Rudolf Stürzer
Schwankende Gestalten
Rudolf Stürzer

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Der Wiener Fußgeher

Der Wiener Fußgeher ist ein ganz eigenartiges Geschöpf, das seines Gleichen auf der ganzen Welt nicht mehr hat.

Beim ersten Schritt ins Freie überfällt ihn eine Art holder Wahn, der Blick wird leer, bleibt aber freundlich, denn das Auge sieht mehr nach innen und schwelgt im Genusse märchenhafter Seelenvorgänge; der Oberkörper senkt sich in die Hüften und die Beine bewegen sich mit nur geringer Unterstützung der Schenkel sozusagen von selbst, wodurch jene reizvolle, wiegende Gangart entsteht, die den Wiener vor allen Städtern auszeichnet und ihn in sanften Schlangenlinien vorwärts bringt. Diese Art des Gehens verträgt natürlich keine rasche Schrittfolge, daher fällt auch ein Schnellgeher in Wien sofort auf und wird untrüglich als »Zugereister« erkannt.

Wenn je das Wort vom Volk der Dichter und Denker mit Recht auf einen deutschen Volksstamm anwendbar war, dann gebührt dem Wiener der Vorrang. Merkt man auch sonst im Alltag wenig oder nichts von dieser Eigenart, so tritt sie dafür um so stärker und allgemeiner auf der Straße in Erscheinung, denn nirgends sonst denkt der Wiener so tief und gründlich, träumt er so selbstverloren 74 und von aller Erdenschwere losgelöst, als wenn er sein Haus verläßt, den Fuß aufs Pflaster setzt oder eine Straßenkreuzung überquert.

Vereinigen sich zwei Fußgeher zu gemeinsamer Fortbewegung, so teilen sie diese derart ein, daß sich die Schlangenlinien nicht überschneiden, sondern symmetrisch zu einander verlaufen, wodurch ein neckisches Trennen und Wiederfinden entsteht, das allerdings einen sehr breiten Gehweg beansprucht und – wo ein solcher nicht vorhanden – die Benützung der Fahrstraße sehr häufig zur Notwendigkeit macht.

Sehr beliebt ist auch die Fortbewegung mehrerer Fußgeher in breiter Front, wobei die Regelmäßigkeit der Schlangenlinien wohl nicht immer eingehalten werden kann, wodurch dann wiederholtes Zusammenstoßen der Wandler erfolgt, das weiblicherseits stets mit hellem Kichern, männlicherseits mit tiefen Tönen höchster Befriedigung begleitet wird. Sehr oft bleiben auch ganze Gruppen solcher Fußgeher plötzlich stehen, um den Flügelmännern die Fühlungnahme mit dem Mittelpunkte zu ermöglichen; es bilden sich dann ganze Inseln, um welche die anderen Fußgeher herumbranden müssen und so mitunter das Fuhrwerk auf der Fahrstraße gefährden.

Der weltberühmte Grundzug des Wieners kommt 75 aber auch als Fußgeher bei ihm stets zu schönem Ausdrucke. Wird der Wiener in seiner traumerfüllten Fortbewegung von einem anderen wahnbefangenen Fußgeher gestört, so nimmt er dies meist mit einem freundlichen »Oha« oder »Hoppla« zur Kenntnis und nur in Fällen einer stärkeren oder länger währenden Störung greift er zu der stumpfen Waffe des altösterreichischen klassischen Kernspruches, dessen häufigere Anwendung nur eine Folge des gesteigerten Verkehrs ist, vor Abschwächung jedoch durch bildhafte Ergänzungen bewahrt bleiben wird.

Außerordentlich bemerkenswert ist das Verhalten des fußgehenden Wieners, wenn er beim Lustwandeln auf der Fahrstraße von einem Fuhrwerk gestört wird. Zuerst zeigen seine Mienen ein maßloses Staunen über das Vorkommen eines Verkehrsmittels, dann beginnt er vor diesem im Kiebitzschritt herumzuhüpfen, wobei er seinen Gefühlen und Ansichten in rascher Satzfolge Ausdruck verleiht, bis er endlich den entscheidenden Entschluß faßt, nach welcher Straßenseite er sich wenden will. Von dort ergeht er sich dann in scharfen abfälligen Urteilen über die Person des Lenkers, sei dieser nun Kutscher oder Automann, und gebraucht hiebei ziemlich feststehende Formeln.

