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Es geschieht nichts Haarsträubendes mehr in der Schobergruppe und in der Kreuzeckgruppe, ein paar Gipfel auf etwas ungewöhnlichen Wegen, alle Hochachtung!, aber nichts herausfordernd Waghalsiges mehr.
Der Saliger, der hat schon die richtige Mischung von Mut und Bedachtsamkeit in sich; für heuer war es die Totenhorn-Südwand, genug damit, nächstes Jahr kommt eine andere große Unternehmung dran. Gipfel und Wände sammelt man nicht wie Briefmarken oder Schmetterlinge.
In den Talorten oder auf den Hütten senden sie Ansichtskarten an die Freunde und Bekannten: der Bircher Schnacksele kriegt eine, der Lobgesang, der Carlos Tips, der Kopetzky und Magda Kaspar, auch der Kümmerer und sogar Helene Böhmer erfahren, was man gemacht hat und wo man sich eben befindet.
»Wollen wir nicht auch Valerie einmal eine Ansichtskarte senden?« fragt Marianne so beiläufig.
»Valerie? Warum?« fragt Saliger zurück.
Nun gut, Valerie bekommt also keine Karte. Aber es wäre Marianne lieber und schiene ihr nur in Ordnung, wenn Saliger gesagt hätte: »Natürlich wollen wir auch Valerie eine Karte schreiben!«
Nach einer Weile sagt dann Saliger: »Weißt du ... ich will ihr kein Herzeleid bereiten ... wo sie doch jetzt mit ihrem Bein in Gips liegen muß.«
Eine feine und zarte Rücksicht also, das muß man wohl gelten lassen.
Manchmal, wenn Saliger und Marianne ihre Namen in die Hüttenbücher eintragen, schauen die Leute auf und flüstern miteinander: »Das sind sie!« Es entsteht ein Kreis von Ehrfürchtigen und Bewunderern um sie, und bisweilen wagt es ein besonders Kühner oder Neugieriger näher zu rücken: »Sind Sie wirklich ...?
Es hat ja in allen Zeitungen gestanden, was sich in der Totenhorn-Südwand zugetragen hat. Viele Leute lesen ja über solche Nachrichten hin, aber andere wieder, die alles, was in den Bergen geschieht, wichtig nehmen, haben sich die Namen eingeprägt und freuen sich, daß sie nun den Helden und die Heldin des heurigen Sommers kennenlernen.
Saliger tut gar nicht groß, er ist leutselig wie immer, ganz anders als damals in der Hütte. Damals stand man vor dem Sturm, jetzt ist die Sache vorüber, jetzt kann man darüber reden.
Ungelegte Eier begackert man nicht, meint Saliger. Jetzt gibt er Auskunft und erzählt dies und das, er hat ein Herz für den Mann aus dem Volk, der ein Jahr lang Groschen aufeinanderlegt, um dann im Sommer in die Berge zu gehen.
»Sie werden doch einen eingehenden Bericht darüber veröffentlichen?« wird er gefragt.
»Ja ... in der Alpenvereinszeitschrift ... ich warte nur auf einen Regentag.«
Aber der Himmel schickt keinen Regentag, den man mit Schreiben zubringen könnte. Der Himmel schickt seine Sonne Tag um Tag, er schüttet seinen Segen über Saligers und Mariannes Bergfahrten, er gibt Woche um Woche das herrlichste Spätsommerwetter aus.
Drei Wochen sind ein großer Reichtum, es gehen jedoch auch drei Wochen zu Ende, erheblich rascher, als man zu ihrem Beginn meint; und nun ist Salzburg bedenklich nahe gerückt.
»Es wird nötig sein, an meinen Gasthof zu drahten«, meint Saliger, »bei dem Festspielrummel, der jetzt in Salzburg tobt.«
Saliger drahtet von Linz an seinen Gasthof in Salzburg, aber als sie ankommen, empfängt sie verlegenes Bedauern: »Nur einen Tag früher, Herr Doktor ... herzlich gern, aber nun ist leider alles auf Tage hinaus vergeben ... wir haben eben Hochbetrieb ...«
Saliger verliert seine gute Laune nicht. »Der Herr, der die Vögel auf dem Felde kleidet und die Lilien unter dem Himmel nährt, wird uns auch in Salzburg ein Dach und ein Bett verschaffen.«
Eben da Saliger auf diese Weise seinen festen Glauben bekundet, kommt ein Herr, um seinen Schlüssel aus dem Fach zu holen.
