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In der Titelerzählung schildert Tavel lebenswahr, wie schwer sich am jungen Menschen das «Weh dem, der fällt» vollziehen kann.
«Eine Heiterkeit schönster Art waltet in der zweiten Erzählung. Sie ist betitelt ‹Die Sonntagsschüler›. Was hat das Herz des Erzählers hier nicht alles mit liebendem Humor umfaßt! Eine wohltätige ‹Stündlere›, die das Hemd vom Leibe weg schenkt, wenn’s draufankommt; eine Varietetänzerin, Mlle. Bibi Luritenska, mit ihrem bürgerlichen Namen Liseli Rösti, einen David Klütterli, Lohnkutscher letzter Qualität. Diese Geschichte ist vom echtesten Tavel, wie nicht bald eine zweite; Humor und Ernst geschwisterlich vereinigt und alles ganz eingetaucht in die Lokaltöne und -Farben der Bundesstadt, in das seelische Kolorit bernischen Kleinlebens.»
Otto v. Greyerz in «Der Bund»
In einer waldbesäumten Bucht des untern Emmentales schnurrt eine stattliche Fabrik. Mensch und Tier haben die gleichmäßige Musik ihres Fleißes in den Ohren, und niemand mehr – auch nicht, wer vor Jahren mit feindseligen Blicken dem Bau des mächtigen Hauses zusah – ärgert sich darüber. In aller Leute Bewußtsein schlummert sogar das Behagen, denn sie wissen, daß von dem Räderwerk der Wohlstand ins Tal strömt und das vormalige Regiment der Sorge immer tiefer in die entlegensten Schlupfwinkel zurückdrängt. Wenn des Abends die Turbine stillsteht und der aus der Emme abgeleitete Bach, mit den heimgehenden Fabrikmädchen um die Wette plaudernd, erzählen geht, was er heute den Menschen Gutes getan, so setzt sich manchmal auch Direktor Junker zu seinen Leuten auf die blumengeschmückte Laube, eins zu tobaken.
So war es auch damals, als Werner Leist, der vor drei Wochen als Buchhalter in das Geschäft eingetreten war, zum erstenmal mit am Familientische saß. Es ging sehr still zu. So ein Fabrikdirektor hat kein leichtes Leben, und er kommt gewöhnlich auch dann nicht aus dem Gespinst seiner Sorgen heraus, wenn er schon im Frieden des Familienkreises dem Lärm der 6 Werkstätten entrückt ist. Frau und Kinder wußten, was dem Papa die Stille des Abends bedeutete, und respektierten sie demgemäß. Die Hängelampe beschien den ergrauenden Scheitel der Mutter und die krausen Blondhaare der Tochter Maria, welche beide über ihre Handarbeit gebeugt waren. Alle anderen saßen zurückgelehnt im Schatten, Papa Junker an der Hauswand, Herr Leist und Alfred, der Sohn des Hauses, der jeden Abend ein neu Stücklein Wissenschaft vom Burgdorfer Gymnasium heimtrug, am Laubengeländer. Das Gespräch war zwanglos, aber es floß sehr spärlich. Man versuchte den Buchhalter zum Erzählen zu bringen, denn man wußte, daß er weit herumgekommen war. Leist blieb jedoch bei aller Freundlichkeit wortkarg, und den Kindern Junker schien etwas Trauriges in seiner Stimme zu klingen, so daß einmal Maria ihre grüngrauen Augen forschend über den Tisch hinwegrichtete. Ihr war, als müßte sie dort im Halbdunkel etwas feucht schimmern sehen. Ein Blick aus den beschatteten Augen des Gastes begegnete dem ihrigen, so daß sie rasch ihre Wimpern senkte. Aber Tränen glänzten drüben nicht.
Als sich Leist verabschiedete, drückte er seinem Direktor die Hand, wie man sie einem Retter aus großer Not drückt. Und sein Dank für den schönen Abend klang auch danach. Das fiel Maria auf und gab ihr zu denken.
