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An jenem Abend, wie gesagt, war in mir noch kein Widerstreit der Gefühle und der Pflichten, wie er in den nächsten Tagen mich zerriß. Meine Braut war ja noch nicht da. Und in mir war nur eine tiefe, träumerische Müdigkeit, wie nach Erreichung eines langgesuchten Zieles ...
Ein Mann trat, knapp die Mütze lüftend, auf mich zu. Er war in Lodenrock und Kniehosen, ein gerolltes Gletscherseil um die Schulter, den Eispickel in der Hand. Ich hielt ihn für einen Bergführer, der mir seinen Dienst anbieten wollte. Ich war daran, eben mit der Hand abzuwinken. Denn ich bedurfte keines Führers. Ich war seit Jahren gewohnt und geübt, allein in die Berge zu gehen. Nicht, um mit ihren Gefahren zu spielen, die jetzt im Winter die zehnfachen waren. Aber die Nähe dieser bärtigen, pfeiferauchenden, wetterbraunen, prächtigen Männer und Mietlinge verbannte mir alle guten Geister der Kunst und des Schauens, wenn vor mir in heiliger Höheneinsamkeit die weiße Märchenwelt ihre Wunder und ich andächtig die weißen Blätter meines Skizzenbuches öffnete.
Aber da erkannte ich: das war kein Führer. Das war ein Einzelgänger der Berge wie ich.
Ein Mann in meinem Alter. Das von der Gletschersonne verbrannte, bartlose Gesicht noch jung. Aber ein tiefer, stummer Ernst über seine Jahre hinaus um den Mund und in den Augen. Ich hatte diesen Mann nie anders als in diesem stillen Ernst gesehen. Getroffen hatte ich ihn wohl schon ein halbes dutzendmal – nicht unten in den Tälern – unter den Menschen – sondern in der Welt über den Wolken, in den einsamsten und entlegensten Klubhütten. Bei dem gemeinsamen Nachtlager auf der Pritsche unter Wolldecke, in tiefer Stille oder Sturmgeheul draußen vor den niederen Steinwänden hatten wir über dies und jenes geplaudert. Er sprach Deutsch wie ich. Aber welches seine Nationalität war, das war mir nicht bekannt. Er nannte sich Morris. Ich wußte und hatte es selbst gesehen, daß er für einen Gletschermann ersten Ranges gelten konnte.
»Sie wollen in die Berge?« fragte er ohne Umschweife.
Ich bejahte. Zerstreut. Eigentlich dachte ich in dieser Stunde nicht an die Berge.
»Ich kam gestern an. Ich machte heute eine Rekognoszierung in das Bernina-Gebiet. Es liegt zu wenig Winterschnee. Die Gletscherspalten sind schwach überbrückt. Es ist dieses Jahr sehr gefährlich.«
»Gott sei Dank ist es gefährlich!« sagte ich, nur mit halbem Ohr zuhörend; »sonst liefe ja jeder hinauf und störte einen.«
»Trotzdem wäre es ausnahmsweise besser, sich anzuseilen und zu zweit zu gehen!«
Während er das sagte, fiel mir ein: Das ist ja kein treuherziger, ungebildeter Führer! Dieser ernste, wortkarge, zurückhaltende Mann verdirbt mir nicht die Stimmung! Er weiß, daß ich Maler bin. Seine Nähe, seine Ruhe, seine Bergerfahrung können mir von Nutzen sein.
»Einverstanden!« sagte ich, und plötzlich schoß mir eine Welle heißen Bluts vom Herzen zum Kopf ... »Aber morgen kann ich noch nicht aufbrechen. Ich erwarte meine Braut!«
Morris schaute nicht erst nach den Wolken an dem klaren Himmel, an dem schon die ersten Sterne strahlend funkelten. Er spähte in der hier stets unbewegten Luft nicht nach der Windrichtung, wie man es im Sommer, am Vorabend des Aufstiegs, in Grindelwald und Zermatt tut. Hier war jeder Tag wie der andere. Eine Dreifarbigkeit von Himmelblau, Sonnengold und Schneeweiß. Es kam auf einen Tag früher oder später nicht an.