»Rotter?!«
»Ach, da seid ihr ja ...«, sagt Rotter, »na also, ihr habt es ja prächtig gemacht. Ihr habt euch mit unsterblichem Ruhm bedeckt.«
Ist es nicht bloß Täuschung gewesen, daß Rotter im ersten Augenblick beim Anruf wie erschrocken zusammengefahren ist? Es kann nicht anders sein, Marianne muß sich getäuscht haben. Jetzt ist Rotter wieder herzlich und gemütlich wie sonst, vielleicht unterstreicht er seine Herzlichkeit und Gemütlichkeit sogar ein wenig.
»Na ja, in Salzburg trifft sich eben alles«, meint Saliger.
»Wohnen Sie auch hier?« erkundigt sich Rotter.
»Nein, eben hat man uns die kalte Schulter gezeigt ... wir müssen weitersuchen ...«
Ist das wohl auch wieder eine Täuschung, daß diese Auskunft den großen Alpinisten sichtlich erleichtert? Dieser gute Rotter, ein gerader, aufrichtiger Mensch mit sehr unentwickelten Anlagen zur Verstellung; und Marianne hat scharfe Augen.
»Ihre Frau ist doch auch in Salzburg?« fragt Saliger. Oh, er hätte Lust, mit Frau Rotter zusammenzutreffen und ihr einiges über gewisse Briefe zu sagen und über Marianne und so.
Aber Frau Rotter ist bedauerlicherweise nicht in Salzburg. Sie ist weit weg, in Ungarn ist sie. »Ihre Mutter ist sehr krank geworden ... Augusta ist bei ihr und muß sie pflegen.«
»Schade«, lächelt Saliger, »Ihre Frau ist ein so netter Mensch.« Er kann auch manchmal ganz gemein boshaft sein, der Saliger.
»Ja«, antwortet Rotter und lächelt auch, aber ein wenig schief und unbehaglich, »nicht wahr? Aber ... Kindespflichten ... die gehen allem anderen vor. Na ...«, setzt er hastig hinzu, »wir sehen uns doch natürlich ... ich bin jetzt ... ich habe ... und dann müssen Sie mir erzählen ...«
»Ist dir an Rotter etwas aufgefallen?« fragt Marianne, als sie über das Platzl gehen.
»Was denn?«
»Hast du nicht bemerkt: es war ihm offenbar unangenehm, daß er uns getroffen hat.«
»Warum sollte ihm das unangenehm gewesen sein?«
»Ich weiß nicht ... ich meine nur ...« Wie soll Marianne das wissen? Vielleicht hat auch ein Rotter seine Geheimnisse. Aber schließlich, was gehen Marianne hier in Salzburg, zwei Tage vor dem Abschied, Herr Rotter und seine Geheimnisse an?
Sie holen beim Fremdenverkehrsamt Auskünfte über Wohnungen, und eine halbe Stunde später haben sie ein Zimmer in der Steingasse. Es ist eine schluchtartig enge Gasse, eingeklemmt zwischen Salzach und Kapuzinerberg. Die eine Häuserreihe schaut stattlich zum Fluß hin, die andere klebt mit den Hinterwänden am Berghang. Unten im Haus ist ein Käseladen, der durch die ganze Steingasse duftet, aber das Zimmer liegt oben im vierten Stock, hoch über den Käsedüften.
Saliger stützt die Arme auf das Fensterbrett. Zwischen zwei gegenüberliegenden Häusern, durch einen Spalt von einigen Metern Breite hat man gerade einen Blick auf die Feste Hohensalzburg.
»Fein, was?« sagt Saliger, »Festspielregie!«
»Ja«, bestätigt Marianne, und das Herz tut ihr furchtbar weh, weil dies das letzte Zimmer vor dem Abschied ist.
Dann nehmen Saliger und Marianne von Salzburg Besitz, und sie tun es ganz nach Saligers Weise. Er hat seine eigene Art, durch Salzburg zu wandern, es ist das stille, versonnene Salzburg, das er sucht. Dem lauten Festspielrummel weicht er im Bogen aus, aber die engen Gassen und alten Höfe sind sein Jagdgebiet. Dort schnüffelt er nach alten Hauswahrzeichen und den Merkmalen des kleinen Lebens der Vergangenheit. Er führt Marianne auch nicht in die Gasthöfe und Kaffeehäuser der Festspielgäste, sondern in die Bierhallen, wo man sich mit Behagen unter Bauern und Handwerker setzen kann und die im Tierkreiszeichen des Maßkrugs und der Weißwurst stehen. Und Marianne teilt nun dieses ihr einst unverständliche Behagen.