Von da an kam der Buchhalter so oft zum Abendsitz, als man ihn dazu einlud. Das geschah 7 nicht selten, denn Leist taute zusehends auf und war ein guter Gesellschafter. Maria hatte eine fast männlich tönende Altstimme, und sie ging damit nicht um wie die Schatzgräber mit ihrer Beute. Wo es sie eben ankam, sang sie frischweg aus Türen und Fenstern. Leist konnte sich daran nicht satt hören und war jedesmal selig, wenn es ihm gelang, Fräulein Junker ans Klavier zu locken, was er freilich sehr behutsam tat. Er gehörte nicht zu denen, die jeden Krug, dem sie begegnen, möglichst schnell austrinken, um Hals über Kopf nach einem andern zu laufen. Die Güte seines Direktors gestattete ihm den Schluß, daß er nicht als ein Tollhäusler angestaunt würde, wenn er einst – vielleicht erst nach Jahren treuer Arbeit – den Versuch wagte, mit der Familie Junker in ein engeres Verhältnis zu treten. Es harrte da seiner ein Preis, der schon ein paar Schweißtropfen und eine Spanne Geduld wert war. – Also!
Junkers verfolgten den Buchhalter mit nicht geringerer Aufmerksamkeit. Maria bemerkte, mit welcher ununterbrochenen Sorgfalt Vater und Mutter den Mann überwachten, und legte sich das als liebende Sorge um sie, ihre einzige Tochter, aus. Sie selbst befliß sich unbefangen zu bleiben. Wie ihre Stimme, so gönnte sie ihre natürliche Leutseligkeit jedermann, suchte aber auch erkennen zu lassen, daß daraus noch lange nicht auf besondere Zuneigung geschlossen werden dürfe. Gerade dieser Buchhalter – hm, der sollte sich noch lange nichts einbilden. Hin und wieder gab sie sich besondere 8 Mühe, ihn absichtlich recht kühl anzulassen. Daß er’s merkte, ahnte sie nicht. Und so verfing er sich erst recht an ihrem reizenden Widerstand.
Eines Abends hatten sie wieder ein wenig musiziert. Aber der prachtvolle Mondschein hatte sie auf die Laube hinausgelockt, wo sie nun ohne Lampe in ein angeregtes Plaudern verfielen. Noch immer wußten die Kinder Junker sozusagen nichts über die Vergangenheit des Buchhalters, und doch hatten sie ihn als einen guten Freund betrachten gelernt. Er solle doch etwas erzählen, drängten sie ihn; aber jetzt endlich einmal etwas von seinen Reisen und Abenteuern.
«Abenteuer?» sagte er mit künstlicher Verwunderung.
Ein paar Atemzüge blieb es mausstill, so daß man Frau Emme ganz deutlich ihr silbern Schleppgewand über die glatten Kiesel hinschleifen hörte. Das mochte den Gast anregen. Er sagte plötzlich: «Nein, aber ein Märchen.»
Was? Ein Märchen! Wer ist denn nur der seltsame Mensch? dachten sie alle und rückten sich zu gespanntem Lauschen zurecht. Maria klopfte ganz leise das Herz.
«Oder eigentlich ist’s ein Rätsel», fuhr Leist fort. «Laßt sehen, wer mir auf die Spur kommt! Ueberall und nirgends lebt eine schöne Frau. Allzeit hat sie das Blut im Gesicht und macht ungeduldige Augen. Weil ihr kein Roß feurig, kein Rad schnell genug ist, hat sie sich Flügel gemacht aus Zeitungsblättern. Mit denen fliegt sie über die höchsten Berge. Sie kann aber auch 9 mit ihren Füßen laufen, wie kein Windspiel. Damit ihr niemand in den Weg tritt, hüpft sie auf die Telegraphen- und Telephondrähte und gleitet wie der Blitz durch die Lande. Manchmal haucht sie ihre Gedanken in die unsichtbaren Wellen der Luft; da fliegen sie wie die Sternschnuppen über Berge und Meere, auf die einsam fahrenden Schiffe. Und weil die Frau, ihr heißes Gesicht zu kühlen, gern an rissigen Wänden sitzt, so entgeht ihr nichts, was die Menschen treiben und reden. Viel Gutes könnte sie tun, aber sie ist hart und herzlos, weiß nichts von Vergeben und läßt keinem Ruhe, den sie einmal kennen gelernt. Sie bleibt an keinem Grabe stumm. – Kennt ihr das Weib?» –
«Ich weiß,» warf der Gymnasiast ein, «das ist die Fama.»
