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Hermann Sudermann, der am 30. September 1917 ins siebente Jahrzehnt seines erfolgreichen Lebens eintrat, stammt aus dem ostpreußischen Matziken, aus einer religiös eifrigen Mennonitenfamilie; eines Brauers Sohn. In Tilsit besuchte er das Gymnasium, eine kurze Apothekerlehrzeit blieb eine Episode; in Königsberg hat er studiert. 1877 übersiedelte der tatenfrohe junge Mensch in die Reichshauptstadt, die ihn nicht wieder losließ. Er fertigte ein Berliner Wochenblatt fast allein vom ersten bis zum letzten Stück, er schuf Skizzen und Novellen – und hoffte auf sein Glück. Am 27. November 1889 wurde dann im Berliner Lessingtheater der Dramatiker Sudermann geboren mit dem Vollerfolg seines sozialen Tendenzstückes »Ehre«. Seither war er literarisch frei, er wurde wirtschaftlich unabhängig, sein Name war berühmt . . .
Sudermann, der im Gegensatz zu Gerhart Hauptmann seine Bühnenstoffe aus sich selber schöpft, ohne Anleihen bei der Weltliteratur, meistert seine Motive bühnengerecht. Er weiß, ein bildsamer Empfänger französischer Anregung für dramaturgische Kunstgriffe, dem Theater sein Recht zu geben in Schürzung und Lösung des dramatischen Knotens, mit der Verteilung von Licht und Schatten, mit allen Mitteln der Illusion, nicht zuletzt in den wirksamen Aktschlüssen. Stets bleibt er bedacht auf die schlagende, zugespitzte Sprache des Epigrammatikers, die Sudermanns Bühnenwerke auch in Buchform zeitlos im Wert erhält als geistreiche Lektüre. Innerhalb dreißig Jahren vollendete dieser schaffensfreudige, durch keinen Widerspruch zu lähmende Dramatiker ein Viertelhundert Ein- bis Fünfakter von wechselndem Wert und mit bewegter Bühnengeschichte; ihre Gesamtwirkung hat in Sudermann den stärksten Dramatiker Deutschlands erwiesen. Ich nenne aus der langen Reihe anhaltender Erfolge: »Sodoms Ende«, »Heimat«, »Morituri«, »Das Glück im Winkel«, »Johannes«, »Johannisfeuer«, »Stein unter Steinen«, »Die gutgeschnittene Ecke«.Sämtliche Werke Hermann Sudermanns erschienen im Verlage der J. G. Cottaschen Buchhandlung Nachfolger, Stuttgart und Berlin.
Sudermann als Präsident des von ihm begründeten Goethebundes wie als eifriger Förderer des Kulturbundes Deutscher Gelehrter und Künstler suchte und fand stets in Friedenszeiten und in den Kriegsjahren die lebendige Fühlung mit seinem Volk, dessen großen Angelegenheiten er dient. Ein bei aller Weltgewandtheit schlichter Mann, der die Gediegenheit liebt, der Phrase und dem Pathos abhold, hat er sich sein fruchtbares Leben, von Leiden nicht unangetastet, selbstsicher aufgebaut im Schutz eines echten Familienglückes, streng gegen sich, verständnisbereit für alles, was die bunte, tolle Welt bevölkert und bewegt; ein ritterlicher Mensch, ein Volksfreund, ein Dichter.
Wir gehen dem Erzähler Sudermann nach.