Für den Kundigen gibt es in Salzburg zwei Möglichkeiten, seinen Abend zu verbringen. Die eine heißt Augustinerbräu, sie liegt in Mülln und ist so volkstümlich, daß sich die besseren Festspielgäste überhaupt nicht hintrauen. Und das ist das Gute daran. Die andere heißt Stieglbräu und ist volkstümlich, gemischt mit Festspiel. Ihr Vorzug ist die Lage ein Stück den Nonnberg hinan und der Blick auf all die alten Dächer und die Kuppeln und Türme.
Marianne ist noch nie in Salzburg gewesen, und Saliger tut die Wahl weh, was er ihr eher zeigen soll.
»Über das Bier gehen die Meinungen ja auseinander«, sagt Saliger nachdenklich, »aber es ist dir wohl nicht ums Bier?«
Gewiß, Marianne ist es, bei Gott, nicht ums Bier, es geht ihr um ganz andere Dinge. Saliger kommt zu keiner Entscheidung. Er nimmt zwei Zündhölzer, läßt von Marianne dem einen das Köpfchen abknipsen und versteckt die Hölzchen hinter dem Rücken. Dann bringt er zwei geballte Fäuste zum Vorschein: »Links oder rechts?«
»Rechts«, sagt Marianne und schlägt leicht auf Saligers rechte Faust. Sie öffnet sich und enthält das Zündholz ohne Köpfchen, und das bedeutet Stieglbräu.
Es ist sehr voll auf der Terrasse im Stieglbräu, alle Tische sind besetzt, besonders die ganz vorn an der Brüstung, wo man die Stadt unmittelbar vor sich hat. Unschlüssig wandern Saliger und Marianne zwischen den Tischreihen dahin und halten Ausschau. Keine Hoffnung, da vorn einen Platz zu finden. Aber da rammt Saliger Marianne plötzlich mit dem Ellenbogen an: »Rasch, dort stehen Leute auf!«
Wie die Habichte stoßen die zwei auf die frei gewordenen Plätze nieder.
»Ist's erlaubt?« fragt Saliger, höflich das Berghütel lüftend. »Bitte!« antwortet der Herr, der am Tisch zurückgeblieben ist, und wendet für einen Augenblick den Kopf und springt dann auf: »Fräulein Mack!«
Da möchte man nun glauben, der blinde Zufall, nicht wahr? Marianne hat rechts gesagt, und in Saligers rechter Faust war das Zündholz ohne Köpfchen, was Stieglbräu zu bedeuten hatte. Sie hätte ebensogut auch links sagen können, und dann wären sie zum Augustinerbräu gegangen nach Mülln; aber nein, sie hat rechts gesagt, und nun ist der Herr, der einzige Mitbesitzer des frei gewordenen Tisches ... dieser Herr, der jetzt aufspringt und »Fräulein Mack!« ausruft, ist der Rechtsanwalt Doktor Klimsch, Gatte der Frau Ernesta Klimsch und Vater der beiden entzückenden Kinder Fred und Margot.
Was auch geschehen mag, es gibt keine Lage, der Marianne jetzt nicht gewachsen wäre. Es kann ihr nichts anhaben, sie behält immer den Kopf oben, auch jetzt macht sie ohne jede Verwirrung und Verlegenheit die Herren miteinander bekannt. Wer ist schon der Rechtsanwalt Klimsch? Eine bereits ziemlich entrückte, stark überschattete Vergangenheit, eine Erinnerung an eine drückende Unfreiheit. Schwamm drüber! Und wer ist Franzl Saliger? Eine höchst lebendige, beglückende Gegenwart. Daraus braucht Marianne gar kein Hehl zu machen.
»So, Sie sind der Rechtsanwalt Doktor Klimsch?« sagt Saliger ziemlich hemdärmelig. Und das klingt natürlich so, als wolle er sagen: Sie habe ich mir auch anders vorgestellt! Die Wahrheit ist, daß sich Saliger den Doktor Klimsch immer ein wenig als eine Art besseren Sklavenhalter vorgestellt hat, und nun entspricht die Wirklichkeit erfreulicherweise nicht dem Bild, sondern zeigt einen älteren, wohlerhaltenen und überaus umgänglichen Herrn.
