ... summte leise ein Lied. In ihm wieder das stürmische Herzklopfen. Zu dumm: in das Examen stieg man, ohne mit der Wimper zu zucken, Mut in der Brust ... und hier ... dies Selbstverständliche konnte einen an ihr so reizen ... dies So-Tun, als ob gar nichts wäre. Aus reinem Ärger fing er wieder Streit an.
»Wohin schleppst du mich denn eigentlich?«
»Zur Mutter Bürkin!«
»Herrgott, immer noch die gleiche Seminaraufgabe? Kinder, ihr werdet ja daran noch stumpfsinnig!«
Die kleine Römer würdigte das keiner Antwort. Sie öffnete ein schwarzes Heftchen. Er schaute ihr über die Schulter ... Richtig, das alte Thema: »Die Gemüseversorgung Heidelbergs« ... die Arbeit im kleinen ... Baustein an Baustein, Sandkorn an Sandkorn, das war die Wissenschaft ... Hättest du nur nicht immer deine verwünschte Wissenschaft in deinem blonden Kopf ...
»Also meine Arbeit wird die beste im Seminar. Das weiß ich!« sagte die junge Studentin, sich auf den Zaun einer Gärtnerei setzend, mit ihrer tiefen, bedächtigen Stimme und führte den gespitzten Bleistift an die roten Lippen. »Na, Frau Bürkin, hat Sie mir für Ihre zehn Mark auch alles aufgeschrieben? Was Sie ein Kopf von Ihrem Salat kostet? Auch den Wasserzins? Den Lohn für die Magd? Das Standgeld auf dem Markt? Die Grundsteuer ... alles richtig verschwitzt! Ja, Sie kann halt nicht rechnen! Ihr alle nicht! Das ist das Malheur!«
Um Werner Winterhalter kümmerte sie sich nicht weiter. Er stand ein paar Schritte entfernt, das Auge auf ihr. Sie saß in lässiger, unbewußter Anmut auf dem Zaun. Der Blütenschnee umfloh als weißer Rahmen die weiße Gestalt. Sie war selbst wie ein Bild des Frühlings. Frühling überall.
»Bürkin, wieviel kriegt der Bauer von Ihr für den Dung? Was? ... Acht Mark die Fuhr?«
»Jo ... und dann muß man sie noch drum bitte, die Schote!«
»Also gut, acht Mark!« Eine Zahl mehr in das Notizbuch. Ein Mistbeet in Handschuhsheim oder das Planetensystem: vor der Forschung gab es keinen Unterschied. Reizend war sie, wie sie dasaß, ganz ernst, ganz versunken in ihr Tun ... das zarte Profil, der halboffene Mund, sorglose blonde Haarsträhnchen im Wind ... In ihm die Ungeduld: Ja, und ich? Ich steh einfach daneben!
»Im Winter der Mäusefraß in den Strohdecken ...« Die kleine Römer notierte sich sachlich den Fall. »Sind die Glasfenster gegen Hagelschlag versichert, Bürkin? ... Gelt, da erschreckt Sie schon bald selber, was da zusammenkommt ...«
»Jo ... ich hätt's net gedenkt!«
»Adieu, Eva! Ich geh jetzt wieder!«
»Adieu! Das heißt ... wart doch 'ne Sekunde!«
Wie sie nach zehn Minuten von ihrem Notizbuch aufblickte, stand er immer noch da, mit einem ärgerlichen und ungewissen Gesicht, als sei er auf die Mangoldblättchen und Gurkensetzlinge eifersüchtig.
»Dank schön, Bürkin!«
Sie schüttelte der Bauersfrau die Hand und schob das Heft in die Mappe. Auf der Straße blieb sie wieder interessiert vor einem Gemüsekarren stehen.
»Herrgott, komm doch weiter! Man kriegt dich ja an keinem Kohlstrunk mehr vorbei!«
»Davon verstehst du nichts!«
»Ich?« Er mußte lachen. Er, der Doktorand! Sie blieb ernst und sagte in einem nachdrücklichen Ton: »Das begreifst du nie: für mich ist das eine Existenzfrage. Sein oder Nichtsein! Brotstudium. Ich muß mich dazuhalten, wenn ich nicht später einmal eines schönen Morgens verhungert aufwachen will.«
»Aber hör mal! ...«
»Ich höre gar nichts, sondern ich weiß! Papa kann sich nicht mehr lange halten! Das pfeifen die Spatzen von den Dächern. Und dann? Dann muß ich auf eigenen Füßen stehen!«
Er wollte sie unterbrechen. Umsonst.
»Du dagegen mit deinem wahnsinnigen Geld! Du brauchst das Leben freilich nicht ernst zu nehmen! Für dich ist's der reine Spaß!«
»Hör doch, Eva!« ...
