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Es schlug acht Uhr, als Julia Altefähr vor ihrem hohen Spiegel stand und die mattgelben Handschuhe über ihre weichen, weißen Arme streifte. Sie trug ein Ballkleid von wunderbar duftiger, schimmernder Seide im zartesten Helllila, ganz einfach gemacht. Am tiefen Ausschnitt funkelten einzelne große Brillanten, und um den Hals reihten sich die strahlenden Steine zu einer schmalen Kette. Julia hatte eine wunderschöne Haut, die am Halse einen matten Perlenglanz, auf den Wangen einen zarten Pfirsichschmelz zeigte. Ihre Augen waren hellblau, mit großen schwarzen Pupillen, und standen zwischen langen, schwarzen Wimpern, unter fein und scharf und dunkel gezeichneten Brauen. Ihr Haar war goldblond, reich, locker und sehr kunstvoll frisiert und aufgesteckt.
Sie sah aus wie eine Fliederblüte, in deren Frühtau die Morgensonne hineinlacht. Sie war nicht schön nach den Regeln der Kunst; ihr Gesicht war zu rund, die Nase zu kurz. Aber sie hatte etwas unbeschreiblich Fesselndes, wie alles, was leuchtet, lacht und singt.
Vor der Thür des Schlafzimmers, in dem sie soeben ihre Toilette beendet hatte, ertönte ein Schritt.
»Du kannst gehen, Lotte,« wandte sich Julia in nachlässigem Ton an ihre Jungfer. »Nimm Tuch und Mantel mit hinunter.«
Lotte ging. Eine Sekunde später trat Julias Gatte ein. Er war gleich seiner Frau im Gesellschaftsanzug. Der Frack und die weiße Wäsche standen ihm gut. Sein scharfgeschnittenes, noch jugendfrisches Gesicht war in feierliche Falten gelegt.
»Wie unangenehm riecht es hier,« sagte er, ehe er noch die Thür hinter sich schloß. »Wie kannst du es nur in dieser Atmosphäre von sogenannten Wohlgerüchen aushalten!«
Sie sah ihn über die Schulter zurück an und lächelte geringschätzig.
»Es ist Flieder,« scherzte sie. »Das hängt so mit meinem Anzug zusammen.« Eberhard Altefähr betrachtete seine Frau von oben bis unten, als müsse er ihren Scherz erst mühsam verstehen lernen. Sein Gesicht wurde keineswegs freundlicher dabei. Sie aber wandte sich nun langsam um, so daß er ihren Anblick ganz genoß, hob die schlanken und doch vollgerundeten Arme, als wolle sie jemand umarmen, wodurch die reinen, anmutigen Linien ihrer von der weichen Seide eng umschmeichelten Figur voll zur Geltung kamen, und fragte mit einem Lächeln gleichgültiger, gewohnheitsmäßiger Koketterie:
»Gefalle ich dir?«
Eberhard erwiderte dies Lächeln mit einem finstern Blick.
»Ich bin nicht gekommen, um dich zu bewundern, sondern um ernst mit dir zu reden.«
Julia ließ die Arme langsam sinken und warf ihm einen mißtrauischen Blick zu. Dann wurde ihr helles, junges Gesicht finster und trotzig; sie fuhr fort, ihre Handschuhe zuzuknöpfen, und sagte, ohne aufzusehen:
»Es ist nicht mehr viel Zeit. Was willst du?«
»Ich will dir zu bedenken geben, daß ich mir ein Benehmen, wie du es dir seit einiger Zeit in Gesellschaften angewöhnt hast, nicht länger gefallen lasse.«
»Was für ein Benehmen?« fragte sie kühl.
»Du läßt dir in einer Weise den Hof machen, wie es sich für eine Frau deines Standes nicht schickt. Du gehörst nicht mehr zu den jungen Mädchen.«
»Also ich soll mit alten Weibern klatschen, mit alten Männern Politik und Philosophie treiben. Ich soll mich langweilen und nicht etwa so unpassend sein, zu zeigen, daß ich Gefallen finde an allem, was jung und fröhlich ist. Du hast mir das schon oft gesagt. So oft, daß ich dir nun endlich einmal antworten muß. Du verlangst Ungerechtes und Unmögliches. Ich bin noch jung. Man mag mich gern. Ich liebe den Tanz leidenschaftlich. Gleichviel – ich würde auf das alles ohne ein Gefühl des Bedauerns verzichten, wenn – ich zu Hause dafür entschädigt würde.«
Sie sah bei den letzten Worten ebenso ruhig aus, wie bei den ersten. Er aber zuckte zusammen.
»Wie meinst du das?«
»Wenn mir zu Hause jemand den Hof machte; wenn mich zu Hause jemand amüsierte und unterhielte; wenn mich jemand liebte – –«
Die letzten Worte verklangen zitternd, als entsprängen sie aus einer echten, tiefen Sehnsucht.
Der Mann sah seine Frau mit einem langen, schweren Blicke an.
»Warum sprichst du immer wieder davon, Julia! Du weißt, das alles ist nicht mehr zu ändern. Du solltest dich endlich darein finden. Du weißt, daß ich dich nicht so lieben kann, wie du es erwartest; du weißt, daß ich mich um so gewissenhafter bemühe, meine Pflicht dir gegenüber zu erfüllen –« hier lachte Julia, kurz, leise und spöttisch – »du solltest dich deinerseits bemühen, deine Pflicht zu thun –«
»Pflicht – Pflicht – Pflicht,« rief sie und hielt sich die Ohren zu. »Was nützt mir Pflicht, wo ich Liebe brauche. Das ist so, als ob man den Durst eines Schmachtenden mit gläsernen Früchten stillen wollte –«
»Und doch wirst du dich mit diesen gläsernen Früchten begnügen müssen,« sagte er bitter.
»Müssen? Muß ich mich begnügen mit dem, was du mir zu geben für gut hältst? Wozu lachen wo anders die goldenen Äpfel –«
»Julia!« fuhr er auf und trat einen Schritt näher. Seine Augen blitzten. Sie blieb kalt und ruhig.
»Warum hast du mich geheiratet! Warum hast du dich in mein hübsches Gesicht vernarrt, wie du mir neulich bekanntest. Männer von deinem Ernst und deinen Grundsätzen dürfen sich nicht in hübsche Gesichter vernarren. Nun es aber geschehen ist – nun weigere dich nicht, die Folgen zu tragen. Nun werde meinem hübschen Gesicht, meinen jungen Jahren, meiner ungelöschten Lebenskraft gerecht. Halte, was du mir versprachst; mache mich glücklich! Denke auch an deine Pflichten, du, der du mir immer nur die meinen predigst. Es scheint mir, als ob sich hinter diesem Pflichtgefühl ein großer Egoismus verberge. Alles beruht auf Gegenseitigkeit in der Ehe; auch die Pflichterfüllung.«
»Du hast deine Pflicht nie erfüllt. Du hast mich, seit der Flitterwochenrausch verbrauste, noch kaum eine Stunde glücklich gemacht.«
»Ich kann dich nicht glücklich machen,« sagte sie und zuckte die Achseln. »Ich hätte dir das sagen können, als du um mich warbst, wenn ich dich nur einigermaßen gekannt hätte. Aber dazu ließest du mir ja gar keine Zeit! Du mußtest mich haben – gleich, um jeden Preis; du konntest nicht warten. Du fürchtetest vielleicht, wenn du wartetest, würde ich dich kennen lernen und nein sagen. Du warst thöricht, das zu fürchten. Es wäre anders besser für uns gewesen.«
»Und warum nahmst du mich denn, wenn ich fragen darf?« rief er, am ganzen Leibe zitternd.
Sie wurde rot, sah auf ihre Hände und schwieg.
»Wir wollen uns nicht über die alten Geschichten erregen,« fuhr er ruhiger fort. »Sie sind nicht mehr zu ändern, und wir müssen die Folgen tragen; je stiller je besser. Komm jetzt, der Wagen wartet. Was ich aber vorhin sagte, das bleibt; und das merke dir: ich wünsche, daß du dich zurückhaltend und würdig beträgst; sonst ist dies der letzte Ball, den ich dir zu besuchen erlaube.«
Er öffnete die Thür. Sie ging an ihm vorbei hinaus. Unten nahm sie den Mantel um und stieg in den harrenden Wagen. Er folgte ihr sofort.
Draußen schneite es; aber die Luft war weich und milde, und die Flocken tauten in großen Rinnsalen an den Fenstern des geschlossenen Wagens hernieder, in dem kein Wort gesprochen wurde.
Die Fenster der Wohnung des Präsidenten warfen hellen Lichtschein auf die mit halbgeschmolzenem, zerstampften und zerfahrenen Schnee bedeckte Straße. Eine große Gesellschaft war dort versammelt; lauter elegante, geputzte Leute, die alle die Verpflichtung fühlten, liebenswürdig und fröhlich zu sein, und dieser Verpflichtung mit lobenswertem Eifer nachkamen.
Eberhard und Julia Altefahr waren ziemlich die letzten. Sie kamen fast immer zuletzt; er war zu vornehm, um früh zu kommen, und sie machte mehr Eindruck, wenn man schon versammelt war, und aller Augen sich erwartungsvoll auf sie richteten. – So urteilten die bösen Zungen.
Auch jetzt sah alles nach ihr hin, wie sie, einer duftschweren Blüte gleich, mit den halb träumerischen, halb begehrlichen Augen gleichsam ein neues Element in das alltägliche Bild solcher Modefeste hineinzuzaubern schien.
Man bewunderte Julia Altefahr, aber man liebte sie nicht. Und man bedauerte Eberhard Altefahr, und liebte ihn auch nicht.
Man nannte sie oberflächlich, selbstsüchtig, eitel und herzlos. Sie war gefährlich, denn sie machte allen jungen Mädchen Konkurrenz, und nicht nur die Junggesellen, sondern auch die Ehemänner standen unter dem Zauber ihres Wesens. Er hatte sich in seiner Wahl bedauerlich geirrt, unbegreiflich geirrt, unverzeihlich geirrt. Aber nun war ihm nicht mehr zu helfen – er mußte sehen, wie er es trug.
Gegenüber der Thür, durch welche Julia hereinschwebte, an die Wand gelehnt, als habe er mit dem Bienenschwarm, der ihn honig- und giftreich umsurrte, nichts gemein und nichts zu thun, stand Björn Heddenholm. Er war von Geburt ein Däne, aber seine Eltern waren in der preußischen Provinz ansässig geworden, als er noch ein kleiner Knabe war, und so war er auf deutschen Schulen erzogen und nun in die preußische Armee eingetreten. Der Husarenrock stand seiner mittelgroßen, kräftig schlanken Gestalt gut. Seine auffallend großen, grauen Augen hatten einen klaren, guten, festen Blick. Sie erinnerten an die nordischen Seeen mit ihrem geheimnisvollen, streng verschwiegenen Ernst.
Auch diese Augen sahen Julia an, und es war, als ob die Sonne die graue Tiefe bestrahle. Julia sah sich im ganzen Raume um, bis ihr Blick in diese ernste, leuchtende Tiefe versank – nur einen Augenblick; dann sah sie wieder fort. Ihr kühles, fast gleichgültiges Gesicht hatte einen wunderbar belebten und beseelten Ausdruck bekommen.
Übrigens schien sie die Ermahnung ihres Mannes mehr als sonst zu beherzigen. Sie blieb in dem Kreise der ältern Damen und Herren, obwohl sie sich da ausnahm wie ein Paradiesvogel in der Spatzenhecke, und unterhielt sich sehr vernünftig und ruhig. Zwischendurch teilte sie mit lächelnd herablassender Miene Tänze aus.
»Bitte ein wenig zurückzutreten!« erklang die Stimme des Vortänzers. Der Kreis löste sich auf. Die ersten Walzertöne erklangen. Die ersten Paare glitten vorbei.
Julia war bis an die Wand zurückgedrängt worden; da stand sie hochaufatmend still und sah sich um. – Ein Platz war noch frei auf dem Kärtchen, das sie in der Hand hielt. Aber der, dessen Name ihn ausfüllen sollte, kam nicht.
Dafür kam ihr Tänzer und entführte auch sie in den bunten Wirbel.
Julia tanzte leidenschaftlich gern und wunderbar gut. Sie hatte dies Vergnügen erst wenig ausgekostet im Leben – darum vielleicht war es ihr noch so frisch. Als Landkind hatte sie kaum Gelegenheit dazu gehabt. Als Braut erlaubte es ihr Verlobter nicht. Im ersten Jahr ihrer Ehe hatte sie viel gekränkelt. Im zweiten Winter bekam sie ein Kind, das ihr beinahe das Leben kostete, sie lange ans Bett fesselte, und nach neun Monaten wieder starb, so daß sie im dritten Winter Trauer hatte. Aber im vergangenen Jahr, da hatte sie Geschmack daran gefunden. Da hatte sie sich dem Reiz des Gesellschaftslebens mit Leidenschaft ergeben. Der stille Sommer in der Provinzialstadt war ihr unendlich lang geworden – ihre jungen Nerven zitterten dem neuerwachenden Wintertreiben entgegen.
Und dieser Winter hatte Björn gebracht. Von Wandsbeck war er hierher versetzt worden.
Eben tanzte sie an ihm vorbei. Er stand immer noch still an eben derselben Stelle. Ihre Blicke kreuzten sich flüchtig. Aber als Julia wieder an ihrem Platz stand, sah sie abermals und länger nach ihm hin, mit einem großen, sehnenden Blick, dem schwer ein Mann widersteht, wenn er diese Sehnsucht heimlich erwidert. Björn stand noch einige Sekunden, ohne sich zu rühren. Dann begann er langsam und zielbewußt den Saal zu durchqueren, mit automatenhaft ruhigen Bewegungen, geschickt durch den Wirbel der tanzenden Paare hindurchsteuernd, bis er vor Julia stand.
»Guten Abend, gnädige Frau,« sagte er feierlich und schlug die Absätze aneinander. Sie gab ihm die Hand, die er nur flüchtig nahm.
»Warum kommen Sie so spät zu mir?« fragte sie.
»Es ist ja noch nicht zu spät!« entgegnete er.
»So? Meinen Sie, ich müßte Ihnen selbstverständlich immer einen Tanz aufheben? Denn ich könnte längst keinen mehr haben. – Oder wollen Sie keinen?« fragte sie, als er stumm blieb. Er sagte auch jetzt noch nichts, sondern verneigte sich nur. Julia biß sich auf die roten Lippen. Dann sagte sie, ohne aufzusehen:
»Wollen wir zusammen zu Tisch gehen?«
Wieder verneigte er sich. Auf seinem Gesicht war nicht zu lesen, ob er es gern oder ungern that. Dann bat er sie um eine Extratour.
Julia nickte mit dem Kopfe, zögerte aber doch noch einen Augenblick, ehe sie sich in seinen Arm lehnte, als fürchte sie sich vor der Berührung mit dem einen, dem einzigen, mit dem sie tanzte, nicht um des Tanzes, sondern um des Tänzers willen. Dann mußte sie doch daran.
Erst fühlte sie seinen haltenden Arm kaum. Dann riß er sie an sich wie in plötzlich entfesseltem Zorn. Sie jagten dahin – die bunten Gestalten umher verschwammen vor ihren Augen, als ob ein gewaltthätiger Pinsel alles durcheinandergewischt habe; die Musik rauschte vor ihren Ohren wie eine einzige, unharmonische Tonwelle. Sie schloß die Augen. Sie sah nichts und hörte nichts. Sie fühlte nur die unbeschreibliche Wonne, von ihm umschlungen zu sein, und der Gedanke durchschauerte sie: könnte er so mit mir davontanzen aus diesem Saale und aus dem ganzen, öden Leben hinaus –
Und dann ließ er sie los. Sie war schwindlig geworden, weil sie mit geschlossenen Augen getanzt hatte. Und als sie wieder zu sich kam und fest stand, war er fort und im ganzen Saale nicht mehr zu finden.
Nachher sah sie ihn tanzen, mit dieser und jener. Zu ihr kam er nicht mehr. – Julia stürzte sich nun ihrerseits in das Getriebe. Es war die einzige Art, ihre Gedanken abzulenken, und zu verhindern, daß die Sehnsucht ihr aus den Augen schrie.
Ab und an kam ihr Gatte zu ihr mit irgend einer höflichen Redensart, die sie eben so höflich erwiderte. Auf diese Weise – das wußte sie – wurde sie ihn am schnellsten wieder los.
Endlich, endlich war es so weit. Ihre Geduld hätte auch kaum länger gehalten. Die langen gedeckten Tafeln und einige kleinere Tische wurden hereingeschoben. Die Thüren eines Nebenraumes, in welchem das Büffet aufgeschlagen war, öffneten sich weit. Paarweise drängte sich alles hinein.
So spät wie möglich erschien Björn, um seiner Dame die ihm von ihr aufgenötigten Ritterdienste zu erweisen.
»Ich habe an einem kleinen Tisch zu vieren für uns Plätze belegt,« sagte er. »Ist Ihnen das recht?«
»Ach nein – lieber an der langen Tafel,« meinte sie.
»Warum?« fragte er und sah sie an. Sie wurde rot. Dann lachte sie mutwillig.
»Weil man da ungestörter ist,« sagte sie. Schweigend kam er ihrem Wunsche nach und änderte es nach ihrer Angabe. Sie setzte sich, er bediente sie, und sie ließ es sich mit sichtlichem Behagen gefallen. Endlich hatten alle Platz genommen und waren beschäftigt. Auch Björn saß neben Julia und leerte schweigend seinen Teller. Sie machte mehreremale einen vergeblichen Versuch, ihn anzureden. Sein Schweigen bedrückte sie; sie schämte sich. Plötzlich stiegen ihr Thränen in die Augen; so schnell und groß, daß sie erschrocken das Taschentuch darauf drückte. In diesem Augenblick sah Björn sich nach ihr um.
»Aber – mein Gott –« rief er und ließ die Gabel fallen.
»Still,« sagte sie und begann hastig zu essen und zu trinken. »Es ist nichts; nichts Neues wenigstens. Sprechen Sie nicht davon.«
Björn schwieg, starrte vor sich hin und seufzte schwer.
»Wir müssen uns unterhalten,« sagte Julia leise. »Es ist auffallend, wenn wir so stumm sind. Ich will Ihnen etwas erzählen. Mein Mann hat mir heute gesagt, daß er nie wieder mit mir Bälle und Gesellschaften besuchen würde, wenn ich mich nicht zurückhaltender benähme.«
»Da hat Ihr Herr Gemahl sehr recht, und ich kann ihm das gar nicht verdenken,« sagte Björn sehr ruhig.
Julia starrte ihn an, mit weit aufgerissenen Augen, wie ein entsetztes Kind.
»Ihr Mann,« fuhr Björn scheinbar unbewegt fort, »hat selbst die Grenze überschritten, vor welcher man ein so lebhaftes Vergnügen an Tanz und Spiel empfindet. Es ist sehr natürlich, daß er seine Frau da zu sehen wünscht, wo er steht: jenseits dieser Grenze. Und es ist Ihre Pflicht, ihm zu folgen. Die Frau gehört zum Manne.«
»Es ist aber trotzdem ein ganz unberechtigtes Verlangen,« entgegnete sie eifrig. »Ich bin noch viel zu jung, um mit all diesen Dingen schon abgeschlossen zu haben. Ich stehe noch nicht jenseits dieser Grenze! Warum soll sich immer die Frau dem Manne fügen, und niemals der Mann der Frau!«
»Ja – das ist nun einmal so,« sagte Björn unerschütterlich.
»Das ist aber schreiender Egoismus,« eiferte sie. »Ihm kostet es nur einige Unbequemlichkeiten, vielleicht ein wenig Langeweile, wenn er mir in diesem Falle nachgiebt. Ich – werde todunglücklich, wenn ich mich fügen muß!«
Der Egoismus ist auf ihrer Seite eben so groß, dachte Björn. Man sah, es bereitete ihm Qual, solch leichtfertiges Zeug aus ihrem Munde zu hören.
»Ich will nicht glauben, daß Sie im Ernst sprechen,« sagte er. »Daß wirklich Ihr Glück oder Unglück davon abhängt, ob Sie sich putzen, tanzen und sich feiern lassen können, oder nicht –«
»Davon nicht!« erwiderte sie verträumt; »nein, davon gewiß nicht –«
»Und es ist sehr peinlich für mich,« fuhr er trocken fort, »wenn Sie in solcher Weise zu mir über Ihren Gatten reden!«
Sie sah ihn mit offenem Munde erstaunt an.
»Warum? Das ist doch sehr natürlich – Sie sind der einzige Mensch, dem ich vertrauen, gegen den ich mein Herz erleichtern kann!«
»Wollte Gott, ich wäre es nicht!« dachte Björn. Sein Gesicht nahm einen tief kummervollen Ausdruck an. Seine Brust arbeitete schwer.
»Dschulia –« sagte er leise mit der ihm eignen, weichen Aussprache ihres Vornamens, und es überrieselte sie wonnig, diesen Namen so weich und leise von seinen Lippen fallen zu hören – »Dschulia, ich werde gleich nach dem Essen fortgehen –«
»Warum?« unterbrach sie erschrocken.
»Ich fühle mich nicht wohl,« sagte er leichthin. »Aber ich muß Sie sprechen – allein sprechen –« fuhr er gequält fort – »Sagen Sie mir wann!«
Julia starrte ihn an mit großen, entzückten Augen; das Herz schlug ihr zum Zerspringen. Und er saß da und sah in sein halbgeleertes Glas, traurig – verzweifelt.
»Mein Mann ist bis um zwei Uhr auf dem Bureau,« sagte sie mit vor Erregung schwankender Stimme. »Ich werde Sie erwarten –«
»Gut – ich werde mich vom Dienst frei machen. Um zwölf Uhr bin ich bei Ihnen. – Darf ich Ihnen noch etwas zu essen holen?«
»Ich danke –«
Sie wäre nicht im stande gewesen, jetzt noch einen Bissen herunterzubringen. Da ging er, um sich selbst zu versorgen. Es ärgerte sie fast, daß er an solche leibliche Dinge dachte in einem Augenblick, wo sie sein Herz entgegengenommen zu haben glaubte. Sie sah ihm nach, wie er sich entfernte; ihre Augen blieben auf der Thür haften, durch die er hinausging, mit einem hungrigen, gierigen Ausdruck, bis er wieder im Lichtkreis ihres Blickes erschien. Sie sah ihm aufmerksam zu, wie er einen Bissen nach dem andern zum Munde führte, wie er trank, wie er sich die perlenden Tropfen aus dem dunkeln Schnurrbart wischte; ohne mit ihr zu sprechen, ohne sie anzusehen, ohne sich in irgend einer Weise um sie zu kümmern; als ob er gar nicht ahne, daß sie da sei; daß sie sich seit einigen Tagen gefreut hatte auf diesen Augenblick; daß ihr Leben überhaupt nur nach den Augenblicken zählte, die sie mit ihm verlebte.
Man erhob sich, und er reichte ihr höflich den Arm. Er führte sie schweigend in den Saal zurück, verneigte sich vor ihr und wandte sich zum Gehen. Unwillkürlich streckte sie die Hand nach ihm aus – er that, als sähe er es nicht. Eine unbestimmte, bange Ahnung machte ihre Seele zittern.
»Björn –« sagte sie mit vor aufsteigenden Thränen unsicherer Stimme. Er that, als höre er es nicht.
Heimlich stahl er sich davon und schlenderte einsam und langsam durch die nächtlich leeren Straßen nach Hause. Die Steine waren naß und kalt; es schneite nicht mehr; ein lauer Wind riß die Wolken auseinander; hier und da schimmerten ein paar Sterne durch die dicke, feuchte Luft.
Immer langsamer wurde sein Schritt, als trüge er an einer schweren, schweren Last, die ihn zu Boden zu drücken drohte. Das war die unselige Leidenschaft, die sich seiner bemächtigt hatte wie der Dieb in der Nacht, wie ein Dämon der Finsternis, der seine redliche Seele entweihen und vernichten wollte. Er hatte es nicht gewollt; er war nie auch nur in Gedanken leichtfertig gewesen. Er hatte die Gefahr nicht gesucht, die sich ihm aufdrängte in der bethörend lieblichen Gestalt des schillernden Falters, der seine Augen mit farbensprühendem Gegaukel fesselte und blendete. Und als er sie erkannt hatte, die verführerische Gefahr, da war er vor ihr geflohen. Aber sie war ihm nachgegangen. Mit rücksichtsloser Begehrlichkeit hatte sie sich in seine Seele hineingedrängt, mit ihrem schimmernden Seidenhaar, mit ihren tauglitzernden Augen, mit ihrem süß lächelnden Munde. Er hatte sich eingeredet, es sei nur eine flüchtige Verliebtheit, ein aufflackernder Sinnenrausch gewesen, ebenso heftig wie vergänglich. Aber es war mehr.
Es war geschehen um die Ruhe seiner Tage, um den Schlaf seiner Nächte, um den Frieden seines Gewissens. Zwischen ihm und allem übrigen stand Julias Bild und jagte seine feste, treue Seele mit allen Schrecken einer verhängnisvollen Leidenschaft.
Er that das einzige, was er noch thun konnte: er legte diese Leidenschaft, die er nicht mehr beschwichtigen konnte, hinter Schloß und Riegel; er ließ sie hungern und bluten in Ketten und Banden im tiefsten Verließ seines Herzens, und bildete sich lange Zeit ein, niemand wisse darum.
Bis eines Tages ihm aus Julias Augen der treue Widerschein der eignen Leidenschaft entgegenleuchtete, nur zügelloser, vermessener als die seine. Ihn brachte diese Entdeckung fast um seinen Verstand. Und sie lächelte, süßer und seliger denn je, wie in sicherer Erwartung eines unbeschreiblichen Glückes.
War sie dumm? war sie leichtfertig?
Wie Furien war es hinter ihm her; es fraß ihn innerlich auf; er wütete gegen sie und liebte sie doch täglich mehr. Und sie lächelte dazu und strahlte ihn an. Er wollte es nicht sehen; er wollte nichts wissen von ihr; er wollte nicht unterliegen.
Und endlich unterlag er doch.
Es kam der Tag, an welchem er ihr sagte, daß er sie liebe, heiß, glühend, ohne Sinn und Verstand, leidenschaftlich und hoffnungslos. Wie es möglich gewesen, wußte er nachher nicht mehr. Sie hatte ihm die Worte aus der Tiefe seiner Seele einzeln heraufgelockt mit ihren sehnsüchtigen Augen, mit ihrer hingebenden Lieblichkeit, mit dem unbewußt sinnlichen Zauber ihres Wesens. Aber es hätte doch nicht sein dürfen; er war Mannes genug, um zu verweigern, was ein Paar verführerische Weiberaugen erflehten. – Mitten in der Unterredung, in dem heisern Liebesgeflüster war er aufgesprungen und davongelaufen, entsetzt über das, was nun unwiderruflich geschehen war. Es war die höchste Zeit gewesen; die nächste Minute hätte sie in seine Arme gelegt.
Draußen kam die Überlegung. Warum hatte er das gesagt! Zu welchem Ziele konnte es führen! Sie konnten sich nicht heiraten; sie konnten sich nie vereinigen. Und wenn Julia sich von ihrem Manne trennen wollte um seinetwillen – er konnte niemals eine Abgeschiedene freien; er hätte sich selbst nicht mehr geachtet, wenn sein Benehmen eine Frau zur Sünde verleitete; er hätte die Frau nicht achten können, die seinetwegen Ehre und Pflicht vergessen hatte.
Und dann kam die Reue. Die Reue, unter deren scharfen Geißelhieben er sich den heldenhaften Entschluß abrang, der dem allen ein Ende machen sollte; der seiner Jugendfrische die Blüte abschlug, der ihm aber die Selbstachtung wiedergab; der Entschluß, den er ihr morgen mitteilen wollte.
In seiner dunkeln Wohnung machte er Licht. Es war warm und sah behaglich bei ihm aus. Er hatte sich hier eingerichtet in der Aussicht, in der Hoffnung auf eine lange Reihe angenehmer Jahre. Es sollte nicht sein.
Warum liebte er sie nur so sehr, so schmerzhaft, so vernunftlos! Sie war es gar nicht wert – sie war eine duftende Blume, deren geheimnisvoll anziehender Kelch niemals eine gesunde Frucht zeugen würde.
Aber fragt die Liebe: warum? Sie bemächtigt sich des Menschen, ob er will oder nicht, und es kommt nur darauf an, ob er stark genug ist, sie zu ertragen oder zu überwinden.
Der arme Björn verbrachte auf dem Ruhekissen gewissenhafter, unwiderruflicher Vorsätze eine elende, schlechte Nacht.
Inzwischen fuhr Eberhard Altefahr mit seiner Frau nach Hause. Es wurde nicht viel zwischen den beiden gesprochen. Sie vermißte ihres Mannes Unterhaltung nicht. Sie dachte nur an Björn, und ihr ganzer Mensch zitterte dem kommenden Morgen in unsinniger, blinder Freude entgegen. Er wollte sie sprechen – allein – was immer er ihr auch zu sagen haben könnte, es würde in Nichts zusammenschrumpfen vor dem Glück, allein, ganz allein mit ihm zu sein, sich ohne Furcht vor Zeugen und Mitwissern an seiner Nähe berauschen zu können.
Erst, als sie sich ihrer Wohnung näherten, besann sie sich wieder auf ihren Gatten, auf das wirkliche Leben, und ein schwerer Druck legte sich auf ihr Herz. Aber sie bemühte sich, ihn leichtsinnig abzuschütteln.
»Unüberwindliche Abneigung ist Scheidungsgrund,« sagte sie sich. »Und wenn er nicht zugiebt, daß die Abneigung gegenseitig ist – nun, so giebt es noch einen andern, durchschlagendern Grund –« und dabei schloß sie die Augen, es lief ihr heiß und kalt über die Glieder, und vor den geschlossenen Lidern tanzte in flimmernder Röte das erregte Blut.
Als ihr Mann ihr beim Aussteigen behilflich war und ihr die Hand reichte, überrieselte es sie wie Abscheu. Wie zwei unversöhnlich feindselige Elemente wichen sie voreinander zurück; er mit seinem schweren, kalten Blut und sie mit ihrem heißen, aufschäumenden. Feindselig war der Blick, mit dem sie ihn scheu betrachtete, als sie in dem spärlich erhellten Wohnzimmer einander gegenüber standen.
»Hab' ich mich heut zu deiner Zufriedenheit benommen?« fragte sie mit zornigem Spott und kniff die Lippen zusammen. Er antwortete nicht gleich.
»Die Sache ist zu ernst, um sie zum Gegenstand leichtfertigen Gespöttes zu machen,« sagte er dann kalt.