«Gut geraten», fuhr Leist fort. «Nun war ein lebensfroher Jüngling bei einem reichen Kaufherrn in die Lehre getreten. Er wollte selber einst reich und groß und glücklich werden. Darum arbeitete er mit großem Fleiß. Seine Aufgabe bestand darin, des Meisters Gold zu wägen. Eines Tages waren hundert Goldstücke zu viel in einem Sack. Da steckte der Jüngling sie in die eigene Tasche. Aber der Aufseher bemerkte es und verklagte ihn. Er wurde in den Kerker geworfen und schmachtete drei Jahre darin. Und als er wieder frei war, fuhr er über das Meer, um bei fremden Menschen ein neues Leben anzufangen, denn er bereute die Sünde seiner Jugend. Schon hatte ein Großer des Landes den klugen jungen 10 Mann in seinen Dienst genommen; da kam jenes furchtbaren Weibes Geflüster auf den Wellen des Ostwindes geflogen und verriet dem großen Herrn, wen er angeworben hatte. Und noch am gleichen Tage wies er den Enttäuschten aus seinem Hause. Traurig wandelte der Jüngling durch die fremde Welt. Seinen Fußspuren folgte die herzlose Fama, so daß die besten Menschen ihm ihre Türen verschlossen. Unstät und flüchtig...»
Ein leise knarrendes Geräusch unterbrach den Erzähler. Einem nächtlich vom Nest verscheuchten Vogel gleich kam ein Radfahrer ans Gartentor. Es war der Telegraphenbote. Leist erhob sich, bestätigte dem Boten den Empfang der Depesche und eilte damit nach der Fabrik, wo der Direktor, dieser Meldung harrend, noch arbeitete.
«Ist es seine eigene Geschichte?» fragte Alfred seine Schwester. Maria schien die Frage nicht zu hören. Ihr in die träumende Landschaft schweifender Blick verriet, daß sie mit ihrem Herzen dem Fluge der Fama gefolgt war.
Vergeblich wartete sie auf die Rückkehr des Erzählers. Das Fenster des Kontors blieb noch erleuchtet, als die Geschwister sich gute Nacht gewünscht hatten.
Die Mondnacht war zu duftig gewesen. Am andern Morgen legten sich grämliche Wolken auf das Sonne heischende Tal, und ein kühler Wind scheuchte zum erstenmal Herbstahnungen aus den Waldsäumen. Aber was tut das Männern, die sich an ihrem Schaffen und Streben erwärmen? Wer ein Lebensziel im Auge hat, legt seine Stirn 11 gegen das Wetter und pfeift, in sich lachend, mit dem Sturm um die Wette. Die Fabrik surrte und schnurrte, und die Arbeitslust sprühte ihr aus allen Fenstern. Jawohl, sie sollten’s merken, die Herren Delegierten des Verwaltungsrates, die sich durch den flitzenden Nachtvogel angekündigt hatten.
* * *
Weit unten im Tal, wo das weiße Band der Heerstraße in schmalem Bogen um den vorspringenden Waldhöcker sich zuspitzt wie ein Sensenblatt, zerfetzte der Wind eine Staubsäule – und weg war das Automobil mit den gewichtigen Herren. Von Aufatmen konnte eigentlich kaum die Rede sein. Direktor und Buchhalter waren ihrer Sache sicher gewesen. Immerhin hätten die schmeichelhaften Redensarten über den tadellosen Gang der Fabrik einen frohen Abglanz auf dem Gesicht des Direktors zurücklassen können. Statt dessen kam Papa Junker bedrückt in seine Wohnung, und auch auf Leists Stirne war etwas ausgelöscht. Das sahen freilich nur die, welche in sein Bureau gingen, denn er kam gar nicht herüber. Mehrere Tage blieb er dem Direktorhause fern. Als ihn dann Maria von ungefähr auf der Straße traf, sagte sie freundlich zu ihm: «Herr Leist, wo bleiben Sie? – Sie sind uns den Schluß Ihres Märchens noch schuldig.»
Da zuckte etwas in seinem Gesicht. «Den Schluß?» antwortete er, sich zu einem gleichgültigen Ausdruck zwingend – «den Schluß – 12 ja, den weiß ich eigentlich noch gar nicht. – Oder – warten Sie mal – ja doch, ich habe die Geschichte zu Ende erzählt.»
«Nein, Herr Leist, das kann der Schluß nicht gewesen sein. Wissen Sie denn, was Ihre letzten Worte waren? ‹Unstät und flüchtig.› So hört doch keine Geschichte auf.»