»Aber da wird man selber auch nicht ernst genommen, wenn einem immer alles auf dem Präsentierteller gebracht wird! Wir andern können selber schauen, wie wir uns durchbeißen!«
Plötzlich wurde sie ruhig und verfiel in die alte Patzigkeit: »Pah! Werd' ich auch! Mir ist nicht bange.«
Er schritt neben ihr auf der menschenleeren Straße und sagte leise, vorsichtig, so wie man einen scheuen kleinen Vogel in die Hand zu bekommen sucht: »Aber Eva ... das hast du doch nicht nötig! ...«
Ein Schweigen.
»Eva ... renn doch nicht plötzlich so!«
Sie antwortete wieder nichts, sondern ging nur noch schneller.
»Eva ... zwei Jahre sind wir jetzt hier beisammen. Du bist ja so wahnsinnig eigensinnig, kratzbürstig bis dahinaus. Ich bin dir doch ... ich weiß doch, ich bin dir nicht gleichgültig ...«
»Ich will jetzt nach Hause!«
»Bleib doch nur 'nen Augenblick stehen!«
Sie tat, als hätte sie nichts gehört.
»Eva – jetzt ist doch die Zeit ... wenn ich meinen Doktor ...«
»Eben! Mach du deinen Doktor! Das ist vernünftiger!«
»Den mach ich morgen, auf einem Bein stehend. Glaubst du, die lassen mich durchfallen? ... Aber du sollst mich nicht immer abfallen lassen ... ich kenn schon deine verfluchte Art: immer kommst du einem wie ein Aal aus den Fingern, wenn man ernsthaft werden will.«
»Ich hab jetzt überhaupt für das Seminar ...«
»Jetzt läßt du mal dein Gemüse!« Er nahm ihren Kopf zwischen die Hände und küßte sie. Sie schloß die Augen und blieb still. Es war ja nicht das erstemal. Kein Mensch weit und breit. Nur ringsum, wie weiße Wächter, die Blütenbäume. Dann machte sie sich plötzlich los, lehnte sich gegen einen jungen Stamm und fing an, hell zu weinen. Ein leises Beben ging durch das Bäumchen. Ein Blütenregen rieselte von ihm hernieder und über ihr weißes Kleid, als schneite es mitten im Frühling.
»Aber Eva ... was hast du denn?«
»Laß mich ... laß« ... Sie sprach kein Wort mehr, bis sie den Neckar im Rücken hatten. Da witschte sie in der Altstadt plötzlich um die Ecke in ein Haus, hinauf zu irgendeiner Freundin, die da wohnte, war im Handumdrehen verschwunden, ehe er sich noch von seiner Verblüffung erholt hatte.
Unten stand man allein, ging ärgerlich heim. Es war ja immer so ... Sie war nicht zu fassen, wollte nicht. Wehrte sich. Eine nette Stimmung für das Examen morgen ... Da saß man wieder an seinem Schreibtisch, schaute hinaus über die Stadt in Abenddunst und erstem Lichterglühen, vor einem die dummen Schmöker ... im Ohr eine Stimme, ein Wort: »Du brauchst das Leben freilich nicht ernst zu nehmen!« ... Hallo! Das will ich euch beweisen, morgen schon! ... Andere schwitzen in der Prüfung Blut und Wasser. Für mich ist es nur ein Spiel ... ein angeregtes wissenschaftliches Gespräch mit den Professoren. Nach zwei Stunden ein Händeschütteln, der wohlwollende Baß der alten Exzellenz: Gratulor ... gratulor, Doctor carissime ... summa cum laude!« Und dabei keine Überraschung in einem. Höchstens eine Befriedigung. Das hatte man ja im stillen erwartet.
Man stieg die Treppe hinab. So! ... Nun war man also Doktor. Vor einem die Zukunft ... die Jugend ... der Frühling ... das letzte Abenddämmern. ... Der uralte Brunnen plätscherte auf dem Platz vor der Hochschule. Blauer Mondschein lag über der leeren Fläche. Niemand zu sehen. Es gab seinem Herzen einen Stoß der Enttäuschung. Er hatte sich, mitten im gelehrten Disput der Prüfung, so freundlich vorgestellt, wenn sie da unten, am Fuß der großen Aulatreppe, stehen würde, ein Blumensträußchen in der Hand, einen letzten Lichtstrahl durch die hohen Fenster auf dem lachend aufwärts gewandten Blondkopf.
Also nicht! Gut! Trotze du! Ich trotze auch! Etwas in einem wie eine leise Mahnung: Ihr seid noch so jung ... du erst Mitte der Zwanzig ... sie überhaupt noch ein halbes Kind ... Ein Frühlingstraum unter Heidelberger Blüten. Der Sommer noch fern, vor einem die Weite ... die geheimnisvolle Weite. Die Frau und das Leben ... oder beides eins ... eins ein Gleichnis für das andere, ohne das andere nicht zu denken, nicht zu erleben. Wie halt ich euch, ihr beide? Ergründe mich in euch ... werde in euch ... wachse durch euch ... Mit suchender Seele und heißem Herz? Und wie ich suche, da stehst du ja da an der Ecke, wo dich keiner sieht ... keiner vermutet... ein zarter, blondköpfiger Schatten ... läßt dich lachend unter den Laternenschein ziehen. Hältst wirklich einen kleinen roten Rosenbusch so krampfhaft in der Faust, daß man dir die Gabe fast mit Gewalt entwinden muß und sich die Finger an den Dornen blutig sticht! ... So echt ein Zeichen für dich. Na ... trotzdem! »Ich dank dir schön, Eva, daß du gekommen bist« ...