»Gut! Sprechen wir morgen um diese Zeit weiter darüber!« sagte er und bückte sich auf die Erde nach seinem kleinen Dachshund. Dieser schwarzbraune Teckel – jetzt entsann ich mich – war sein unzertrennlicher Begleiter. Morris führte ihn bei Tag und Nacht mit sich. Wenn das Tierchen über Gletscher und auf Eishängen auf seinen vier eigenen Pfoten nicht mehr mitkonnte, steckte er es einfach in seinen Rucksack. Der kluge, kleine Krummbein war schon daran gewöhnt. Er war eine Art alpine Berühmtheit. Denn er war sicherlich der einzige Hund in Europa, der die Welt schon, geschäftig im Schnee schnoppernd, vom Gipfel des Montblanc und des Matterhorns aus betrachtet hatte.
Morris hatte seinen kleinen Freund – vielleicht den einzigen, den er besaß – eingepackt, grüßte und verschwand mit dem langsamen, schweren Schritt des müden Bergsteigers im Dunkeln. Ich ging ins Hotel. Man meldete mir, daß man noch nichts von meiner Braut und ihren Eltern wisse. Ich nickte wie im Traum. Ich fuhr im Lift in mein Zimmer hinauf und zog mich um wie im Traum. Ich stieg wieder hinunter wie im Traum.
Noch nichts von meiner Braut. Aber da unter der Palme in der Ecke war ein Wunder. Da saß sie. Die andere.
Nicht mehr der frische Sportkamerad der Männer von vorhin. – Jetzt war sie Weib. Ganz Weib. Die Winterröte war aus den Wangen gewichen. Sie war blaß. Mit einem gesunden, leuchtenden, lebenden Perlmutterschimmer der Haut. Die Augen lachten nicht mehr blank wie das Eis da draußen. Sie waren weich und glänzend geworden. Sie blickten mich heiter an. Und doch dämmerte für mich – nur für mich – im Hintergrund dieser blauen Sterne eine leise Wehmut – das geheimnisvolle: Weißt du noch? ... Ein Schauer von etwas Furchtbarem – Gewaltigem –, das einst, in alten Zeiten und längst vergangenen Tagen, unser beider Schicksal war und sich uns nun erneute – in ewiger Wiederkehr der Dinge, vor der die Zeit schwindet, der Raum zu nichts wird, alles, was wir sind und tun und leiden, zu einem unendlichen, unbewegt in sich ruhenden und unbegreiflichen Gleichnis wird. Mögen wir seine Lösung Gott nennen – Liebe – Tod – es ist alles ein und dasselbe. Ich bin darin begriffen. Du. Mein Ich versinkt in dir. Wir beide in etwas Unendlichem. Es kann uns nichts mehr geschehen. Denn wir sind ja selber das Schicksal. Wir sind die Unendlichkeit. Das waren die Schauer meiner Seele. Aug' in Aug' mit diesem fremden, jungen Weib, von dem ich nicht Namen, nicht Herkunft – nichts wußte und doch alles.
Ich zog einen Stuhl heran und setzte mich zu ihr. Sie ließ es geschehen. Es schien ihr zu schmeicheln. Sie hatte wohl inzwischen erfahren, daß mein Name als der des damals schon weitbekannten Landschaftsmalers kein alltäglicher war. Denn sie fragte mich, ob ich hier im Winter, im Freien, zu malen gedenke. Das müsse doch furchtbar kalt sein...
Ich sah sie an. Sie hatte sich für den Abend schön gemacht. Was für ein Kleid sie trug – welche Frisur – wir Männer wissen das ja nie. Selbst ich als Künstler achtete nicht darauf. Mir erschien sie schön. Und sie war es wohl auch wirklich.
Denn es war um sie jenes Unfaßbare, jenes leise elektrische Zittern – jene Wellen von Wärme – der Strahlungskreis einer schönen Frau. Die Blicke anderer Frauen auf sie – die Blicke der Männer – Zunicken von Bekannten – Zurufe im Vorübergehen – Winke von Freunden und Freundinnen. Sie schien hier die ganze Welt zum Freund zu haben. Die irdische Sonne des Wintersports im Engadin, wie draußen ihre große, goldene Schwester am Himmel tagsüber über Gerechte und Ungerechte schien, und wenn jene gesunken war, abends selbst der strahlende Mittelpunkt im Gesellschaftstreiben der hell erleuchteten Säle. Fortwährend kamen Abordnungen. Zudringliche Herren und Damen. Da wurde sie hingebeten. Dort wurde sie ungeduldig erwartet. Hier hatte sie sich verabredet. Sie schüttelte nur immer, mit liebenswürdigem Lächeln und flüchtigem Augenaufschlag, den blassen, geheimnisvollen Kopf und plauderte mit mir. Wir sprachen vom Wetter ...