»Ich spotte gar nicht,« erwiderte sie gereizt. »Da du mich nicht tadelst, so nehme ich an, daß du mit mir zufrieden bist; und wenn du mir deine Unzufriedenheit stets rücksichtslos ausdrückst, so kannst du mir auch deine Zufriedenheit zu erkennen geben. Tadle nicht immer nur – lobe auch!«
»Wenn du dich anständig beträgst, so ist das etwas ganz Selbstverständliches und keines besondern Lobes wert. Pflichterfüllung ist stets etwas Selbstverständliches und wartet nicht auf Lob.«
Julia lachte nervös.
»Du bist ein Philister reinster Güte –«
»Wenn du damit meinst, daß ich nichts von all den ungezügelten Lüsten und Begierden kenne, die dich friedlos machen, so ist das die größte Anerkennung, die du mir spenden kannst.« Er sagte das mit schwerem Nachdruck und verließ das Zimmer, die Thür heftig hinter sich schließend.
Julia biß die Zähne aufeinander, daß es knirschte, und zwischen den Lippen hindurch kam ein leiser Ton wie das Zischen einer getretenen Schlange. Sie ballte die Hände zu Fäusten und schüttelte sie, als hingen Ketten daran; in ihren Augen funkelte etwas Böses.
Dann plötzlich lachte sie auf, selig und leichtfertig, verschränkte die Arme im Genick, warf den Kopf nach hinten und starrte mit verzückten Augen zur Zimmerdecke empor.
»Morgen –« flüsterte sie; »morgen –«
Der hohe Spiegel warf ihr reizendes Bild zurück; sie sah es und freute sich daran, und überlegte, was sie »morgen« anziehen würde. Und dabei fing sie an zu zittern.
»Was will er nur von mir – was will er nur –« und dann beantwortete sie die eigne Frage: »Nichts, was ich nicht zu geben bereit wäre!«
Schon eine Stunde vor der verabredeten Zeit erwartete sie ihn, in einem leicht gerafften, rosenroten Morgenkleide; ihre Wangen brannten vor Erregung, und ihre Augen leuchteten. Sie sah entzückend aus, hell, duftig, von Leben durchglüht – das verkörperte Liebesgewähren.
Bald lief sie auf dem dicken Teppich auf und ab, bald stand sie am Fenster, von der gestickten Tüllgardine halb verborgen. Dann starrte sie minutenlang in verzehrender Ungeduld auf die behaglich tickende Stutzuhr von buntem Porzellan. Dann rückte und ordnete sie hier und da, wo es gar nichts zu rücken und zu ordnen gab, setzte sich hin und sprang wieder auf – klappte ein Buch auf und wieder zu, und dabei klopfte ihr das Herz in rasender Geschwindigkeit.
Endlich, zehn Minuten nach zwölf, kam er. Sie hörte ihn klingeln, hörte seine Stimme auf dem Flur, ruhig wie immer, hörte seinen Schritt sich nähern. Sie blieb stehen, wo sie gerade stand; es war, als fröre sie fast, so kalt wurde ihr vor Wonne; das Herz schlug kaum mehr –
Björn Heddenholm betrat zum erstenmal seit jenem unseligen Tage wieder Julias Boudoir. Es verursachte ihm ein körperliches Unbehagen, den Ambraduft einzuatmen, der hier immer schwebte – noch dazu überwacht und nüchtern, wie er war – und all die Gegenstände wieder zu sehen, die sein Gedächtnis mit quälenden Erinnerungen gemischt unauslöschbar in sich aufgenommen hatte. Er sah ernst und traurig aus, wie am Abend vorher, und obendrein elend.
»Ich habe es kaum erwarten können –« stotterte Julia, da er nichts sagte, und fühlte die Adern im Halse schlagen. Björns Antlitz verfinsterte sich; der Blick, mit dem er sie ansah, war beinahe zornig.
»Ich hoffe nicht, daß Sie denken, ich sei gekommen, um verbotenen Freuden zu frönen,« sagte er mit kurzer, trockner Stimme und legte Mütze und Säbel auf einen Stuhl an der Thür. Julia war durch diesen Ton so verängstigt, daß sie nicht mehr wagte, oder auch vergaß, ihm die Hand zu geben.
»Ich – ich – ich weiß ja gar nicht –«
»Das alles muß jetzt ein Ende haben,« unterbrach er rauh ihre zitternden Worte.
Julia ergriff einen Sessel, der ihr zunächst stand, und stützte sich mit beiden Händen darauf.
»Was muß ein Ende haben?« fragte sie heiser.
»Dieses ganze unwürdige, sündhafte Verhältnis, in das wir uns haben hineinreißen lassen. – Gestern,« fuhr er fort, reckte sich hoch auf und zog die Stirn in schmerzliche Falten, »habe ich meine Versetzung beantragt.«
Eine fürchterliche Stille folgte seinen Worten. Julia wurde bleich; in ihren Augen erlosch das glitzernde Licht; sie rührte sich nicht; sie sagte nichts. Er wagte nicht, sie anzusehen. Finster zu Boden starrend, fuhr er fort:
»Das, was zwischen uns vorgefallen ist, macht es mir unmöglich, noch länger in Ihrer Nähe zu bleiben. Es wäre ein Unrecht an Ihnen, an mir und an – einem Dritten; ein Vergehen gegen Ehre, Pflicht und Gewissen –«
Julia stieß einen merkwürdigen kleinen Ton aus, halb Wut, halb Gelächter. Nun sprach auch der ihr von Pflicht. –
»Wenn Sie so pflichttreu sind,« würgte sie aus zugeschnürter Kehle hervor, »so hätte Ihnen das alles schon früher einfallen sollen!«
»Ja,« sagte er traurig, »Sie haben recht, und es ist mir unbegreiflich, daß es mir nicht eher einfiel –«
»Und jetzt ist es zu spät –« unterbrach sie geängstigt.
»Nein, es ist niemals zu spät für Reue und Umkehr,« sagte er sehr ernst. »Es kostet nur einen herzhaften Entschluß. Und der ist gefaßt. Ich bin gekommen, Ihnen diesen Entschluß mitzuteilen und Ihnen Lebewohl zu sagen. Ich hoffe morgen einen Urlaub anzutreten und dann direkt meine neue Garnison zu beziehen.«
Julia hatte sich aufgerichtet und starrte ihn mit wahrhaft entsetzten Augen an. Morgen schon – morgen schon –
»Björn!« schrie sie auf; ihre Arme thaten sich auseinander, als wolle sie sich auf ihn stürzen – statt dessen schlug sie die Hände vor das Gesicht, ließ sich in den Sessel fallen, an dem sie stand, und fing laut und haltlos zu weinen an.
»Mein Gott, nehmen Sie sich doch zusammen!« fuhr Björn sie an und sah sich unwillkürlich nach den Thüren um. »Wie kann man sich so gehen lassen!«
Als sie sah, daß ihre Thränen ihm gar keinen Eindruck machten, that sie ihnen Gewalt an.
»Überlegen Sie doch einmal ganz ruhig,« fuhr Björn mit bewundernswerter Selbstbeherrschung fort, »wohin soll denn dieser Zustand führen! Dauern kann er nicht; er treibt vorwärts; er treibt uns einem Abgrund entgegen –«
»So will ich in dem Abgrund zerschellen!« rief sie außer sich. »Ich kann dies elende Leben nicht weiter ertragen!«
»Sie müssen es!« sagte er hart. »Und wenn Sie es richtig anfangen, so braucht es nicht elend zu sein.«
»Sie sind sehr weise – o, früher waren Sie es nicht –« schluchzte sie auf.
»Ich will mich freuen, wenn ich weise geworden bin,« sagte er. »Ich habe jedenfalls nicht Lust, mich in den Abgrund zu begeben; ich will meine Selbstachtung behalten – und ich will nicht mein Seelenheil leichtsinnig verscherzen.«
Julia blieb minutenlang still und nachdenklich sitzen. Dann sagte sie mit bitterm Hohn in ihrer weichen Stimme:
»Das sind sehr schöne Redensarten. Seien Sie doch lieber ehrlich in dieser Stunde, der Sie einen so feierlichen Anstrich geben. Sagen Sie doch lieber: ich liebe Sie nicht mehr, Julia; ich bin Ihrer überdrüssig geworden; ich habe erreicht, was mich lockte – ich habe Sie in meinen Armen gehalten und habe Sie geküßt – nun bin ich satt; und weil Ihr weiterer Anblick mir ein peinlicher Vorwurf wäre, so will ich mich diesem Anblick lieber entziehen und meiner Wege gehen!«
Björn war bei dieser häßlichen Rede sehr blaß geworden.
»Nein,« erwiderte er, immer noch ruhig, »so kann ich nicht sagen, denn das wäre gelogen. Ich liebe Sie immer noch, und gerade darum muß ich um so dringender fort. Können Sie denn das nicht begreifen, Julia!«
»Nein, ich kann es nicht begreifen! Kann nicht begreifen, warum Sie mich erst umgarnten und anlockten mit Ihrer Liebe, warum Sie sich in meine Ruhe drängten und mir meinen Frieden nahmen, warum Sie mich verfolgten –«
»Julia!« rief er voll tief schmerzlichen Vorwurfes. Er war aber viel zu vornehm, zu stolz und zu rücksichtsvoll, um ihr ihre leidenschaftlich ausgestoßenen Anschuldigungen zurückzugeben. Er sah sie nur an mit einem großen, ernsten Blick, unter dem sie schuldbewußt erglühte.
»Es ist ja auch gleich, wie es kam,« sagte sie kläglich. »Es ist geschehen und ist nie wieder auszulöschen. – Aber wenn du mich verläßt –« fuhr sie fort, und kauerte sich frierend zusammen wie ein kranker Vogel, »wenn du mir das Einzige nimmst, was mir das Leben erträglich macht, so weiß ich nicht, was aus mir wird; so werde ich schlecht und leichtsinnig; so gehe ich auf diese oder jene Weise unter!«
»Sie haben auch früher leben müssen ohne mich –«
»Früher, als ich dich nicht kannte! Jetzt – geht es nicht mehr.«
»Es muß gehen,« sagte er unerschütterlich. »Sie müssen in sich selbst finden, womit Sie es ertragen. Ich kann Ihnen nicht mehr helfen – ich habe Ihnen nie helfen können; es ist alles nur schlimmer geworden durch mein Dazukommen. Vielleicht wird es Ihnen doch wieder leichter, wenn ich nicht mehr da bin. Jedenfalls müssen Sie sich nun auf Ihre eigne Kraft allein verlassen, denn unsre Wege müssen sich scheiden – müssen sich scheiden!« wiederholte er lauter, als sie ihn unterbrechen wollte. Sie sank noch tiefer in sich zusammen. Sie hätte ihn hassen mögen; aber wider Willen mußte sie Ehrfurcht vor ihm empfinden.
»Warum – warum – jetzt, wo ich nicht mehr kann!« stöhnte sie, und legte das Gesicht in die Hände. Er sah den schimmernden, goldhaarigen Kopf, den vor Erregung und Weinen zuckenden Körper. »Es ist nur Egoismus von dir, kläglicher Egoismus!« Und sie schluchzte weiter.
Es schnitt ihm in die Seele, sie so kauern und jammern zu sehen – jammern um ein Elend, das er hatte anrichten helfen. Er hätte gern diesen blonden Kopf geliebkost, dieses arme, unglückliche Weib getröstet –
Nein, nein! rief er sich zornig zu, und legte die Hände, die sich nach ihr ausstrecken wollten, auf den Rücken zusammen.
»Julia!« sagte er beschwörend, »wenn du noch irgend etwas Gutes für mich thun willst, so hör auf zu weinen!«
Sie war zwar böse auf ihn, aber sie that doch, um was er bat; sie konnte nicht anders.
»Sieh mal, Julia,« begann er so ruhig wie möglich, und ging dabei mit gesenktem Kopfe umher, »ich gehe doch nicht nur meinetwegen, sondern auch deinetwegen. Du hast dein Herz an mich gehängt – wie ich an dich das meine – du hast nicht die Absicht, mich wieder loszulassen. Du bist ganz in der Gewalt deiner Leidenschaft. Du würdest dich besinnungslos in meine Arme stürzen, wenn ich sie dir öffnen würde. Aber ich werde das nicht thun – nie wieder. Und dann würdest du an mir vorbeistürzen – ins Bodenlose. Hab' ich recht, Julia?«
»Ja, gewiß hast du recht! Und darum eben –«
»Wenn ich aber nun fortgehe,« sprach er weiter, »wenn du mich nicht mehr siehst und nichts mehr von mir hörst, so wirst du mich vergessen. Was dir sichtbar und greifbar bleibt, wird das Gewesene und Verschwundene verdrängen –«
»Ich werde dich nie vergessen,« sagte sie trotzig.
»Doch, du wirst. Du wirst müssen, was du nicht willst, kraft deines Temperaments, deiner Charakteranlagen.«
»Ich werde dich nicht vergessen,« wiederholte sie. »Du meinst, ich sei leichtsinnig und unbeständig – ich bestreite es nicht. Einmal aber fällt auch über den Flatterhaftesten die Kette, von der ihn niemand und nichts mehr löst; und das ist für mich die Liebe zu dir! Lebenslang wird sie mir anhangen, werd' ich sie mit mir herumzerren, wird sie mich wund scheuern – bis ich erschöpft zusammenbrechen werde. Meinetwegen – ich mache mir nichts mehr aus dem Leben. – Björn!« rief sie, und rang ihm die Hände entgegen, »du kannst es nicht übers Herz bringen, uns zu trennen! Zu fest schon sind wir miteinander verbunden! Nenne es Sünde, nenne es Ehrlosigkeit, was uns bindet – gleichviel, wenn du das Band zerreißt, so geht es ans Leben! – Und warum willst du uns trennen! Sieh, ich bin bereit, alles zu thun – ich will meinen Mann verlassen, ich will mich scheiden lassen – ich will«, fuhr sie fort und senkte das Haupt und schauerte zusammen, »irgend etwas Schlechtes thun, nur um einen Grund zu haben, ihn zu verlassen –«
»Ich will aber nicht, daß du irgend etwas derartig Unsinniges thust. Wärest du frei gewesen, als ich dich kennen lernte – ich hätte dich in meine Arme genommen, und hätt' ich dich aus dem Schmutz der Straße auflesen müssen. Wenn du dich befreitest durch eine – Gemeinheit, um mir anzugehören, so würde ich dich nicht nehmen, selbst wenn du dich gewaltsam an meine Fersen hängtest. Denn eine Frau, die ich nicht achten kann, die kann ich nicht lieben, und noch viel weniger zu meiner Frau machen. Darum, Julia, damit ich nicht die Achtung vor dir verliere – laß mich ziehen! Sage mir, daß du die Notwendigkeit einsiehst!«
Es kostete ihm eine übermenschliche Anstrengung, so schonungslos mit ihr zu reden; die feuchten Tropfen standen ihm auf der Stirn. Er hoffte, daß sie in Zorn und Entrüstung auffahren, und ihm so das Schwere erleichtern würde. Er begriff eigentlich doch nicht ganz, daß sie sich das alles so ruhig sagen ließ –
Es that ihr weher, als er glaubte, als er sie – trotz aller Liebe zu ihr – Schmerz zu empfinden für fähig hielt. Sie fror innerlich bei seinen Worten, sie zerrissen alles in ihr; es war, als müßten ihr die Sinne vergehen vor sehnsüchtigem Schmerz; als müßte sie gleich auf der Stelle verrückt werden bei dem Gedanken, daß er morgen schon – morgen schon für immer gegangen sein würde. Und so kroch sie noch tiefer in sich zusammen und vergaß allen Stolz und alles äußerliche, flitterhafte Beiwerk.
Die Liebe zu ihm war das einzige starke, echte und wahre Gefühl ihrer Seele.
»Sei nicht so unbarmherzig!« stöhnte sie. »Wenn du mich verlassen, dem Elend preisgeben willst – ich kann es nicht hindern. Aber sag' mir nicht so entsetzlich grausame Dinge! Meine einzige Sünde ist meine Liebe – und diese Sünde teilst du mit mir!«
»Ja, Julia, und darum nimm du deinen Anteil daran, wie ich den meinen, und wirf ihn von dir!« Seine Stimme klang warm und weich und hatte etwas zuversichtlich Flehendes. Aber mit dem Zauber dieser Stimme rief er alle Dämonen ihrer Seele wach.
»Wenn du das kannst – ich kann es nicht! Ich kann nicht vergessen, was ich liebe, was ich so liebe! – Ich will es auch nicht vergessen!« Und aufspringend, ergriff sie seine Hände, ehe er es hindern konnte. »Es ist nicht wahr, alles was du da sagtest!« rief sie in echter, hilfloser Angst. »Du wirst nicht so ehrlos sein, mich zu verlassen, nachdem du mich krank und elend gemacht hast vor Liebe zu dir! Nein, du darfst nicht! Du sollst nicht! Sieh – so will ich dich halten!« Ihre weichen kleinen Finger umklammerten seine Handgelenke wie würgende Schlingen. »Und wenn du dennoch gehst, so wirst du mich hinter dir her schleifen – durch den Schmutz – über Steine und Dornen – bis ich mich verblutet habe –«
Immer näher kam sie ihm – sie neigte sich über ihn mit heißen, offnen Lippen, mit glühenden Augen; er fühlte ihre Pulse schlagen, er atmete förmlich die entsetzliche Aufregung ein, die ihr ganzer Leib ausströmte.
Es wurde ihm schwarz vor den Augen.
»Julia – Weib – laß mich –« sagte er heiser. Und immer näher kam sie – immer näher – wie Alpdrücken lastete ihre Nähe auf ihm. Nein – sie sollte nicht Gewalt über ihn haben, die verführerische, süße Sünde –
»Laß mich!« fuhr er sie rauh' an. Mit einer heftigen Bewegung befreite er sich aus ihren Händen.
Sie schrie leise auf, taumelte zurück und stürzte wieder nach vorn. Ihre Finger krallten sich in das Tuch seines Waffenrockes. Es zuckte in ihm vor Wut – er wäre fast brutal geworden.
»Laß mich –« sagte er noch einmal mit furchtbar drohenden Augen. »Zu solchem Spiel bin ich nicht hergekommen; wenn du mich nicht gutwillig losläßt, so brauch' ich Gewalt!«
Da war es, als ob ihre Finger erlahmten; sie stieß ihn von sich und wandte das Gesicht ab.
»Lebe wohl, Julia!« Sie antwortete nicht; sie würdigte ihn keines Blickes.
Da nahm er Mütze und Säbel und ging aus dem Zimmer. Er hatte sich nicht einmal gesetzt während der ganzen Unterredung.
Er machte die Thür hinter sich zu und verließ die Wohnung; es war ihm angenehm, dabei keinem Dienstboten mehr zu begegnen. Er stieg die Treppe hinunter, langsam, schwerfällig. Die letzte Hoffnung, welche er noch an diese Frau geknüpft hatte, die Hoffnung, sie in der Abschiedsstunde groß und gut zu finden, war ihm zerschlagen worden.
Auf der Straße stand er still. Der rauhe Märzwind pfiff ihm um die Stirne; es that ihm gut; ebensogut wie der rücksichtslose Straßenlärm seiner wunden, zerrissenen Seele wehe that. Endlich fiel ihm ein, daß er weitergehen müsse. Er ging; aber mit jedem Schritt schien er eine Fessel zu zerreißen, so mühsam und gewaltsam bewegte er sich. Ihm war immer, als höre er hinter sich, in weiter Ferne, Julias Schluchzen –
Er trat in eine Restauration ein und ließ sich ein Glas starken Wein geben. Ihm war übel.
Dann ging er zu seinem Kommandeur. Er traf ihn zu Hause und wurde angenommen.
»Herr Oberst,« sagte Björn, als er dem Vorgesetzten gegenüberstand, ohne eine Aufforderung zum Sitzen abzuwarten, »ich bitte gehorsamst, mir einen längeren Urlaub zu bewilligen.«
Der Oberst sah ihn etwas erstaunt an.
»Jetzt, mitten in den Frühjahrsübungen?«
»Ich weiß, daß der Augenblick schlecht gewählt ist,« sagte Björn. »Ich würde diese Bitte auch gewiß nicht aussprechen, wenn ich mich fähig fühlte, den Anforderungen des Dienstes zu genügen. Das ist aber nicht der Fall. Es geht mir nicht gut – schon seit längerer Zeit nicht.«
Der Oberst bemerkte, daß sein Offizier in der That auffallend nervös und elend aussah.
»Setzen Sie sich doch!« sagte er; und dann, als sie beide Platz genommen: »Haben Sie einen Arzt gefragt?«
»Nein, Herr Oberst.«
»Wo wollen Sie denn hin?«
»Ich weiß es noch nicht, Herr Oberst.«
»Ja – was fehlt Ihnen denn eigentlich?«
Björn schwieg. Der Oberst beobachtete ihn schweigend und schien seine besondern Gedanken zu haben.
»Ich entbehre Sie ungern – gerade jetzt. Sie sind einer meiner fähigsten und besten Offiziere. Aber gerade darum, weil Sie vor allen immer Ihre Pflichten aufs treuste und beste erfüllt haben, möchte ich Ihnen gefällig sein, auch wo, es mir einmal unbequem ist. – Wann wollen Sie denn fort?«
»Ich möchte bitten, meinen Urlaub morgen schon antreten zu dürfen,« sagte Björn gepreßt.
»Morgen schon – nun, das ist ja sehr eilig. Aber darauf kommt es am Ende nicht an. – Wie lange wollen Sie fortbleiben?«
Björn atmete schwer; er wurde noch blasser und griff mit der Hand fest an den Säbel. Dann schlug er – wie das in entscheidenden Augenblicken seine Art war – die Augen voll und groß zu seinem Vorgesetzten auf und sagte:
»Herr Oberst, ich muß Ihnen noch melden, daß ich meine Versetzung in ein andres Regiment beantragt habe.«
Des Obersten Gesicht drückte bei dieser Nachricht deutlich ein mißfälliges Staunen aus.
»So – nicht möglich! Und das erfahre ich so nebenbei – so nachträglich?«
»Mein Entschluß war unwiderruflich,« sagte Björn. »Da er mir aber sehr schwer geworden ist, konnte ich nicht vorher darüber sprechen.«
»Und was haben Sie denn für Gründe, wenn ich fragen darf?«
»Ich möchte gehorsamst bitten, mir die Antwort auf diese Frage zu erlassen,« sagte Björn sehr nachdrücklich.
»Hm –« machte der Oberst, trommelte mit den Fingern auf den Tisch und zog die Stirn in nachdenkliche Falten.
»Ich weiß,« fuhr Björn ruhig und sachgemäß zu sprechen fort, »daß es kein gutes Licht auf mich wirft, wenn ich das Regiment, darin ich erst vor einem halben Jahr Aufnahme fand, nun wieder verlassen will. Ich fürchte, daß aus diesem Grunde mein Wunsch wenig Berücksichtigung finden wird. Ich möchte darum den Herrn Oberst um seine persönliche Verwendung für mich in dieser Sache herzlich und dringend bitten. Meine Gründe sind zwingender Natur; es sind Ehrensachen, Herr Oberst – ich bitte nochmals, mir weitere Auseinandersetzungen zu ersparen und in meine Ehrenhaftigkeit keinen Zweifel zu setzen!« vollendete er gewaltsam.
Der Oberst hatte ihn, während er sprach, mit seinen ruhigen klugen Augen unausgesetzt beobachtet. Nun atmete er tief auf und sagte:
»Das letztere ist selbstverständlich. – Was Ihre Gründe anbetrifft, so kenne ich sie besser, als Sie denken. Ich sehe sie ein, und ich ehre sie.«
Der arme Björn wurde blutrot. Wußte denn der Oberst – wußte man etwa allgemein –
Ach, es war ja kaum anders möglich, als daß man es wußte. Sie hatte es ja zu rücksichtslos getrieben!
»Ich werde darum,« fuhr der Oberst fort, »Ihren Antrag nach Kräften befürworten, und ich denke, das wird nicht ohne Erfolg bleiben. – Ich persönlich kann Ihren Entschluß nur bedauern; und nicht nur ich, sondern wir alle werden Sie schmerzlich vermissen; um so schmerzlicher, je höher ich und wir alle sie fortan achten werden. Sie haben sich ein besseres Andenken bei uns gesichert, als irgend ein andrer durch die größte Tüchtigkeit im Dienst –«
Weiter sah, hörte und verstand Björn nichts mehr.
Er ging nach Hause und verbrachte in dumpfer Unthätigkeit einige lange, öde Stunden. Die seelischen Kämpfe und Erregungen hatten seine Körperkräfte mitgenommen. Nun die schwerste Schlacht gewonnen war, verließ ihn die Herrschaft über seine Nerven.
Dann schrieb er an seine Eltern – ein Brief, der ihm unsäglich schwer wurde, weil er darin die Wahrheit umgehen mußte. Er teilte ihnen mit, daß er angegriffen und erholungsbedürftig sei und sich deshalb schnell entschlossen habe, den bewilligten Urlaub im Süden zu verleben. Um keinen Tag zu verlieren und die Erholungszeit gewissenhaft auszunutzen, werde er morgen schon abreisen. Sie möchten verzeihen, wenn er nicht vorher zu ihnen käme.
Um keinen Preis hätte er jetzt nach Hause gehen mögen. Sein Vater würde ihn den ganzen Tag in Anspruch nehmen und seine Aufmerksamkeit für hunderterlei Dinge verlangen; seine Mutter aber würde mit ihren liebevollen Augen auf dem Grunde seiner Seele. lesen –
Allein mußte er jetzt sein, ganz allein mit sich, seinem Leid und seinem Gott. So nur konnte er niederkämpfen und überwinden, wobei ihm kein andrer helfen konnte und durfte. So nur konnte er das gestörte Gleichgewicht seiner Seele wieder herstellen.
Dann fing er an zu packen und Maßregeln zu treffen, die Auflösung seiner Wohnung, die während seiner Abwesenheit nötig werden würde, zu erleichtern. Er hatte nicht die Absicht, dazu wieder herzukommen.
Zur gewohnten Essensstunde erschien er im Kasino.
»Morgen trete ich einen vierwöchentlichen Urlaub an,« verkündete er seinen Kameraden mit lauter Stimme. »Heut will ich noch einmal vergnügt mit euch sein – ich lade euch alle ein zu einem frischen, fröhlichen Trunke!«
Sie bejubelten seinen Einfall so sehr, daß das Bedauern, ihn auf einige Zeit aus ihrem Kreise scheiden zu sehen, fast darüber zu kurz kam. Ihm war es eben recht. Je vergnügter sie waren, um so weniger brauchte er selbst sich anzustrengen. Es gelang ihm, sie in eine so heitere Stimmung zu bringen, daß sie es gar nicht bemerkten, wie er immer stiller wurde und immer elender aussah.
Plötzlich entdeckten sie, daß er aus ihrer Mitte entschwunden war – sich »heimlich gedrückt« hatte.
Am andern Morgen beim Dienst war er ernster und stiller als gewöhnlich; er sah aus, als habe er in der Nacht wenig oder gar nicht geschlafen.
»Katzenjammer,« lachten die Kameraden. Wenn einer oder der andre vielleicht noch etwas weiteres dachte, so sprach er doch nicht darüber.
Um sechs Uhr abends stand er auf dem Bahnhof. Einige Offiziere begleiteten ihn. Niemand außer dem Regiment wußte noch um seine plötzliche Abreise; er hatte keinen einzigen Abschiedsbesuch gemacht.
Es war Björn fast lieb, daß das muntere Geplauder seiner Kameraden ihn umgab und seine Gedanken gewaltsam ablenkte – sie hätten ihm sonst zu wehe gethan. So kam er unter Geschwätz und Gelächter unversehens in das Coupé; ehe er noch recht wußte, was geschah, setzte der Zug sich in Bewegung.
»Auf Wiedersehen!« riefen sie ihm nach.
»Auf Wiedersehen!« rief er zurück. Es war ja nicht gelogen, er wünschte und hoffte wirklich, sie wiederzusehen – nur nicht hier.
Der Zug bewegte sich immer schneller; die öden, grauen Bahnhofsgebäude wichen zurück; noch ein letztes Mal lag die ganze Stadt vor seinen Blicken; die grünen Wiesen umher, die der Fluß durchrauschte – der Fluß, der bei Julias Fenstern vorüberfloß. Und dann blieb auch die Stadt zurück. In einer großen Kurve glitt der Zug, immer schneller laufend, nach rechts. Das letzte Haus der Stadt, die er niemals wiedersehen wollte, entschwand seinen Blicken.
Da ließ sich Björn auf einen Sitz niedersinken und schloß die Augen.
Das also war der Abschied!
Als Julia nach der kurzen, schlimmen Unterredung mit Björn allein geblieben war, verfiel sie in eine wahre Raserei.
Der Zorn, den sie vorübergehend gegen ihn empfunden, als all ihre Bemühungen, ihn zu halten, von ihm abglitten wie ohnmächtige Pfeile von einem ehernen Panzer, und der nur eine Äußerung ihrer Leidenschaft für ihn war, verwandelte sich in einen brennenden Schmerz, sobald er sie verlassen hatte.
Sie hatte sich auf diesen Mann gestürzt mit ihrer ganzen, unbefriedigten, haltlosen Seele; er sollte ihr Glück geben, sollte ihr das Leben ertragen helfen, sollte ihr Halt sein. Nun war er fort. Nun brach sie zusammen.
Sie weinte und schluchzte – sie tobte in den engen vier Wänden ihres beinahe zu üppig eingerichteten Boudoirs wie ein Kind, dessen hartnäckig auf eins zugespitzten Eigensinn man achtlos und rücksichtslos zerschlagen hatte. Endlich wurde sie erschöpft und müde. Und als sie ihren Mann nach Hause kommen hörte, floh sie in ihr Schlafzimmer, riegelte sich ein und ging zu Bett. Sie habe Migräne, ließ sie ihm sagen.
Drei Tage blieb sie liegen. Sie hatte keine Energie und keinen Mut, weiterzuleben. Sie wollte abwarten – und irgend etwas würde sich ja wohl ereignen.
Aber es ereignete sich nichts. Eberhard ließ sich mehreremal täglich nach ihrem Befinden erkundigen. Er kam auch selbst an ihr Bett und überzeugte sich, daß sie erhitzt und fiebrisch aussah, und trübe gerötete Augen hatte. Da sie zum Sprechen nicht aufgelegt war, verließ er sie allemal bald wieder. Zum Pflegen und Hätscheln hatte er kein Talent. – Er ahnte nicht, daß Julia jedesmal, wenn er das Schlafzimmer verlassen hatte, einen Weinkrampf bekam und mit Händen und Füßen zuckte vor ungeduldigem Schmerz. Sie sehnte sich nach Liebe in diesem unglückseligen, trostlosen Zustande ihrer Seele; nach Gesetz und Natur konnte sie diese Liebe, nach der all ihr Inwendiges schrie wie das verdurstende Wild nach Wasser, von ihrem Gatten verlangen. Und er gab sie ihr nicht: er ahnte nichts von dem Vorhandensein solcher Bedürfnisse, nichts von der Art, wie man sie stillt. – Und sie haßte ihn, weil er ihr das alles nicht geben konnte; haßte ihn, weil er stand zwischen ihr und dem, bei dem sie das alles gefunden hätte.