Sie hatte das lachend hingeworfen. Aber jetzt zerriß etwas in ihrer Stimmung ganz jäh. Der junge Mann stand wie von einem Krampf gewürgt und sagte tonlos: «O doch, Fräulein Maria!»
Da er sich von der Begegnung loszuringen schien, entließ sie ihn mit der Einladung bald wieder herüberzukommen. Leist konnte sich kaum enthalten davon zu rennen, denn ihm war wie dem angeschossenen Tier, das einen Schlupfwinkel sucht, um den brennenden Pfeil sich aus der Wunde zu beißen.
Abermals verstrichen Tage, ohne daß der Buchhalter sich sehen ließ. Maria wollte nicht merken lassen, daß er ihr fehlte, und schwieg. Aber einmal, als sein Name bei Tisch genannt wurde, erhaschte sie die Gelegenheit und fragte ihren Vater: «Was ist’s denn mit dem Leist? Er zeigt sich gar nicht mehr.»
Papa Junker blickte vor sich nieder, wischte die Brosamen vom Tischtuch und sagte dumpf: «Weg zieht er. Ich habe ihm kündigen müssen.»
«Warum denn?»
«Ja warum? – Man hat mich gezwungen. Das muß dir für diesmal genügen, liebes Kind.»
13 Sie wußte nicht, wie groß ihre Augensterne wurden, als sie fragte: «Wann geht er denn?»
«Morgen früh», sagte der Direktor. Er warf einen forschenden Blick auf seine Tochter und ging hinaus, als wollte er weiteren Fragen ausweichen.
Düster blickten an jenem Nachmittag aller Augen, und die Wände schienen die Traurigkeit auf die Menschen zurückzuwerfen. Nach Feierabend litt es Maria nicht länger. Sie entwischte und lief nach dem kleinen Haus der Schusterswitwe, bei der Leist wohnte. Klopfenden Herzens pochte sie an die Stubentür des Buchhalters. Als sie öffnete, stand er mitten in dem dämmernden Raum vor einem gähnenden Koffer, um sich herum auf Tisch, Bett und Stühlen seine bescheidenen Habseligkeiten. In gleicher Unordnung mochten seine Gedanken sich befinden, fand er doch nicht einmal ein Wort zur Begrüßung.
«Sie wollen wirklich fort?» fragte die Eintretende.
«Wollen?» entfuhr es ihm in bitterm Tone. «Es hat mich niemand gefragt.»
«Aber, ich bitte Sie, Herr Leist, sagen Sie mir bloß...»
«Ah, Sie möchten das Ende der Erzählung wissen, nicht wahr? – Nun, ich sagte es Ihnen ja. Vorläufig – heißt es: ‹Unst...!›» Das Wort erstickte ihm in der Kehle. Einen Augenblick noch stand er aufrecht, dann ließ er sich auf sein niedriges Ruhebettlein fallen, stützte den Kopf auf die Knie und ergab sich in ein haltloses Schluchzen.
14 Maria suchte mit der Hand nach der Tischkante und starrte wortlos nach dem Unglücklichen. So blieben sie beide eine Weile, während aus den Umrissen aller Gegenstände der schwärzliche Flaum der Dämmerung hervorkräuselte und der Fluß draußen das endlose Lied vom Vergehen summte.
Endlich faßte sich Maria ein Herz: «So war es also doch Ihre eigene Lebensgeschichte?»
Leist nickte bestätigend.
«Nun möchte ich bloß noch wissen», fuhr sie fort, «ob mein Vater...»
«Ihr Vater ist ein guter Mensch, Fräulein», unterbrach sie Leist mit durchbrechender Heftigkeit. «Herr Junker wollte mich behalten. Er hat für mich getan, was er konnte, er wäre mein Retter geworden und hätte mir das Glück wieder aufgebaut. Aber» – er sprang auf und ballte die Fäuste – «das wollen die Menschen nicht, die, welche – – – niemals erwischt wurden, die Heiligen und Gerechten, die unantastbaren – Mörder!»