Immerhin – keine Kleinigkeit für Sport und für Kunst, wenn man beides im Freien übte. Dazu brauchte man die Sonne. Aber die Sonne war ja hier das tägliche Brot. Sie stand jeden Tag am Himmel. Da war keine Sorge.
Aber wir brachten es doch fertig, darüber zu reden. Ich redete. Von der Sonne. Die Sonne war meine Freundin. Was ist ein Maler ohne Licht und ohne die leuchtende Himmelsleiter von Farbentönen, in denen das gebrochene Licht sich märchenhaft spaltet? Mögen andere die Welt grau in grau sehen und sie still und bleich, ohne Helle, ohne Schatten, auf die Leinwand bannen! Gott grüß' die Kunst! Mach' es jeder, wie er's versteht. Auch da sind große Meister. Nur mit akademischer Kälte und wohltemperierter Atelierkomposition kann man mich jagen! Aber in meinem Pinsel loht die Leidenschaft! Die Farben schlagen aus ihm wie Flammen. Die Welt brennt, die ich male! Denn mein Künstlerherz, das sie empfindet, brennt mit! Weh dem Schaffenden, der sich nicht verschwenden kann an alles, alles, worin er das Widerspiel seines eigensten Wesens erkennt – in dem sich nicht Ich und Außenwelt in einem Rausch der Selbstvernichtung zum Kunstwerk vermählen!
Das alles sagte ich ihr – feurig – eindringlich – hingegeben. Und hatte dabei das Gefühl: Das alles habe ich dir ja schon lange gesagt. Und du mir. Und tausend andere Dinge, die wir wieder vergessen haben – wie wir uns selbst vergessen haben und nun wieder aufeinander besinnen.
Sie lächelte. Sie hörte aufmerksam zu. Wir müssen lange miteinander gesprochen haben. Ich weiß es nicht mehr. Es erregte jedenfalls ringsum Aufmerksamkeit. Ihr schien es gleich. Wenn etwas auf ihrem Gesicht zu lesen war, dann war es höchstens ein kleiner Triumph, einen Mann von berühmtem Namen – einen Mann, der mehr bedeutete als alle die anderen unter diesem beschneiten Hoteldach, so an sich zu fesseln. Ich begriff, daß sie nach außenhin sich solch eine Maske einer siegreichen Weltdame geben mußte. Was sie darunter wirklich war, das war sie nur für mich ...
Dann auf einmal sah ich, daß ihre glatten und freundlich gespannten Züge sich veränderten. Ein Schatten huschte darüber hin. Etwas Fremdes. Ich hatte mich zu ihr vorgebeugt und sprach halblaut, weltvergessen, Aug' in Aug' mit ihr, auf sie ein. Ich hatte unbewußt, im Eifer des Gesprächs, meine Hand auf die ihre gelegt. Soweit ich sah, war niemand in der Nähe. Sie beugte sich zurück.
»Ich glaube, man sucht Sie!« sagte sie. »Dort ... an der Tür ... die Dame ...«
Ich drehte mich um. Dort stand meine Braut. In Pelzmütze und Pelzmantel, wie sie aus dem Schlitten gestiegen. Das süße Kindergesicht noch herzhaft gerötet von der Nachtfahrt, aber mit einem bangen, wehen Ausdruck des Staunens. Die Augen ungläubig, weit. Der Mund schmerzlich verzogen, halb offen. Sie stand, starr vor Schrecken, ohne sich zu rühren, fast ohne zu atmen. Ihre Mutter neben ihr. Der Vater war – ich hörte es später – in Geschäften in Italien zurückgeblieben.
Die beiden Damen wandten sich um. Sie traten, ehe ich auf sie zugehen konnte, wieder in die Halle hinaus und stiegen die Treppe empor. Sie hatten Zimmer im ersten Stock. Während sie den Flur entlangschritten, holte ich Mutter und Tochter ein und betrat mit ihnen den Salon.