»Aus dem Schmutz der Straße hätte ich dich in meine Arme genommen,« so hatte Björn gesagt. O, wie sie sich sehnte nach solchem Straßenschmutz, nur, damit er sie davon reinigen könnte! O, wie sie sich fortsehnte aus der kalten, öden Reinlichkeit ihres liebearmen Lebens!
Ganz heimlich, ganz im stillen hoffte sie, Björn werde wiederkommen. Es konnte ihm doch nicht ernst gewesen sein mit seinen Absichten. Ihr Jammer, den er fühllos mit angesehen hatte, mußte ihm nachgehen, mußte sein Herz rühren, sein Gewissen wecken – mußte ihn zu ihr zurückführen.
Aber Björn kam nicht wieder.
Am dritten Tage endlich wurden ihr die Einsamkeit und das Halbdunkel ihres Schlafzimmers langweilig. Sie entschloß sich, aufzustehen und weiterzuleben. Sie war doch in gewisser Weise neugierig, wie das Leben sich nun gestalten würde.
Als Eberhard vom Bureau nach Hause kam, fand er seine Frau im Salon, in einem eleganten Frühlingsanzug am Fenster stehen. Draußen schien die Sonne.
»Nun – bist du mit einemmale wieder gesund,?« fragte er und betrachtete ein wenig mißtrauisch ihr blasses Gesicht, in dem die Augen unruhig zitterten.
»Es geht mir besser,« sagte sie, ihn nur halb ansehend; sie fürchtete, ihren Widerwillen gegen ihn nicht mehr verbergen zu können. »Ich möchte spazieren fahren. Die schöne Frühlingsluft wird mir gut thun.«
»Wie du wünschest,« antwortete Eberhard höflich. »Bestimme, bitte, wann der Wagen vorfahren soll.«
»Ich möchte aber mit dir fahren,« sagte Julia. »Allein macht es mir keinen Spaß.«
»Du bist sehr freundlich – aber ich habe heute nachmittag leider noch zu arbeiten –« er unterbrach sich, denn Julia, deren Augen in den letzten Tagen nicht oft trocken geworden und infolgedessen reizbar und entzündet waren, fing an zu weinen.
»Drei Tage habe ich zu Bett gelegen – du hast dich kaum um mich gekümmert –«
»Aber, liebes Kind,« unterbrach er ärgerlich, »du hast es ja gar nicht gewünscht, daß ich mich um dich kümmere!«
»So? Nun – zum Betteln bin ich freilich zu stolz –« sie stockte, denn es fiel ihr ein, wie sehr sie vor drei Tagen bei jemand gebettelt hatte, mit Worten und mit ihrem ganzen Leibe.
»Jedenfalls,« fuhr sie fort, »hast du in dieser Zeit genug arbeiten können, um dir nun eine kurze Stunde für mich zu gewähren. Du solltest dich doch freuen, daß ich nicht ohne dich ausfahren mag!« schloß sie mit einem mißglückten Versuch, kokett zu sein.
»Spare deine Redensarten!« sprach er finster. »Dergleichen ist schon längst nicht mehr Mode zwischen uns. Wenn du heute verlangst, ich solle dich begleiten, so hast du dafür ganz andre Gründe, als den Wunsch nach meiner Gesellschaft.«
Sie sah ihn gespannt an. Sie war doch neugierig, was er nun sagen würde. Dieses neugierige, jede Spur von Verlegenheit oder Schuldgefühl entbehrende Gesicht reizte ihn.
»Du willst den Leuten zeigen,« sagte er, »daß die plötzliche Abreise von Björn Heddenholm dich durchaus nicht verhindert, vergnügt zu sein und dir durch mich das Leben angenehm machen zu lassen.«
Sie wurde rot, riß die Augen weit auf vor Schreck und starrte ihn fassungslos an.
»Daß du dich bemühst, die Leute zu belügen,« fuhr er gefühllos fort, »läßt sich erklären; vielleicht sogar verteidigen. Bei mir brauchst du dir diese Mühe nicht mehr zu geben. Ich weiß ganz genau, daß deine ganze Krankheit nur mit dieser Abreise zusammenhängt. Du hast das Feuer so lange geschürt, bis ihm der Boden unter den Füßen brannte; und da er ein ehrenhafter Mensch ist, so hat er sich davon gemacht. – Für dich ist das natürlich äußerst peinlich, das verstehe ich vollkommen. Indes – du hast dich allein in diese Lage gebracht – nun sieh zu, wie du allein wieder hinauskommst.«
Sie starrte ihn immer noch an; aber sie war sehr blaß geworden, und ihre Hand tastete nach einem Halt.
»Woher weißt du, daß er fort ist?« stammelte sie; alles andre schien sie überhört zu haben.
»Das ist ja weiter kein Geheimnis; daß er fort ist, meine ich. »Mir erzählte man es im Kasino, wohin ich vorgestern abend in Ermangelung häuslichen Behagens gegangen bin.«
»Also er ist wirklich fort!« dachte Julia und vergaß alles andre darüber. Sie ließ den Kopf tief hängen und sah schlaff und müde aus.
Die Eheleute hatten sich daran gewöhnt, aus ihrer gegenseitigen Kälte, ja Abneigung, voreinander kein Geheimnis mehr zu machen. Die gänzliche Hoffnungslosigkeit, daß es jemals wieder besser werden könne, der Mangel an gutem Willen, ein jeder die eignen Neigungen und Gewohnheiten zu opfern zum Wohle des andern, hatten ihrem gegenseitigen Verhältnis alle rücksichtsvolle Zartheit genommen, und in ihnen den verderblichen Egoismus genährt, der nur nach Erfüllung der eignen Wünsche strebt, weil ihm die Wünsche des andern mit ihm selber gleichgültig geworden sind.
Da sie nichts mehr sagte, schickte er sich an, das Zimmer zu verlassen. Da rief sie ihm nach.
»Willst du wirklich nicht mit mir kommen?«
»Ich sagte dir ja schon: Nein.«
Die Thür fiel hinter ihm zu. Sie ballte die Fäuste vor ohnmächtigem Zorn – vor Unglück – vor Einsamkeit und Sehnsucht.
Nichtsdestoweniger saß sie zwei Stunden später in ihrem eleganten offenen Wagen, ein graues Hütchen mit einem rosa Rosentuff an der Seite auf dem blonden Kraushaar, mit lächelndem Gesicht und glitzernden, wenn auch ein wenig verstörten Augen, und fuhr in den Frühlingssonnenschein hinaus.
Es war der erste schöne, warme Tag im Jahr. Die ganze Stadt war unterwegs, zu Wagen, zu Fuß und zu Pferde. Alles prangte in neuen Hüten und Kleidern, alles lachte und war fröhlich. Das belebte, heitere Bild mit dem blauen Himmel darüber zerstreute und erfrischte Julia und zog ihre Gedanken von dem einen, einzigen, daran sie unaufhörlich nutzlos nagten und bohrten, ein wenig ab. Es fiel ihr ein, daß Sonntag sei; Lätare, d. h.: »Freuet euch,« soviel wußte sie noch aus der Religionsstunde. Und da überkam sie selbst ein unsinniges Verlangen nach Freude – Freude in irgend einer Gestalt.
Sie war jetzt vor dem Thor, wo zwischen Wald und Wiesen schöne Alleen sich dehnen. Hier war der bunte Menschenstrom noch mannigfaltiger. Überall zwischen den schwarzen Röcken der Civilisten tauchte das grelle Hellblau der Husaren auf. Jeder Soldat hatte seinen Schatz, oder mindestens Mutter oder Schwester am Arm. Nur sie allein – sie hatte nichts.
Von weitem erkannte sie einen von Björns Kameraden, der zu Fuß ihrem Wagen entgegenkam. Als er dicht heran war, grüßte er höflich zu ihr hinüber. Julia ließ halten. Er sah, daß es ihm galt und kam heran.
Nun war Julia ein wenig verlegen – oder that wenigstens so.
»Ich weiß nicht – es war so ein Einfall von mir – ich wollte Ihnen vorschlagen, ein Stückchen mit mir zu fahren, wenn Sie Zeit haben!« sagte sie mit einem sehr anmutigen, etwas wehmütigen Lächeln.
Und welcher junge, vergnügte Offizier hätte nicht Zeit, mit einer jungen, hübschen Frau an einem sonnigen Frühlingstage in einem eleganten Wagen durch Wald und Wiesen zu rollen!
Sie saßen einträchtig nebeneinander; Julias Lächeln und Grüßen an vorübergehende Bekannte war noch huldvoller geworden. Manch einer drehte sich um und sah ihr kopfschüttelnd nach. Das hatte sie doch noch nie gethan!
»Sagen Sie doch,« begann Julia nach einigem oberflächlichen Gedankenwechsel, »ist Björn Heddenholm wirklich abgereist?«
Der Angeredete bekam einen kleinen Schreck – oder bildete sich das Julia nur ein?
»Ja, er ist weg,« antwortete er dann nicht ganz unbefangen; »mit vierwöchentlichem Urlaub nach dem Süden.«
»Nein – wie mich das freut!« sagte Julia. Ihr Begleiter fuhr förmlich erschrocken herum und sah sie mit naivem Interesse an. Julia machte ein verträumtes Gesicht und lächelte glücklich.
»Warum freut Sie denn das so sehr?«
»Weil ich mir schmeichle, die Veranlassung zu diesem endgültigen Entschluß zu sein.«
»Wa–as –«
»Nun, Sie müssen doch bemerkt haben, daß es ihm schon seit Wochen nicht gut geht. Er war natürlich viel zu gewissenhaft, jetzt Urlaub zu nehmen. Frühjahrsübungen, Besichtigungen, Paraden – was weiß ich! Da habe ich ihm zugeredet, fortzugehen, immer fort, bei jeder Gelegenheit. Nun – und Zureden hilft eben manchmal!«
Ja – weiß der Himmel – wenn so ein lieblicher Mund zuredet –
»Hat er Ihnen denn auch gesagt, wovon er so elend geworden ist?« fragte der andre, halb neugierig, halb boshaft. – Diese Frage versetzte sie einigermaßen in Verlegenheit. Aber sie wußte sich Rat.
»Du liebe Zeit – Nerven! Nerven gehören doch zum Zeitgeist. Wo die Weisheit der Ärzte aufhört, fangen die Nerven des Patienten an. Nerven hat jeder mal, mit oder ohne Veranlassung. Man muß nur beizeiten gegen sie zu Felde ziehen.«
»Da kann man sich ja nur für ihn freuen, daß Sie das Übel so schnell erkannten und auch gleich für die Heilung sorgten!«
»Ja – die hab' ich nun leider nicht in der Hand. Aber ich freue mich doch zu sehr, ihn wenigstens auf den richtigen Weg gebracht zu sehen!«
Dann plauderte sie von andern Dingen, nichtig, unschuldig, und je länger je fröhlicher; das reine Vogelgezwitscher. Ob er zuhörte oder nicht, schien ihr bedeutungslos.
Er war in der That zerstreut. Es war ja eine allgemein ausgemachte Sache, daß zwischen Julia und Björn Heddenholm etwas nicht ganz richtig, und daß Björn auf und davongegangen sei, um noch beizeiten den Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Was sollte er nun halten von dem, was diese leichtsinnige, liebenswürdige Frau ihm hier vorlächelte? War es möglich, daß man mit so unschuldigen, ehrlichen Augen so – glatt weg log? Und lügen that sie sicherlich. – Nein, Björn konnte sich freuen, daß er genug Charakter gehabt hatte, davonzugehen. Wie würde es aber werden, wenn er wiederkam? Vier Wochen sind eine kurze Zeit; für so etwas – viel zu kurz!
Vor dem Stadtthor setzte Julia Altefahr ihren Begleiter wieder ab. Sie fürchtete sich doch ein wenig davor, ihrem Manne zu begegnen. Innerlich ärgerte sie sich über dieses Abhängigkeitsgefühl, das in ihrem Verhältnis gar keinen innern Sinn mehr hatte, und beschloß, sich für die Zukunft dessen zu entäußern.
Daß Eberhard um ihre Neigung zu Björn wußte, war ihr anfangs ein großer Schreck gewesen, denn sie hatte seinen Zorn gefürchtet. Nun sie sah, daß es ihn kalt ließ, daß er es wahrscheinlich schon lange gewußt und nie energisch zu hindern versucht hatte, da es ihm jedenfalls gleichgültig war, fühlte sie sich eher erleichtert. Er würde sie nun vielleicht eher gewähren lassen in ihrem Thun; er mußte ja einsehen, daß sie Zerstreuung brauchte, wenn sie nicht zu Grunde gehen sollte an solchem Gram, und daß sie sich solche Zerstreuung, da er sie ihr nicht schuf, wo anders suchen mußte.
Ach ja, Zerstreuung! Ihr ganzer Mensch fieberte danach. Sie konnte den bohrenden Schmerz in ihrer Brust nicht ertragen; die schreiende Sehnsucht nach dem Davongegangenen schwieg weder Tag noch Nacht. Und da sie in sich selber nichts hatte, das ihr Halt und Ruhe geben konnte, da sie keinen Menschen hatte, der sie auf den Weg zum Frieden führen konnte, den sie allein nicht fand, so suchte sie nach Betäubung für die Qualen, die sie nicht zu heilen vermochte.
»Wenn du es nicht scheust,« sagte sie zu ihrem Mann, »daß ich, alt und häßlich und reizlos und verbittert und vergrämt, dir noch gründlicher zur Last falle, als so schon – gut, so sperre mich ein und verbiete mir, was mir Vergnügen macht. Wenn dir aber daran gelegen ist, eine repräsentable und deinen Anforderungen an das Äußere entsprechende Frau zu behalten, so laß mich gewähren und gieb mir die Freiheit, mir zu verschaffen, was mir das Leben erträglich macht.«
Er zuckte die Achseln – und ließ sie gewähren. Im Mund der Leute war sie nun doch schon, daran war nichts mehr zu ändern; auch nicht, wenn er mit rücksichtsloser Strenge gegen sie vorging und sich dadurch die Hölle im Hause schaffte. So ließ er sie machen, was sie wollte; beteiligte sich an ihren Ausfahrten und Gängen, soviel ihm gut schien, sah sie im übrigen nur bei den Mahlzeiten und hatte den Vorzug, niemals in seinem Zimmer gestört zu werden.
Ohne ihr etwas davon zu sagen, stellte er sich der Regierung für etwa vorkommende Gelegenheiten zur Verfügung. Er wollte eine Versetzung oder Beförderung nicht gerade offiziell erstreben – das hielt er für seine Karriere nicht für vorteilhaft, und das würde dem Geklätsch neue Nahrung geben. Aber unter der Hand sich danach umzusehen und das zufällig Gefundene dann als von ungefähr entgegenzunehmen, das schien ihm das Rechte. – Er empfand es keineswegs angenehm, der Mann einer Frau zu sein, die in gewissen Kreisen das Tagesgespräch bildete; aber er war andrerseits innerlich zu losgelöst von ihr, als daß er es sich besonders zu Herzen genommen hätte. Daß es seiner Stellung, gesellschaftlich oder amtlich, schaden könne, fürchtete er nicht. Wie er selbst kaum noch eine Zugehörigkeit zu seiner Frau empfand, so glaubte und fühlte er sich auch vor andern von dieser Zusammengehörigkeit sowie von jeder Verantwortung freigesprochen.
Immerhin war es angenehmer, die Zeit seines Aufenthaltes hier, die ohne sein Dawiderthun noch recht lang sein konnte, durch irgend ein freundliches Schicksalsentgegenkommen abgekürzt zu sehen. Björn Heddenholm würde zurückkommen; es war vorauszusehen, daß die Geschichte sich dann weiterspinnen würde; wenn nicht von seiner, so doch gewiß von ihrer Seite. Wer weiß, zu was für unangenehmen Dingen das noch führen konnte.
Er überlegte, ob es nicht angezeigt sei, Julia vor dieser Rückkehr fortzuschicken. Aber wohin? – Ein Elternhaus hatte sie nicht mehr. Der Vater hatte sich kurz vor Julias Verlobung zum zweitenmal verheiratet und war wenige Jahre darauf gestorben. Seine Witwe lebte in der Zurückgezogenheit einer kleinen Provinzialstadt, ganz der Erziehung ihres einzigen Kindes gewidmet. Julia kannte sie kaum, sie hatten nie Gelegenheit gehabt, einander näher zu treten; Julia hatte auch gar keine Lust dazu. Diese zweite Mutter war in allem ihr so entschiedener Gegensatz, daß sie es in keiner Weise bei ihr würde ertragen können.
Geschwister hatte Julia nicht. Es blieb also nur noch eine Badereise, obgleich bei ihrer tadellosen Gesundheit für eine solche kaum ein Vorwand zu finden war.
Namentlich aber würde es die größten Schwierigkeiten und heftigsten Scenen heraufbeschwören, sobald sie merkte – und das war doch nicht zu verhindern – weshalb sie verreisen sollte. Mit Gewalt deportieren konnte er sie auch nicht –
All diese unangenehmen Überlegungen fanden eines Tages eine unerwartete Erledigung.
In der Zeitung stand Björn Heddenholms Versetzung unter Beförderung zum Oberleutnant nach der westdeutschen Garnison D...
Eberhard Altefahr überlegte nicht lange, ob diese Nachricht für den, den sie betraf, eine Überraschung oder eine Bewilligung enthalten möge. Die Thatsache allein genügte ihm. Tief befriedigt über die so unerwartet leichte und angenehme Lösung einer heiklen Frage, legte er, ehe er den täglichen Gang nach dem Bureau antrat, die Zeitungen auf ihren gewohnten Platz neben dem Bücherschrank, wo Julia dann manchmal darin zu blättern pflegte.
Julia war keineswegs eine eifrige Zeitungsleserin; höchstens Feuilleton- und Familiennachrichten waren von Interesse für sie. Seit Björns Abreise aber zitterte sie förmlich jeder Post entgegen. Mit Ungeduld erwartete sie allmorgendlich den Augenblick, wo Eberhard gegangen sein würde, um sich auf die Zeitung zu stürzen und nach den militärischen Notizen zu suchen.
Und so geschah es auch heute, und so las sie schwarz auf weiß, daß dennoch alles, alles sein bitterer, unwiderruflicher Ernst gewesen war. –
Sekundenlang fühlte sie sich entsetzlich gedemütigt; dann war sie zornig, außer sich, aufgebracht – daß er sie so ehrlos, so feige, so erbärmlich im Stich ließ. Dann sagte ihr ein guter Instinkt, daß er allein der Ehrenhafte und der Mutige in dieser Sache sei; daß sie eigentlich vor ihm knien müßte vor Scham –
Und ihre Liebe zu ihm war so wahr, und echt, daß sie sich willig vor ihm schämte; daß es ihr beinahe wohl that, sich vor ihm schämen zu müssen.
Und zuletzt weinte sie nur noch und dachte und fühlte gar nichts mehr. –
So fand sie Eberhard, der heut außergewöhnlich früh nach Hause kam. Sie bemühte sich nicht einmal, ihm zu verbergen, daß sie verweint und außer sich war.
»Was hast du? Was ist dir?« fragte er, obwohl er es sehr gut wußte. Sie sah in ihren Schoß, unterdrückte ein aufsteigendes Schluchzen und antwortete nicht. Er betrachtete sie stumm; es schien fast, als ob er Mitleid mit ihr habe. Dann wurde sein Gesicht hart und streng.
»Du bist doch ein miserables Geschöpf!« sagte er.
»Warum!« fuhr sie auf und sah ihn trotzig an.
»Weil du weder dich, noch mich, noch ihn der Mühe wert hältst, diese Thränen – heimlich zu weinen, statt so rücksichtslos vor meinen Augen!«
»Ich verstehe dich nicht,« sagte sie.
»Das glaube ich gern. Ich will es dir aber erklären. Wenn du noch einen Funken von Selbstachtung hättest, so würdest du dich nicht in deinen Empfindungen so gehen lassen. Und wenn du noch eine Spur von Achtung vor mir hättest, so würdest du mir nicht mit solcher nichtachtenden Unverblümtheit zu verstehen geben, daß du einen andern liebst. Und wenn du eine Spur von Achtung vor diesem andern hättest, so würdest du seine ehrenhaften Bestrebungen, dieser unrühmlichen Episode ein Ende zu machen, selber ehren, indem du an deinem Teil mit dem Vergangenen abrechnetest.«
Sie aber schien von seiner ganzen Rede nur das verstanden zu haben, was sich auf Björn bezog; und etwas darin erstaunte sie so, daß sie ihren Mann groß ansah.
»Bist du denn gar nicht böse auf ihn?« fragte sie naiv.
»Böse? – Liebes Kind, du weißt doch wohl selbst, wie wenig er für das alles kann!«
»Wie meinst du das?« fragte sie ein wenig gereizt.
»Du hast dich ihm an den Hals geworfen,« erwiderte Eberhard kaltblütig. »Und er war ehrenhaft genug, sich aus dem Staube zu machen. Ich wüßte nicht, weshalb ich ihm böse sein sollte, als höchstens, weil ich mich eigentlich deiner schämen müßte.« Julia war ganz blaß geworden. Aber sie bezwang sich; sie wollte ebenso kalt bleiben, wie er.
»Er hat mich auch geliebt,« sagte sie. »Ich würde mich nie um ihn bekümmert haben, wenn ich nicht gewußt hätte, daß seine Liebe –«
»Schäme dich, davon zu sprechen,« unterbrach er rauh. »Wenn du meine Gefühle nicht ehrst, so ehre wenigstens die seinen.« Julia lachte; es klang häßlich und hart.
»Warum lachst du?« fuhr er sie an.
»Weil es so komisch klingt, wenn du von deinen Gefühlen sprichst!«
»Besser gar keine Gefühle haben, als solche wie du. Denn deine Gefühle sind oft nur Gefühllosigkeiten und meistens Verirrungen.«
Er ging empört hinaus. Wenn er auch selbst zugeben mußte, keinen Überschuß an Gefühl zu haben – so weit reichte es doch, um sich an der Seite dieser Frau rechtschaffen unglücklich zu fühlen. Aber das wollte er ihr nicht eingestehen – das war sie gar nicht wert. –
Man war einigermaßen gespannt, ob Julia die Nachricht von Björns Versetzung ebenso aufnehmen würde, wie sie die von seiner Abreise aufgenommen hatte. Man täuschte sich keinen Augenblick über die Beziehungen ihrer Persönlichkeit zu beiden. Aber es fand niemand den rechten Mut, mit ihr darüber zu sprechen.
Es fand gerade in den Tagen eine kleine Parade vor dem Kommandierenden statt. Alle Damen der Gesellschaft sahen zu; Julia war natürlich auch dabei. Nach beendetem Dienst kamen einige der Herren zu ihnen, Björns Rittmeister blieb zufällig bei Julia stehen.
»Wie schade, daß Björn Heddenholm nicht dabei war!« sagte Julia ganz unbefangen. Er sah sie ein wenig erstaunt an und wußte nicht gleich, was er antworten sollte.
»Ja, und er wird leider nie mehr dabei sein,« meinte er endlich. »Sie wissen doch –«
»Von seiner Versetzung? Natürlich. Es ist sehr, sehr schade. Aber man kann es ihm ja nicht verdenken!«
»Nicht verdenken –« der Rittmeister räusperte sich, drehte seinen Bart und wußte absolut nicht, was er weiter sagen sollte – wo sie hinaus wollte. Denn er mochte natürlich nichts Dummes oder Unvorsichtiges sagen.
»Nun, ich denke doch,« meinte Julia ganz harmlos und sah ihn noch obendrein mit ihren hübschen Augen groß an, »seine Versetzung hat denselben Grund, wie seine Erholungsreise?«
»Ja – ja – natürlich –« gab er zu und wußte immer noch nicht, wo das hin sollte.
»Also wenn er die Luft hier nicht vertragen zu können glaubt, so ist es doch sehr begreiflich, daß er sich wo anders hin versetzen läßt. Und die Luft hier ist ja auch rauh, es ist immerfort windig –«
»Na, erlauben Sie mal, gnädige Frau,« platzte der Rittmeister los, dem es nun doch zu viel wurde, »diese Luft hier ist denn doch seine Heimatsluft, die er gewohnt sein könnte! Sein elterliches Gut liegt sogar noch ein gut Stück nördlicher –«
»Es ist nicht gesagt, daß man immer in den Verhältnissen leben kann, in die einen die Schicksalslaune hineinversetzt hat. Wohl dem, der sich versetzen lassen kann –«
»Sagen Sie lieber: wohl dem, der das Leben nicht als Schicksalslaune auffaßt, sondern als eine Aufgabe, die, er unter allen Umständen zu lösen hat,« sagte der Rittmeister mit Nachdruck. »Unser Björn hält es jedenfalls nicht für Schicksalslaune.«
Julia empfand diese Wendung des Gespräches peinlich.
»Ob man sich einer Unbequemlichkeit aus Pflichtgefühl entzieht oder aus Bequemlichkeitsliebe, ist doch eigentlich dasselbe. Die Hauptsache ist, daß man sie los wird.«
»Ich glaube nicht, daß Björn Heddenholm so denkt –«
»Nun – jedenfalls ist es schade, daß er fort ist – für uns alle –«
Sie lächelte ihn freundlich an und wandte sich andern zu. Sie hatte gesagt, was sie sagen wollte. Auf mehr mochte sie sich nicht einlassen.
Der Rittmeister sah ihr nachdenklich und kopfschüttelnd nach.
»Es ist doch nicht zu begreifen,« dachte er bei sich. »Wohl ihm, daß er fort ist.«
Julias Leben gestaltete sich in den nächsten Monaten so, wie es ihrem Charakter und ihren Auffassungen nach nicht anders zu erwarten war. Sie suchte ihren Liebesgram durch ein leichtsinniges Umherflattern von Genuß zu Genuß zu betäuben. Sie fuhr und ging aus, machte Besuche und empfing welche. Wo immer es etwas zu amüsieren und zu lachen gab, war sie dabei.
Sie ließ sich auf alle erdenkliche Weise den Hof machen, sie forderte geradeswegs dazu heraus. Sie war auch wie geschaffen dazu; hübsch, jung, vergnügt, neckisch und wehmütig, hingebend und spröde, gewährend und versagend – das reine Aprilwetter mit Regen und Sonnenschein, mit Blüten und verheißungsvollen Knospen, mit kalten Lüften und gewitterschwülen Sonnenstrahlen. So eine Wegblüte, an der sich jeder vorübergehend einmal berauscht.
Es gab einige in Björns Regiment, die konnten es nicht vergessen, was sie ihrem Kameraden angethan hatte, und daß sie ihr seinen Verlust verdankten. Es gab aber auch andre, die es gern berücksichtigten, daß sie selbst es vergessen zu sehen wünschte, und sich um so williger und gewissenloser vor ihren Triumphwagen spannten.
Die künstlich erzeugte Betäubung dauerte indes immer nur so lange, wie sie das Mittel nahm. Sobald sie allein und unbeschäftigt – und sie konnte sich nie allein beschäftigen – in ihrer luxusreichen, glückesarmen Wohnung saß, kam ein Paroxismus von Verzweiflung über sie.
Dann weinte sie um Björn. Und da die Liebe zu ihm das einzig Echte in ihrem Leben war, so waren die Thränen, die sie um ihn weinte, die bittersten von allen, die sie sonst noch um andre Dinge vergoß.
Eberhard sah das alles in schweigender Überlegenheit und kalter Resignation mit an. Er hatte seinen der Regierung ausgesprochenen Wunsch nicht widerrufen und erwartete mit zuversichtlicher Ruhe, daß ihm von daher eines Tages eine willkommene Änderung der Verhältnisse kommen würde. Björns Versetzung hatte den Wunsch minder dringend gemacht. Erstrebenswert blieb ein Verlassen des Ortes, in dem Julia sich unmöglich gemacht hatte, immerhin für ihn.
Einstweilen ließ er sie machen, was sie wollte. Daß er sich gar nicht um sie bekümmerte, sollte der Welt am besten beweisen, daß er ihr Benehmen mißbillige und für dessen Folgen in keiner Weise die Verantwortung zu tragen gedenke.
Und eines Tages, im Mai, kam er vom Bureau nach Hause und trug die amtliche Mitteilung seiner Versetzung in der Tasche; sie enthielt zugleich eine Beförderung; aber sein Gesicht war finster und steinern; die erhoffte Erleichterung war ihm grausam und hohnvoll vergällt worden.
Er war nach D... versetzt und sollte den neuen Posten sofort antreten.
Eberhard Altefahr war außer sich; das widerfuhr ihm nicht oft, und wo es ihm widerfuhr, dünkte es ihn seiner unwürdig. Aber so außer sich wie heute war er vielleicht noch nie in seinem Leben gewesen.
Den angewiesenen Posten abzulehnen, nachdem seine Ernennung amtlich bestätigt war, ging natürlich nicht – ebensogut konnte er sein Abschiedsgesuch einreichen. Warum hatte man nicht erst privatim angefragt, ob ihm diese Stelle angenehm sein würde, wie das so oft geschah! – Es war in der That an und für sich eine sehr angenehme Stelle, nach der jeder andre mit Freuden gegriffen haben würde; man mußte also annehmen, daß er dasselbe thun würde. Er hätte sich in der That kaum eine vorteilhaftere Versetzung denken können – wenn eben die persönlichen Verhältnisse nicht wären.
Wäre es auf irgend eine noch so unglaubwürdige Weise möglich gewesen, so hätte er darauf geschworen, daß Julia dabei im Spiel war. Aber soviel er dem nachsann, mußte er sich sagen, daß ein solcher Verdacht unsinnig und thöricht sei.
Es war eben nichts weiter, als eine unglückselige Fügung unbegreiflicher Mächte; eine weittragende Erschwerung der bestehenden Verhältnisse oder besser Mißverhältnisse. Er konnte einstweilen gar nichts dagegen thun.
Eins nur war ihm klar – Julia würde er nicht mitnehmen; vorläufig wenigstens nicht, bis sich irgend ein Ausweg gefunden haben möchte.
Er konnte sich nicht überwinden, ihr seine Versetzung mitzuteilen. Er kam sich zu sehr hereingefallen vor dabei – geradezu lächerlich gemacht. Daß sie diesen besondern Fall in ernster und würdiger Weise miteinander hätten besprechen und erledigen können, dazu war gar keine Aussicht vorhanden. So schwieg er einstweilen; gab sich indes keine besondere Mühe, seine furchtbare Verstimmung zu verbergen.
Ein besonderes Mißgeschick fügte es indes schon am nächsten Vormittage, einem Sonntag, daß Julia nach der Kirche – sie ging jeden Sonntag zur Kirche – mit dem Präsidenten zusammentraf, der auch aus dem Gotteshause kam. Und da sie sich die Gelegenheit, zu plaudern, nie entgehen ließ, blieb sie willig stehen, als er Miene machte, sie anzusprechen.