Ein weltvergessener Ton schwingt durch des Dichters ersten, sich durchsetzenden Roman von 1887: »Frau Sorge«. Paul Meyhöfer, der leidende Held der Erzählung, sagt der jede Freude beschattenden, jeden Nerv entnervenden Frau Sorge, die sich schon zum alten Faust durchs Schlüsselloch schleicht und ihn anhaucht, daß er erblindet, die Lebensfehde an. Der schwerblütige Grübler, der in dem Alltag dahindämmert, ohne seiner selbst bewußt zu werden, der hilflos verwundert die andern genießen sieht – dieser Pflichtknecht mit dem wackern Herzen reißt das ihn fliehende Glück an sich: als der hassende Vater, dem Frau Sorge im Genick sitzt, den schönen Gutshof, der einst sein war, im trunkenen Wahn anzünden will, da rettet Paul seiner Geliebten ihren Besitz, indem er seine eigene bescheidene Habe dem Untergang weiht. Der weithin leuchtende Flammenschein zwingt den Vater heim. Das Gericht will Paul freisprechen; aber der Brandstifter bekennt sich zu seiner Tat. Er geht ins Gefängnis, doch in seinem Innern leuchtet helles Licht! Er wandert diesem ihm aufstrahlenden Lichte zu, es hat ihn nicht als Irrlicht genarrt. Bei aller Treue in der Schilderung des armseligen Hofes, den die Familie mit dem früheren Paradiese vertauschen muß, liegt ein feiner Silberglanz über der romantischen Erzählung. Und in dem äußeren und inneren Erleben entschleiert sich allgemeines Menschenlos.
Der »Katzensteg« von 1889 (als Film 1915, als Volksstück in vierzehn Bildern 1917) ist eine in ihrem Wirklichkeitsdrang reife Erzählung, deren Held Boleslav sich schuldlos in den Kampf um die Ehre seines adligen Geschlechts verstrickt sieht und in Trotz sein Recht verficht. Der alte Freiherr von Schranden, der Napoleons Franzosen über den Katzensteg den Preußen in den Rücken jagte, hat den Fluch an seinen Namen geheftet. Die Acht der Bevölkerung trägt der Erbe, doch er knirscht. Er kämpfte in dem Freiheitskrieg (unter fremdem Namen) mit, den Tapfern schmückt das Eiserne Kreuz. Den Bauern bleibt er der Verfemte. Hat der unversöhnliche Pfarrer eifernd den Verwilderer seiner Gemeinde aus den Lebendigen gestrichen, so weigert er dem Sohn das ehrliche Begräbnis seines vaterlandlosen und sittenlosen Vaters. Im Ringen um das Aufatmen seiner Seele ersteht dem edelblütigen Manne der Versucher in der eigenen Brust: mit ihm haust in der Ruine des angestammten Schlosses Regine, des Alten Dirne, die aus früher Schändung in ihrer Verwahrlosung, hundetreu im Dienst, zum Menschen erwacht; der Schloßherr fühlt Zuneigung zu dem natürlichen Bundesgenossen seines unnatürlichen Daseins. Aber er behauptet sich auch in diesem Strauß des Herzens. Er fällt im neuausbrechenden Kriege. Alle Gestalten dieses von Leben durchtränkten Romans stehen fest auf ihren Füßen, der Gegensatz der Menschen wird schlagend hervorgetrieben, und der das dreizehnte Kapitel der Geschichte schrieb, da die Flamme des Gerichts Gottes am Einzelschicksal in der verräucherten Dorfschenke aufblitzt, der trägt das Mal des Berufenen.
»Jolanthes Hochzeit« (1892) erzählt, wie ein keckes Mädel ihren alten Jahrgang nur heiratet, um in die Nähe des jungen Geliebten zu kommen – vielmehr, der gutartige Freiherr von Hankel auf Ilgenstein gibt sein komisches Erlebnis selber mit männlicher Gelassenheit zum besten, als ihm und der kleinen Zecherrunde der Wein mundet. Der Stoff ist locker, aber er wird mit Sprühgeist heruntererzählt, und man kommt vor angespanntem Zuhören kaum zu Atem. Ist man kein prüder Sittenrichter, so freut man sich am Schluß der mit deutlichen Anspielungen gepfefferten Schnurre für Herrenabende, daß die Jugend zur Jugend sich durchfindet; denn was der Gott der Liebe nicht zusammengefügt hat, das soll der Mensch scheiden . . . Die moussierende Frische in dem Bericht des genasführten Hagestolz, der schließlich dankbar ist, vor den anstrengenden Veränderungen des Ehelebens bewahrt zu bleiben, hat Salonluft und gelegentlich Stallduft an sich; robuste Weltgesundheit spricht aus ihr und eine schmucklose Geradheit der durchschnittlichen Haltung des Lebens und Lebenlassens.