Ich möchte den Auftritt, der da folgte, nicht schildern. Mara warf sich auf das nächste Kanapee. Sie vergrub das Gesicht in den Kissen. Ihr zarter Körper zuckte in Schluchzen. Ihre kalte, kleine Hand erwiderte meinen Druck nicht. Sie wollte nichts hören. Sie erwiderte nichts. Und ich stand da und begriff es ja ... So wie ich da unten jener anderen gegenübergesessen – da war gar kein Zweifel gewesen ...
Und ich begriff es doch nicht und beugte mich immer wieder mit gerungenen Händen über sie und murmelte inständig, aus aufrichtigem Herzen: »Aber ich liebe dich doch, Mara! Ich liebe dich!«
Ich habe mich niemals, solange sie lebte, mit meiner Schwiegermutter gut gestanden. Das ist nichts Ungewöhnliches. Aber es war nicht der landesübliche, in allen Witzblättern und Lustspielen mit sauersüßer Todfeindschaft geführte Kampf um die Seele hier der Frau und dort der Tochter. Nicht das gereizte Gezänk um die Erziehung der Kinder und Enkel. Dazu waren wir zu sehr Leute von Welt und lebten in zu großen Verhältnissen. Aber die Welten, in denen wir lebten, waren zu verschieden. Hier das weite, freie Reich der Kunst, voll von heiligen Wundern, Ungeheuern, Hingabe, dort der Salon mit seinen kleinen Künsten, seiner Enge, seiner Leere. Dabei war sie eine sehr kluge Frau, soweit ihr scharfer, kurzsichtiger Verstand in ihrer rings von der guten Gesellschaft umschränkten Umwelt reichte. Sie wußte die Menschen zu nehmen – aber die Begrenztheit ihres Gesichtskreises und ihrer Menschenkenntnis entschwand nur beim Nächsten – bei ihren menschlichen Schwächen, die sie mit sicherem Instinkt erkannte. Sie zog mich beiseite und sagte kühl, ohne besondere Erregung: »Lassen Sie Mara heute abend in Ruhe! Sie ist zu maßlos aufgeregt. Sie ist zu furchtbar gekränkt. Sie hatte sich so unendlich auf das Wiedersehen gefreut! Sie hat die Minuten gezählt! Sie gab dem Kutscher Geld und bat ihn, nur recht schnell zu fahren. Sie klatschte in die Hände vor Glück, als die hellen Fenster des Hotels in der Nacht auftauchten! Sie lief in ihrer Ungeduld hinein! Sie fragte atemlos nach Ihnen! Man wies sie in den Drawing-Room. Und da ... Setzen Sie sich in ihre Lage ... Wie stellen Sie sich dazu ...?«
Mir krampfte sich das Herz zusammen. Mir war das Weinen nahe. Ich kniete erschüttert neben Maras Kanapee nieder. Ich faltete bittend die Hände. Ich flüsterte, voll Zärtlichkeit und Mitleid, und es kam mir aus tiefster Brust: »Aber ich hab' dich doch lieb! .. Ich hab' dich doch lieb!«
Es kam keine Antwort. Der dunkelblonde Lockenkopf in den Kissen wandte sich nicht zu mir. Nur ein verzweifeltes, unterdrücktes Stöhnen des Leids, das mir ebenso ins Herz schnitt, wie es ihr aus dem Herzen kam. Ich erhob mich. Hilflos. Ich strich mir über die Augen. Ich wußte gar nicht, was eigentlich geschehen war. Ich wußte nichts, als leise bittend zu wiederholen: »Ich hab' dich doch so von Herzen lieb!«
»Sie können nicht erwarten, daß Mara Ihnen das jetzt glaubt«, sagte die Mutter. »Es ist am besten, Sie gehen jetzt und lassen sie sich ausweinen. Vielleicht können Sie ihr morgen eine Erklärung – oder wenigstens eine Entschuldigung – geben, wie das kommen konnte.«
Frostklar, mit einer dem Nebel der Niederungen unbekannten Leuchtkraft, funkelte tausendfach der Sternenhimmel über der in mattem Weiß aus dem Nachtdunkel schimmernden Bergwelt. Niemand, der den Ort nur bei Tage kannte, konnte an diesen jähen Wechsel von der heißen Sonne des Mittags zu dem grimmen Frost der Nacht glauben. Was sich bei Tag draußen tummelte, floh ja auch mit der sinkenden Sonne unter Dach und Fach. Dort war jetzt, bei Fluten elektrischen Lichts, aus dem Winterabend ein neuer künstlicher Tag erstanden. Die Paare schritten im Tanzsaal. Gedämpfte Musik drang hinaus in die Nacht. Von der wußten die wenigsten. Auch ich bisher nicht. Man trat nicht gern in Lackschuhen und bloßem Kopf noch einmal vors Haus. Daß es da draußen Stein und Bein fror, merkte ich in meinem Irren durch die leeren, hell vom Mond über bläulichem Schnee beglänzten Gassen erst, als mir die Kälte durch die Hemdbrust auf die Haut drang. Ich knöpfte den Pelz, den ich umgeworfen, fester. Ich schritt in stürmendem Gang, den Kopf gesenkt, die von Schlittenkufen, Pferdehufen, Fußgängerspuren tausendfach gefurchte und zerstampfte, knirschendweiße Landstraße dahin. Der harte Schnee sang unter meinen Sohlen. Es hallte mir im Ohr wider – die Worte – immer wieder – die Worte, die ich vorhin selber gesprochen: Ich hab' dich lieb ...