»Ich freue mich ganz besonders, Sie zu sehen,« sagte der Präsident, der immer ausgesucht höflich und freundlich war. »Da kann ich Sie gleich – vielleicht als erster – zu Ihrer Versetzung und Beförderung beglückwünschen!«
Julia sah beinahe entsetzt aus.
»Aber davon weiß ich ja gar nichts,« sagte sie und vergaß vor atemlosen Staunen den Mund wieder zu schließen.
»Nicht möglich,« sagte der Präsident einigermaßen betreten, und fuhr dann, sich gewandt in die bedenkliche Situation findend, leichthin fort: »Da habe ich Ihrem Gatten vielleicht gar eine besonders zart ausgedachte Überraschung vorweggenommen, die Ihnen etwa mit dem Sonntagsbraten aufgetischt werden sollte!«
Julia lächelte ein wenig wegwerfend. Auf zarte Überraschungen standen sie sich längst nicht mehr.
»Wohin sind wir denn versetzt?« fragte sie.
»Ja – ich möchte nun doch nicht weiter vorgreifen –«
»Sagen Sie's nur,« lachte sie. »Das kann noch einen herrlichen Spaß geben!« Er wollte noch nicht recht; endlich schmeichelte sie es ihm doch ab.
»Nach D...,« sagte er und beobachtete heimlich den Erfolg dieses Namens. Er wußte doch natürlich auch, an wen sie dabei zunächst denken würde.
Julia versteinerte; sie riß die Augen unnatürlich weit auf, und diese Augen bekamen etwas unheimlich Starres. Alle Farbe wich aus ihrem rosigen Antlitz.
»Nach D... –« wiederholte sie; und mit einemmale schien etwas ihr klar zu werden – wie ein Feuerstrom ihr durch alle Adern zu rinnen. Ihre Augen fingen dermaßen an zu jubeln, daß der Präsident bei sich dachte: ›nun – verstellen kann sie sich doch nur mangelhaft!‹
»Nach D...!« wiederholte sie noch einmal, und ihre Stimme schwankte wie in Trunkenheit. »Aber das ist ja reizend – das ist ja eine ganz unerwartete Nachricht – da muß ich doch schnell nach Hause laufen und hören, was Eberhard dazu sagt – warum er mir das so lange verschwiegen hat –« und fort war sie.
›Na – der kann sich freuen,‹ dachte der Präsident. ›So ganz wird das alles seinen Wünschen wohl nicht entsprechen.‹
Julia stürzte durch die Straßen, ohne zu sehen und zu hören, was an ihr vorbeiging. Sie war so aufgeregt, daß sie kaum die Füße richtig setzen konnte.
›Ich werde ihn wiedersehen – ich werde wieder bei ihm sein!‹ So schrie und jauchzte es in ihr in unbändiger, rücksichtsloser, unüberlegter Freude. Vor ihren Augen flimmerte und tanzte alles wie lauter Sonnen, vor ihren Ohren rauschte es in immer wiederkehrenden, unartikulierten Tönen:
›Ich sehe ihn wieder – ich sehe ihn wieder!‹
Auf der Treppe zu ihrer Wohnung erst fiel ihr ein, was wohl ihr Mann zu dieser Nachricht gesagt haben würde, und daß sie ihm wahrscheinlich äußerst unwillkommen sei. Darum hatte er sie ihr bis jetzt noch gar nicht mitgeteilt. Darum war er gestern den ganzen Nachmittag und Abend so unerträglich verstimmt gewesen.
Wahrscheinlich sann er über Mittel und Wege nach, die Verordnung seiner Vorgesetzten wieder rückgängig zu machen. Es wurde ihr ganz kalt vor Schreck bei dem bloßen Gedanken.
Dann tröstete sie sich wieder. ›Ich bin ihm ja so gleichgültig – es ist ihm ja so egal, was ich thue und fühle!‹
›Ja – aber seine Stellung!‹ fiel ihr dann ein. ›Er ist so sehr auf den äußern Schein bedacht!‹ – Auch diese Bedenken fertigte sie leichtlich ab.
›Ich werde dafür sorgen, daß der Schein gewahrt bleibt, in meinem eignen Interesse. Ich bin durch Schaden klug geworden.‹
›Was wird nur Björn sagen?‹ fuhr es ihr durch den Kopf, während sie vor ihrem Spiegel Hut und Handschuhe ablegte. ›Ob er sich freut? Es macht ja freilich all seine ehrenhaften Absichten zu Schanden – er hat sich ganz umsonst versetzen lassen. Ach – wenn er mich nur sieht – wenn ich nur erst einmal mit ihm gesprochen habe, so wird er sich schon freuen; er wird einsehen, daß er gegen das Schicksal nicht ankämpfen kann, und wird sich darein finden, daß eben dies unser Schicksal ist. Und dann wird er sich freuen – freuen! Denn er liebt mich ja doch – liebt, liebt, liebt mich!‹
Sie war plötzlich felsenfest davon überzeugt, woran sie in mancher durchweinten Stunde gezweifelt hatte.
Wie sich das alles gestalten solle und könne, bedachte sie nicht; sie war ganz Freude, sinnlos und gedankenlos.
Sie nahm sich vor, ihrem Manne nicht zu sagen, daß sie alles wisse, sondern äußerlich gelassen seine Mitteilung zu erwarten und dann ganz kühl und ruhig aufzunehmen. Aber sowie sie ihm gegenüberstand, ward ihr diplomatischer Plan zu Schanden. Die Ungeduld drängte ihr die Worte über die Lippen, ehe sie sich dessen versah.
»Aber Eberhard, warum hast du mir denn gar nicht erzählt, daß wir versetzt sind?«
Er saß am Schreibtisch, der Thür gegenüber, durch welche sie eintrat. Er sah auf. Da stand sie – hübsch, elegant, die Augen leuchtend vor Aufregung, halb Angst, halb Glück. Es ließ ihn vollständig kalt. Nur, daß sie alles wußte, schien ihn äußerst unliebsam zu überraschen.
»Du hast es ja nun auch ohnedem erfahren,« sagte er kurz. Sie war etwas eingeschüchtert durch diesen Ton und wußte lange nicht, wie sie die Unterhaltung weiterführen solle. Sie trat ans Fenster und drückte die Stirn an die Scheiben; er that, als sei sie gar nicht da.
Nachdem sie vergeblich auf eine weitere Äußerung seinerseits gewartet hatte, drehte sie sich etwas heftig nach ihm um und sagte mit mühsam bezwungener Ungeduld:
»Wann müssen wir denn umziehen? Du scheinst zwar keine Lust zu haben, davon zu sprechen, aber du wirst doch einsehen, daß ich es wissen muß!«
»Ich werde mich im Lauf der Woche bei meinem neuen Vorgesetzten melden,« sagte Eberhard in kühlem, geschäftsmäßigem Ton. »Vielleicht bleibe ich dann gleich da.«
»Und ich soll inzwischen –«
»Du bleibst einstweilen hier,« sagte Eberhard mit ruhiger Bestimmtheit. »Es wäre Zufall, wenn dort von heut auf morgen eine geeignete Wohnung frei würde. Außerdem habe ich die hiesige bis zum Herbst gemietet und werde sie schwerlich eher los werden.«
»Und da soll ich den ganzen Sommer –« sie brach ab; diese Zumutung war so ungeheuerlich, daß sie fassungslos mit ihrem ganzen Gedankenwerk davor Halt machte.
»Ich habe einstweilen keine Lust, dich mitzunehmen,« sagte Eberhard. »Was später geschieht, wird sich finden.«
»So –« und nun hielt sie nicht länger an sich, »ich habe aber nicht Lust, das abzuwarten. Du darfst mich nicht behandeln wie eine Sklavin. Ich bin deine Frau, und ich habe das Recht, mit dir zu gehen!«
»Du hast dich zu fügen; weiter nichts.«
Julia sah ein, daß sie auf diesem Wege nichts erreichen würde. Sie versuchte es also auf einem andern.
»Bedenke doch, Eberhard,« sagte sie, wieder ganz ruhig und möglichst freundlich, »was die Leute reden würden, wenn du als Ehemann dort dauernd ein Junggesellenleben führtest!«
»Das Gerede der Leute hat dich bislang nicht viel gekümmert. Jetzt kümmert es mich nicht. Außerdem,« fuhr er mit bitterer Schärfe fort, »würde diesem Gerede noch viel mehr Stoff gegeben werden, wenn du mitkämest.«
»Ja – aber einmal muß ich doch hinkommen!« rief sie verzweifelt.
»Ich sagte dir ja schon, daß sich das finden wird. – Du möchtest es natürlich brennend gern,« fuhr er schonungslos fort. »Du betrachtest diese Wendung der Dinge als ein williges Entgegenkommen des Schicksals gegen deine – Launen. Rücksichtslos wie immer, denkst du mit keinem Gedanken daran, daß es Menschen giebt, denen diese Wendung im höchsten Grade unwillkommen ist. Es ist doch merkwürdig, wie schamlos der Egoismus einer Frau sich zuweilen äußert.«
»Eberhard!« schrie sie auf, und diesmal lag ein echter Schmerz in ihrem Gesicht, in ihren Worten. »Für so gesunken mußt du mich denn doch nicht halten, daß du mir alles sagen dürfest! Durch eine erniedrigende Behandlung wirst du mich nicht bessern. Und mehr noch – durch eine solche Behandlung nimmst du dir selbst die Achtung vor mir!«
»Achtung?« fragte Eberhard gedehnt mit einem unbeschreiblichen, nicht mißzuverstehendem Ausdruck in Ton und Blick. »Die hast du selbst mir doch schon genommen, liebes Kind!«
Julia sanken die Hände am Leibe herab; ihr frisches, hübsches Gesicht wurde blaß und matt.
»Ja – dann kann ich eigentlich nicht begreifen, warum wir immer noch zusammen bleiben,« sagte sie mit toter Stimme und ging langsam und schwerfällig zum Zimmer hinaus.
Als die Thür sich hinter ihr geschlossen, sprang Eberhard von seinem Stuhle auf und griff sich mit beiden Händen nach dem Kopfe.
›Es ist nicht zu begreifen, warum wir immer noch zusammen bleiben!‹ wiederholte er. ›Nein, es ist auch nicht zu begreifen.‹ Keine Liebe mehr – schon lange nicht mehr; von dem Tage an nicht mehr, wo er sich klar geworden war, daß ihr hübsches Gesicht und ihr liebenswürdiges Wesen die einzigen Vorzüge waren, die sie besaß. Und nun, seit der Geschichte diesen Winter, auch keine Achtung mehr.
Kinder, die sie in Pflicht und Hoffnung aneinander gebunden hätten, besaßen sie nicht; würden sie auch nie mehr besitzen. Also wäre es viel moralischer und besser, sie trennten sich. Für ihn würde es sogar eine wahre Erlösung sein. Aber die Initiative dazu sollte von ihr ausgehen; das dünkte ihn besser, aus verschiedenen Gründen. Er war fest überzeugt, daß sie nächstens den erwünschten Anstoß geben würde. Daß sie es nicht schon längst gethan hatte, lag nur daran, daß sie nicht wußte, wo sie dann bleiben sollte, daß sie nicht den Mut fand, ohne Stellung und ohne die behagliche Rücklehne angenehmer äußerer Verhältnisse den Kampf mit dem Leben allein aufzunehmen.
Seit mehreren Monaten war Björn Heddenholm in seiner neuen Garnison und hatte sich dort über Erwarten eingelebt. Sein männlich ernstes, einfaches und wahres Wesen hatte ihm schnell Herz und Vertrauen seiner neuen Kameraden gewonnen. Er war überall gern gesehen und eroberte sich ohne das mindeste eigne Dazuthun eine angenehme Stellung überall, wo er dienstlich oder gesellig zu thun hatte.
Sein schneller Garnisonwechsel bildete im Anfang den Gegenstand mehrfacher Fragen und Erörterungen. Björn wich denselben nie aus, wo sie sich direkt an ihn wendeten.
»Ich habe mich dort nicht wohl gefühlt,« pflegte er ruhig und unbefangen zu sagen. »Es war gewiß gewagt von mir, mich daraufhin weg zu bemühen – indes es gelang, und ich bin nun sehr froh, es versucht zu haben.«
Mit dieser Erklärung gab sich jeder zufrieden. Aus seiner entschiedenen Abneigung, mehr zu sagen, und aus dem fast unnatürlich ernsten, manchmal traurigen Ausdruck seiner Augen zog man den Schluß, daß er sich einer unglücklichen Liebe wegen habe versetzen lassen, und nachdem diese Schlußfolgerung sich zur allgemein anerkannten Ansicht erhärtet hatte, rührte man nicht mehr an diesen Punkt.
Björn war nicht der Mann, dessen Herzensangelegenheiten man mit neckischen Anspielungen betasten durfte.
Zu Pfingsten besuchte er seine Eltern.
Der Gedanke, auf dieser Reise wieder den Ort berühren zu müssen, den er vor kaum einem Vierteljahr unter so schmerzlichen Umständen verlassen hatte, regte ihn mehr auf, als er sich selber zugeben wollte. Er dachte sogar vorübergehend daran, die Reise so einzurichten, daß er jene Gegend bei Nacht durchfuhr; da brauchte er die Stadt nicht zu sehen, in der Julia lebte; da war es weniger wahrscheinlich, einem Bekannten zu begegnen.
Dann schämte er sich dieser kleinmütigen Gedanken. Er hatte ja abgerechnet mit dem, was gewesen war. Er brauchte die alten Erinnerungen nicht zu fürchten. Im Gegenteil – indem er ihnen mutig ins Auge sah, wollte er sich selbst prüfen, ob er noch immer unter dem Einfluß ihrer Macht stände.
So machte er den ersten Teil der Fahrt bei Nacht und verließ in sonniger Morgenfrühe des Pfingstsonnabends Hamburg. Mittags konnte er dann zu Hause sein.
Das maigrüne Land mit seinen Städten und Dörfern, mit Wald und Feld und Hügel und See zog flüchtig vorüber an seinen Augen, die mit schwermütigem Blick gedankenvoll darauf ruhten.
Wie ihn das alles erinnerte an den Tag, an welchem er zum erstenmal dieses Weges gekommen war –
In die Welt war er hinausgezogen auf diesem Wege; von der Schulbank der kleinen Provinzialstadt hinaus in das frische, fröhliche Soldatenleben; ausgestattet mit all den Eigenschaften, die ihn befähigten, den Anforderungen dieses wie des Lebens überhaupt voll zu genügen, und den Reichtum des Daseins zu genießen.
Und mindestens einmal alljährlich war er auf diesem Wege zurückgekehrt in die Heimat an der nördlichsten Grenze des Reiches, und hatte sich dort, wo seine Kraft wurzelte, wo seines Daseins Mittelpunkt sich festete, neue Nahrung gesucht, die dem Baum seines Lebens fruchtversprechende Blüten entlockte.
Und endlich eines Tages war er, dem Wunsche seiner Eltern folgend, die den einzigen Sohn mehr in ihrer Nähe zu haben wünschten, auf diesem Wege in sein Verhängnis geeilt.
Björn empfand nicht mehr den schneidenden, unharmonischen Schmerz, wenn er an Julia dachte, der seine Seele zerriß, als er vor drei Monaten zum letztenmal hier gefahren war. Wie eine tiefe, friedliche Trauer nur kam es über ihn, wenn er der Erlebnisse mit ihr gedachte. Die Leidenschaft, die sie ihm heiß und heftig entzündet, war erloschen. Die ganze, in ihrer Nähe und unter dem Einfluß ihres Wesens verlebte Zeit lag hinter ihm wie eine vergebene Sünde; wie eine gewonnene Schlacht, aus welcher der Sieger zwar Wunden und Mattigkeit, aber Frieden und Sicherheit sich heimträgt; wie eine große Enttäuschung, welche ihn das Leben und sich selbst besser kennen lehrte, und ihm in die Hand gab, womit er beidem kräftiger begegnen könne.
Noch stand er unter den Nachwehen jener Zeit. Noch schmerzten die Wunden, die sie ihm geschlagen. Aber seine Wünsche schwiegen; er hatte Freude an seinem Siege.
Er sehnte sich nach etwas Reinem, Friedevollem, das mit sanftem Wehen die Fußspuren einer friedlosen Leidenschaft vollends aus seiner Seele zu tilgen vermöchte. Und dieses Sehnen hatte ihn bestimmt, ein paar Frühlingsfeiertage auf dem heimatlichen Hofe zu verleben.
Immer flacher wurde die Gegend; immer unabsehbarer dehnten sich die grünen Flächen. Am östlichen Horizont tauchte etwas Glitzerndes, Blendendes auf, etwas unruhig Tanzendes und Hüpfendes. Das mußte der Schleibusen sein. Ein paar Möven hatten sich bis hier herein verflattert und kreisten schreiend um die sich schwerfällig dahin wälzende Rauchwolke des Zuges.
Björn öffnete das Fenster. Eine würzige Brise, gemischt aus Sonnenschein und Wasserdunst, wehte ihn kräftig an.
Und plötzlich dehnte sich vor ihm das unordentliche, unregelmäßige, malerische, vom lachenden Frühling umarmte Bild der Stadt, mit dem turmlosen Dom, mit all den hundert vielgezackten, roten und braunen Ziegeldächern.
Eine Empfindung übermannte ihn plötzlich, wie ein alter Mann sie haben mag, der sich in ein Jugenderlebnis zurückversetzt sieht –
Auf dem Bahnhof war ein lautes Durcheinander – Ferienkinder, Festgäste, Beurlaubte. Björn verbarg sich hinter dem Fenstervorhang aus Furcht, einen Bekannten zu entdecken oder selbst von einem solchen entdeckt zu werden. Beides blieb ihm erspart. Nur einige Soldaten seines alten Regiments trugen die vertrauten Farben vor seinen Augen spazieren.
Der Zug setzte sich in Bewegung und brauste weiter. Durch Wiesen und Weiden im smaragdenen Pfingstgeschmeide, durch traurige Moore, durch braune Heideflächen; an lächelnden Seeen vorbei und durch die maigrünen Schleier lichter Buchenwälder. Alles förmlich durchjauchzt und umjubelt vom Frühlingssonnenschein, den der blaueste Maihimmel lenzesselig entsandte.
Und trotz Sonne und Lenz und Maiengrün und Frühlingsjubel lag es doch über der in ihrer tragischen Schlichtheit ergreifenden Schönheit der Landschaft wie ein Schleier von Schwermut und Melancholie; so wie der Abglanz eines schmerzensreichen Erlebnisses über einem jungen, blühenden Menschendasein liegt.
Endlich ist die kleine Station erreicht, von welcher er zu Fuß in einer guten Stunde in die Heimat gelangen kann. Er hatte seine Ankunft nicht vorher gemeldet; er wollte die Seinen überraschen. Er wollte auch Stück für Stück und Schritt um Schritt das Wiedersehen mit diesem vertrauten Weltwinkel feiern, besser, wie es in einem klappernden Wagen, mit dem schwatzhaften alten Kutscher möglich gewesen wäre.
Und es ist eine Lust, auszuschreiten in der sonnigen Luft, in dem kräftigen Odem, den diese keusche, urwüchsige Natur ausströmt. Die üppigen Weiden sind ringsum von wohlgenährten, glatthaarigen Kuhherden, von weißen, dickwolligen Schafen belebt. Die kiesbeschütteten Wege führen zwischen blühenden Hecken endlos dahin.
Wo der blaue Maihimmel die grüne Erde küßt, da vorn, am flachen Horizont, taucht das Dorf auf mit dem weißgetünchten Kirchturm – wie ein schmales Segel hebt er sich vom tiefblauen Hintergrunde ab. Das Dorf hat nur eine lange, gerade Straße; es sieht aus wie ein Park – lauter blühende Bäume und Büsche, wohlgepflegte Beete hinter grüngestrichenen Zäunen; und zwischen den blühenden Kronen und duftenden Sträuchern, mitten in all der Reinlichkeit und Frühlingsüppigkeit, in all der Blühenslust und dem Lebensübermut liegen die saubern, weißen Häuser mit ihren festtäglich blankgeputzten Fensterscheiben wie lauter stillvergnügte, harmlose Geheimnisse.
Björn geht die ganze Straße entlang und grüßt freundlich, beinahe freundschaftlich all die bekannten Gesichter, alt und jung, die ihn und seinen in all der Sonne um so lustiger leuchtenden Waffenschmuck verwundert und begeistert anstarren.
Durch das weißgestrichene Thor, das zwischen Stallgebäuden mehr zur Zier als zur Wehr eingefügt ist, betritt er den Herrenhof. Der ist schon blitzsauber gefegt für die kommenden Festtage. Alle Ackergeräte sind mit fast soldatischer Genauigkeit in Reih und Glied aufgepflanzt; die Scheunen und Böden sind verschlossen; die Nachmittage vor den großen Festen sind den Leuten für die Beschickung der eignen Angelegenheiten freigegeben. Wie Feierabendfrieden liegt es über allem. Nur eine alte Magd schlurft vom Hause nach den Ställen, und ein paar rauhbeinige, ungeschickte, vergnügte Kälber tollen umher.
Und das Haus, das liebe alte Haus, so puritanisch einfach, sauber und ordentlich, daß es fast streng aussähe, wenn nicht das junge Grün der Buchen, die es überwölben, einen zitternden Goldglanz darüber malte, einen warmen Schatten darum hüllte! Auf dem großen Beet vor der Hausthür prangen Aurikeln und Vergißmeinnicht. Der breite Kiesweg ist frisch geharkt; eine einzelne Fußspur führt darüber hin.
Es war Björn heiß geworden; er war zuletzt doch schnell gegangen; seine Ungeduld war zu groß.
Die Hausthür war nur angelehnt. Er trat geräuschlos ein. Wohlige Kühle wehte ihn aus der mit grauen und roten Fliesen belegten Halle an, die fast dürftig in ihrer Einrichtung, doch kraft ihrer warmen Farben den Zauber des Behagens ausströmte.
Durch die Thür geradeüber drangen wohlbekannte Stimmen. Da saßen sie wohl bei Tisch – man vernahm Tellerklappern, es duftete nach allerhand, was einem hungrigen Magen wohl thut. Björn war hungrig – jugendlich hungrig.
Und mit einem schnellen Entschluß öffnete er die Thür und stand mitten unter ihnen.
Das gab ein Überraschen und ein Rufen, ein Freuen und ein Fragen ohne Ende. Schnell wurde ein Platz für ihn eingeschoben; er war fortan die Hauptperson des Kreises. Es waren schon andre Gäste da; die verheiratete Schwester aus Fünen mit Mann und Kindern; ein paar gute Freunde des Vaters, eine Gespielin der jüngsten Schwester. Björn hatte von alledem nichts gewußt. Er wäre lieber ganz allein mit den Seinen gewesen. Aber er fand sich auch darein, wie es nun war. Und es war lustig, sehr lustig – fröhlich, harmlos, heiter und sonnig, wie draußen der goldene Maitag.
Die Stunden flogen nur so dahin. Björn kam gar nicht recht zur Besinnung. Jeder hatte ihm etwas Besonderes zu sagen und zu zeigen. Er war diesmal ja nicht zu Weihnachten nach Hause gekommen; er hatte Dienst vorgeschützt; in Wahrheit hatte es ihm an der Stimmung gefehlt. – Sie liefen in Hof und Ställen und Garten umher und untersuchten jeden Winkel im Hause. Auch in die Kirche gingen sie und halfen die jungen Birkenmaien am Altar und an allen Bänken und Pfosten anbringen. Und Björn war, ohne es zu wollen, immer noch die Hauptperson, der Mittelpunkt. Alle liebten ihn, alle verzogen ihn. Es verdarb ihn nicht; es that ihm gut, wie der Sonnenschein dem ergrünenden Laube gut thut.
Nach dem Abendessen, das zu ländlich früher Stunde eingenommen wurde, empfand Björn plötzlich ein ausgesprochenes Bedürfnis nach Ruhe und Einsamkeit. Er stahl sich heimlich fort aus dem plaudernden Kreise; den backsteingepflasterten Flur entlang nach der Vorratskammer – da stand seine Mutter und traf Anordnungen für den folgenden Tag. Sie liebte es nicht, am Sonntag vormittag, noch dazu am Pfingstsonntag, mit häuslichen Geschäften belastet zu sein.
Da stand sie, groß und blond – wirklich, sie hatte noch kaum ein graues Haar, weder an den Schläfen noch in dem dicken, stattlichen Zopf am Hinterkopfe – Energie und Güte in dem jugendfrischen Gesicht, und ein gut Teil Lebensklugheit und Herzensweisheit in den klaren, hellgrauen Augen. Sie sah Björn sehr ähnlich; sie hätte fast seine ältere Schwester sein können; die Verschiedenheit ihres Temperamentes näherte sie einander im Alter auch äußerlich; sie ward verjüngt durch ihre unverwüstliche Leibes- und Seelenfrische; er war gereift durch seinen frühgezeitigten Ernst.
»Hast du noch lange zu thun, Mutter?« fragte Björn.
»Nein, mein Junge; ich bin fertig. Ich habe nur schnell noch den Küchenzettel für morgen geändert; ich vergesse deine Leibgerichte nicht, auch wenn du mich selten in die Lage bringst, sie dir vorzusetzen. – Was giebt's – willst du etwas von mir?«
»Ja, Mutter. Ich möchte mit dir einen kleinen Feierabendspaziergang machen. Aber mit dir ganz allein. Wenn du meinst, daß du abkommen kannst –«
Sie musterte ihn mit einem kurzen, scharf prüfenden Blick, band die weiße Schürze ab und hängte sie an den Riegel.
»Natürlich kann ich abkommen. Für dich immer.« Sie ging ihm voran aus der Kammer; er schloß hinter sich ab und steckte den Schlüssel ein.
»Laß nur, ich trage ihn dir. Und weißt du – wir wollen hinten hinausgehen; damit uns nicht noch einer aufhält oder gar auf den Einfall kommt, uns zu begleiten.«
Der ganze Maiabend war voll Fliederduft; die Luft war so weich, so voll, so schwermütig still. Die Sonne war eben untergegangen; der westliche Himmel war leuchtend rotgelb; wie Glas, so klar und durchsichtig und unbewegt stand die ganze Atmosphäre. Eine Nachtigall fing an zu schlagen und schwieg gleich wieder. In heiliger Andacht, in atemloser Erwartung zitterte die Natur dem Pfingstwunder entgegen.
Björn hatte seiner Mutter Arm durch den seinen gezogen. So wanderten sie schweigend den langen, schnurgeraden, mit hellblauer Iris eingefaßten Gartenweg entlang. Sein Haupt war unbedeckt; die samtweiche Luft streichelte seine braune Stirn.
»Ach Mutter – wie ist es doch schön, daheim zu sein!« sagte er. Es klang mehr Schwermut als gerade Freude aus seiner Stimme. Seine Augen überschauten die Bäume und Büsche und Beete umher mit zärtlichem Glanz. Seine Mutter antwortete nicht; sie wußte längst, daß sich irgend etwas mit ihm ereignet hatte. Sie wußte auch, daß er ihr sagen würde, was; daß er nur zu diesem Zweck diesen einsamen Spaziergang mit ihr unternommen habe.
Einstweilen erzählte sie ihm lauter kleine intime Familienangelegenheiten, als wolle sie ihm Zeit gönnen. Er hörte aufmerksam zu. Es that ihm so gut, all diese nichtigen, wichtigen Dinge aus ihrem lieben Munde zu hören. Das alles war so gesund, so normal, so befriedigend; so unentweiht, kindlich und rein wie die ganze Natur umher; und ebenso voll urwüchsiger Lebensfrische.
Der steile gerade Weg führte zu einer kleinen, mit Buschwerk bepflanzten Anhöhe am Ende des Gartens. Ein schmaler Pfad leitete geschlängelt hinauf. Ein paar verschlafene Vögel entflatterten dem Gesträuch, das ihre Kleider streiften. Die Fliederdolden hingen schwer an den Seiten hernieder.
Oben stand eine kleine Bank unter einem Eschenbaum. Da sah man weit in das grüne Land hinein, nach Osten, wo hinter der niedrigen Hügelkette die See ihre ewigen Wasser schaukelte, deren feuchter Salzodem sich in der abendlich hingebenden Luft mit den süßen Blumendüften mischte.
Hier setzten sie sich. Und hier legte plötzlich Magna Heddenholm ihre große, weiße Hand auf den Scheitel ihres Sohnes, sah ihm zärtlich in das geliebte Gesicht, dessen Augen sie noch nie getäuscht hatten, und sprach:
»Nun, Björn, sage mir, was du auf dem Herzen hast.«
Es wurde ihm nicht leicht, einen Anfang zu finden; er suchte nach einem solchen, und seine Brauen zogen sich schmerzlich zusammen.
»Es ist eine schlimme Geschichte, Mutter –«
»Sag's nur; ich werde schon einen Ausweg finden,« tröstete sie liebreich.
»Ach nein,« meinte er und lächelte unwillkürlich; »so etwas ist es nicht; keine Schulden; auch nichts Dienstliches; wenn ich es dir sage, so hat es keinen andern Zweck, als daß du es eben wissen sollst.«
»Nun, so sag's doch, mein Junge!« Sie schlang den Arm um seine Schulter und streichelte seine Hand, die auf seinem Knie lag, als wollte sie ihn ermutigen.
»Es ist der Grund meiner Versetzung,« sagte Björn.
»Der Grund deiner Versetzung –« wiederholte sie nachdenklich; »und keine Schulden, und nichts Dienstliches. Also eine Frau,« schloß sie ruhig.
»Ja, Mutter.« – Und nun erfuhr sie alles.
Das Abendrot erlosch; nur ein paar rosenrote Flöckchen noch schifften unschuldig und heiter am Himmelsblau daher. Ein leises Windgeflüster erhob sich in den blühenden Büschen; der Eschenbaum seufzte, als thäte ihm all das Menschenweh leid.
Björn hatte aufgehört zu sprechen. Er hielt die Hand seiner Mutter fest in seinen beiden, saß vornübergebeugt und starrte trübe auf die scharfkantigen Kiesel zu seinen Füßen.
»Mein armer Junge,« sagte Magna Heddenholm, »mein lieber Junge!« Und dabei streichelte sie mit ihrer freien Hand wieder und wieder sein kurzes, dickes Haar. Wie ihm das gut that, die weiche Stimme und die weiche Hand!