»Gott – ich hab' gerade nichts vor!«
Natürlich, wieder der kalte Wasserstrahl! Aber heute macht er einem nichts. Froh, siegestrunken, wie man ist. Nun nur fort von hier... Raus aus den Philistern! Irgendwohin, wo's still ist und zwei allein....
Du ewige Schönheit des Heidelberger Schlosses im blauen Schimmer der Nacht. Verschwiegene Bänke zwischen Efeu und Trümmern, unter Sternhimmel und Waldrauschen. Auf der einen, im Schutz des ersten jungen Grüns, sie beide, Hand in Hand, ihr Kopf an seiner Brust.
»Eva, hast du mich lieb?«
Ein stummes Kopfnicken. Ein Aufschluchzen.
»Warum weinst du denn dann? Das ist doch nichts Trauriges!«
»Doch!«
... »daß ich dich endlich hab und du mich?«
»Ach – wer kann dich denn halten? ...«
»Da bin ich ja!«
»Auf wie lang? Du lebst ja nicht, du brennst! Du rennst durchs Leben! Wer kann mit dir mit?«
»Herrgott...«
»Du hast keine Zeit! Tausend Sachen haben in dir Platz. Da bleibt für den einzelnen zu wenig!«
»Aber Eva! ...«
»Damit quäl ich mich seit Jahr und Tag. Ich will nicht hinterher weggeworfen werden. Dafür bin ich mir zu gut ...«
»Wer denkt denn daran?«
»Du freilich nicht! Du kennst dich selbst nicht! Ich kenn dich besser! Darum wehre ich mich die ganze Zeit gegen dich. So weh es tut!«
»Eva, sei doch vernünftig! ...«
»Bei dir hat der Augenblick recht, aber ich entscheide mich fürs Leben. Ich hab dich so lieb ...«
»Nun eben ...«
»Aber ich will nicht später wie ein Bleigewicht an dir hängen! Du nimmst ja alles auf, was an dich kommt. Es werden so viele Dinge an dich kommen, die stärker sind als ich ...«
»Wen hab ich denn schon sitzen lassen? Sag!«
»Du warst damals in Sandbeuren und eines schönen Tages weg und hast nie wieder was von dir hören lassen! Du warst ein toller Student da unten und hast seit Jahr und Tag das Korpshaus nicht mehr betreten und deine Korpsbrüder nicht wiedergesehen! Du hast heute mit Glanz deinen Doktor gemacht und sagst mir vorhin, eigentlich seiest du für die Wissenschaft verloren! Dich riefe das wirkliche Leben! Immer ruft dich was! Heute ich – morgen was anderes ... Ich mach dir ja keinen Vorwurf. Aber ...«
»Aber du schickst mich weg?«
Er war zornig aufgestanden. Sie weinte leise in sich hinein.
»Gib mir Antwort, Eva!«
»Ich habe sie dir schon gegeben!«
Werner Winterhalter beugte sich zu ihr nieder, Zog sie zu sich empor. Sie leistete keinen Widerstand.
»Deine Antwort ist zwischen Ja und Nein, Eva. Ich hör doch das Ja heraus!«
»Nein – nein!«
»Doch! Eva, sag's noch einmal!«
»Ich kann doch nicht!«
»Versuch's!«
»Laß mir Zeit!«
»Wie lang?«
»Ach Gott ... bis ich Vertrauen zu dir hab!«
»Wann ist denn das?«
»Das weiß ich doch selbst noch nicht. Ich muß mit mir im klaren sein. Ich will nicht halbfertig ins Leben hinaus. Versprich mir, Werner ...«
»Gott im Himmel! Was denn?«
»Frag mich jetzt ein Jahr lang nicht danach! Oder anderthalb – so lange, bis ich auch mein Studium fertig hab und selbständig bin. Und wenn du mich dann noch nicht vergessen hast ...«
»Eva, Eva!«
»... und fest im Leben dastehst, so daß ich nicht nur Liebe zu dir haben kann, sondern auch Zutrauen ...«
Er ließ sie gar nicht ausreden. Er küßte sie heiß auf den Mund.
»Ich werd dich an nichts erinnern, Werner! Ich werd dich um nichts bitten! Laß mir bis dahin meine Freiheit ... Ich lass' sie dir auch ...«
»Eva ... es wär so schön, wenn wir uns gleich ...«
»Gib mir dein Wort!«
»In Gottes Namen!« Werner Winterhalter lachte und riß sie stürmisch an seine Brust: »Aber mein bist du jetzt schon! Mein bist du doch!«