Maria überfiel die Furcht, denn die letzten Worte hatte Leist mit Wut in das Grauen der Stube geknirscht. Wankend suchte sie einen leeren Stuhl. Leist glaubte, sie taste nach der Türe. «Gehen Sie noch nicht, Fräulein!» sagte er. «Verzeihen Sie, ich habe Sie erschreckt. Bleiben Sie, gönnen Sie mir noch einen Augenblick die Nähe eines fühlenden Menschen.» Er raffte die auf dem nächsten Stuhle liegenden Kleider zusammen, 15 warf sie auf das Bett und schob Maria den Stuhl hin. «Bitte, Fräulein,» flehte er, «nur einen letzten Augenblick lassen Sie mich noch Ihr gutes Herz fühlen. Das sollen Sie wissen, Ihr Vater hatte die besten Absichten; aber sie haben ihn gezwungen, die Herren Verwaltungsräte.»
«Aber, ich bitte Sie», warf jetzt Maria ein, «was haben Sie denn getan?»
«Sie dürfen es wissen. Eigentlich wissen Sie es schon. Ein paar tausend Franken habe ich im Leichtsinn unterschlagen, habe dafür anderthalb Jahre im Zuchthaus gesessen und bin hernach von Ort zu Ort gezogen, verfehmt und verfolgt von denen, die nicht schweigen können, bis ich endlich hier eine Zuflucht fand. Und glauben Sie mir, ich würde Ihres Vaters Vertrauen nicht mit Undank belohnt haben. O, wenn Sie wüßten, was das heißt, nach so langer Verfolgung endlich wieder einen Funken Vertrauen zu finden! Aber es hat nicht sein sollen. Die Herren haben Ihrem Vater so lange die Verantwortung für sein Wagnis vorgehalten, bis er nachts kein Auge mehr schließen konnte. Zuletzt stand er vor der Frage: Er oder Ich?»
«Aber, was werden Sie nun tun?»
«Ja, was soll ich? – Weiter ziehen von Schwelle zu Schwelle. Ihr Vater wird mir eine Empfehlung mitgeben. ‹Aber›, hat er gesagt, ‹als ehrlicher Mann darf ich denen, die sich auf mein Zeugnis verlassen, nicht verschweigen, was hinter Ihnen liegt.› Sehen Sie, Fräulein, so folgt mir Frau Fama auf dem Fuß, bis sie mich 16 in den Tod gehetzt hat. – Lange treibe ich’s nicht mehr.»
«Verzweifeln Sie nicht, armer Freund! Sie können sich darauf verlassen, daß mein Vater sich für Sie verwenden wird.»
«Das weiß ich, Fräulein, aber Sie sehen ja...»
«Dennoch! Verzweifeln Sie nicht. – Für heute muß ich Ihnen Lebewohl sagen; aber ich werde Sie nicht vergessen. Nehmen Sie wenigstens die Gewißheit mit, daß ein Mensch zu Ihnen stehen wird. Aber versprechen Sie mir, den Kampf nicht aufzugeben!»
Sie streckte ihm ihre Rechte hin. Leist ergriff sie mit beiden Händen und tat, was er noch nie mit eines Weibes Hand getan: er küßte sie mit Inbrunst.
Im Hinausgehen sagte Maria zu der Wirtin: «Machen Sie Licht dadrin in der Stube.» Die Schusterswitwe antwortete mit einem dumm-pfiffigen Blick, den das Fräulein nicht beachtete.
Als in der Frühe des andern Morgens der entlassene Buchhalter den Weg nach der Stadt einschlug, blickte er vom Waldsaume noch einmal nach der Stätte seines kurzen Glückes. Eine Türe war dröhnend ins Schloß gefallen. Am Gartentürchen, aus dem ein schmaler Wiesenpfad nach dem Wald sich heranschlängelte, erschien eine schlanke Frauengestalt. Aber alsbald öffnete sich hinter ihr ein Fenster, und eine harte Stimme gebot ihren flinken Füßen Halt. Einen Augenblick schien das Mädchen sich zu besinnen, dann 17 winkte es dem einsamen Wanderer mit dem Taschentuch und wandte sich zögernden Schrittes dem Hause zu.
Wie ein Traum lag Werner Leist im Sinn, was dieser stille Winkel ihm – vorgespiegelt. Dort schnurrte die Fabrik, die in das Leben so vieler Menschen Ordnung und sichern Wohlstand gebracht. In den Fenstern des Direktorhauses, aus denen eine liebe Stimme ihn von neuem an Menschengüte glauben gelehrt hatte, glitzerte die Morgensonne. Alles ging da drunten seinen zuversichtlichen Gang. Für ihn aber sollte in diesem Talfrieden kein Raum mehr sein. Er konnte das Wort nicht mehr über die Lippen bringen, aber in seine Ohren flüsterte es, während er den ausgewitterten, schlüpfrigen Waldweg entlang stolperte, unablässig: Unstät und flüchtig.