»Eigentlich bin ich ja nicht zu bedauern,« begann er nach langem Schweigen noch einmal. »Meine eigne Schwäche war schuld daran, daß es so weit kam; ich hätte mich niemals hinreißen lassen dürfen, meine Gefühle zu verraten. – Das ist nun vorbei. Meine Schwäche ist überwunden; ich habe über mich selbst gesiegt. Ich bin dem Schauplatz dieser schmerzlichen Kämpfe ferngerückt. Ich könnte in neuen Verhältnissen ein neues Leben anfangen – habe es auch in gewisser Weise gethan. Ich könnte unter die ganze Vergangenheit einen Strich machen. – Und dennoch gelingt mir das nicht.«
»Warum denn nicht, mein Junge?« fragte sie beinahe schüchtern und streichelte ihn immer weiter.
»Hast du sie denn noch lieb?« fragte seine Mutter.
»Lieb –« wiederholte er, richtete sich auf und blickte mit einem grüblerischen Ausdruck in den leuchtenden Abend hinaus. »Nein, ich habe sie nicht mehr lieb. Ich glaube nicht, daß ich mich über mich selbst täusche. Ich möchte sogar behaupten, daß ich sie nie lieb gehabt habe. Lieb haben – das ist so etwas Stilles, Tiefes, Heiliges, weißt du. Aber was ich für sie fühlte, das war so laut, so toll, stürmisch und ungeduldig; eine rasende Leidenschaft. Nein, ich habe sie nicht mehr lieb. Aber ich habe ein schlechtes Gewissen ihr gegenüber, so ein quälendes, bedrückendes Schuldgefühl; das kann ich nicht los werden.«
Sie sah ihn heimlich besorgt an.
»Wieso denn – wie meinst du das?«
»Ja, siehst du, Mutter, ich habe sie doch unglücklich gemacht. Sie liebte mich – ich bin überzeugt, sie liebte mich so aufrichtig und tief, wie sie überhaupt lieben konnte; sie hätte alles für mich gethan. Und nun bin ich davon gegangen –«
»Aber das war doch das einzige, was dir zu thun übrig blieb! Und daß sie dich liebte, war nicht deine Schuld –«
»Meine Schuld – nein. Immerhin war ich die Veranlassung zu ihrer ganzen, traurigen Verirrung –«
»Darüber beruhige dich, mein Sohn,« sagte sie schnell. »Wenn du nicht die Veranlassung gewesen wärest, so wäre ein andrer sie geworden!«
»Sprich nicht so von ihr, Mutter. Sie ist ein armes Geschöpf; sie hat keine Ahnung davon, wie man es anfängt, dem Leben gerecht zu werden.«
»Das ist unzeitgemäße Großmut,« sagte sie. »Und du kannst mir glauben, sie hat dich inzwischen schon verschmerzt!«
»Ich wünschte es –« meinte er. An seiner Stimme und an seinem Gesichtsausdruck war zu merken, daß er es nicht glaubte. Und seiner Mutter selbst war der Gedanke, daß man ihren Sohn so schnell vergessen könne, durchaus nicht angenehm.
Sie war empört über das leichtsinnige, selbstsüchtige Weib, das ihn so herausgefordert, sich ihm so an den Hals gehängt hatte – er hatte es ja nicht zugeben wollen, daß es so gewesen war, er hatte sie immer nur zu entschuldigen versucht; aber sie durchschaute das alles sehr nüchtern und sehr richtig.
Sie hätte ihm diese häßliche Erfahrung so gern gespart. Nach Art aller zärtlichen Mütter hatte sie sich eine frische, ungehinderte und natürlich glückliche Liebe zu irgend einem idealen, gerade nur für ihn geschaffenen und geschmückten Mädchenbilde gedacht. Und diese Liebe sollte die erste sein in dem unentweihten Heiligtum seines Herzens, dessen Priesterin sie selbst in Gebet und Mutterliebe gewesen war so viele schöne Jahre hindurch; und diese Liebe sollte dann auch die letzte bleiben –
Es kommt eben immer alles anders.
»Ich will dir etwas sagen, Björn,« begann sie nach langem Nachdenken entschlossen, »du mußt energisch mit dem allen aufräumen; nicht nur mit der Leidenschaft und den schmerzlichen Erfahrungen, sondern auch mit diesem großmütigen Schuldgefühl ihr gegenüber. Das ist Gefühlsluxus; das ist hier wenigstens gar nicht am Platz –«
»Ja, Mutter,« unterbrach er, »das ist nur – ich fürchte – sieh mal; sie war immer ein wenig haltlos und leichtsinnig; und wenn sie nun durch diese Geschichte ganz entgleist –«
»Dafür kann dich kein Mensch verantwortlich machen, und du darfst nicht so sentimental sein, es selbst zu thun,« rief sie beinahe ärgerlich. »Auch dem lieben Gott wird es nicht einfallen, dich einmal dafür zur Rechenschaft zu ziehen. Und wie wolltest du sie denn halten? Du hast doch weder Mittel noch Gelegenheit, ihr zu helfen! Du bist allein fertig geworden – sie wird es auch werden, wenn sie überhaupt was wert ist. – Sage mir doch,« fuhr sie fort, als er trübe schwieg, »wie du ihr hättest helfen wollen? Etwa, indem du so ein romantisches Seelenbündnis mit ihr eingingst, wie das jetzt in der großen Welt Mode sein soll? Damit belügt man sich nur; das ist vielleicht nicht gerade Ehebruch in der That, aber wohl in Gedanken; und Gedankensünden sind oft die allergefährlichsten, weil sie sich am unauffälligsten einnisten – und außerdem ist so eine Frau mit solchem Seelenbündnis auf die Dauer schwerlich zufrieden!« Björn lächelte.
»Ereifere dich doch nicht so, Mutter. An Derartiges hat keiner von uns gedacht.«
»Nun, so schlag dir die unfruchtbaren Grübeleien aus dem Sinn. Ein zartes Gewissen zu haben, ist sehr schön und richtig. Es darf aber nicht spitzfindig werden. Vergiß doch nicht, daß sie dich angelockt hat, nicht du sie –«
»Aber ich habe ihr nicht verbergen können, daß ich ihre Gefühle erwiderte!«
»So hätte sie dann erst recht sich zurückhalten müssen, wie du selbst es jedenfalls gethan hättest, wärst du nicht durch sie bethört gewesen.«
»Du beschuldigst sie, um mich zu entschuldigen, Mutter. Das ist sehr gut gemeint; aber du kennst sie ja nicht einmal!«
»Lieber Junge,« sagte sie mit einem kleinen Seufzer, »wenn ich auch Julia Altefahr nicht kenne, so kenne ich doch die Sorte Frauen, die sie repräsentiert. Und ich kann dich versichern, daß man sich ihnen gegenüber solche weittragende Skrupel nicht zu machen braucht. Ihr Sinn ist leicht und ihr Gewissen ist weit –«
Sie sprach noch lange auf ihn ein und wußte schließlich doch nicht, ob sie etwas erreicht hatte. Er blieb still und ernst.
Es wurde dämmerig ringsum. Der Regenpfeifer ließ seinen langgezogenen Ruf ertönen; in allen Gräben und Wasserläufen erhob sich das Concert der Frösche. Auch die Nachtigallen wagten sich mit ihrem schluchzenden Gesang hervor.
Björn stand plötzlich auf, aber nur um sich niederzubeugen und seine Mutter in kindlicher Innigkeit zu umarmen und zu küssen. Dann glitt er leise vor ihr nieder, bis er auf dem Boden kniete, und zog ihre Hände an seine Lippen.
»Ich danke dir, Mutter,« sagte er mit bewegter Stimme. »Ich weiß noch nicht, ob ich alles werde nachempfinden können, was du mir gesagt hast; aber es hat mir wohl gethan.«
Dann schlang er zutraulich den Arm um ihre Taille und legte seinen Kopf an ihre Kniee.
»Bleib noch ein wenig sitzen, Mutter –«
Sie that es nur allzugern; er war ja ihr ganzes Glück, und daß er so offen und kindlich zu ihr stand, war der größte Stolz ihres Lebens. Während sie ihm die eine Hand auf die Stirn legte, wie sie es wohl gethan hatte, wenn er als Schuljunge mit Kopfschmerzen nach Hause gekommen war, wischte sie sich mit der andern heimlich die Thränen aus den Augen.
Es war ihr keinen Augenblick bange darum, daß diese Erfahrung ihm schaden könne; aber es that ihr weh, daß er sie überhaupt gemacht hatte.
Plötzlich sah er auf. Sein Gesicht sah so anders aus, als vorhin; beinahe glücklich.
»Weißt du, Mutter – vor Julia hätte ich doch nie so knieen können!«
»Siehst du!« sagte sie und lachte unter Thränen.
Drei Tage später reiste Björn wieder ab. Sein Urlaub dauerte nicht länger, und die Zeit genügte ihm auch. Er konnte die regelmäßige Thätigkeit noch nicht recht entbehren.
Um mit Genuß faullenzen zu können, muß man ganz glücklich und zufrieden sein.
Diesmal fuhr er in einem hübschen Selbstfahrer nach der Station. Seine jüngste Schwester Melitta saß neben ihm. Sie war ein großes, blondes, gesundes Mädchen, frisch an Leib und Seele, gleich der Mutter. Ihre einzige Schwärmerei war ihr Bruder gewesen, an dem sie noch heute mit liebevollster Bewunderung hing. Darum hatte sie sich auch als besondere Gunst ausgebeten, ihn begleiten zu dürfen.
Die Sonne hatte während all dieser Tage nicht aufgehört zu scheinen. Das Grün der Bäume hatte sich vertieft; es staubte auf dem schattenlosen Wege, und die Luft war still und schwül. Aber sie war doch schön, diese Sonne; über die Maßen gesund und wohlthuend; und dazu diese reine, starke Salz- und Grasluft!
Mit Björn war in diesen drei Tagen eine sichtbare Veränderung vorgegangen. Seine Augen sahen klarer und heller aus, über seinem ganzen Wesen lag eine neue Frische, die es anziehend verjüngte. Die starke, reine Heimatluft hatte das letzte trübe Gewölk aus seiner Seele hinausgeweht.
»Weißt du, Litta,« sagte er, als das einsame Stationsgebäude vor ihren Blicken auftauchte, »du müßtest mich einmal besuchen! Du könntest sehr gut in meinem Wohnzimmer ein Quartier beziehen – wir würden uns in der engsten Hütte vertragen. Denke mal, wie hübsch das wäre. Was ich dir alles zeigen könnte – Natur und Kunst und meine Kameraden –« Sie lachte herzlich.
»Ja, das sind freilich alles sehr verlockende Genüsse; aber ich werde doch wohl darauf warten müssen, bis du eine Frau haben wirst –« Litta wußte natürlich nichts von Julia.
»Warum?« fragte er.
»Weil mir Mutter schwerlich erlauben würde, mich ohne würdigen Schutz in so eine Junggesellenhöhle zu begeben.«
»Nun so bringe doch die Eltern mit!«
»Dazu werden sie sich schwerlich entschließen! Wir sitzen zu fest auf unserm einsamen Hof. Seit ich erwachsen bin – und das sind nun vier Jahre – sind wir über die Inseln und einmal einen Aufenthalt in der Stadt nicht hinausgelangt. Und dann weißt du – wenn die Eltern mitkämen, so wäre das gleich etwas ganz andres – lange nicht so nett!« Sie sah schelmisch zu ihm auf. Sie dachte an all die wilden Kinderstreiche, die sie zusammen ausgeführt hatten. Er dachte dasselbe und sah zärtlich auf sie nieder.
»Ja – dann werde ich wohl bald heiraten müssen –«
»Thu es nur, Björn!« sprach sie eifrig. »Und dann besuche ich euch, und dann sind wir lustig und glücklich! Natürlich muß deine Frau danach sein. Sie muß ein sehr warmes Gemüt haben und ein sehr heiteres Herz; sie muß dich abgöttisch lieben, so wie du es verdienst, geliebt zu werden; sie muß –«
»Und wenn sie nun von alledem nichts hat und nichts thut?« unterbrach er ihr Geplauder.
»So werde ich mir trotzdem Mühe geben, sie zu lieben, weil du sie liebst,« sagte Litta mit fröhlicher Bestimmtheit.
»Du bist ein guter Kamerad,« meinte er gerührt. »Komm – gieb mir einen Kuß; jetzt geht das besser, wie nachher!« –
Es war eine heiße Bahnfahrt, und Björn war müde, wie jemand, der nach einer anstrengenden Zeit auf seiner vollendeten Arbeit ruhen darf. Und da ihm still und friedlich zu Mut war, so drückte er sich in eine Ecke und schlief ein.
Er sah auf der ganzen Fahrt kaum zum Fenster hinaus. Ehe er sich's versah, war es Abend und dunkel geworden. Die Stadt, in der Julia wohnte, lag weit hinter ihm.
In tauiger Morgenfrühe kam er in der Garnison an. Dienst hatte er an diesem Tage noch nicht. So benutzte er die freien Stunden zu einem langen Spazierritt.
Der Himmel war trübe; graues Regengewölk hielt wohlthätig die heißen Sonnenstrahlen ab. Aber trotz des trüben Himmels blieb Björns Seele heiter und mutig.
Vergessen, was dahinten ist. Neu anfangen. Frisch leben und nicht träge grübeln. Nicht verzagt rückwärts schauen, sondern mutig vorwärts. Vorwärts kommt man durch die Welt!
Und wie man die Dinge umher aus der eignen Stimmung heraus versteht und empfindet, so erschien Björn heute trotz Wolken und Sonnenlosigkeit die ganze Natur wie ein lachender Arbeitstag.
In dieser Stimmung begrüßte er kurz vor Tisch die Kameraden im Kasino.
»Guten Tag! Wie geht's! Was habt ihr in den Festtagen gemacht?«
»Und wie geht's dir – wie sieht's zu Hause aus – wann bist du zurückgekommen?«
Und endlich, als sich der erste Schwarm von Fragen und Antworten gelegt hatte:
»Nun – und was giebt's Neues?«
Nichts Besonderes; dem einen war das Pferd krank geworden, besserte sich aber schon wieder. Bei Majors war schon wieder ein Mädchen geboren. Der Rittmeister von Björns Schwadron hatte den Schnupfen und war schlechter Laune. Die jüngste Leutnantsfrau hatte wieder einen unglaublichen Aufwand mit Hüten und Kleidern getrieben.
»Ja, aber was dich am meisten interessieren wird,« rief aus dem Hintergrunde einer über die Köpfe der andern hinweg ihm zu, »es ist dir jemand nach versetzt worden!«
Björn empfand einen unangenehmen Mißton in der Harmonie seiner Gemütsverfassung. Jede Erinnerung an jene Episode seines Lebens war ihm schmerzlich.
»So – wer dann?« fragte er trotzdem gelassen.
»Nicht zu uns,« berichtete der andre weiter; »zur Regierung. Wie hieß er doch – es war so ein sonderbarer Name, als hätte man ihn in einer Hansestadt ausgegraben –« Björn sah unruhig auf.
»Altefahr!« rief ein dritter dazwischen.
»Ja, richtig, Altefahr. Ich habe ihn noch nicht kennen gelernt. Ich hörte es nur so zufällig und dachte gleich, daß es dich interessieren würde. Du kennst ihn doch?«
»Ja wohl,« sagte Björn, ohne eine Miene zu verziehen. »Ich habe in seinem Hause verkehrt.«
»Ist er verheiratet?«
»Ja.«
»Wie ist denn die Frau? Wo stammt sie her?«
»Aus dem Hannoverschen, soviel ich weiß. Sie hat keine Eltern mehr; nur eine Stiefmutter, mit der sie aber kein näheres Verhältnis hat.«
»Nun – und wie ist sie? Hübsch? Vergnügt? Wird sie zu uns passen? Denn wahrscheinlich werden sie doch mit uns verkehren!«
»Wahrscheinlich,« wiederholte Björn mechanisch. »Sie ist sehr lebenslustig. Und hübsch und liebenswürdig ist sie auch.«
Damit war die Frage erledigt. Er setzte sich mit den andern zu Tisch und aß und trank mit ihnen. Er unterhielt sich auch, ganz vergnügt und unbefangen.
Aber die frische, starke Heimatsluft war aus seiner Seele hinweg geweht wie durch einen schwülen, schweren Odem. Die frohe, mutige Laune war ihm gründlich verdorben. – Trotzdem blieb er nachher noch lange in dem Kreise der Kameraden. Er wollte das Alleinsein und das Nachdenken möglichst hinausschieben.
Dann in seinem Zimmer, beim einsamen Schein der roten Lampe, die Litta ihm einmal zu Weihnachten geschenkt hatte, schlug er sich mit der flachen Hand vor die Stirn –
›Ich Unglücksmensch – ich kann mich doch nicht schon wieder versetzen lassen!‹ –
Dann fing er an, in zorniger Erregung umherzulaufen.
›Warum spielt mir das Schicksal so mit! Wie ist es nur möglich, daß sie hierher kommen – daß sie diese Versetzung nicht aus allen Kräften und mit allen Mitteln hintertrieben haben! Aber vielleicht haben sie es versucht; vielleicht war es nicht zu verhindern. Vielleicht weiß der Mann gar nicht – nein, es ist nicht möglich, daß er nichts weiß. Oder sollte sie ihm es ausgeredet – ihn beruhigt haben? Sollte sie – nein, es ist undenkbar; so toll und leichtfertig kann sie nicht sein, eine solche Wiedervereinigung mit mir gewünscht, auf irgend eine Weise angestrebt zu haben. Denn sonst – –‹
Der Gedankengang versagte ihm.
›Nur nicht niederdrücken lassen – nur nicht niederdrücken lassen!‹ sagte er sich immer wieder, zehnmal, zwanzigmal hintereinander.
›Ich werde selbstverständlich hier bleiben und mich gar nicht um sie kümmern. Sie wird anständig genug sein, das zu respektieren. Denn wenn es noch einmal so weit käme, daß einer von uns weichen muß, sie oder ich – und wenn wieder ich derjenige sein müßte – dann müßte ich doch geradezu meinen Abschied nehmen –‹
Er sah den Rock an, den er trug; er war doch mit Leib und Seele Soldat, er wollte es doch so gern noch lange in Ehren und Ansehen bleiben. Was sollte auch aus ihm werden, wenn er diesen Rock auszöge? Sein Vater lebte noch, sehr thätig, sehr rüstig, und hoffentlich noch sehr lange. Er konnte seine Arbeit dem Sohne nicht abtreten. Für zweier Männer Schaffenskraft aber reichte das Handwerkszeug nicht aus. – Sollte er ein thatenloses Dasein führen, von der Hand in den Mund leben und dem lieben Gott die Tage stehlen? Und obenein ganz und allein auf die väterliche Zulage angewiesen?
Ihm wurde heiß vor Abscheu bei dem Gedanken.
Aber warum ging die Phantasie so durch mit ihm? So weit würde, durfte, sollte und konnte es nicht kommen.
Fürs erste nahm er sich vor, alles zu vermeiden, was ihn mit den Altefahrs in Berührung bringen konnte; jede Gelegenheit, von ihnen nur reden zu hören. Und diesen Vorsatz führte er gewissenhaft aus. Er ging auf den Straßen, als habe er Scheuklappen an den Augen, und vermied jedes Gespräch, das eine gefährliche Wendung nehmen, ihm neue Nachrichten bringen könne.
Trotz alledem konnte er es nicht verhindern, daß er etwa vierzehn Tage später, als er abends mit einigen andern im Kasinogarten saß, von einem unter ihnen gefragt wurde:
»Haben Sie eigentlich schon etwas von Ihren Bekannten gesehen?«
»Von welchen Bekannten?« fragte Björn, obwohl er sehr gut wußte, wer gemeint war.
»Nun, von den Altefahrs.«
»Nein.«
»Stehen sie Ihnen überhaupt irgendwie näher?«
Björn blickte unangenehm berührt auf.
»Sagen Sie nur gerade heraus, was Sie meinen,« sprach er.
»Nun ja – man erzählt so allerhand; und wenn sie nun in irgend welchen besonders freundschaftlichen Beziehungen zu Ihnen ständen, so möchte ich Ihnen das lieber nicht wiedererzählen –«
»Solche Rücksichten brauchen Sie nicht zu nehmen,« sagte Björn gelassen. »Übrigens liegt mir nicht viel daran –«
Um so mehr schien aber den andern daran gelegen zu sein, die vagen Gerüchte bestätigt oder entkräftet zu hören.
»Also er ist allein hier und hat sich eine Junggesellenwohnung gemietet. Es heißt, seine Frau käme einstweilen gar nicht her.«
Björn fühlte, wie er blaß wurde. Aber er zuckte mit keiner Muskel.
»Man erzählt, sie sei sehr leichtsinnig; sie habe irgend eine faule Liebesgeschichte gehabt; der Betreffende habe sie sitzen lassen und nun sei sie vollends leichtfertig geworden. Man behauptet, sie lägen in der Scheidung, und darum sei sie gar nicht erst mit ihm hergekommen.«
Es war beinahe übermenschlich, wie Björn sich zusammennahm. Man hätte denken können, alle diese Mitteilungen seien ihm sehr gleichgültig, ja unangenehm. Er trank langsam den leichten Wein aus dem beschlagenen Glase; die Kehle war ihm trocken geworden.
»Wissen Sie, ob etwas Wahres daran ist?«
»Von einer Scheidung weiß ich nichts,« sagte Björn ziemlich kurz. »Das Übrige kann ich leider nicht bestreiten.«
»Und das haben Sie gewußt und haben nichts davon erzählt?«
Björn sah den lebhaften Frager so erstaunt an, daß der ganz verlegen wurde.
»Ich unterhalte mich nicht auf Kosten des guten Rufes andrer Leute,« sagte er trocken. »Es wäre doch mindestens undankbar von mir, die – Geheimnisse eines Hauses auszuplaudern, in dem ich Gastfreundschaft genossen habe.«
Der andre sah ihn nachdenklich an.
»Sie sind doch ein riesig anständiger Mensch!« sagte er in ehrlicher Anerkennung.
Björn errötete; er wußte, daß er dies Lob in diesem Augenblicke nicht ganz verdiente. –
Also Julia war nicht hier und kam auch vorläufig nicht. Diese Gewißheit verschaffte ihm zunächst eine große Erleichterung und Beruhigung; aber nur, um ihn dann mit um so unruhigern Gedanken zu quälen und zu bedrücken.
Warum kam sie nicht? Was bedeutete das mit der Scheidung? – Ging es wirklich abwärts mit ihr, durch seine Schuld? – Und würde es nicht abwärts mit ihr gehen, wenn er ihren Lebensweg nie gekreuzt hätte? – Er hatte, seit er sich von ihr getrennt, nichts mehr gehört von ihr; hatte nichts mehr hören wollen. Wer weiß, was alles sich inzwischen ereignet hatte!
Und da war es wieder, das peinigende Schuldgefühl ihr gegenüber, der zu helfen er doch auf keine Weise im stande war!
Tag um Tag und Woche um Woche verging und brachte ihm keine weitere Aufklärung. Die beständige, innere Erwartung, in der er dahinlebte, fing an, seine Nerven zu reizen.
Inzwischen war er Eberhard Altefahr auf der Straße begegnet. Der hatte seinen Gruß sehr höflich erwidert und war weitergegangen, ohne auch nur den Versuch zu machen, sich in ein Gespräch einzulassen. Björn fand das ganz in der Ordnung so. Nun wußte er doch gleich, auf welchem Fuß Eberhard mit ihm zu stehen wünsche, und welchen Ton er ihm gegenüber anzuschlagen habe. – Er hatte gefunden, daß Eberhards Züge etwas älter und schärfer geworden waren; sonst erschien er ihm ebenso elegant, kühl und streng wie immer.
Er hielt es indes für richtig, ihm auf Grund ihrer frühern Bekanntschaft seinen Besuch zu machen – das war weniger auffallend, als wenn er es unterließ – und that das zu einer Zeit, wo er ihn auf der Regierung wußte. Eberhard erwiderte seinen Besuch sehr prompt, während er im Dienst war. So hatten sie der Form genügt, ohne daß sich weitere Folgen und Verpflichtungen daran knüpften. Im Gegenteil, sie hatten sich ihrer Verpflichtungen gegeneinander endgültig erledigt.
Dank des sommerlichen Stilllebens hatten sie nirgends Gelegenheit, sich zu sehen, und wo sich eine geboten hätte, da würde sie von ihnen gemieden worden sein.
»Sehr nahe scheinen Sie einander doch nicht gestanden zu haben,« sagte man Björn einmal ein wenig neckend. »Sonst würden Sie doch mehr Notiz voneinander nehmen!« Und Björn antwortete darauf:
»Eberhard Altefahr ist überhaupt nicht ein Mensch, dem man nahe stehen kann.«
Inzwischen langweilte Julia sich sträflich in ihrer leeren, stillen Wohnung.
Zwar suchte sie mit allen Mitteln sich die Zeit zu kürzen und die Gedanken zu zerstreuen. Aber die innere Friedlosigkeit und Unzufriedenheit mit allen Verhältnissen machte ihre Bemühungen nutzlos und ihre Mittel unwirksam.
Sie konnte es Eberhard nicht verzeihen, daß er ihr gegenüber seinen Willen durchgesetzt und sie nicht mitgenommen hatte. Nun lebte sie hier in einem höchst ungemütlichen, vor den Augen der Zuschauer gar nicht zu rechtfertigendem Zustande. Wie ein ungezogenes Kind, das seine Strafe absitzt.
Sie that, was sie konnte, um diesen Zustand den Leuten gegenüber nicht als Strafe erscheinen zu lassen. Und wenn es auch trotz aller schönen Vorwände von Wohnungsverhältnissen nicht ganz zu bemänteln war, daß es als Strafe gemeint ward, so sollten die Leute doch nicht denken, daß sie es als Strafe empfand.
Sie lebte außerordentlich vergnügt und unternehmungslustig. Ihre Vergnügungssucht scheute vor nichts mehr zurück. Je schrecklicher die Stunden waren, die sie wohl oder übel allein zubringen mußte, um so unbesonnener hielt sie sich schadlos in Gesellschaft andrer.
Das ging so eine ganze Weile. Man ging bereitwillig auf ihren Ton ein – man amüsierte sich dabei, und man trug ja keine Verantwortung dafür. Aber mit der Zeit bekam man es satt; man langweilte sich dabei, man fand es wohl auch unpassend und unwürdig. Und Julia mußte eines Tages einsehen, daß man anfing sich von ihr zurückzuziehen.
Durch die leichtsinnige Zersplitterung ihrer Zwecke und Absichten, ihrer Gedanken und Gefühle war Julia vollends haltlos und unselbständig geworden. Ihr Inneres glich einer ausgeräumten Stube; keine Wärme, keine Ruhestatt, kein Schutz und keine Sicherheit mehr darin. Durch die zerbrochenen Fenster herein wehten Unzufriedenheit und Verbitterung, wie fröstelnder Odem und Straßenstaub.
Und wenn sie gar nichts andres mehr wußte, so warf sie sich auf irgend einen Stuhl und schluchzte und weinte um den einen, auf den sie ihre ganze Liebe, ihre Hoffnung, ihr ganzes unselbständiges, haltloses Sein gestützt hatte mit dem kläglichen, selbstsüchtigen Eigensinn eines verzogenen Kindes. Sie schrie nach ihm; sie war krank nach ihm. Und sie wußte doch nicht, wie sie zu ihm gelangen sollte.
Denn einer stand im Wege. O, wie sie ihn haßte, diesen einen!
Und dennoch konnte nur durch Eberhard der Weg zu Björn führen.
Sie begann, sehr klägliche und jammervolle Briefe an Eberhard zu schreiben. Sie könne es nicht mehr ertragen in ihrer Einsamkeit. Die Leute würden nächstens mit Fingern auf sie weisen als auf eine Verlassene. Er möchte sie doch nicht preisgeben. Möchte ihr erlauben, zu kommen. Sie verspreche ihm auch – o, was sie ihm nicht alles versprach! Mehr, als die tugendhafteste und sittenstrengste Frau jemals erfüllen konnte. Sie bettelte geradezu; und das wurde ihr um so leichter, als sie diese Betteleien, diese demütigenden Versprechungen dem geduldigen Papier anvertrauen konnte und nicht dabei in Eberhards strenges, kaltes Gesicht zu blicken gezwungen war.
Eberhard las alle diese Briefe mit überlegener Miene und geringschätzigem Zucken seiner Mundwinkel – und ließ einen nach dem andern ins Feuer wandern. Er wußte, was er von diesen Klagen sowohl als von diesen Vorsätzen zu halten hatte; sie brachten nicht auch nur einen Augenblick ins Wanken, was er nach langem Überlegen mit verstandesgemäßer Kühle beschlossen hatte.
Zuerst beantwortete er all ihre drängenden Zukunftsfragen gar nicht. Dann, als der Sommer zu Ende war, schrieb er ihr, daß er zu Michaelis eine Wohnung genommen habe. Sie möge den Umzug einleiten und am Umzugstermin selber kommen. Nicht eher.
Mit einem Male war Julias Stimmung verändert. Nun war es ihr ganz gleichgültig, wie die Menschen hier von ihr dachten und sie behandelten. Das alles war ja nun vorbei, das alles verließ sie ja nun. Verließ diese ganze verödete, langweilige, zwecklose Umgebung – um Björn dagegen einzutauschen.
Björn – Björn – und immer wieder Björn war das Einzige, was sie noch fühlte.
Sie lachte und sang den ganzen Tag; sie brauchte nicht einmal mehr Gesellschaft dazu. – Nebenbei hatte sie zu thun. Der ganze Umzug lastete allein auf ihren Schultern. Es war für sie eine unbeschreiblich reizvolle Aufgabe. Mit jedem Stück, das in die großen Kisten versenkt wurde und in dem schwerfälligen Möbelwagen verschwand, that sie einen Schritt aus diesem Leben hinaus – dem neuen Leben entgegen.
Dann machte sie Abschiedsbesuche. Sie gab sich nicht einmal Mühe, ihre ausgelassene Stimmung zu verbergen.
»Ich freue mich auf Eberhard!« sagte sie in geradezu jauchzendem Ton.
›Sie freut sich auf Björn,‹ dachten die Leute und schwiegen.
»Wenn Sie Björn Heddenholm dort sehen,« sagte einer der Offiziere ein wenig boshaft, »so grüßen Sie ihn nur schön von uns allen!«
Julia that, als hätte sie an diese Möglichkeit noch gar nicht gedacht, und machte große, runde Augen.
»Ach richtig – der ist ja auch dort! Ob er wohl noch da ist? Ja, wahrscheinlich – es ist ja noch nicht so lange her, daß er hinkam. Also gut, ich werde ihn grüßen!« –
Endlich war es soweit. Von einer ganzen Anzahl Bekannter umringt, stand sie auf dem Bahnhof. Einige Herren hatten große Blumensträuße gebracht, jeder sagte ihr Liebenswürdigkeiten und Verbindlichkeiten. Es war ja nun folgenlos, und der Schluß wenigstens sollte ein versöhnlicher sein.