Der Doktor hat natürlich auch von der großen Heldentat in der Totenhorn-Südwand gehört und drückt seine Bewunderung aus. Oh, er versteht auch etwas davon, er ist ja selber Bergsteiger, in den Dolomiten ist er früher viel herumgekommen, und in der Brentagruppe und auch drüben in der Schweiz, auf dem Monte Rosa, war er zweimal. Aber heuer hat er auf größere Unternehmungen verzichten müssen. »Denken Sie, mein Konzipient, der arme Wedel, hat so eine dumme Blutvergiftung ... ich bin nur gerade für einige Tage abkömmlich ... für ein paar Tage Salzburg ... die Schlaraffia hier, das Reych Juravia, hat ein Fest, und da wollte ich dabeisein ...«
Ja, Herr Doktor Klimsch ist Schlaraffe, Ursippe und Erbherrlichkeit oder sonst was Hohes, und er sammelt Jahresringe und Ahnen und Urahnen und fehlt, wenn es irgend angeht, bei keinem Fest.
Es ist wirklich so, wie Saliger schon einmal gesagt hat, daß sich in Salzburg eben alles trifft. Und heute hat sich Doktor Klimsch aus dem schlaraffischen Betrieb frei gemacht, für eine Stunde oder zwei. Der Stieglbräukeller, das ist so eine Art Wallfahrt von ihm, die läßt er nicht aus. »Ein Stelldichein mit der Vergangenheit!« lächelt er, »eine Art Andacht.«
Und weil Marianne das Streichholz ohne Kopf gewählt hat, sitzt er nun mit ihr und Saliger an einem Tisch, und sie schauen zu, wie der Fächer des Scheinwerfers über Salzburg hinwandert und ein Stück der Stadt nach dem andern aus der Dunkelheit herausschneidet, Dächer und Türme und Kuppeln und die versteinerte Aufgeregtheit der Heiligen da und dort.
Das Stieglbräu steht in wuchtigen Maßkrügen vor ihnen, und dann nach der Kalbsstelze fällt Saliger ein, was da jetzt unbedingt dazugehört. »Ich hole einen Radi!« sagt er und macht sich sofort auf den Weg.
Seit Menschengedenken steht gleich beim Eingang auf der Terrasse die Radifrau. Und alle Radifrauen haben seit Menschengedenken einen zerschnittenen Finger und einen schmutzigen Lappen darumgewickelt. Vielleicht ist es seit Menschengedenken derselbe Lappen, und es hat ihn eine Radifrau von der andern übernommen. Aber der Radi, der ist richtig und gehört schon einmal dazu.
Marianne sieht Saliger nach, wie er sich zwischen den Tischen hindurchdrängt. Und dann fragt sie Herrn Doktor Klimsch unvermittelt: »Sie haben wohl viel für Löwe-Balladen übrig?«
Es ist eine komische Frage, und Doktor Klimsch weiß im Augenblick wirklich nichts mit ihr anzufangen. »Löwe-Balladen? Wieso?«
Marianne aber ist voll Übermut und spielt ein wenig Katze und Maus: »Nun, ich meine ... ich höre sie immer wieder gern ... ›Die Uhr‹ zum Beispiel ... oder ... oder etwa ›Archibald Douglas‹ ...«
Es ist ein Angelhaken, Marianne hat ihn, einer plötzlichen Eingebung folgend, ausgeworfen, und siehe da, der Rechtsanwalt Klimsch zappelt daran, ein dicker, schwerer Fisch. Er hat einen ganz roten Kopf und stammelt: »Ich verstehe nicht ...«
»Ach nein«, sagt Marianne, »leugnen Sie doch nicht.« Sie bleibt überlegen und gut gelaunt, sie kann ganz freimütig sprechen, in der leichten und frischen Luft, die sie nun atmen darf. »Es war eine – edle Tat ...«
»Fräulein Marianne ... ich bitte Sie ...«
»Sie wissen gar nicht, wie sehr Sie mir damals mit dem Geld geholfen haben ... Es ist mir gerade recht schlimm gegangen ... aber ich habe das Geld immer nur als ein Darlehen betrachtet. Meine ersten Ersparnisse waren für seine Rückzahlung bestimmt. Aber ich wußte ja nicht, wer ... Archibald Douglas ist ...« Sie sieht Doktor Klimsch spitzbübisch an, wird dann mit einem kurzen Ruck ernst: »Nun kann ich ihm wenigstens Danke schön sagen.«
»Ich wollte, ich hätte mehr tun können«, murmelt Klimsch und sieht dem Lichtfächer nach, der sich nun herumdreht und über die Feste Hohensalzburg hinwischt. »Aber ich habe mich nicht ... getraut.«
»Ja, das ist nun alles in Ordnung«, sagt Marianne, »und in ein paar Tagen trete ich doch meine Stellung als Lehrerin an ...«
Soso! Das ist nun auch wieder eine Neuigkeit für Klimsch, und es scheint ja, was Marianne anlangt, wirklich alles in Ordnung zu sein. Auch sonst! Der Doktor freut sich ja wohl, aber er nickt dabei ein wenig wehmütig mit dem Kopf, wie man etwas Entschwindendem nachnickt. So nickt ein kleiner Untergott, wenn eine Welt, auf der er eine Weile Blitz und Donner, Sonnenschein und Regen gezaubert hat, sich selbständig macht.