* * *
Ein farbenreicher Herbsttag hauchte seine wohlige Wärme ins Land und warf glitzernde Lichter auf alles, was Glänzens fähig war, so auch auf die Wasserschale im Papageienkäfig der Frau Wendrauch, auf das silberne Kaffeeservice, das ein wohlgesittetes Kammermädchen in tadellos weißer Schürze und Haube soeben geräuschlos in das Rauchzimmer des seligen Herrn hineintrug.
«Sie wissen, wo die Zigarren sind», sagte die alte Dame zu ihrem Neffen, einem großen breitschultrigen Mann. Er stand am Vogelbauer und neckte den gelbschopfigen Kakadu, der unter allen 18 Anzeichen des Aergers mit riesigem Schnabel und verkümmerten Klauen am Gitter herumkrakelte und von Zeit zu Zeit einen markdurchdringenden Pfiff erschallen ließ. Der junge Herr, einer jener Advokaten, die als rechtskundig in unzähligen Verwaltungsräten sitzen und als vertraut mit dem Geschäftsleben in die gesetzgebenden Räte abgeordnet werden, zündete sich eine Zigarette an, während seine in frommer Wohltätigkeit aufgehende Tante mit ihren gepflegten schlanken Händen den Kaffee einschenkte.
«Sehen Sie, da sind die Sachen, wenn Sie sich noch ein wenig orientieren wollen, bevor der Mann kommt.» Sie legte einen Briefumschlag mit dem Aufdruck «Pfarramt St. Matthäi» auf den Tisch. Der Advokat entnahm dem Kuvert einige ziemlich strapazierte, mit Fettflecken und Amtsstempeln reichlich versorgte Papiere. Nachdem er sie rasch durchgangen, sagte er: «Ich gebe Ihnen alles zu, liebe Tante. Gewiß sind solche Menschen übel dran. Was mir aber an diesem da mißfällt und zur Vorsicht mahnt, ist, daß er von seiner letzten Stelle im Emmental so bald wieder wegkam. Der Herr Pfarrer sollte sich dort noch erkundigen, bevor wir etwas für den Mann tun. Wir wollen uns nicht die Finger verbrennen.»
«Das will ich Ihnen nicht zumuten, lieber Henri; aber ich möchte Ihnen doch noch etwas zu bedenken geben. Es handelt sich hier um die Rettung eines jungen Mannes. Man sollte ihm wieder auf den rechten Weg helfen.»
19 Der Herr Advokat blies eine blaue Rauchwolke in das Plaidoyer seiner Tante und fragte: «Sind Sie so sicher, daß es ihm selbst um den rechten Weg zu tun ist?»
«Ich hoffe es.»
Der Neffe nickte belustigt.
«Der Mann ist jetzt vielleicht in einem jener entscheidenden Augenblicke», fuhr Frau Wendrauch fort, «wo man ganz besonders empfänglich ist für jeden geringsten Einfluß, zum Heil oder zum Verderben. Da heißt es bekanntlich: ‹Wer seine Hand an den Pflug legt und siehet zurück, der ist nicht geschickt zum Reiche Gottes.› Wenn nun solch gefährdeter Mensch wirklich vorwärts schaut, so sollten nicht die, welche ihm helfen könnten, immer wieder zurückblicken.»
«Ach ja, liebe Tante,» erwiderte Henri, «das mag wohl gelten für das Himmelreich; aber für den geschäftlichen Verkehr ist Umsicht eine unerläßliche Tugend.»
«Ich will doch hoffen, mein Lieber, daß die Geschäftswelt, in der Sie sich bewegen, und das Himmelreich nicht gar so weit auseinanderliegen.» Herr Henri holte sich eine neue Zigarette, blieb unterwegs vor dem Vogelkäfig stehen und entlockte dem Biest mit dem gelben Schopf einen seiner Lokomotivpfiffe. «Jawohl», sagte der Advokat zu dem Vogel, «ich verstehe schon, Monsieur Cagliostro, höchste Zeit zur Abfahrt, nicht wahr? – Geduld! – Ich gehe. – Also, auf Wiedersehen, liebe Tante.»