In ihrem braunen Reisemantel, ein hohes schmales Hütchen auf dem blonden Haar, stand Julia am herabgelassenen Fenster. Ihr Gesicht war rosig und frisch, ihre Augen lächelten und glitzerten. Jeder bekam etwas davon ab. Im Übermaß ihrer freudigen Erregung war sie gedankenlos verschwenderisch mit Gunstbezeugungen gegen jedermann.
Und dann fuhr sie hinaus in die Welt, lächelnd und gedankenlos hinein in das Leben, das vor ihr lag wie der trübe Oktobertag, ernst und von vagen Nebeln umhüllt, die sie sich nicht zu lichten getraute; fest davon überzeugt, daß die Sonne schon den Weg zu ihr wieder finden würde.
Die Möbel waren schon zum Teil vor ihr angelangt und unter Eberhards Leitung in der neuen Wohnung aufgestellt. Immerhin gab es erst noch ein paar ungemütliche, arbeitsvolle Tage zu überwinden, ehe man in den neuen Verhältnissen zu befriedigender Ordnung und Ruhe kam.
Eberhard that soviel er konnte, um seiner Frau die Einrichtungsarbeiten zu erleichtern. Auf irgend welche Auseinandersetzungen über die künftige Gestaltung ihres gemeinsamen Lebens ließ er sich grundsätzlich nicht ein. Überhaupt bekam sie ihn außer den Mahlzeiten und abends vor dem Schlafengehen kaum zu Gesicht. Sie fügte sich darein mit schweigendem Trotz und überlegte im stillen, wie sie diesen Zustand am besten zu ihrem Vorteil ausnützen könne.
Da trat er eines Morgens – am Abend vorher hatte der letzte Handwerker die Wohnung verlassen – bei ihr ein. Er war schon zum Ausgehen angezogen; also schien er die Absicht zu haben, es kurz zu machen.
»Julia,« begann er, ohne sich zu setzen, »du wirst vielleicht begreifen, daß ich den Zustand des letzten Jahres nicht länger zu dulden gesonnen bin. Ich will also an diesem Anfang einer neuen Lebensperiode völlige Klarheit schaffen zwischen dir und mir. – Ich bin hierher versetzt worden, und es ist der natürliche Lauf der Dinge, daß du mich hierher begleitest. Wo sollte ich dich auch lassen? Ich stelle dir nun zwei Möglichkeiten, zwischen denen es keinen Ausweg giebt. Entweder: Du beträgst dich so, wie ich es von meiner Frau verlangen kann und muß – dann bleiben wir zusammen und versuchen aus unserm Leben das Beste zu machen. Oder: Du setzt dein Betragen vom vorigen Winter fort – dann habe ich die Absicht, mich von dir scheiden zu lassen. Ich bin nicht willens, mir Ehre und Stellung von dir verderben zu lassen. Kannst du dich also nicht mit Anstand in die Verhältnisse fügen – gut, so werden wir uns trennen. – Also überlege dir das. Eine Antwort erwarte ich nicht. Die Antwort wird in deinem Betragen enthalten sein.«
Er drehte sich um und ging hinaus. Sie blieb schweigend sitzen. Das Buch, in dem sie blätterte, war ihrer Hand entsunken.
Also nun wußte sie es. Allein von ihr sollte es abhängen, wie sich ihre Zukunft gestalten würde; allein von ihrem Benehmen. – Und wie sie dies Benehmen einrichten würde, das hing von Björn Heddenholm ab. Ihn zu erforschen war zunächst ihre wichtigste Aufgabe.
Bis ihr das gelungen sein würde, war es ratsam, Eberhard nicht zu reizen, sondern – ihm in allem zu willen zu sein. Sie wußte, daß sie das sehr gut konnte, wenn sie nur wollte; wenn es sich nur lohnte. Das Weitere würde sich finden. –
Sie begannen, ihren gesellschaftlichen Pflichten zu genügen und überall Besuche zu machen; nicht nur in den kollegialischen, sondern auch in den militärischen Kreisen. Julia, der man mit Rücksicht auf die allgemein zur Kenntnis gelangten Gerüchte hin mit einigem Mißtrauen und um so größerer Spannung entgegensah, gewann sich alle Herzen. Sie war liebenswürdig und zurückhaltend, die vollendete Weltdame; dazu kam ihr anmutiges Äußere, ihre ganze Art sich anzuziehen und zu bewegen. Selbst Eberhard legte manchmal ein gewisses Wohlwollen gegen sie an den Tag und begann zu glauben, daß sein energisches Verfahren gegen sie doch von dauernder, guter Wirkung gewesen sein könnte. – Allgemein war man darüber einig, daß der Klatsch, der ihr vorangegangen war, aller Begründung entbehre, und daß Julia ohne Tadel sei.
»Wir werden uns wohl auch entschließen müssen, bei Altefahrs Besuch zu machen,« hieß es eines Tages an der Kasinotafel. »Der Kommandeur deutete es heute schon an. Sie sind bei allen verheirateten Offizieren gewesen.«
»Nun, das wäre ja ein ganz angenehmer Entschluß,« tönte es von mehreren Seiten zurück.
Björn wußte längst, daß Julia angekommen sei. Es hatte ihn anfangs unbeschreiblich aufgeregt. Nun hatte er sich innerlich gewappnet und vorbereitet und fürchtete sie nicht mehr. – Um der immerhin vorhandenen Möglichkeit, allein von ihr angenommen zu werden, aus dem Wege zu gehen, verabredete er sich mit zwei andern Kameraden, gemeinschaftlich den notwendig gewordenen Besuch zu machen.
Merkwürdigerweise wurden sie von Eberhard allein empfangen. Er unterhielt sie eine Viertelstunde lang in der gewandten, liebenswürdigen Weise, die nie jemand zu nahe tritt und keinen erwärmt.
Es wurde Björn sehr sonderbar zu Mut, als er sich wieder zwischen all den bekannten Sachen sah; zwischen all den stummen Zeugen einer Zeit, die – so schien es ihm – weit, weit hinter ihm lag. Jene Zeit lebte wieder auf vor seinen Augen, zwischen all diesen stummen, toten Gegenständen, und sah ihn an mit vorwurfsvollen, warnenden Augen. Er mußte sich sehr zusammennehmen, nicht zerstreut zu sein.
Er war glücklich, daß Julia nicht zugegen war. Trotzdem quälte ihn unaufhörlich die Frage, warum sie nicht hier, und wo sie sonst sein möge?
»Meine Frau wird sehr bedauern, Sie verfehlt zu haben,« schloß Eberhard die Unterhaltung. »Sie ist bei der Toilette.«
Als fürchte er, daß sie im letzten Augenblick doch noch erscheinen könnte, drängte Björn zum Aufbruch. Als sie vor der Hausthür auf der Straße standen, konnte er sich's nicht versagen, einen Blick zu den Fenstern hinaufzuwerfen. Da stand Julia hinter dem dünnen Spitzenvorhang, sehr vollständig angezogen, in einem fliederfarbenen Hauskleide. Er erkannte sie ganz deutlich, und er sah auch, daß sie ihn erkannte.
Tödlich erschrocken sah er wieder fort.
Sie war also nicht bei der Toilette gewesen. Ihr Mann hatte es einfach nicht gewünscht, daß sie ihn mitempfing.
Zum erstenmal im Leben war er Eberhard Altefahr von ganzem Herzen dankbar.
Julia stand immer noch hinter der Gardine und sah ihm nach. Thränen der Wut stiegen ihr schmerzend heiß in die Augen. Eberhard hatte ihr in der That rundweg verboten, im Salon zu erscheinen, und sie war klug und vorsichtig genug gewesen, ihm ohne Widerrede zu gehorchen.
Bebend vor Entrüstung, zitternd vor Sehnsucht hatte sie am Schlüsselloch gestanden und vergebens versucht, Björn oder nur irgend ein Stück von ihm zu erblicken – die Öffnung war von der andern Seite verdeckt. Dann hatte sie mit angehaltenem Atem auf seine Stimme gelauscht – die war auch nur selten erklungen, denn er beteiligte sich nur wenig an der Unterhaltung. – Und endlich trat sie ans Fenster, in der Hoffnung, ihn wenigstens noch unten auf der Straße zu sehen. – Und als sie ihn dort sah, als er heraufblickte, eine einzige, flüchtige Sekunde lang – da begriff sie selber nicht, daß sie nicht sofort durchs Fenster auf die Straße gesprungen und ihm um den Hals geflogen war.
Aber einmal mußte sie ihm doch Aug' in Auge gegenüberstehen; einmal mußte es doch kommen!
Und einmal kam es.
Ein großer Regierungsball eröffnete die Wintergeselligkeit. Alles war geladen, und wer irgend konnte, war erschienen. Auch Björn war da. Er hatte nicht die Absicht, sich Julias wegen von aller Geselligkeit zurückzuziehen; es wäre undurchführbar gewesen. Ein Wiedersehen mit ihr war doch nicht zu vermeiden – warum also es feige hinausschieben. Die Nervenspannung, in der er sich befand, würde eher nachlassen, wenn er sein weiteres Verhältnis zu ihr klargestellt haben würde. Und das sollte heute geschehen.
Julia zog durch ihre duftige, in Glück und Jugend strahlende Erscheinung alle Blicke auf sich. Sie war ganz in helllila Seidenduft eingehüllt – diese Farbe war unzertrennlich von ihr – und funkelnder als in den Brillanten auf ihrem zarten, weißen Halse brach sich das Kerzenlicht in ihren Augen, darin die helle Freude an diesem bunten, klingenden Lebensgetändel in deutlicher Schrift geschrieben stand. Ja, die Jugend lachte aus ihr und die Lebenslust und das Glück. Was für ein Glück das aber war, das wußte nur einer; nur einer – und der sah es und erkannte es, und erschrak darüber in seiner verschwiegensten Seele.
Als er sich gefaßt hatte, kam er und begrüßte sie, wie die Höflichkeit es erforderte. Er sah sie aber kaum an dabei. Sie sagte ihm, wie sie es bedaure, ihn neulich verfehlt zu haben. Er verneigte sich dazu nur kühl und förmlich, und trat zurück, ohne ein Wort gesprochen zu haben.
Er war beinahe verwundert, daß es ihm nicht schwerer wurde, sie so zu behandeln.
Ihr that es entsetzlich weh. Sie konnte kaum die Thränen zurückhalten. Sie hatte sich nie klar gemacht, daß nach dem, was ihr Abschied gewesen war, ihr Wiedersehen gar nicht anders sein konnte. Sie hatte eben überhaupt nicht gedacht; nur gehofft und gewünscht, ohne alle vernünftige Logik.
Als die Musik erklang, überfiel sie eine unbändige Lust, glücklich zu sein, ausgelassen glücklich. Ihre ganze jugendliche Genußfähigkeit gipfelte in diesem Wunsch nach solchem ausgelassenen, gedankenlosen, alle Sinne der Seele hinnehmendem Glück. Sie bemühte sich, es zu empfinden; aber es gelang ihr nicht. Es gab kein Glück für sie, ohne Björn. Sie wollte nur noch das eine vom Leben – nur noch den einen –
Der ganze Abend verging – Björn kam nicht wieder zu ihr; er tanzte nicht mit ihr, er sprach nicht mit ihr. Er mied ihre Nähe und sah sie überhaupt nicht an.
Es wäre ihr nicht schwer geworden, ihm nachzulaufen, ihn aufzusuchen, ihn anzureden und festzuhalten; aber sie fürchtete sich vor Eberhard; sie durfte nicht va banque spielen, um dann vielleicht eine Niete zu ziehen.
Eberhard hielt ein wachsames Auge über sie; er mußte auch heute zufrieden mit ihr sein; aber es verursachte ihm mehr ungläubiges Staunen, als gerade Freude. Er sagte sich mit der nüchternen Klarheit, die längst aufgehört hat, zu lieben und zu hoffen, daß ihr maßvolles Benehmen lediglich Björns Verdienst sei. Er fühlte beinahe etwas wie Freundschaft für diesen Mann.
So wie an diesem ersten Abend geschah es nun an allen folgenden. Björn, wenn er überhaupt anwesend war, bekümmerte sich nicht um Julia, und sie wagte nicht, seine Aufmerksamkeit herauszufordern. Die Blicke, die sie ihm manchmal verstohlen zuwarf, bemerkte er nicht.
Es war eine sehr elende Zeit für Julia; sie war rechtschaffen unglücklich, sie litt qualvoll unter ihrer ungezügelten Leidenschaft. Sie weinte ihre Augen trübe; sie zermarterte ihr Hirn mit Plänen, die alle unausführbar waren. Sie lebte in beständiger, nervenzerreibender Erwartung irgend eines günstigen Zufalls. Sie wartete umsonst. Sie weinte umsonst. Niemand tröstete sie. Niemand hatte Mitleid mit ihr.
Sie fing an zu verblühen. Ihre Wangen wurden blaß und schmal, sie hatte Schatten um die Augen, ihr Wesen wurde zerstreut und unfrisch.
»Sie ist recht vertanzt,« sagten die Leute und wunderten sich weiter nicht darüber; denn sie legte ja ein wahres Gesellschafts- und Vergnügungsfieber an den Tag.
Endlich, endlich geschah etwas.
Es war eine größere Abendgesellschaft versammelt. Julia stand etwas abseits. Es wurde ihr immer schwerer, ein vergnügtes Gesicht und eine harmlose Unterhaltung zu machen; es that ihr wohl, einmal unbeachtet und ungestört zu sein.
Da stand plötzlich Björn Heddenholm vor ihr und bot ihr den Arm.
Sie war so erschrocken, daß sie ganz weiß wurde und ihn groß anstarrte. Er sah es nicht, weil er beharrlich die Augen gesenkt hielt; er hob ihr den Fächer auf, den sie hatte fallen lassen, und führte sie mit einer gewissen Gewaltsamkeit fort.
Ach, wie ihr zu Mut war, als ihr Arm in dem seinen lag. Sie sah furchtsam zu ihm auf – sein Gesicht war gleichgültig bis zur Ausdruckslosigkeit. Er sprach kein Wort.
Als sie sich nebeneinander setzten, würgte Julia, die in Thränen ausgebrochen wäre, wenn sie jetzt nicht irgend etwas gesagt hätte, mit Anstrengung heraus:
»Sind die Plätze eigentlich bestimmt worden –«
»Selbstverständlich, gnädige Frau,« sagte er; und Julia hörte daraus weiter: bildest du dir ein, ich würde dir anders, als gezwungen, meinen Arm bieten?
»Man hat das wahrscheinlich so eingerichtet,« meinte sie, und das Herz schlug ihr bis in den Hals, »weil man weiß, daß wir uns von früher her kennen.«
Björn antwortete nicht.
»Ich bin nun über ein Vierteljahr hier,« fuhr sie immer unsicherer werdend fort; »und ich habe noch nicht Gelegenheit gefunden, Ihnen die Grüße zu bestellen, die mir für Sie mitgegeben worden sind.« Und da er immer noch schwieg, zählte sie ihm alle einzeln auf, von denen sie solche Aufträge entgegen genommen hatte; sie hatte keinen vergessen.
»Es thut allen so leid, daß Sie fort sind!« schloß sie.
Björn kam sich sehr ungewandt und ungeschickt vor; es war ihm unmöglich, auf ihre Unterhaltung einzugehen oder eine solche zu beginnen, wiewohl er sich sagte, daß das viel besser und klüger gewesen wäre. – Da wurde Julia von der andern Seite angesprochen, und während sie gezwungen war, ihre Aufmerksamkeit dorthin zu wenden, sah Björn sie an. Zum erstenmal, seit sie hier war; sonst hatte er ja immer nur weggesehen.
Lieber Gott, wie sah sie aus! Vertanzt, sagte man – nun ja, man konnte es allenfalls so meinen, wenn man weiter nichts wußte. – Und gab es also wirklich noch etwas andres, das im stande war, sie so zuzurichten? Sie war so mager geworden! Sie that ihm leid.
Gerade in dem Augenblick, wo seine Augen einen recht weichen, guten Ausdruck hatten – in einem jener unbewachten Augenblicke, die so oft die Geburtsstätte eines Schicksals werden – wandte sich Julia wieder zu ihm. Es war zu spät, daß er sofort wieder versteinerte; sie hatte ihm bis ins Herz gesehen.
Ein grenzenloser Jubel brach in ihr los. Dann wurde sie sehr traurig; aber es war eine Traurigkeit, in der man sich wohl fühlt.
Sie beugte sich über die Handvoll Blumen, die neben ihrem Teller lag, zwischen ihr und ihm, und atmete schwer.
»Björn!« sagte sie leise, ganz leise; und noch einmal: »Björn!«
»Sagten Sie etwas, gnädige Frau?« fragte er laut. Sie biß sich auf die Lippen; Thränen schossen ihr in die Augen.
»Wenn Sie nicht von dem sprechen wollen, wovon ich sprechen will, dann wollen wir lieber gar nicht sprechen,« sagte sie eigensinnig.
»Ich weiß ja aber gar nicht, wovon Sie sprechen wollen,« sagte Björn laut und ruhig.
Julia sah aus, als werde sie gleich in Thränen ausbrechen; ihr Kinn zitterte bedenklich. Björn wurde unruhig.
»Ich will Ihnen etwas sagen, gnädige Frau,« begann er leiser und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, aus Sorge, sein Gegenüber könne ihn verstehen, »wenn wir überhaupt miteinander auskommen wollen wie gebildete Menschen, dann müssen wir so thun und denken, als hätten wir uns hier erst kennen gelernt. Wir haben keine gemeinsame Vergangenheit. Das Vorhandensein einer solchen würde auch den oberflächlichsten Verkehr zwischen uns unmöglich machen. – Schlimm genug, daß Sie mich zwingen, Ihnen das sagen zu müssen.«
Er wußte vielleicht nicht, wie weh ihr seine Worte thaten; sonst hätte er sie doch wohl kaum gesprochen.
»Ich kann nichts dafür, daß wir hierher versetzt worden sind,« stieß sie heraus und schluckte an ihren ungeweinten Thränen.
»Das weiß ich; nun es aber geschah, müssen wir uns in die Verhältnisse finden.«
Julia sah mit einem sonderbaren Ausdruck an ihm vorbei.
»Ich weiß nicht – vielleicht hat das Schicksal uns gerade gefällig sein wollen; wir sollten uns nicht unnütz quälen –« sie wagte nicht, ihn dabei anzusehen, und das war gut; er erschrak tief über ihre Worte; da war sie ja schon wieder im besten Fahrwasser.
»Ich verstehe Sie nicht, gnädige Frau,« sagte er eisig.
»Ach – Sie wollen mich nicht verstehen!«
»Nun ja, gut; ich will Sie nicht verstehen.«
Eine Zeitlang blieb es still zwischen ihnen. Jeder kämpfte mit seiner Erregung. Endlich sagte Julia mit einem wehmütig resignierten Ausdruck:
»Sie sind ein sehr gewissenhafter Mensch; und mit dieser Gewissenhaftigkeit richten Sie mich langsam zu Grunde. Das wäre ja auch ganz in der Ordnung, wenn Sie immer gewissenhaft gewesen wären, wenn Sie nicht ursprünglich die Veranlassung gegeben hätten –«
»Ich bitte Sie, hören Sie auf,« fiel er heftig ein. »Ich will mich in solche Gespräche nicht mehr einlassen; ein für allemal nicht mehr.«
»Nun ja,« sagte sie mit einem bittern Auflachen, »es ist freilich das Bequemste, sich aus der Affaire zu ziehen und es dem andern zu überlassen, wie er aus dem Brunnen wieder herausfindet, in den man ihn gelockt hat –«
Nachher erschrak sie über diese Worte. Björn war ganz blaß geworden und hatte die Augenbrauen schmerzhaft in die Höhe gezogen. Jetzt unterhielt er sich eifrig nach der andern Seite. Sie wartete, bis er fertig sein würde. Sie merkte, daß er mit einem unterdrückten Seufzer seine Unterhaltung fallen ließ –
»Verzeihen Sie mir meine häßlichen Worte,« bat sie weich. »Ich weiß nicht mehr, was ich rede. Ich habe gar keinen Halt mehr. Ich bin völlig entgleist –«
»Das sollten Sie gar nicht sagen! Das ist ja schrecklich!«
»Ja, das ist auch schrecklich,« meinte sie trostlos.
»So bemühen Sie sich, es zu ändern!«
»Das kann ich nicht mehr allein ändern – nie mehr –«
»Wenn Sie es nicht allein können,« sagte Björn sehr ernst, »so wird es auch kein andrer können. In solchen innern Nöten darf man nicht von der Hilfe andrer abhängen.«
»Dazu muß man stärker sein, als ich es bin; ich bin unselbständig, ich bin schwach –« Es schien, als schäme sie sich nicht, in ihrer ganzen Blöße vor ihn hinzutreten.
»Sie könnten einen sehr natürlichen und, wie ich glaube, festen Halt und Schutz haben an ihrem Gatten, wenn Sie nur wollten –« Julia schüttelte heftig den Kopf.
»Helfen kann mir nur ein einziger –« sagte sie, da sie doch nicht gut sagen konnte, daß sie sich von keinem andern als von diesem einzigen helfen lassen wollte.
Björn that, als höre er es nicht.
»Wenn ich frei wäre –« flüsterte Julia, und es verklang ihm in den Ohren wie das Zischeln einer kleinen, lüsternen Schlange. Es kroch ihm heiß über den Rücken, und seine Stirn wurde feucht.
»Ersparen Sie sich und mir, darüber nachzudenken,« sagte er heiser – ›wie es sein würde, wenn sie ein junges Mädchen wäre oder eine Witwe,‹ dachte er.
›Wie es sein würde, wenn sie den Mut hätte, sich zu befreien,‹ verstand Julia.
Sie überlegte mit selig stockendem Herzschlag seine Worte, seine Stimme, seine Erregung – und ein ungeheuerlicher Entschluß reifte in ihr, wie nur die Verirrung selbstsüchtiger Liebe und leichtfertiger Pflichtauffassung ihn zeitigen konnte.
Ich kann ja frei werden – jeden Tag – und dann – dann kann er nicht mehr zurück; dann muß er annehmen, was ich für ihn eroberte – meine Freiheit! Und dann wird er glücklich sein. Er hat nur nicht Mut genug – gut, so werde ich ihn haben.
Sie war plötzlich ausgelassen lustig; in ihre Wangen stieg eine brennende Röte, ihre Augen sprühten vor Leben. Sie sah gar nicht mehr vertanzt und erbärmlich aus; sie war frisch, anziehend und verführerisch.
Björn hatte es nicht mehr schwer, sich mit ihr zu unterhalten; die Worte überstürzten sich ihr förmlich. Er begriff diese jähe Wandlung nicht. Ihr Wesen that ihm weh. Es lag so eine unnatürliche, ungesunde, beängstigende Erregtheit darüber. Ihr Lachen klang wie Schluchzen. Ihre Augen schwammen immerfort in Thränen, die, wie von innerer Glut verzehrt, versiegten, ehe sie sich lösten.
Er atmete auf, als die Mahlzeit beendet war. Er wollte sich nur förmlich verneigen vor Julia; aber sie nahm ohne weiteres seine Hand und drückte sie heftig. Er fühlte den Druck bis in die Fußspitzen hinunter.
Er floh vor ihr bis in das entlegenste Zimmer und ließ sich nicht mehr in ihrer Nähe sehen. So früh wie möglich ging er nach Hause, ohne sich von ihr zu verabschieden.
›Was war ihr nur – was war ihr nur? Habe ich denn irgend etwas gesagt oder gethan, was sie mißverstehen konnte? Woher ihre trunkene Ausgelassenheit –?‹
Die ganze Nacht sann er fruchtlos darüber nach.
›Wo soll das hinaus – wohin soll ich mich retten vor ihr! Liebe ich sie denn noch? – – Nein – nein. Und das würde ja auch an der Sache nichts ändern. Aber sie regt mich auf, sie regt mich maßlos auf. Und ich darf doch nicht die Gewalt über sie und mich verlieren, keinen Augenblick! – Ach, Mutter, du hast gut reden: wirf es hinter dich! Was soll ich denn nun thun, wenn es sich an meine Fersen klammert – –?‹
Am andern Morgen, als Eberhard Altefahr an seinem Schreibtisch die Akten zusammensuchte, die er mit auf das Bureau nehmen wollte, trat Julia bei ihm ein. Er war sehr erstaunt; nach Gesellschaften pflegte sie bis mittags zu schlafen oder wenigstens im Bett zu liegen. Es mußte etwas Außergewöhnliches sein, das sie so aus ihren Bequemlichkeiten aufstörte.
»Guten Morgen,« sagte er höflich. »Hast du schon ausgeruht?«
»Danke; ja.« Der kurze, trockene Ton machte, daß er aufsah. Sie stand ihm gegenüber auf der andern Seite des Schreibtisches, auf dessen Platte sie sich stützte. Sie sah leichenblaß aus, als wäre ihr schlecht.
»Was hast du denn? Fehlt dir etwas?«
»Nein, gar nichts. Ich wollte dir etwas sagen.«
»Nun, so sag es. Ich muß gleich fort.«
Julia holte tief Atem und räusperte sich einige Male, wie um sich zu sammeln. Dann sagte sie sehr schnell, als ob sie es auswendig gelernt hätte:
»Du hast mir, als ich hier herkam, eine Alternative gestellt: Entweder ich sollte mich so benehmen, wie du es verlangtest; dann wolltest du mir die unverdiente Gnade erweisen, mich bei dir zu behalten. Oder ich sollte so leben, wie es mir behagte; in diesem Falle wolltest du dich von mir scheiden lassen.«
»Nun ja – was soll das?« rief er ungeduldig.
»Ich habe mich bemüht,« fuhr Julia mit eigensinniger Eintönigkeit fort, »das erstere zu thun; du wirst mir das Zeugnis, daß ich mir Mühe gab, nicht versagen können. – Nun gut; ich kann es auf die Dauer nicht durchführen, ich bin krank und elend dabei geworden. Schlimm genug für dich, wirst du sagen; aber ich bin nun einmal so. – Kurz und gut, ich habe nicht die Absicht, mich ferner noch nach deinen Wünschen zu richten. Ich will von jetzt ab nach meinem Geschmack leben. Und ich sage dir das schon lieber gleich vorher, damit du dir über das Weitere klar werden kannst.«
Eberhard hatte seine Akten wieder hingelegt; die Hände waren ihm unsicher geworden. Es war empörend, verletzend, mit welch herzloser Geschäftsmäßigkeit, mit welch rücksichtsloser Gefühllosigkeit sie über diese Dinge sprach!
»Deine Auseinandersetzung läßt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig,« sagte er bebend. »Ich danke dir, daß du es mir erspart hast, sie dir zu machen. Ich weiß nun, was du willst! – Ich werde dir heute abend sagen, was ich will. – Jetzt habe ich keine Zeit dazu.«
Er nahm die Mappe unter den Arm und ging. Julia sah ihm ein wenig verblüfft nach; so leicht hatte sie es sich nicht gedacht. Nun – um so besser.
Eberhard Altefahr aber blieb plötzlich mitten auf der Treppe stehen. Ein Gedanke war wie ein Blitz vor ihm eingeschlagen und klärte ihm auf, was ihn so ahnungslos überrumpelte:
›Gestern hat Björn sie zu Tisch geführt – da hat sie es mit ihm besprochen –‹
Aber der Blitz zündete nicht; es war ein kalter Schlag.
›Wenn er durchaus in sein Unglück rennen will – meinetwegen!‹
Und er setzte seinen gewohnten Weg fort.
Vier Wochen vergingen. Man näherte sich den Fasten, und in dem geselligen Leben begann eine leise Müdigkeit einzutreten. Dazu war abscheuliches Wetter. Sturm, Schneetreiben, Schmutz und Nässe. Die Sonne schien überhaupt nicht mehr.
Julia Altefahr ging nicht mehr aus. Sie war erkältet oder überanstrengt – man kam nicht recht dahinter. Bekannte, die sie besucht hatten und von ihr angenommen waren, erzählten, sie sähe nicht gut aus, nach schlechten Nächten und Stubenluft; aber sie wäre liebenswürdig und heiter gewesen, wie immer.
Auch Björn Heddenholm war seit einiger Zeit weniger zu sehen. Er sagte mehrere Einladungen ab, in dem Wunsch, einem Zusammensein mit Julia auszuweichen. Man sprach davon, daß er zur Kriegsakademie gehen würde; so schade es war, ihn bald wieder zu verlieren, so fand man es doch in Anbetracht seiner Person und seiner Fähigkeiten sehr natürlich, daß er vorwärts strebte.
Niemand fiel es ein, seinen und Julias Namen in irgend welchen Zusammenhang zu bringen.
Björn selber ahnte nichts von dem, was man über ihn sprach und dachte. Alle seine Gedanken waren nur auf das eine gerichtet: wie er der Gefahr entgehen oder begegnen könne, die immer gefährlicher ihre unsichtbaren Fäden um ihn spann.
Daß Julia sich plötzlich nirgends mehr sehen ließ, dünkte ihn wieder der Ausdruck einer neuen, gewitterschwülen Laune zu sein. Er war überzeugt, daß sich hinter ihrer sogenannten Kränklichkeit irgend ein andres verbarg, das eines Tages verhängnisvoll ans Licht kommen würde. Er vermied jede Gelegenheit, etwas zu erfahren, das ihn darüber aufklären könne, als schütze es ihn vor ihr, wenn er sie und alles, was mit ihr zusammenhing, dauernd ignoriere. Und so, indem er an seinem Teil alles that, das Gewesene zu vergessen und vergessen zu machen, bemühte er sich, möglichst wenig darüber nachzudenken. Er that, was er thun konnte. Das Weitere mußte abgewartet werden.
Er hatte sich auf sein Sofa gestreckt und las einen jener langen, ausführlichen Briefe, die Litta ihm zu schreiben pflegte und die ihn immer in eine angenehme, friedlich frohe Stimmung versetzten. Es war die kurze Ruhestunde zwischen dem Dienst und dem gemeinsamen Mittagessen, und der Dienst war heute für ihn sehr anstrengend gewesen. Ein Patrouillenritt, den er zu leisten gehabt, hatte ihm das Lob seines Vorgesetzten vor dem ganzen Regiment eingetragen. Das hatte ihm wohlgethan und war ihm ein Lohn für die energische Gewaltsamkeit, mit der er jetzt immer seine Gedanken zusammentreiben mußte, damit sie ihn nicht im entscheidenden Augenblick im Stich ließen.
Draußen klingelte es, und Björn sah nach der Uhr. Sein über ihm wohnender Kamerad pflegte ihn abzuholen, wenn er zu Tisch ging. War es schon so spät?
Sein Bursche trat ein; es sei ein Bote da von Altefahrs. Die gnädige Frau lasse den Herrn Leutnant dringend bitten, gleich einmal hinüberzukommen.
Björn fuhr hoch in die Höhe vor Schreck und Entrüstung. Was sollte das heißen! Und was war das für eine Dreistigkeit, ihm eine solche Bestellung ganz öffentlich durch die beiderseitigen Dienstboten machen zu lassen!