Das war wahr. Das war buchstäblich wahr. Das war auch jetzt noch heilig und wahrhaftig wahr. Ich blieb stehen. Ich schaute aufgeregt in der weißen Einsamkeit um mich. Ich hörte in der tiefen Stille das Hämmern meines Herzens. Ich prüfte mich: Doch. Ich liebte Mara! Ich liebte sie wie je! Diese Liebe war da, wie sie seit Jahren in mir gewesen und gewachsen war ...
Diese Liebe war nie eine Leidenschaft gewesen, sondern eine reine, glückliche Wärme. Meine Braut und ich – wir hatten uns ja fast von Kindesbeinen an gekannt. Unsere Lebenswege waren nebeneinander hergelaufen – nicht parallel, im ewigen Abstand zwischen Mensch und Mensch, sondern so im Winkel gefügt, nach dem Willen einer unsichtbaren Vaterhand, daß sie einmal einander schneiden und dann in eines aufgehen mußten – nach einem Gesetz der Natur, das sich langsam in uns erfüllt, so wie die Blume blüht, wenn ihre Zeit da ist, und die Rebe reift. Es war uns beiden – Mara und mir – ein selbstverständliches Glück gewesen, daß es so kam. Wir hatten es dankbar hingenommen, ohne viel darüber nachzudenken. Wir waren froh, daß wir einander hatten.
Und daran hatte sich in mir nichts geändert. Noch jetzt, im Schweigen der mondhellen Mitternacht, wachte in mir ungetrübt das tiefe Glück ihres Besitzes – die Herzensruhe, sie mein zu nennen – mein Haupt an ihre Brust zu legen, ihre leichte Hand über meinen geschlossenen Lidern zu spüren. Das war alles wie sonst.
Und doch ...
Und mit einem Grauen – einem Schauer des Unglaubens – einer Angst vor mir selbst – erkannte ich, am Ufer des übereisten Sees hinschreitend, daß zwei Frauen in meiner Seele wohnten – daß zwei Frauen von meiner Seele Besitz ergriffen hatten – diese in Leidenschaft und jene in Liebe – Blitz und Sonne zugleich am Himmel des Herzens – zwei Naturgewalten, die nicht nebeneinander flammen und leuchten konnten und doch in einer Menschenseele sich begegneten.
An Griechenlands vielgezackter, schaumumbrandeter Küste – da hatte ich es, im ewigen Spiel von Wind, Himmelshelle und Wolken über dem Land der Götter, auf einer Studienreise gesehen, daß hier im Osten die Sonne Homers das weindunkle Meer vergoldete und dort im Westen der Donnerer im Himmelsgewölk, Zeus, zugleich seine Blitze über das Land warf. Es war nichts unmöglich. Nicht in der Natur. Nicht im Menschen ...
Natur – wer ihr reinen Auges und reinen Herzens dient wie ich als Landschaftsmaler, der verwächst mit ihr. Er steht mit ihr in geheimnisvoller Wechselwirkung. Er lebt nicht nur in ihr. Sie lebt in ihm. Ihr heiterer oder trüber Himmel, ihr Sturm oder Windstille, Regen oder Sonnenschein bedingen seine Stimmung des Tages.