«Ja was, Sie wollen schon gehen?»
20 «Ich muß. Habe einen Termin.»
Der Advokat warf einen Blick auf seine Uhr und sagte: «Tausend auch! Ja, es ist höchste Zeit. Also, ich werde mit dem Direktor unserer ‹Elektra› reden; der sitzt, soviel ich weiß, auch im Verwaltungsrat der Junkerschen Fabrik.»
Auf dem Wege zur Stadt begegnete Henri einem hagern, düster vor sich blickenden Mann in abgetragenen Kleidern. Wenn’s der ist, sagte er sich mit Genugtuung, so weiß ich, was ich zu tun habe. Typus des Raffinierten, weil auf Harmlosigkeit eingestellt. – Die fatalste Sorte, weil man nie recht weiß, ob sie des Erbarmens wert sind oder nicht. Der Advokat verlangsamte seinen Schritt und ging erst wieder rascher, als er sich überzeugt hatte, daß der Mann durch das Gartentor der Villa Wendrauch einbog.
Bald darauf saß der stellenlose Buchhalter Leist im Vestibule der Villa. Er betrachtete unablässig den verbeulten Melonenhut, den er auf den Knien hielt. Nicht daß der schöne Raum, besonders der prachtvolle Stahlstich, der den im Meere versinkenden Petrus darstellte, ihm nichts gesagt hätte; aber er fühlte die Blicke der korrekten Kammerjungfer auf sich, die hinter den Tüllvorhängen einer Glastüre freiwillig Schildwache stand. Zum Glück dauerte es nicht lange, bis Frau Wendrauch eintrat. Leist sprang auf, verbeugte sich und wollte sagen, was er sich zurechtgelegt hatte. Aber die Dame schnitt ihm das Wort ab: «Sie sind mir von Herrn Pfarrer 21 Kräutlein empfohlen. Da sind Ihre Papiere. Ich wollte Sie einem Herrn vorstellen, der Ihnen unter Umständen Arbeit verschaffen könnte. Aber sagen Sie mir aufrichtig, warum Sie nicht in Ihrer letzten Stellung verbleiben konnten. Wenn ich Sie weiter empfehlen soll, so muß ich darüber Aufschluß geben können. – Uebrigens, haben Sie zu Mittag gegessen?»
Leist log: «Ja, ich danke, Frau Wendrauch.» Trotz seines fast nie gestillten Hungers wehrte er sich hartnäckig gegen alles, was ihn auch nur im geringsten neben die Bettler gestellt hätte.
«Ich weiß, Frau Wendrauch», fuhr er unverzüglich fort, «daß mir jene Entlassung so sehr im Wege steht. Das ist das Schlimmste an meiner Lage. Aber ich kann Ihnen versichern, daß ich nur deshalb entlassen wurde, weil die Herren von meinem früheren Mißgriff Kenntnis erhalten hatten. Herr Direktor Junker war mir sehr gewogen.»
«Das sieht man aus seinem Zeugnis. – Haben Sie aber seither auch redlich versucht, irgendwo anzukommen? An Ihrer Stelle würde ich mit der bescheidensten Arbeit vorlieb genommen haben.»
«O, Frau Wendrauch, wenn Sie wüßten, was alles ich versucht habe! Aber Sie machen sich keinen Begriff davon, wie schwer es ist.»
«Man sollte wirklich denken, in unserer Landeshauptstadt mit ihren zahlreichen Bureaux... Sehen Sie» – Frau Wendrauch wies durch das offene Fenster nach der Stadt – «soweit 22 man hier sieht, steht ein Amtsgebäude neben dem andern. Da sollte doch...»