»Ich bedaure sehr, ich habe keine Zeit,« entfuhr es ihm in der ersten Erregung. Der Bursche ging hinaus. Nach kaum zwei Minuten, während welcher Björn sich nicht bewegt hatte, erschien er wieder in der Thür.
»Wenn der Herr Leutnant jetzt nicht Zeit hätten, so möchten der Herr Leutnant eine andre Stunde bestimmen.«
Sie war also gewillt, es durchzusetzen. Wer weiß, was sie that, wenn er es ihr verweigerte –
Am Ende war es noch das Beste, er ging hin und machte ihr den Standpunkt klar.
»Gut – ich werde kommen,« sagte er grimmig. Eine Viertelstunde später verließ er die Wohnung.
»Wenn der Herr Leutnant von oben kommt, um mich zu holen, so sage, ich hätte noch einen Gang zu machen gehabt und wollte dann direkt nach dem Kasino gehen,« befahl er seinem Burschen. Er war überzeugt, daß er zur Essenszeit da sein würde; es war ja noch eine halbe Stunde Zeit –
Man schien ihn zu erwarten. Der Diener öffnete ihm, noch ehe er klingelte, und führte ihn durch den Salon bis an die Thür von Julias Boudoir, die er vor ihm öffnete und hinter ihm wieder schloß.
Es brannte nur eine einzige Lampe auf Julias Schreibtisch, und das Licht des Raumes war so matt, daß Björn alles nur wie in einem Nebel sah. Er war freilich auch verwirrt und erregt.
Julia selbst stand neben einem niedrigen Stuhl, in einem dunkeln Kleide, schrecklich blaß, und starrte ihn mit ängstlichen Augen an.
»Sie haben mich rufen lassen –« sagte Björn sehr kühl.
»Ja –« hauchte sie, und weiter nichts. Sie schlug die Augen nieder, senkte den Kopf und zerrte an ihrem Taschentuch. Björn zitterte vor Ungeduld.
»Wollen Sie mir nicht sagen, was diese ganze Komödie zu bedeuten hat?«
Julia kämpfte redlich gegen Angst und Thränen und sprach immer noch nicht.
»Sie sollten mir die Pein dieses Besuches nicht unnötig verlängern,« sagte Björn wieder. »Nach der dringenden Art zu urteilen, in der Sie mich hierher bestellten, müssen Sie mir etwas Dringendes mitzuteilen haben. Also, bitte, sprechen Sie doch!«
Julia fühlte sich durch diesen Ton nicht gerade ermutigt. Und in der Sorge, sie könne den Mut ganz verlieren, stieß sie verzweifelt heraus, indem sie ihn groß ansah:
»Ich bin seit gestern eine geschiedene Frau.«
›Und wer eine Abgeschiedene freit, der bricht die Ehe,‹ hörte Björn irgend eine Stimme in seinem Innern sagen. Es wurde ihm grün vor den Augen, trotzdem im Zimmer alles rot war. Er wich einen Schritt zurück und lehnte sich an die Thür.
Nun wußte er, was Julia von ihm wollte.
Endlich fühlte er die Notwendigkeit, etwas zu sagen.
»Das bedaure ich aufrichtig. Das hätten Sie nicht thun sollen.«
Sie hatte einen Freudenausbruch erwartet oder mindestens eine stürmische Erregung. Die nüchterne Kälte dieser seltsam bedrückt klingenden Worte machten sie stutzig.
»Warum nicht?« fragte sie mit einem Ausdruck von Trotz.
»Kennen Sie das sechste Gebot nicht?«
»O – es ist oft viel moralischer, sich zu trennen als zusammenzubleiben,« sagte sie leichthin.
»Wo das der Fall ist, muß die Moral schon vorher sehr mangelhaft gewesen sein,« gab Björn rücksichtslos zurück.
Julia sah zu ihm auf mit einem Blick, der ihn in diesem Augenblick mindestens unangenehm berührte.
»Das war sie ja auch,« meinte sie halb seufzend, halb lächelnd. »Das sechste Gebot hatten wir schon gebrochen, lange, ehe ich an eine Scheidung dachte!«
»Wer: wir!?«
»Nun – Sie und ich.«
Björn kniff die Lippen zusammen und stöhnte. Sie ging sehr taktisch vor, Schritt um Schritt, mit genauer Kenntnis des Terrains.
»Wir hatten beschlossen, davon nicht mehr zu sprechen. Warum thun Sie es nun dennoch wieder?«
»Weil das keinen andern so angeht, wie uns beide. Das Geschehene läßt sich nicht aus der Welt und aus unserm Leben schaffen. Das Bestehende ist daraus hervorgegangen. Und das Bestehende verlangt sein Recht. – Björn,« sagte sie sehr sanft und sehr leise, »du brauchst dich ja nun nicht mehr zu quälen mit deiner großen Gewissenhaftigkeit; ich bin nun frei. Und wenn ich dich rief, um dir das mitzuteilen, so geschah es, weil ich meine Freiheit nur gewonnen habe, um – sie – dir – zu – geben –«
Sie fing an zu weinen, vor Erregung und vor Angst, was er nun sagen würde. Er betrachtete sie mit ganz merkwürdigen Augen; beinahe neugierig.
»Sie hätten mich besser kennen sollen, gnädige Frau,« sprach er mit dumpfer Stimme. »Oder haben Sie vergessen, was alles ich Ihnen schon über diese Sache gesagt habe?«
»Das alles galt für die Zeit, wo ich Eberhards Frau war; jetzt bin ich frei – frei!« jubelte sie förmlich heraus. Er blieb ungerührt und finster.
»Sie sind frei geworden – durch Sünde! Unrechtmäßig erworbenes Gut gedeihet nicht.«
Julia machte ein eingeschüchtertes Gesicht.
»Sie haben ja nichts zu meiner Befreiung gethan,« meinte sie kleinlaut. »Ich habe es allein bewerkstelligt und werde es auch allein verantworten. Ich habe Ihnen absichtlich nichts davon vorher erzählt, damit Sie in keiner Weise in Mitleidenschaft gezogen werden sollten. Nun nehmen Sie es, wie es ist! Fragen Sie nicht, wie es wurde – es kann Ihnen ja ganz gleichgültig sein. Essen Sie die Früchte, die ich Ihnen gepflückt habe, und fragen Sie nicht, wo ich sie hernahm –«
Björn wandte sich entrüstet ab.
»Zu solcher leichtfertigen Auffassung vermag ich mich nicht aufzuschwingen,« sagte er kurz.
Da bemächtigte sich Julias eine jammervolle Verzweiflung. Sollte alles umsonst gewesen sein? War es möglich, daß er bei diesem krankhaft ausgearteten Pflichtgefühl verharrte – daß er davonging und sie liegen ließ?
War seine Liebe zu ihr erloschen?
Nein, das durfte nicht sein – eine Raserei überkam sie bei dem flüchtigen Argwohn. Sie hatte so fest daran geglaubt, daraus ihren ganzen Mut geschöpft, darauf ihre ganze Zukunft gebaut! – Das elendeste, verlassenste und verlorenste Weib würde sie sein, wenn er sie jetzt im Stich ließ.
Er war ans Fenster getreten und starrte auf die dunkle Straße hinaus. Es hatte angefangen zu regnen; große Tropfen rannen langsam an den Scheiben nieder wie Thränen; Thränen, die man der Jugend und ihren Irrungen nachweint –
Julia stand hinter ihm; sie wagte nicht, näher zu kommen; sie sah nur voll Sehnsucht und Herzensangst nach ihm hin.
»Björn,« fing sie an zu flehen und zu schluchzen, »laß mich jetzt nicht allein! Überlaß mich nicht meinem Schicksal! Was ich gethan habe, das habe ich für dich gethan! Wenn es nicht in deinem Sinne war – was kann ich dafür! Du hast ja nie mit mir darüber sprechen wollen! Aber ich mußte doch annehmen, daß es dich freuen würde! – Wenn ich nicht felsenfest geglaubt hätte, daß du mich an dein Herz nehmen würdest, sobald niemand mehr zwischen uns stand, ich hätte nimmermehr den Mut gefunden, das alles zu thun, mich allen Halts und jeder Zuflucht zu berauben. Du bist meine einzige Zuflucht! Und du bist doch die Veranlassung zu dem allen! Wenn auch die unschuldige, so doch die Veranlassung! Die Liebe, die du mir zu dir erweckt hast – – Ach, Björn, wenn du ein Herz hast, wenn du ein Ehrenmann bist, so kannst du mich jetzt nicht im Stich lassen! Du hast mein Leben und meine Seele in der Hand! Behalte – mein Leben, und meine Seele ist gerettet. Wenn du es nicht thust, so ist beides verloren! – Du sollst es nicht bereuen, Björn! Ich will dich glücklich machen, ich will dir dienen, treu und gehorsam, wie ein Hund! Ich will auch still im Winkel bleiben, wenn du keine Zeit für mich hast! Ich will dich lieben – es kann dich gar keine andre so lieben, wie ich! – Auf den Knien will ich vor dir liegen und dir danken, für dich selber – ach Björn, Björn, gieb es doch zu, daß du mich liebst! Handle nach deinem Herzen – handle gewissenhaft gegen mich, denn mit mir allein nur hast du es noch zu thun!«
Björn hatte nicht versucht, sie zu unterbrechen. Nun wandte er sich um und sah sie an; mit einem ernsten, stummen Blick, mit großen, traurigen Augen. Es war, als zerschmettere dieser Blick die unselige Frau. Sie stürzte vor ihm auf die Knie, umklammerte ihn mit beiden Armen und versteckte ihr Gesicht an ihm.
»Erbarme dich mein! Rette mich! Laß mich nicht allein in dem Elend, das du mir geschaffen hast!«
Dann blieb sie liegen, wie ein verendetes Wild zu den Füßen des Jägers. – So wartete sie auf seinen Richterspruch.
Björns Seele durchkämpfte in diesen kurzen Sekunden einen stummen, schweren Kampf.
»Stehen Sie doch auf, Julia,« sagte er endlich mit gebrochener, mitleidiger Stimme. »Bitte, stehen Sie doch auf!«
Sie erhob sich langsam und schwerfällig. Er half ihr nicht dabei; aber dann nahm er sie an der Hand, als wäre sie ein kleines schwaches Kind, und führte sie zu einem Sessel, in den er sie niederdrückte. Er selbst nahm ihr unmittelbar gegenüber Platz.
»Ist es Ihnen möglich,« fuhr er in demselben schonenden Tone fort, »mir ruhig und klar zu erzählen, wie das alles so schnell geworden?« Sie nickte und trocknete hastig ihre Thränen.
»Aber ganz der Wahrheit gemäß!« entfuhr es ihm unwillkürlich. Sie nahm es demütig hin. – Dann erzählte sie, anfangs noch oft von Schluchzen unterbrochen, dann immer ruhiger und zuletzt ganz sachgemäß. Björn hörte sehr aufmerksam zu und hatte den Eindruck und die Überzeugung, daß sie ganz aufrichtig sprach. Das war am Ende noch das einzige, womit sie ihn ehren konnte.
»Und was wird nun?« fragte er. Sie sah ihn verwundert und hilflos an.
»Ja – das sollst du mir sagen!«
Sie hatte also die Absicht, nichts mehr ohne seine Einwilligung oder gar Bestimmung zu unternehmen. Er stützte den Kopf in die Hand, in ernstem, tiefem Überlegen.
»Eberhard ist heute früh verreist,« fuhr sie fort. »Ich weiß nicht einmal, wohin. In acht Tagen etwa will er wiederkommen. Bis dahin soll ich mit meinen Sachen fort sein. Es hat also Eile. Sage mir, Björn, wo ich hingehen soll!« Sie zweifelte anscheinend gar nicht mehr daran, daß er sich ihrer nun bis ins Kleinste und Weiteste annehmen werde. – Er richtete sich langsam auf.
»Das kann ich jetzt noch nicht sagen. Ich kann überhaupt noch nicht wissen, wie das alles werden soll und kann. Ich muß mir das erst in Ruhe überlegen. Ich kann in diesem Augenblick keine Versprechungen und Versicherungen geben und keine Forderungen stellen –«
»Wann wirst du es können?« fragte sie ängstlich. »Laß mich nicht lange warten!«
»Morgen – nach dem Dienst,« sagte er zerstreut. »Das Packen kann ja immer anfangen –«
Sie mußte es begreifen, daß er jetzt gehen wollte, ohne ihr irgend eine Erklärung gegeben zu haben, nicht einmal die Erklärung seiner Liebe. Aber sie wagte nicht mehr, irgend etwas zu verlangen; sie hatte eine heilige Scheu vor ihm.
»Leben Sie wohl, Julia,« sagte er und küßte ihr die Hand. »Verzeihen Sie mir, wenn ich nicht so bin, wie Sie es erwartet hatten. Auf morgen also!«
Er ging, und sie blieb enttäuscht zurück. Enttäuscht, aber nicht hoffnungslos. – Er ging ins Kasino. Die Mahlzeit war halb beendet. Er ließ sich nichts nachgeben, und von dem, was ihm noch gereicht wurde, aß er kaum. Dafür trank er um so mehr; es wurde ihm dann leichter, seiner bedrückten Stimmung Herr zu werden.
»Was ist denn eigentlich los?« fragte ihn nachher im Rauchzimmer sein Kamerad ›von oben‹. »Dein Bursche sagte, du seist zu Altefahrs gerufen worden?« Björn zog die Stirn in Falten.
»Ganz richtig ...«
»Nun – und? Das ist doch mindestens merkwürdig!« Sie hatten eine Art Freundschaft geschlossen.
»Ja, es ist auch merkwürdig,« sagte Björn. »Ich kann dir's ja getrost sagen – erfahren werdet ihr es doch nächstens. – Julia Altefahr hat sich von ihrem Manne scheiden lassen.«
Der andre war sprachlos, während Björn völlig gelassen schien.
»Ja – aber ich begreife noch nicht, was du damit zu thun haben kannst!«
»Ihr werdet es bald genug erfahren,« meinte Björn kurz; und dann ging er seiner Wege.
So wurde das Publikum vorbereitet.
Björn ging nach Hause. Er war sehr ruhig; so etwas Erfrorenes, Ausgelöschtes war in ihm, aber auch eine große Klarheit und Entschiedenheit.
Er wußte jetzt: was auf ihm gelastet hatte in all diesen letzten Monaten mit dem Gewicht einer großen Schwere, das war wieder das Bewußtsein einer großen Schuld gewesen, die er auf sich geladen hatte. Er wußte, daß er diese Schuld jetzt einlösen würde. Der Entschluß war fertig; er mußte es nur erst lernen, ihn zu ertragen, sich alle Konsequenzen seiner Tragweite klar machen. – Und es war nicht leicht, aus dem so geschaffenen Wirrsal einen befriedigenden Ausweg zu finden.
Es kostete ihn eine große moralische Anstrengung, am nächsten Morgen einen neuen Tag zu beginnen. Flüchtig kam ihm der Wunsch, mit einem schnellen Gewaltstreich sein ganzes Dasein auszulöschen, wie er in hartem Kampf mit starkem Willen die schönsten Hoffnungen seines Lebens in dieser Nacht ausgelöscht hatte. – Er verwarf den Gedanken wieder, als eines Mannes unwert. Denn ein Mann flieht nicht vor den Aufgaben, die ihm das Leben stellt; er löst sie. Und wenn eigne Schuld einen schweren Konflikt heraufbeschworen, so darf nur die Pflicht entscheiden. Die Pflicht, die Folgen solcher Schuld tapfer zu tragen und die Schuld zu sühnen, indem er das Verdorbene wieder gut macht, soweit es immer möglich ist.
Björn versah seinen Dienst heut wie alle Tage. Er wurde verhältnismäßig früh fertig. Er setzte sich in seinem Zimmer vor den Schreibtisch und nahm einen großen Bogen zur Hand. Er tauchte die Feder ein und fing an zu schreiben; langsam, zögernd, wie Schulkinderfinger schreiben. Dann warf er die Feder fort, so heftig, daß sie seinen grünen Attila mit schwarzen Pünktchen bespritzte, und verbarg das Gesicht in den Händen. – Es ist unmännlich, zu weinen! sagte er sich; und konnte es doch nicht verhindern. – Wie diese tief aus der Seele quellenden, gewaltsam zurückgedrängten, wenigen, großen Tropfen schmerzten und brannten, als wären seine Augenhöhlen voll Feuerfunken! Wie ihm die ganze Seele weh that!
Wanke nicht! Sei ein Mann! Sei still und sei stark! wiederholte er sich wieder und wieder – bis er mechanisch sich selbst gehorchte; bis er die weggeworfene Feder wiedernahm und zu Ende schrieb, was er hatte schreiben wollen.
Nun noch die Aufschrift und das Siegel. – So – nun war es fertig. – Nun machte er sich bereit, zu Julia zu gehen. Er zog sich seine guten Sachen an, und jedes Stück, das er anlegte, betrachtete er mit merkwürdiger, wehmütiger, gedankenschwerer Aufmerksamkeit. Nun noch den Säbel – und die Handschuhe – und die Mütze – so, nun konnte er gehen. – Den Brief nahm er mit und steckte ihn unterwegs in den Briefkasten. Als er in dem blechernen Gehäuse klappernd verschwand, wurde Björn ganz blaß.
Julia hatte die ganze Nacht nicht schlafen können. Trotzdem malte ihr die Erregung der Erwartung brennende Rosen auf die Wangen und entzündete irre Lichter in ihren Augen. – Sie hatte den ganzen Tag gekramt und gearbeitet; sie kramte auch jetzt, an ihrem Schreibtisch, in dessen Fächern sie alles für den Transport, von dem sie noch nicht ahnte, wohin er gehen würde, sicherte und verwahrte.
Als Björn ihr gemeldet wurde, fuhr die Aufregung ihr so in die Knie, daß sie nicht die Kraft hatte, aufzustehen. So empfing sie ihn sitzend.
Als er im vollen Waffenschmuck bei ihr eintrat, hätte sie fast aufgeschrien vor Jubel. So kam man nur zu feierlichen, festlichen Augenblicken. Aber sie hielt an sich, blieb stumm, und begnügte sich, ihn angstvoll gespannt anzublicken.
Björn legte Mütze und Handschuhe auf den Tisch. Er hatte noch nie so reif und männlich, so hübsch – und traurig ausgesehen. Julias Herz schlug wie rasend. Er trat dicht zu ihr und sah sie an. Und wie er dies Gesicht betrachtete, das in demütiger Hingabe zu ihm erhoben war, und durch ihre Augen, die ihn leidenschaftlich anflehten, hindurch bis auf den Grund ihrer geängstigten Seele, die sich ihm ganz ergab, auf Gnade und Ungnade, die sich an ihn gehängt hatte mit dem Eigensinn einer Liebe, die Vernunft und Rücksicht und Ehre und Stolz vergißt, weil sie alle diese Dinge nie besessen hat, da ward ihm noch völliger klar: was er that, das mußte er ganz thun. Wenn er ihr ein Opfer brachte – das schwerste vielleicht, das ein Mann überhaupt bringen kann, so sollte sie wenigstens nicht wissen, daß es ein Opfer war.
»Julia,« fragte er ernst, »hast du mich wirklich so lieb, daß du glaubst, ein ganzes Lebenlang mit mir glücklich sein zu können?«
»Ja,« sagte sie mit erstickter Stimme.
»Das Leben ist lang, Julia. Ich kann dir nicht versprechen, daß es dir immer nur leichte und fröhliche Tage bringen wird.«
»Was frage ich danach – bei dir ist alles schön!«
Er zögerte noch; einer glaubte des andern Herz schlagen zu hören. Endlich atmete Björn tief auf, und in seinem schwermütigen Gesicht leuchtete ein großer Heldenmut auf.
»Komm!« sagte er und breitete seine Arme aus. Kein Wort, das an Vergangenes erinnerte, sollte diese Stunde entweihen. – Und nun schrie Julia wirklich auf. Sie stürzte an seine Brust wie eine Sinnlose, wie eine aus rasender Herzensangst selig erlöste. Sie klammerte sich an ihn an, als hätte sie an ihren eignen Füßen keinen Halt mehr. Und sie küßte ihn – küßte ihn, als wolle sie mit ihren durstigen Lippen seine Seele austrinken. – Sie bemerkte in ihrer Aufregung nicht, daß er es sich stumm gefallen ließ.
Ihm ward angst und bange bei diesen Zärtlichkeiten. Wie sollte er der Heftigkeit solcher Liebe jemals gerecht werden!
Und nun fing sie auch noch an zu weinen.
»Aber Julia – ich bitte dich, ich flehe dich an – rege dich nicht so entsetzlich auf!« Sie weinte immer lauter und umklammerte ihn immer fester.
»Sage mir doch nur, warum du so weinst!« rief er und fing selbst an, die Ruhe zu verlieren. Er versuchte, ihre Arme von seinem Halse zu lösen – sie widerstrebte ihm.
»Nimm dich zusammen!« sagte er streng. »Ich wünsche es.« Da hörte sie sofort auf. Aber ihr ganzer Leib zuckte.
»Sei nicht böse!« stammelte sie. »Ich kann nicht anders. Siehst du – so unglücklich bin ich gewesen, und so glücklich bin ich jetzt!«
Er war diesem Übermaß an Leidenschaftlichkeit nicht gewachsen; er zwang sie, sich zu setzen, stand neben ihr, und strich mit der flachen Hand über ihr blondes Haar, das ganz in Unordnung geraten war, als könne das zu ihrer Beruhigung beitragen, als wolle er Zeit gewinnen, sich selbst zu beruhigen. Er war ganz außer Atem gekommen. – Dann versuchte er, vernünftig mit ihr zu reden. Aber sie mochte nichts hören.
»Sei still – sei ganz still! Streichle mich weiter – so – so – das ist, als wenn ich verhungert wäre und bekäme zu essen. Lache mich aus – schilt mich. Ich bin ganz rasend. Die Liebe zu dir hat mich rasend gemacht!«
Und er streichelte sie weiter und dachte bei sich: ›wie soll das enden – wie soll das enden!‹
»Jetzt müssen wir aber wirklich wie vernünftige Menschen miteinander reden,« sagte er endlich, setzte sich neben sie und nahm ihre Hände in die seinen. »Wir haben keinen, der für uns überlegt. Wir müssen es selber thun. Und es giebt viel zu überlegen!« Schließlich fand sie es selbst reizvoll, über die Zukunft nachzudenken – die Zukunft an seiner Seite!
»Hast du inzwischen irgend etwas ausgedacht oder beschlossen?«
»Nein – nichts.«
»Darf ich dir also sagen, was ich mir gedacht, wie ich mir das alles zurechtgelegt habe?« Sie nickte und sah ihn unter seligen Thränen an.
»Paß aber auch auf!« mahnte er angesichts dieses ungewissen, trunkenen Blickes. »Also zunächst packst du; ich helfe dir dabei. Die Möbel stellen wir hier auf den Speicher, bis wir sie wieder brauchen. – Dann müssen wir überlegen, wo du bleibst bis zu unsrer Hochzeit.«
»Wie lange wird denn das dauern?« fragte sie.
»Das Gesetz verlangt eine Frist von zehn Monaten,« erwiderte er mit niedergeschlagenen Augen, Julia erblaßte.
»Zehn Monate –« wiederholte sie und barg das Gesicht in den Händen. »Björn – wie soll ich denn das aushalten?«
Er antwortete nicht gleich; endlich sagte er begütigend:
»Es ist eine Wartezeit; und die Stimmung einer solchen hängt ab von dem, worauf wir warten. Wir warten doch auf das Glück, nicht wahr, Julia? Laß es darum eine Zeit der Vorfreude sein!« Sie blieb stumm in sich versunken.
»Es ist auch nicht zu lange für alles, was vorher noch geschehen muß,« fuhr er fort. Da sah sie wieder auf.
»Was meinst du?« fragte sie.
»Ich muß mir doch irgend eine neue Stellung, Arbeit oder Berufsart suchen, die es mir ermöglicht, einen Hausstand zu gründen.« Julia machte ihre großen, runden Augen; sie ahnte etwas Entsetzliches.
»Warum – was heißt das –« fragte sie stockend.
»Ich habe mein Abschiedsgesuch eingereicht,« erklärte er trocken. Sie sprang auf; sie stieß ihn beinahe von sich.
»Nein, gar nicht! Versuche einmal, ruhig zu bleiben, mich geduldig anzuhören. Vielleicht verstehst du mich dann.« Er zog sie wieder auf ihren Platz nieder und nahm abermals ihre Hände.
»Sieh mal, Julia,« begann er ganz freudig, während ihm das Herz fast brach vor Trauer, »wir haben beide etwas gethan, das sich nicht ganz – nicht ganz mit der Ehre einer Frau und eines Soldaten verträgt. Es weiß es bis jetzt noch niemand; aber ich weiß es. Und ob es gleich keinen andern etwas anginge, wenn es bekannt würde, so geht es doch dich und mich an. Ich kann diesen Rock nicht tragen über meiner befleckten Ehre. – Vielleicht ist es übertrieben gefühlt, aber ich kann nicht anders fühlen; und ich würde keinen Frieden haben, wenn ich meiner innersten Überzeugung zuwider handelte. – Es ist nicht so schlimm,« tröstete er, als er ihre tiefe Niedergeschlagenheit merkte. »Der Soldatenstand und die große Welt sind nicht die einzigen Bedingungen, unter denen man glücklich sein kann. Bei dir ist alles schön, sagtest du gestern. Wenn wir so denken, werden wir überall glücklich sein. Und je stiller und zurückgezogener wir leben, um so mehr Zeit werden wir haben, unser Glück zu genießen.«
Stille? – Zurückgezogenheit? – Ja, was wollte er denn?
»Hast du schon etwas in Aussicht?« fragte sie kleinlaut.
»In Aussicht nicht; wohl aber in Gedanken. Ich möchte am liebsten, wir gingen aufs Land. In meiner Heimat giebt es so viel freundliche kleine Besitzungen –«
»Aber Björn!« rief sie außer sich. »Das kannst du doch nicht von mir verlangen! Ich bin nicht erzogen für solche Verhältnisse; ich werde mich totsehnen nach dem gewohnten lustigen Leben!« Sie ahnte nicht, wie weh sie ihm that. »Da oben in deiner Heimat,« klagte sie weiter, »da ist es so einsam und still. Wer das gewohnt ist von der Wiege an, der mag es lieben; aber ich – daß du nicht Soldat bleiben willst, kann ich noch begreifen, obgleich ich es eigentlich auch nicht begreife. Aber warum du dich ganz aus der Welt zurückziehen willst –«
»Ich kann nicht anders,« sagte er, zum erstenmal ihr gegenüber einen sehr bestimmten Ton anschlagend. »Ich will es so. Und du wirst dich darein finden.« Sie wagte nicht zu weinen, denn er imponierte ihr.
»Alles läßt sich leider nicht nach deinen Wünschen einrichten,« fuhr er milder fort. »Aber ich hoffe, daß deine Liebe zu mir davon unberührt bleibt. Die Hauptsache ist doch, daß wir uns gegenseitig haben!«
»Ach ja!« rief sie und fiel ihm schon wieder um den Hals. »Wird es dir denn gar nicht schwer, den Husarenrock auszuziehen?« Sie sah diesen Rock zärtlich an.
»Darauf kommt es nicht an,« sagte er möglichst obenhin. Sein Gesicht strafte den leichtherzigen Ton Lügen. Sie ward sich plötzlich einigermaßen klar darüber, was für einen Kampf ihn das gekostet haben mochte.
»Es ist alles meine Schuld!« Sie brach in Thränen aus. Fast ging es über seine Kräfte; aber immer wieder raffte er sich zusammen.
»So darfst du es nicht auffassen, Julia,« sagte er mit unendlicher Güte und Langmut. »Sieh mal, wenn wir uns jetzt zusammenthun zu gemeinsamem Leben, so heißt das nicht nur, daß wir gemeinsam Glück und Lasten tragen, sondern auch, daß wir gemeinsame Schuld – wenn auch nicht gerade büßen – so doch sühnen sollen, indem wir in aller Bescheidenheit und Stille aus dem, was wir zerschlagen haben, ein neues, Gott wohlgefälliges Ganze aufzubauen versuchen. – Und weißt du, Julia,« fuhr er heiter fort, »ich stelle es mir reizend vor, mit dir ganz allein in so einer grünen, paradiesischen Einsamkeit zu leben!« Er sah sie aus seinen schönen, grauen Augen so herzensgut an, daß sie alles andre vergaß über ihm selber.
»Du bist viel, viel besser als ich!« rief sie ehrlich; und dann glitt sie neben ihn nieder und legte den Kopf an seine Knie. »Ich liebe dich so sehr, Björn, und ich bin so glücklich durch dich! Es ist mir alles unwichtig und gleichgültig – wenn ich dich nur habe!«
Er sah wehmütig zu ihr nieder. Er dachte daran, wie er einst zu seiner Mutter gesagt hatte: vor Julia könnte ich niemals knien!
Es war ja nun auch nicht nötig; sie erwartete es nicht. Sie kniete vor ihm.
»Sei nicht böse, wenn ich dich noch einmal quäle!« begann er nach einigen Minuten, während welcher Julias Kopf regungslos auf seinen Knien geruht hatte. »Aber es will doch alles überlegt und besprochen sein. Wo also würdest du diese Wartezeit – diese Zeit der Vorfreude am liebsten verleben?« Sie sah verträumt zu ihm auf.
»Da, wohin du mich schicken wirst,« erwiderte sie.
»Aber du könntest doch besondere Wünsche haben?«
Sie überlegte. »Es ist mir alles gleich. Natürlich würde ich gern in deiner Nähe bleiben,« setzte sie schnell hinzu.
»Mein Aufenthaltsort wird ein sehr wechselnder sein. Wenn ich hier fort bin, in einigen Wochen, werde ich keinen bestimmten haben, bis unsre Zukunft sich entschieden hat.«
»Aber solange du noch hier bist,« rief sie, sich an das Nächstliegende klammernd, »solange gehe ich nicht weit fort. Hier kann ich natürlich nicht bleiben, aber ich könnte mir irgendwo in der Nähe eine Wohnung mieten. Du würdest mich doch besuchen, Björn, nicht wahr?« schloß sie ein wenig ängstlich.