Und wo konnte solch eine Stimmung so strahlend, so unterwühlt und lachend kraftvoll in sich beschlossen, so frisch und klar sein wie an solch einem tiefblauen, weißschimmernden, in Wärme, Sonne, Kristallflimmer über Firngefunkel gebadeten Wintermorgen im Engadin?
Kein Lüftchen regte sich, als ich vor das Haus trat und die stählerne Kälte der Luft mit langen Atemzügen in mich trank. Die Brust weitete sich. Das Herz schlug freudig. Das Blut kreiste schnell. Neues Leben, Lieben, Lachen, Hoffen nach der großen, schwarzen Stille der Nacht.
Ein Teckel trottete schnoppernd über den Schnee. Seine klugen Augen glänzten. Wo der kleine Kerl erschien, war sein Herr sicher nicht weit. Morris kam vorbei – offenbar zu einem Gletscherbummel untertags gerüstet –, der Eispickel blinkte in seinem Fausthandschuh. Er war ernst und verschlossen wie immer. Er winkte mir aus der Ferne herüber. Ich erwiderte es ebenso, in Bergkameradschaft. Ich war jetzt nicht in Lust und Laune zu Hochsimpeleien über Schneebrücken, apere Ferner, Steps und Couloirs.
Ich weiß nicht, wie sie es fertigbringen, lebende Blumen unerfroren in das Königreich der Kälte und seine Residenz zu schaffen. Jedenfalls waren da mehrere Blumenläden. Ich kaufte das Schönste, was ich fand. Schob das Seidenpapier mit dem Blütenstrauß sorgfältig unter den Rock, damit der Frost die bunten Sterne nicht noch auf dem kurzen Weg zum Hotel versehrte, klopfte in einer lächelnden und freudigen Zuversicht oben an das Wohnzimmer meiner Braut. Ich war überzeugt, daß sie nach einer kurzen, reuigen und verzeihenden Aussprache unter Tränen lachend an meiner Brust liegen würde. Sie war ja mein. Ich besaß nichts auf Erden, was mir so sicher, so unerschütterlich gehörte wie ihr liebendes Herz.
Und es wäre wahrscheinlich zu der Versöhnung gekommen und vielleicht die ganze Mißhelligkeit als ein kleiner Streit unter Liebesleuten in der Luft verweht – ohne die Mutter! Als ich in den Salon trat, war nicht Mara darin, sondern die Mutter allein. Mara lag noch zu Bett. Sie hatte Migräne. Kein Wunder bei ihren zarten Nerven nach der Aufregung gestern abend. Vielleicht wurde es bis zum Abend besser. Vorläufig empfing mich die Mutter.
Sie hatte es sich in den Kopf gesetzt, an Stelle der Tochter mit mir zu reden. Es wäre besser gewesen, sie hätte mich bis zum Abend weggeschickt. Aber sie gehörte zu den Frauen, die nicht ertragen können, daß etwas ohne sie in ihrem Gesichtskreis geschieht. Sie griff mit beiden Händen in den kleinen Seelenriß zwischen Mara und mir und erweiterte ihn von Sekunde zu Sekunde, indem sie, mir streng und kühl gegenübersitzend, Aufklärung verlangte ...
Was konnte ich da viel sagen? In einem banalen Hotelsalon – unter schwiegermütterlichen Blicken – wie soll da ein Künstler, der sich selber kaum kennt, sich einem anderen Menschen erklären? Was sind da Worte? Immerhin: Ich versuchte es. Ich stellte den Vorfall von gestern abend als einen ganz harmlosen Flirt hin, die Ungeduld, die unerträglich langen Stunden bis zum Eintreffen meiner Braut zu verkürzen, hatte mich, zu flüchtigem Zeitvertreib, in unverfänglicher Plauderei, mit irgendeiner Unbekannten zusammengeführt. Ich hatte mir nicht viel dabei gedacht. Jene wahrscheinlich noch weniger. Das Ganze war nicht der Rede wert.