Aber jetzt ist es aus mit Archibald Douglas, denn nun kommt Saliger mit drei Papiertassen und einem Radi auf jeder, geschält, spiralig geschnitten und mit viel Salz zwischen den Spalten und dann wieder zusammengeklebt, damit er schwitzt. Die Radifrau sticht dem Radi einen Dorn in den Bauch, und dann dreht sie das scharfe Messer immer rundum, so macht sie es, und dabei muß man sich auch irgendwann einmal in den Finger schneiden, das gehört zum Beruf.
»Denk dir, Marianne«, sagt Saliger, indem er die Papiertassen hinstellt, »dort drüben sitzt Rotter – mit einer Dame, einer fremden Dame.«
Rotter mit einer fremden Dame, das ist eine Sehenswürdigkeit. »Wo?« beugt sich Marianne vor.
»Dort drüben, links, neben dem Baum auf der oberen Terrasse.«
Marianne schaut scharf hin, immer schärfer. »Ja«, sagt sie, »weiß Gott, es ist Rotter.«
»Kennen Sie die Dame?« erkundigt sich Saliger bei Klimsch.
»Das ist doch«, späht der Doktor aus, »das ist doch ... gewiß, das ist eine Sängerin ... die Lind-Vallacosta.«
»Etwas bunt und fremdländisch, wie?« meint Saliger und beginnt seinen Radi auseinanderzuziehen.
»Eine Südamerikanerin, wenn ich nicht irre. Sie ist für einige Altpartien in den Festspielopern verpflichtet worden. Aber ich höre, sie soll eine Enttäuschung sein, eine einst glanzvoll gewesene Stimme, jetzt aber leicht angealtert ...«
»Marianne, dein Radi!« mahnt Saliger. »Soll ich hingehen und Rotter ansprechen?«
Marianne scheint sich von der Sehenswürdigkeit nicht trennen zu können, sie schaut noch immer hin. Merkwürdig, wie ihr Gesicht sich geändert hat, ganz hart und eckig sind ihre Züge geworden, und eine tiefe Rinne steht steil zwischen den Brauen. »Ansprechen?« sagt sie dann, »ich denke, daß du ihm damit keinen Gefallen erweist.«
»Gönnen wir ihm also seinen Urlaub von der Ehe!« lacht Saliger.
Es ist nicht mehr die Rede von der bunten und etwas reifen fremdländischen Schönheit, und auch Marianne schaut nicht weiter hin.
»Sehen Sie«, sagt Saliger und deutet auf Maßkrug und Radi, »dieses Salzburg! Ist das noch überhaupt Österreich? Ist das nicht vielmehr eine Vorstadt von München?«
Klimsch lächelt verbindlich: »Gerade darum möchten sie es doch gern mit den Festspielen wieder zu Österreich machen.«
»So ein kleines Trutz-Bayreuth, nicht wahr?«
Und nun geraten die Männer ins politische, in einigem sind sie einig, in anderem nicht, und das ist eben das Anregende daran. Marianne beteiligt sich nicht an dem Gespräch, sie hat den Arm aufgestützt und sieht dem Spiel des Lichtfächers zu, wie er lautlos über die Stadt hingleitet.
Dann zieht Doktor Klimsch seine Uhr und erschrickt: »Du lieber Gott, so spät schon, ich muß zu den Schlaraffen.« Er küßt Mariannes Hand: »Ja, also viel Glück auf dem neuen Weg. Und wenn Sie einmal etwas brauchen sollten ... Sie wissen, ich stehe immer gern zu Ihren Diensten ...«
»Ein netter Mensch!« urteilt Saliger hinter ihm drein. »Etwas schuldbewußt dir gegenüber, kommt mir vor.«
»Hm!« meint Marianne. Sie ist sehr einsilbig geworden, »hm!« ist alles, was sie zu sagen hat.
»Ob ich nicht doch noch hingehe und Rotter in Verlegenheit bringe?« erwägt Saliger, der Bosnickl.
Aber Rotter hat sich allen schwarzen Anschlägen auf seinen Eheurlaub entzogen, der Platz neben dem Baum auf der oberen Terrasse ist leer. Und Marianne gähnt jetzt ein wenig und sagt: »Ich bin müde.«
Kein Wunder, nach einem solchen Tag ganz voll Salzburg.