»Es war«, Sudermanns Roman von 1894, schildert überzeugend die Macht der Vergangenheit, die drohend ihr Haupt erhebt, nachdem der lebenswillige Mensch seine Schuld verschollen, sein Unrecht begraben wähnt. Die beiden tüchtigen Novellen des früher entstandenen Bandes »Geschwister« (1888) gehören einem verwandten Stoffkreise an. Der zur Freiheit sittlicher Selbstbestimmung berufene Erdensohn soll und muß ankämpfen wider die Erinnerungsbilder, die ihn schrecken. Der Ostelbier Leo von Sellenthin in »Es war« stellt sich dem Freund, mit dessen Gattin er ein Verhältnis einging, zum Zweikampf und schießt ihn nieder. Er flieht in die Welt, nachdem er seinem Freund Ulrich auf dessen feierliche Frage versicherte, nichts sei zwischen ihm und jener Frau, was nach menschlichem und göttlichem Recht unstatthaft sei. Der junkerliche Kraftkerl tobt sich in den Pampas von Südamerika aus, Ulrich heiratet Leos Geliebte, die Witwe des Duellopfers. Leo, nach mehreren Jahren heimkehrend, ist entschlossen, nichts zu bereuen und seine Pflicht zu tun. Jedoch die Vergangenheit spukt in seinem Blut und spreizt sich in seiner Umwelt; er geht der schönen Sünderin abermals ins Netz. Er wird von neuem schuldig: schuldig gegen sich selber, gegen den Freund, gegen die Seinen. Die Stoffindung ist so vortrefflich wie die Durchgestaltung glänzend; die charakterologische Begründung indes weist Lücken auf, die durch künstliche Mittelglieder nur scheinbar geschlossen sind. Die seelische Überzeugungskraft der weiblichen Gestalten – Felizitas, Johanna, Herta – bleibt zurück hinter der unbeirrbaren Beobachtungsgabe und der Lust am Erzählen.
Sudermanns Roman von 1908: »Das Hohe Lied« ist trotz seiner 635 Druckseiten eine Studie; den Darsteller dieser weitschichtigen Verhältnisse reizte es, einem Mädchentypus während der Entwicklungsjahre nachzuforschen, die Lili Czepanek mit dem lockern Musikantenblut im Leibe in wirbelnde Lebensformen zu stellen und mit der Freude des Seelenanatomen die einzelnen Zuckungen, Windungen, Temperaturen zu beobachten und zu verzeichnen. Der peinliche Stoff wird mit Sudermanns Glanz und Schmiß bewältigt; der Leser wandert im Verlauf der fünfundvierzig Kapitel, die in der Stadt und auf dem Lande spielen und Kabinettstücke der Widerspiegelung von Menschen und Zuständen bieten, durch eine Bildergalerie. Nicht jeder Vorwurf erfüllt uns einen Wunsch, jedoch hat der Künstler seine Stoffwahl frei; und das Zeugnis dürfte kein Unbefangener ihm weigern: Lilis verwickelter Werdegang, das Hohelied des weiblichen Naturtriebs, ist eine hohe Schule der Lebensweisheit, in der man niemals auslernt; literarisch ein in allen Feuern lockendes Prachtstück.