Je mehr ich so redete und die Wahrheit dreimal verleugnete und das Unerklärlichste – den Eingriff fremder Mächte in meine Seele – lachenden Mundes als eine dumme Alltäglichkeit darstellte, desto gewaltiger, unheimlich sieghafter wuchs in mir wieder die Stimmung der Stunde von gestern. Das große Geheimnis war wieder da und nahm von mir Besitz. Ferne Glocken klangen ... Stimmen von weither – weither – riefen etwas in mein Ohr – das ich gewußt hatte – und wieder vergessen. Eine leidenschaftliche Sehnsucht ließ mir den Herzschlag stocken – irgendwo lag ein Schatz vergraben – seit langer – langer Zeit – wartete auf mich ... Ich konnte meine innere Erregung nicht mehr bemeistern. Sie spiegelte sich auf meinem Gesicht wider.
Maras Mutter merkte es.
Sie war eine weltkluge Frau – für den Salongebrauch. Sie durchschaute die Menschen, soweit ihr eigenes Menschliches reichte. Und das reicht bei Frauen in der Liebe weit. Sie hatte die Eigenschaft vieler Damen, um so spitzer und höflicher zu sein, je mehr es in ihr kochte. Sie sagte plötzlich ruhig: »Ihr Mund spricht von einem Flirt. Ihre Augen von einer Leidenschaft. Ich glaube Ihren Augen mehr als Ihrem Mund.«
Ich schwieg. Sie faßte das als Eingeständnis auf. Sie verhörte gemessen weiter wie der Richter den Angeklagten: »Dann lieben Sie also Mara nicht mehr?«
»Ich liebe sie heute so sehr, wie ich sie je geliebt habe und immer lieben werde!«
Der böse Geist dieser Tage – denn das war Maras Mutter – wenn auch wider Willen – spielte mir gegenüber mit einem Papiermesser, in einer Gereiztheit, die durch ihre Frage klang: »Sie behaupten also – kalten Bluts – mir ins Gesicht – daß man zwei Frauen zugleich lieben kann?«
Ich wußte: Es lag ihr, aus vielen Gründen, sehr daran, einen Bruch zu verhüten und mich als Schwiegersohn zu behalten. Aber trotzdem wuchs die Schärfe in ihrer Stimme unheilverkündend: »Wollen Sie mir verraten, wie Sie da etwas in sich zu vereinigen glauben, was jedem anderen Mann auf der Welt ein Ding der Unmöglichkeit erscheinen würde?«
Was sollte ich ihr antworten? Daß es so viel Lieben auf der Welt gibt wie Farben? Daß Leidenschaft nicht Liebe ist und Liebe nicht Leidenschaft? Daß Seele und Sinne verschieden sind? Daß hier eine Feuersbrunst flammen kann, und dicht neben in der Kirche brennen die geweihten Kerzen fromm auf dem Altar? Daß vieles im Menschen nebeneinander Platz hat, wie der schon ganz alte, ganz weise, über die Menschen hinausgewachsene Goethe sagt. Ich fühlte: Sobald ich es sagte, war es unwahr. Solange ich es empfand, war es wahr. Aber die Sprache schlug nicht mehr die Brücke von Mensch zu Mensch. Meine Wehrlosigkeit gegenüber dem Schicksal, meine Ratlosigkeit gegenüber dem grauhaarigen Richter im Unterrock verwandelten sich in Künstlertrotz.
Jawohl: Ich hatte ein Recht, Blumen zu pflücken, die am Wege blühten! Ich brauchte sie! Denn ich sah sie mit den Augen des Sonntagskinds – des Künstlers! Es gab nur ein Todesverbrechen für den Künstler! Das hieß: so zu fühlen und zu handeln wie Hinz und Kunz! Es gab nur eine Todesgefahr für den Künstler! Die hieß: Philister über dir! Das mußte eine Frau wissen, die einen Künstler heiratete! Damit mußte sie sich abfinden! Und was die übrigen Menschen – außer der eigenen Frau – darüber dachten – und sei es auch die Mutter der Frau –, das sah der Künstler mit olympischem Gleichmut! Denn er stand als Künstler über den anderen Menschen. Sie hatten sich seiner zu erfreuen. Sie hatten ihm zu danken. Sie hatten ihn zu bewundern. Aber nicht zu richten!
Niemals hätte ich bei ruhigem Blut und vernünftigen Sinnen mich in so verstiegenen und vermessenen Äußerungen ergangen. Jetzt freute es mich, die gute Dame zu reizen. Sie war starr wie die Salzsäule der Schrift. Ich ließ sie sitzen, legte die Blumen für Mara auf den Tisch, bat, ihr gute Besserung zu wünschen, und ging.