»Natürlich – so oft ich kann. Aber dann,« fuhr er fort, sichtlich gern darüber hinweggehend, »was wird dann aus dir? Du bist zu jung, um die ganze Zeit allein zu bleiben; es wäre deinem Ruf nicht günstig, und – kurz und gut, ich will es nicht. Was meinst du, wenn du dann zu meinen Eltern übersiedeltest? Sie kennen dich nicht, aber sie würden dich voll Liebe aufnehmen –«
»Ach nein!« Julia schauderte fast. »Ich möchte da nicht sein ohne dich. Ich fürchte, ich bekomme schreckliches Heimweh in der Einsamkeit, in der du fehlst; Heimweh nach dir und dem fröhlichen Leben. Und die Deinen würden keinen guten Eindruck von mir haben.«
»So könntest du vielleicht zu deiner Stiefmutter gehen!«
»Ach nein,« rief sie wieder; »ich kenne sie kaum; ich war schon Braut, als sie meine Mutter wurde, und habe sie nach meiner Verheiratung immer nur vorübergehend gesehen. Ich habe ihr nie etwas Liebes gethan – sie war, glaube ich, sogar ein wenig entsetzt und traurig über mich. Ich kann ihr nicht zumuten, mich gerade jetzt aufzunehmen. Es würde ihren etwas ängstlichen Auffassungen Hohn sprechen – denke doch, eine eben geschiedene Frau, die nur darauf wartet, daß sie den andern heiraten darf! – Und dann ist die Rottraut; ich glaube, sie wird zu Ostern eingesegnet. Das paßt nicht zu mir und zu dem, was ich ihnen ins Haus tragen würde! – Außerdem – ich würde mich kreuzunglücklich fühlen!« Dieser letzte Grund war ihr der wichtigste.
Björn hatte diesen Auseinandersetzungen ernst und geduldig zugehört, ohne zu verraten, was er dabei empfand. Nun seufzte er tief auf, und dann begann er, vernünftig und energisch mit ihr zu sprechen; ihr zu sagen, daß sie sich nun seinen Anordnungen fügen müsse; daß er versuchen werde, ihre Neigungen bei der Wahl ihres nächsten Aufenthaltsortes soviel wie möglich zu berücksichtigen; daß es aber ihre Pflicht sei, Entgegenkommen zu beweisen und an ihrem Teil an den Schwierigkeiten tapfer zu tragen, die der augenblickliche Zustand ihnen beiden bereitete. Dieser vernünftige und bestimmte Ton verfehlte seine Wirkung nie.
Es wurde endlich beschlossen, daß Julia an einem etliche Meilen stromaufwärts gelegenen, freundlichen Ort eine vorübergehende Wohnung nehmen solle. Björn konnte sie dort leicht besuchen, sie konnten alles miteinander beraten und besprechen. Er brauchte sie nicht aus den Augen zu verlieren, und sie konnte wenigstens in nicht allzu langen Zwischenpausen ihre nimmersatte Sehnsucht stillen. – Auch wenn Björn sein Regiment und seine Garnison verließ, konnte sie dort wohnen bleiben, so lange es ihr gefiel, und dann etwa besuchsweise zu seinen Eltern und zu ihrer Stiefmutter gehen.
Sie widersprach nicht mehr. Daß sie noch so lange darauf warten mußte, ihn ganz zu besitzen, enttäuschte sie und machte sie gleichgültig gegen alles übrige.
Wie Björn gedacht, gewünscht und gesagt, so geschah es nun. Julia packte, und er that alles, was er zu ihrer Erleichterung dabei thun konnte, und soweit es das Geschäftliche betraf. Er suchte ihr sogar die neue Wohnung aus, deren Wahl sie ihm bedingungslos überließ; es hatte einen verliebten Reiz für sie, sich in den Räumen einzurichten, die er passend für sie gefunden haben würde. Jeden Nachmittag nach beendetem Dienst kam er auf eine Stunde zu ihr, um zu besprechen, was nötig war, und um ihren Ansprüchen an ihn einigermaßen zu genügen. Diese Stunde war ihr lange nicht genug; er aber glaubte, nicht mehr gewähren zu dürfen, aus allerhand wohlbegründeten Bedenken und triftigen Schicklichkeitsgründen. Es war ihm lieb, daß er solche Gründe hatte, denn der Verkehr mit Julia bedrückte seine Seele. Die ganze unheilvolle Geschichte lastete auf ihm mit niederziehender Schwere.
Julia war ihm gegenüber stets von einer zügellosen, unersättlichen Zärtlichkeit und ebensosehr voll bedingungsloser Unterwerfung, voll fragloser Hingabe an seinen Willen. Und weil er beides nicht erwidern konnte, bedrückte es ihn, statt ihn zu beglücken.
Seinen Kameraden ging er soviel wie möglich aus dem Wege. Er wußte nicht, wie weit ihnen die Ereignisse bekannt waren, die sich teils öffentlich, teils im Geheimen vollzogen hatten. Er spürte keine Lust, mit irgend jemand darüber zu sprechen, sich Erklärungen abfragen zu lassen, die er nicht zu geben gewillt war, oder gar das Urteil verständnisloser Zuschauer hören zu müssen. Man war kameradschaftlich genug, seine auffallende Zurückhaltung zu achten, und all die Fragen, die den Brennpunkt des allgemeinen Interesses bildeten, in seiner Gegenwart rücksichtsvoll zu verschweigen. Seinem ernsten, stolzen und klaren Blick gegenüber hätte schwerlich jemand den Mut eines neugierigen Wortes gefunden.
Auch davon, daß er um seinen Abschied eingekommen war, sprach er zu niemand; es war Zeit genug, wenn man es auf offiziellem Wege erfuhr.
Nach Verlauf einer Woche verließ Julia die Stadt; geräuschlos, ohne Abschied und ohne Begleitung. Die wenigen, welche um ihren neuen Aufenthaltsort wußten, und die vielen, die ihn mit der Zeit erfuhren, verhielten sich ihr gegenüber, als wüßten sie ihn nicht. Man nahm an, daß ihr das lieber sein müsse.
Am Tage ihrer Abreise schrieb Björn einen langen Brief an seinen Vater – eher hatte er nicht die nötige Ruhe dazu gefunden. Er teilte das Geschehene in seiner geraden, klaren Art mit, soweit es die Thatsachen betraf. Was es ihm gekostet hatte, die Entschlüsse zu fassen, die dem äußern Anscheine nach die Erfüllung seiner heißesten Wünsche brachten, das verschwieg er. Das mußte er verschweigen, wenn er nicht von vornherein seiner zukünftigen Frau eine schiefe Stellung in seiner Familie geben wollte. Er legte ihnen diese Frau mit den wärmsten Worten ans Herz; sie, der zu liebe er ohne Besinnen Beruf und Stellung geopfert habe, sei auch der Liebe der Seinen wert. Er zweifle nicht daran, daß es Julia schnell gelingen werde, ihre Herzen zu gewinnen; und daß sie ihr diese Herzen willig öffnen möchten, das erbitte er von ihnen als Hochzeitsgabe, sein Glück zu krönen.
Immer nur von einem Glück, das ihm zu teil geworden, war die Rede in diesem Brief. Nicht ein einziges Wort sprach von Schuld und Pflicht; als ob diese beiden Dinge bei alledem nichts zu sagen gehabt hätten.
Zuletzt bat er seinen Vater, ihm mit Rat und That beizustehen bei der Wahl eines neuen Berufes, einer neuen Thätigkeit und eines befriedigenden Lebenszweckes. Er versprach, selbst zu ihm zu kommen, sobald er sich hier losgelöst haben würde.
Julia machte ihm dieses Loslösen nicht leicht. Seine Besuche, bei denen sie ihn ganz allein für sich hatte und ohne Scheu und Angst ihr ganzes heißes Herz über ihn ausschütten konnte, sich mit ihrem haltlosen, zerfahrenen, liebehungrigen Ich an ihn klammern durfte, waren etwas so wunderbar Schönes und Beseligendes für sie, daß sie außer sich geriet bei dem Gedanken an eine längere Trennung. Ihn aber bewogen noch andre Gründe, als die in den äußern Verhältnissen liegenden, trotzdem eine solche Trennung zu wünschen.
Es war ihm alles zu schnell, zu unmittelbar gekommen. Es wäre ihm sympathischer gewesen, wenn zwischen Julias Scheidung und seiner Vereinigung mit ihr eine Zeit des Besinnens und Beruhigens hätte liegen können; es widerstrebte ihm im Innersten, daß er sie so von Eberhard Altefahrs Herd fort an sein Herz genommen hatte. Wenn Julia ihn küßte, mußte er allemal daran denken, und dann schämte er sich. Ob er auch redlich sich mühte, all diese störenden und quälenden Empfindungen hinter sich zu werfen und mit diesem unmännlich halben Wesen zu brechen, so regte ihn das Zusammensein mit Julia doch immer von neuem auf, und eine längere Trennung erschien ihm schon darum wünschenswert, weil er anders nicht zu Ruhe und Frieden in seinen tapfer und ehrenhaft gefaßten Entschlüssen kommen zu können glaubte. Wenn das geschehen war, würde er Julia gegenüber eine größere Sicherheit und der Zukunft gegenüber eine größere Freudigkeit finden; und dann würde er auch das letzte erreichen, was zur Wiederherstellung seiner innern Harmonie und zur Befriedigung in seinem neuen Leben notwendig war: es würde ihm gelingen, mit der Vergangenheit zu brechen.
Die Antwort auf sein Abschiedsgesuch ließ lange auf sich warten. Björn bat schließlich, ungeachtet Julias Thränen, die es nicht begriff, daß er die Möglichkeit, in ihrer Nähe zu sein, nicht bis zuletzt ausnutzte, um Urlaub und nahm zugleich von Julia einen mehrwöchentlichen Abschied.
Noch nie war ihm ein Besuch in der Heimat so schwer geworden, und doch freute er sich diesmal so besonders sehnsüchtig auf diese Heimat. Er hätte aufjauchzen mögen, als sie vor seinen Blicken auftauchte; die Augen wurden ihm naß, er wußte selbst nicht, warum. Ach, würde er irgendwo in dieser Heimat einen Winkel finden, wo er unterschlüpfen könnte – wieviel leichter trüge er alles!
Seine Eltern empfingen ihn mit der größten Liebe. Kein Wort, kein Blick verrieten, daß sie sich für ihren Einzigen wohl etwas andres gewünscht hatten und daß es ihnen eine schmerzliche Enttäuschung gewesen war, ihn so aus seiner Laufbahn herausgerissen zu sehen. – Björn dankte ihnen ihre Liebe und ihre zarte Rücksicht aus tiefster Seele, ohne ihnen zugeben zu dürfen, daß er letztere empfand und verstand. Es gab eben allerhand Momente bei dieser Heirat, die nicht berührt werden durften; Julias wegen nicht; denn Julia sollte durchaus geachtet und geehrt werden, sie sollte durchaus des Opfers wert scheinen, das er ihr brachte; das war er ihr und sich selber schuldig.
Er hatte Bilder von Julia mitgebracht, die halfen ihm, ihr den Weg zu bereiten. Keiner konnte sich dem bestrickenden Zauber ihres lächelnden Gesichtes entziehen.
»Ist sie wirklich so nett, wie sie aussieht?« fragte Litta etwas unvorsichtig.
»Ja,« sagte Björn, »so ist sie.«
»Dann werde ich sie bald lieb gewinnen. Wir wollen sie überhaupt alle sehr lieb haben,« fuhr sie warmherzig fort. »Wer kann wissen, wie unglücklich sie eine Zeitlang gewesen ist. Wir müssen sie das alles vergessen machen; wir müssen ihr zeigen, daß wir das gern möchten.« Björn stand plötzlich auf und umarmte seine Schwester.
»Du bist ein gutes Mädchen, Litta. Ich danke dir.« Seine Stimme klang gerührt. Er war so weich, wie sie ihn kaum je gesehen hatten.
Gleich am ersten Tage besprach er mit dem Vater seine ganz persönlichen Zukunftspläne.
»Natürlich kommt es da zunächst auf deine Wünsche an,« sagte ihm der, »und ich werde dir helfen, wo immer es sein soll. Ich habe dir aber etwas vorzuschlagen – seit ich deinen Brief erhielt, hatte ich ja Zeit, zu überlegen. Da ist eben einige Meilen von hier ein hübsches Weidegut käuflich geworden; man könnte es binnen kurzem erwerben und bewohnen. Wenn es überhaupt in deinem Sinne wäre, aufs Land zu gehen, in unsrer einsamen Gegend, so könntest du es dir wenigstens ansehen –«
Björn war fast erschrocken vor Freude, daß das Geschick seinen Wünschen so willig entgegenkam.
»Vater,« rief er aufleuchtenden Angesichts, »das wäre ja, was ich mir am meisten wünsche, wonach ich mich noch auf dem Wege hierher heimlich sehnte, was mir als Ideal meines zukünftigen Lebens lockend vorschwebte!«
»Gut, so fahren wir morgen hin. Und wenn es uns gefällt und die Kaufbedingungen annehmbar für uns sind, so schließe ich den Kauf gleich ab. Die sonstigen Verhältnisse kenne ich, so daß wir keine Zeit zu versäumen brauchen mit Einziehen von Erkundigungen.«
»Vater!« Björn war tief bewegt. »Wolltest du das wirklich für mich thun?«
»Ja gewiß, mein Junge! Was du kannst, das kann ich auch. Du hast dich –« fuhr er entschlossen fort, als Björn ihn fragend ansah, »so ungeheuer großherzig und anständig benommen – nun wohl, ich kann es auch. Und wenn es mir auch ein kleines Opfer kostet, so gewinne ich mir damit das Glück, meinen einzigen Sohn in der Nähe zu haben, und eine hübsche Schwiegertochter dazu,« schloß er energisch.
Björn sah zu Boden. Seine Eltern sahen ganz klar über die Verhältnisse, das hatte er bald gemerkt; wie hätten sie sonst all seinen Empfindungen so wunderbar verständnisvoll entgegenkommen können!
»Wie denkst du dir das weitere?« fragte er, ohne die letzten Worte zu berücksichtigen. »Willst du es mir verpachten? Soll ich es dir bewirtschaften?«
»Nein, mein Sohn. Was ich thue, das thue ich ganz. Nur keine halben Maßregeln. Wenn aus dem Kauf etwas wird, so mache ich dich selbständig; ich muß das dann natürlich in meinem Testament ausgleichen. – Solche Abhängigkeitsverhältnisse taugen nichts; du hast ja gottlob den Charakter danach, daß du der strengen väterlichen Aufsicht entbehren kannst.«
»Was wird aber Julia dazu sagen?« fragte Litta zweifelhaft. »Sie ist ein Stadtkind, und wer unsre Abwechslungslosigkeit nicht gewöhnt ist –«
»Julia kommt überall hin und ist überall glücklich mit mir. Darüber sind wir uns gleich einig geworden.«
»Nun – dann wäre ja alles wohl bedacht; nur ich gehe leer aus dabei!« sagte sie mit neckischem Schmollen. »Wir hatten ausgemacht, daß ich dir einmal die Wirtschaft führen sollte; früher einmal, als wir beschlossen, daß wir niemals heiraten wollten!«
»Laß nur! Du wirst uns dafür recht oft besuchen; und wenn wir einmal eine schöne Reise machen, nehmen wir dich mit!«
Am andern Morgen besichtigten Vater und Sohn das Gut. Wenige Tage später war der Kauf abgeschlossen.
So war denn Björn mit allem im Reinen, mit sich selbst, mit seiner Zukunft, mit seinem Vater und mit Litta. Nur zwischen seiner Mutter und ihm lag noch etwas Unaufgeklärtes. Keiner hatte so gut wie sie die ganze Vorgeschichte seiner Verlobung gekannt; keiner wie sie durchschaute jetzt so sonnenklar seine Seele. Vor keinem wie vor ihr zog er sich infolgedessen so scheu zurück – vor ihr, die geradezu gequält von ihrer Mitwisserschaft, ihm voll übergroßen Zartgefühls aus dem Wege ging. Er konnte es kaum ertragen, so mit ihr Versteck zu spielen; andrerseits aber wäre es ganz gegen seine Absichten gewesen, gegen das, was er Julia in seinem Innern gelobt hatte, wenn er rückhaltlos mit seiner Mutter gesprochen und ihr Julia – preisgegeben hätte.
Da, eines Abends, als er schon beim Zubettgehen war, klopfte sie an seine Stubenthüre.
»Ich störe dich wohl schon –« meinte sie eintretend. »Aber ich kann nicht länger um dich herumgehen.« Sie trat an den Tisch, auf dem die Lampe brannte und an dem er stand, und sah ihn liebevoll und doch ein wenig besorgt an. »Ich habe, seit du hier bist, noch kein behagliches Plauderstündchen mit dir gehabt, wie wir es doch sonst gewohnt waren.«
»Das war wohl nur Zufall, Mutter.« Er zog den Rock wieder über, den er schon abgeworfen hatte. Es war ihm nur darum zu thun, sie nicht ansehen zu müssen. »Es gab immer so viel andres –«
»Nein, es war nicht Zufall,« entgegnete sie. Björn seufzte. Er sehnte sich nach ihrem Herzen und überlegte doch, wie er sie am besten wieder loswerden könne.
»Björn,« sagte sie und ging gerade auf ihr Ziel los, »ist es denn wirklich nötig, daß du sie heiratest?« Er machte ein erstauntes, fast abweisendes Gesicht.
»Ich habe euch das alles erst geschrieben und dann erzählt. Ich glaube, ich habe mich beide Male deutlich ausgedrückt.«
» Was du gesagt hast, war deutlich. Aber hast du auch alles gesagt?« Er senkte den Kopf und zuckte die Achseln.
»Ich kann nicht viel über Gefühle reden,« meinte er ausweichend.
»Früher konntest du es so gut –« Sie sah sich im Zimmer um; dann ging sie und setzte sich auf sein abgedecktes Bett. Und da, die Hände um die Knie gefaltet, sprach sie weiter:
»Weißt du noch, Björn – voriges Pfingsten – wie wir da abends auf dem Kieköwer im Garten saßen –« sie hielt inne und sah ihn ängstlich an. Er stand, starrte auf die Tischdecke und rührte sich nicht. Magna Heddenholm fuhr fort:
»Was du mir da erzähltest, das war eine fertige Geschichte; eine solche, die einen Abschluß hat und keiner Fortsetzung bedarf. Du sagtest mir – besinnst du dich, Björn? Du sagtest mir, daß du sie nicht mehr liebtest –«
»Ich hatte mir das nur eingeredet. Ich glaubte es, weil ich es wünschte; weil ich es damals wünschen mußte. Ich sah dann ein, daß ich mich geirrt hatte.«
»Du sagtest auch, du würdest nie vor ihr knien können –« Nun lächelte Björn, aber es war ein wehmütiges Lächeln.
»Kann man nur lieben, wo man knien kann? Es giebt verschiedene Arten von Liebe. Vielleicht lehrt sie mich noch, vor ihr zu knien. Und wenn nicht – wenn du die einzige Frau bleiben solltest, Mutter, vor der ich knien kann – wäre das so schlimm?« Er sah sie an voll schwermütiger Schelmerei; aber sie schien es nicht bemerken zu wollen.
»Du sagtest auch noch, du habest ein schlechtes Gewissen gegen sie!«
»Wie gut du das alles behalten hast!« meinte er, ärgerlich auflachend. Dann besann er sich. »Mein Gewissen,« sagte er ernst, »kann ich am besten entlasten, indem ich sie nun so glücklich mache, wie ich sie eine Zeitlang unglücklich gemacht habe.«
Magna Heddenholm sah ihren Sohn nachdenklich an.
»Ich muß ja selbst zugeben, Björn, daß du sehr richtig gehandelt hast, sehr ehrenhaft, sehr großmütig; nur vielleicht ein wenig zu gewissenhaft; daß du deinen Abschied nimmst, meine ich. Manchem andern würde das nicht eingefallen sein. Aber ich möchte wissen, ob du das alles gern thatest, ob du Entschädigung gefunden hast für das, was du aufgabst –«
»Sage doch einfach: ob du Julia liebst! – Ja, meine gute Mutter, ich liebe Julia; wenn du es mir in diesem Augenblick nicht ganz glaubst, so wirst du es glauben, wenn du sie kennen lernst. Ich empfinde keine Reue über das, was ich gethan. Wenn ich ein wenig ernster und nachdenklicher bin, als ein andrer in meinen Jahren, der sich mit seiner ersten Liebe verlobt hat – so mußt du dir darum keine schweren Gedanken machen, sondern es auf die Art und die Vorgeschichte dieser Liebe schreiben.«
Es war nicht recht zu sehen, ob diese Erklärung sie überzeugt hatte. Sie blieb still und nachdenklich.
»Da wir nun doch einmal allein sind,« begann Björn, ohne aufzusehen und mit nicht ganz freier Stimme, »möchte ich dich noch um etwas bitten, Mutter.« Sie sah erwartungsvoll auf. »Was ist's, mein Junge?«
Er konnte sich nicht gleich entschließen, es zu sagen. Endlich brachte er es heraus.
»Kannst du uns in deinem Hause die Hochzeit ausrichten?« Sie sah ganz erschrocken in seine bewegten, bittenden Augen; es kam ihr zu überraschend, als daß sie gleich eine Antwort hätte finden können. Da fuhr er fort:
»Es soll keine laute Festlichkeit werden; nur ein stiller Feiertag unter euren Augen und dem heimatlichen Behagen eures Hauses. Ihr sollt nicht viel Mühe davon haben. Mir aber würdet ihr eine Wohlthat erweisen. – Wo sollten wir diesen Tag verleben? Julia hat keine nähern Anverwandten außer einer Stiefmutter, die sie kaum kennt, und von der sie einen solchen Liebesdienst nur ungern annehmen würde. Wir wären auf eine Trauung vor drei Zeugen in irgend einer fremden Umgebung angewiesen. Für mich wäre mein Hochzeitstag noch einmal so schön, könnt' ich ihn hier feiern – und ich weiß, daß Julia mit all meinen Vorschlägen einverstanden ist.«
Magna Heddenholm atmete tief auf.
»Ich weiß gar nicht, warum ich dich so viele Worte machen lasse; es ist ja ganz selbstverständlich, daß wir dir deinen Wunsch erfüllen. Was kann mir denn Lieberes werden, als die Aufgabe, dir deinen Hochzeitstag zu schmücken! Wie selten darf das eine Mutter thun für ihren Sohn! – Aber dann,« fuhr sie fort, »möchte ich Julia gern vorher schon kennen lernen –«
»Gewiß, Mutter,« fiel er ein. »Ich sprach schon mit Litta davon, daß sie einen Teil unsrer Wartezeit bei euch verleben könnte. Da wäre es am besten, sie käme einige Wochen vor unsrer Hochzeit zu euch –«
Sie hatten dann noch allerhand Geschäftliches zu beraten. Es war schon spät, als Magna sich anschickte, ihren Sohn zu verlassen. Sie war doch etwas beruhigter um ihn; wenn er sie auch nicht so tief in sein Herz hatte blicken lassen, wie sie wohl gemocht hätte, so wußte sie doch, daß er still und fest war und zu einem guten Ende bringen würde, was er unternommen hatte. Sie küßte ihn zärtlich zur Gute Nacht.
»Weißt du, Mutter,« sagte Björn, »deinen Segen – deinen ganz persönlichen Segen – den kannst du mir eigentlich heut schon mitgeben, für uns beide!« Und wieder, wie an jenem Maiabend im Garten, kniete er neben ihr nieder; es war ihm ein Bedürfnis, ihre Liebe zu fühlen, als sei er noch ein Kind.
Sie nahm seinen Kopf, drückte ihn an ihr Herz und preßte ihr Gesicht auf sein Haar. Es war ihr weh zum Weinen. In all seinem stillen Ernst klang doch nichts von dem Glück, das sie ihm so gern mit ihrem Herzblut erkauft haben würde.
»Wenn es an meinem Segen läge,« sprach sie bewegt, »so müßtest du der glücklichste Mensch unter der Sonne sein.« Er nahm ihre Hand und küßte sie dankbar.
»Mutter« – er sah bittend zu ihr auf, »versprich mir eins – ich bitte dich darum, und das ist meine größte Bitte: habe Julia lieb!«
»Ich verspreche es dir!« sagte sie feierlich.
Nach dreiwöchentlicher Abwesenheit kehrte Björn zu Julia zurück. Sie hatte sich so verzehrt in Sehnsucht und war so aufgeregt vor Freude über seine endliche Rückkehr, daß sie ihn mit einem heißen Thränenstrom empfing. Darüber entging ihr, daß Björn sehr ruhig und ein wenig zaghaft war. Er beruhigte sie am besten durch die Versicherung, daß er nun etliche Tage hier bleiben und ganz für sie leben werde.
Die Fenster der Villa, in welcher Julia wohnte, gingen nach dem Rheine hinaus; das Haus lag etwas außerhalb der Stadt, zwischen dem Fluß und der Straße, auf einem sanften Uferhange, in einem kleinen Garten, in dem es von stark duftenden Frühlingsblumen blühte. Die weiche, noch etwas kühle Luft strömte sonnenhell herein.
Sie saßen eng aneinander geschmiegt, und Björn mußte ihr die Ergebnisse seiner Reise mitteilen, über die er sich brieflich wenig oder gar nicht geäußert hatte. Sie konnte ihm nicht ganz verbergen, wie es sie anfangs bedrückte, daß er sich nun wirklich »da oben« in der Einsamkeit seßhaft gemacht habe. Auch seine Bestimmungen über ihre Hochzeitsfeier machten ihr keine Freude. Es war ihr sehr schmerzlich, daß sie keine reiche Hochzeitstafel und keine große Hochzeitsgesellschaft haben sollte; sie hatte wohl noch nicht darüber nachgedacht, daß ihr diese unter den obwaltenden Verhältnissen überhaupt kaum hätten gewährt werden können. Am wenigsten angenehm war ihr die Aussicht, vorher einige Wochen bei seinen Eltern zubringen zu sollen, so verlockend er ihr diesen Aufenthalt zu schildern versuchte.
»Ich habe dann schon mein Gut übernommen und kann dich oft besuchen – wir werden fast täglich zusammen sein!« Auch das verfing nicht.
»Ach – ich habe dich dann doch nicht für mich –« seufzte sie und beschloß innerlich, diesen Aufenthalt so viel wie möglich abzukürzen. Vorläufig ließ sich hier ganz gut leben; dann konnte sie einige Monate reisen, die Stiefmutter besuchen und sehen, was aus der kleinen Rottraut geworden war. Und dann, zu Weihnachten, dann mochte es sein. – Schließlich fand sie sich in alles. Aus Liebe zu ihm, aus blinder, sich täglich noch steigernder Liebe war sie mit all seinen Anordnungen einverstanden. Wenn sie ihn nur behielt – alles andre war ihr gleichgültig. Er war ihre einzige Wertschätzung aller Dinge. Darum schlug sie sich alle unbequemen Zukunftsgedanken aus dem Sinn, hörte sie überhaupt auf, zu denken, um desto ausschließlicher zu lieben.
Nur, als er ihr sagte, daß er sie nach Verlauf einiger Tage wieder verlassen werde, geriet sie außer sich.
»Es geht doch nicht anders, Julia,« sagte er. »Wie sollten wir diesen Zustand ertragen – zusammen und doch nicht zusammen! Meine Nerven wenigstens sind dem nicht gewachsen. Ich kann auch nicht lange so ganz unthätig sein; das erträgt ein Mann nicht, am wenigsten in solcher Zeit –« Er redete ihr gut zu, wie einem Kinde, und schließlich sah sie es ein; es freute sie auch, daß er dies Erwarten in ihrer unmittelbarsten Nähe nicht glaubte ertragen zu können – daß er ungeduldig war.
»Wo willst du denn hin?«
»Ich habe mir ausgedacht, auf eine landwirtschaftliche Schule zu gehen und da noch schnell einige Kenntnisse für meinen neuen Beruf zu sammeln. Im Juli kann ich dann mein Gut übernehmen.« Sie ließ den Kopf hängen.
»Ach – wenn es nur nicht so lange dauerte!« flüsterte sie und barg ihr Gesicht an seiner Schulter. Ihre unendlichen Zärtlichkeiten ängstigten ihn, aber er wagte nicht, sich ihrer zu erwehren, weil er wußte, wie es sie schmerzen würde.
»Björn,« sagte sie plötzlich zwischen halb unverständlich gemurmelten Liebesworten, »ich muß dir etwas sagen, wovon ich noch nie zu jemand gesprochen habe. – Ich hatte seit mehreren Jahren nicht mehr gebetet. Seit einiger Zeit kann ich es wieder. – Weißt du, was ich jetzt immer bete, Björn?«
»Nun – was denn, mein Herz?«
»Daß der liebe Gott mir helfen möge, dich glücklich zu machen.«
Er drückte sie fest an sich. »Liebe, gute Julia!« sagte er gerührt. Er glaubte gern, daß sie den besten Willen hatte; warum sollte ihm kein Vollbringen werden? – Er besaß eine große Macht über sie: vielleicht, wenn er sie recht nützte –.
Draußen auf der geschwollenen Flut, die grün und perlend vorüberrauschte, zog ein weißes Schiff mit Musik und fröhlichen Menschen stromabwärts. Sie hörten die herausfordernd lustigen Weisen, deren Schall durch die offenen Fenster ungedämpft hereindrang. Julia lauschte ihnen mit ihrer freudedurstigen Seele, und ein stürmisches Verlangen rauschte auf in ihr, wie draußen die geschwollene Frühlingsflut.
Und dann gingen unten auf dem Fußweg am Gartengitter zwei junge Burschen vorüber: die sangen in den verglühenden Abend hinein:
»Ach, wenn ich doch am Rheine
Bei meiner Liebsten wär'!«
So sehnsüchtig klang es, und so selig! Und zuletzt so traurig:
»Mir wird das Herz so schwer – –«
Björn hörte in tiefen Gedanken zu; ihm war, als kämen die Worte aus seiner eignen Seele. – Da warf sich Julia aufschluchzend an seine Brust. – Er kannte diese Erregungen, die sich immer in Thränen auflösten; er hatte gelernt, daß es am besten war, solchen Thränen ihren ungehinderten Lauf zu lassen. Es hatte etwas unendlich Rührendes für ihn, wenn sie so an seinem Herzen lag und weinte; er fühlte sich dann verantwortlich für sie, als ihr Leiter und Beschützer, und das that ihm gut, weil es ihn an seine Pflichten mahnte.
Heute aber hörte Julia gar nicht auf, zu weinen. Und als die Heftigkeit ihrer Erregung nachließ, blieb sie schwer und müde an ihm liegen und schluchzte leise weiter.
»Willst du mir nicht sagen, was dir ist, Julia?« fragte er weich. Lange bekam er keine Antwort; bis sie sich endlich noch fester an ihn lehnte und leise sagte:
»Es ist so schön, wenn man den Mann liebt, dem man gehört –«
Er verstand, was sie meinte, er hatte ein großes Erbarmen mit ihr um ihrer Erinnerungen willen.
Allmählich beruhigte sie sich. Sie lag fest in seinem Arm, mit geschlossenen Augen, an denen noch die letzten Thränen hingen, und durch die halbgeöffneten Lippen kam und ging unhörbar ihr warmer Atem. – Und wie Björn so saß mit ihr, wie er das heiße junge Leben an seinem eignen Leibe pochen fühlte, da glaubte er zum erstenmal, daß er doch noch würde mit ihr glücklich werden können – ja, daß er es schon sei.