Ist es in alten Tagen ehrwürdige Volkssitte gewesen, von den Männern des Stammes an ihren Geburtsfesten öffentlich Kraftproben zu heischen, um durch deren Bestehen ihre Tüchtigkeit zu erhärten und die Ehre der Gemeinschaft zu erhöhen: als Mann von sechzig Jahren bringt Hermann Sudermann mit seinen »Litauischen Geschichten« (1917) der Heimat den reinsten Erweis seiner gesammelten Kraft als der Summe seines wohlvollbrachten schaffenden Lebens und seiner herzlichen Treue. Denn die hier vereinten vier Erzählungen bilden sein reifstes Dichtwerk, das an die Jugenddichtung von der gestrengen Fee Frau Sorge innerlich anknüpft. Der Erdgeruch dieser Meisternovellen ist würzig; die Gestaltung der Seele dieser einfachen Menschen und der Natur, der sie entsteigen und die sie fest umklammert hält, erscheint vollendet. Aus der Not und Wende der gewaltigen Gegenwart ward ein Heimatschatz gehoben, der ein kulturgeschichtliches Mal bedeutet für die Zeiten. Sudermanns Wucht des Stils ist ein leidenschaftliches, gebändigtes Feuer, seine Symbolik völlig unsentimental, seine Weise biblische Einfalt. Bedurfte es eines bündigen Beleges, wie wenig die Wanderung durch die Welt diesen Gesellschaftskritiker unterhöhlt und entwurzelt habe – diese Geschichten aus Litauen sind des Zeuge! Litauische Bauern, Elendleute im Moor, Kätner und Mägde sind die Träger der schreckhaften, spukhaften und scherzhaften Ereignisse, Liebe und Haß rütteln an den Dämmen und reißen sich wild ihren Weg, Erdsegen glänzt auf den erdhaften Gestalten; der Himmel Litauens ist ausgespannt. Wie aufschlußreich entwickelt sich in »Ions und Erdme« die ursprüngliche Kultur, die sich Schritt vor Schritt tastet mit erwachenden Sinnen; tiefdringend gibt der Erzähler diesen triebhaft vor sich hinlebenden Menschen das unverlorene Geleit ihres Götterglaubens mit, so daß Litauen nicht nur landschaftlich bis in seine verborgenen Reize unser Mitbesitz wird, sondern zugleich als Gewinn, als Sorge und Sorgelöserin um unsere Seele wirbt.
Aus zwei Novellenreihen des Dichters schöpfen unsere drei Erzählungen, mit denen die Universal-Bibliothek zu Ehren ihrer Nummer 6000 Hermann Sudermann in ihren internationalen Bücherschatz aufnimmt. Den zwanglosen Geschichten »Im Zwielicht« (1887) entstammt »Der verwandelte Fächer«. Ein kleines Feuerwerk über die Arterhaltung der Geschlechter und ihre Waffen aus der Schatzkammer der Natur leitet zu der Spezies der Tenorsänger und zu Frau Lillys tragikomischer Episode mit ihrem berühmten »Schwarm« über. So weltlaunig und scharfäugig schlenderte der junge Sudermann einst durch die Salons und durch die Straßen der Großstadt! – Von den sieben Stücken der reiferen Sammlung »Die indische Lilie« (1911), die manchen künstlerischen und menschlichen Wert festhält, erfreut die zarte Weihnachtsskizze »Fröhliche Leut'«. Das Fest der Familie trotzt dem Tod; die Mutter und Gattin feiert es lebendig gegenwärtig mit, ob sie schon der andern Welt zugehört. Die Grenzlinie der Sentimentalität wird mit Takt gemieden. Und »Thea«! Diese Phantasien über einem Teetopf wissen uns in ihren sechs Kapiteln unseres Dichters Leben und Wesen zu entschleiern. In dieser Bilderreihe, der Beichte eines Poeten, baut sich organisch die Weltanschauung des gütigen Optimismus, welche diese wurzelechte und kerngesunde Persönlichkeit sich erworben hat. Aus Jugenddruck und ehrlichem Sichemporraffen aus den nächtlichen Zirkeln der literarischen Müßiggänger wie der Salondrohnen wird der Entschluß geboren: Ich gehe mich suchen. Das kostet Kampf; dieses Stirb und Werde weckt Selbsterkenntnis und Menschenkenntnis. Körperliche Krisen fehlen dem Lebensgange nicht – der Dichter liegt in seinem Sarge, er prüft sich durch einen Schimmer der herben Gruftphilosophie, Kritiker und Verehrer lassen sich hören, bis er dem schönen, ernsten Leben zurückgegeben »im reifenden Weltwissen rätselratend« sich über Sturzacker, Strauchwerk, Springquellen und Eisschrunden auf die standhaltende Erde rettet. Von Illusionen frei, den Idealen getreu, schreitet der Dichter aus dem deutschen Osten frohgemut ins Abendrot, seines Weges gewiß.
Charlottenburg 1918.