»Trott'l, blöder, kannst net aufpassen? An so 76 an Tepp'n laßt ma fahr'n! Wannst blind bist, kauf' D'r a Werkl, aber ka Automobil! Fallott ölendiga, nimm a Scheibtruch'n und lern' auf d'r Schmelz 's Fahr'n, Kabskutscher, vadächtiga

Die Polizei, getreu ihrer Ueberlieferung als gute Kinderfrau des Wieners, sorgt liebevoll und vorbildlich für die störungslose Betätigung seiner Eigenart, indem sie ihm das Lustwandeln auf der Fahrstraße und das Träumen beim Ueberqueren von Kreuzungen möglichst gefahrenfrei zu machen bestrebt ist. Sie hat zwar auch zehn Gebote für den Fußgeher erlassen, aber die Gebote hängen in den Straßenbahnwagen, wo sie niemand liest, denn die Fahrenden sind keine Fußgänger, und wandelt sich ein Fahrender in einen Fußgeher, dann weiß er ganz genau, daß ihm von Polizei wegen nichts geschehen darf.

Sehr anziehend und lehrreich sind die Uebungen, welche die Polizei bei den Kreuzungen, hauptsächlich aber bei der Oper mit den Fußgehern abhält. Dort bemühen sich zahlreiche Polizisten, jene Personen, welche die Straße übersetzen wollen, durch weitausholende Armschwingungen und freundliche Zurufe zu rascherer Fortbewegung anzufeuern, was dann stets ein massenhaftes Hin- und Herlaufen der »Passanten« zur Folge hat, das wieder ein längeres Verweilen der Fuhrwerke zur Bedingung macht. Es 77 ist leider sehr zu befürchten, daß diese Uebungen nicht systematisch durchgeführt werden können, weil sie wegen der wöchentlich einigemal stattfindenden Demonstrationsumzüge unterbrochen werden müssen. Immerhin ist aber doch die Hoffnung berechtigt, daß es der Polizei auch weiterhin gelingen wird, dem Wiener das traumerfüllte Wandeln auf der Fahrstraße und das gedankenvolle Uebersetzen von Kreuzungen zu ermöglichen, indem sie es ihren Beamten zur Pflicht macht, jeglichen Fuhrwerksverkehr sofort einzustellen, sobald sich ein Fußgeher auf der Fahrstraße zeigt. Ganz besondere Sorgfalt aber muß sie jenen Fußgehern zuwenden, die Zeitung lesend auf der Fahrstraße lustwandeln, und es diesen Wienern auch fernerhin möglich machen, beim Uebersetzen von Straßenkreuzungen selbst klein gedruckte Bücher in Ruhe lesen zu können.

Es wäre eine arge Uebertreibung, wollte man behaupten, daß die Fahrstraße in Wien nur dem Verkehr der Fußgeher diene, im Gegenteil, sie wird auch noch zu anderen Zwecken benützt, wie zum Beispiel zur Einübung des Fußballsports, zur Austragung von Wirtshausstreitigkeiten, zur Verübung von Eifersuchtsattentaten, zur Ablegung politischer Bekenntnisse und zum Aeußerlführen zahlloser Wolfshunde.

Die Haltlosigkeit der Ansicht, daß die Fahrstraße 78 dem Fuhrwerk, der Gehsteig dem Fußgeher gehöre, wird in keiner Stadt der Welt so restlos dargetan wie in Wien, und jeder Freund der Pflege und Erhaltung volkstümlicher Gewohnheiten und Eigenarten muß daher auch jeden hemmenden Eingriff in die Betätigung uralt ererbter Gebräuche und Sinnesart auf das schärfste mißbilligen, dafür aber rückhaltlos dem Wiener Grundsatz zustimmen, der da lautet:

»Ah was, i kann geh'n wo und wia i will, und i laß ma da von neamd nix dreinred'n!« 79

 


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