«Gewiß, aber über die Schwelle all dieser Gebäude führt nur die Beglaubigung eines tadellosen Leumundes. Mancher Chef hat mir mit freundlichen Worten erklärt, daß er die Schwierigkeit meiner Lage sehr wohl verstehe, daß er mich aufrichtig bedaure, daß er an meine gute Vorsätze glaube, daß er aber eine ganze Liste von Bewerbern in seiner Schublade liegen habe. ‹Und das werden Sie selbst einsehen›, heißt es dann gewöhnlich, ‹daß doch zuerst die Vertrauenswürdigsten berücksichtigt werden müssen›. – O, es gibt», so schloß Leist in bitterm Ton, «es gibt unglaublich viele vertrauenswürdige Menschen. Es wird überall gejammert über die Verdorbenheit der Welt, und doch wird die menschliche Gerechtigkeit nicht fertig mit Tugend belohnen. – Ich kann Ihnen sagen, verehrte Frau, wenn es jemandem schwer fällt, die Welt zu verstehen, so sind wir es, die für ihre Sünden gebüßt haben und nun als gerechtfertigt dastehen sollten. Und dann soll unsereiner wohl gar noch an einen gerechten Gott glauben?»
Leist entging der Ausdruck frommen Schrecks nicht, denn seine letzten Worte auf das gütige Gesicht der Dame gerufen hatten.
«Ich kann Ihre Gefühle verstehen», antwortete sie. «Aber den Glauben an Gott dürfen Sie trotzdem nicht fahren lassen. Rufen Sie Gott an, und er wird Ihnen helfen. – Vor allem freilich sollten Sie arbeiten können. Es tut mir 23 leid, daß ich Ihnen jetzt nicht die Arbeit verschaffen kann, die Ihren Kenntnissen und Gaben entspricht. Aber wenn es Ihnen wirklich darum zu tun ist, ein neues Leben anzufangen, so will ich Ihnen den Weg ebnen helfen. Melden Sie sich heute noch in der Anstalt für Arbeitslose. Sie werden da auf meine Empfehlung...»
Leist trat einen Schritt zurück, machte mit der Hand eine abwehrende Bewegung und sagte mit einem mitleidigen Lächeln: «O, Frau Wendrauch...»
«Arbeit ist nie entehrend, auch die niedrigste nicht», wandte Frau Wendrauch mit einem leichten Anflug von Entrüstung ein.
«Gewiß nicht», verteidigte sich Leist. «Lebten wir in Amerika, wo kein Vorurteil die Menschen nach der Art ihres Broterwerbes abstuft, so würde ich mit Freuden Holz hacken, aber hier...»
«Auch das kann ich Ihnen nachfühlen. Aber wenn Ihnen geholfen werden soll, so müssen Sie vor allem Buße tun, den falschen Stolz überwinden und einen tatkräftigen Beweis leisten, daß es Ihnen um ein neues Leben zu tun ist. – Anders kann auch ich Ihnen nicht helfen.»
Diese mit fester Entschlossenheit gesprochenen Worte schienen Leist zum Einlenken gebracht zu haben. Wenn er aber auf die erneute Aufforderung, sich in der Arbeitshütte zu melden, antwortete: «Nun denn, ich will’s versuchen», so geschah das mehr aus dem Wunsch, sich nicht in weitere, auf sein Gewissen eindringende Erörterungen einlassen zu müssen. Nein, den Kampf 24 um eine seiner Bildung entsprechende Existz gab Leist noch nicht auf. Mit Anweisungen auf Verköstigung und Obdach in der Gesellenherberge die er auch mit einsteckte, um die wohlmeinende Dame nicht zu verletzen, verließ er höflich dankend, das Haus.
Noch unschlüssig, was er nun vorerst tun wolle, stieß er vor dem Gartentor auf einen Landjäger, der ihm im Vollgefühl seiner Autorität und mit dem Bewußtsein, der wegen ihrer oft mißbrauchten Wohltätigkeit bekannten Frau Wendrauch einen Freundschaftsdienst zu leisten, die Papiere abforderte. Mit sicherem Instinkt hatte der Polizeimann im Nu herausgefunden, wen er vor sich habe. «Was hatten Sie in diesem Hause zu suchen?» fragte er barsch. Durfte Leist ihm mit der Gegenfrage antworten: «Was geht das Sie an?» – Bis zu welcher gesellschaftlichen Rangstufe herunter ist man vor solcher amtlichen Anrempelung sicher? Auf welcher Stufe stand er? – Ja, er wagte die Frage. Und der Landjäger regte sich gar nicht darüber auf. «Kommen Sie mit!» befahl er. Bereit, den Abgefaßten beim ersten leisesten Fluchtversuch anzupacken, schritt er neben ihm her zur Haustüre und hörte dort die Kammerjungfer ab. Diese kannte das Verfahren und folgte der Stimme ihres Herzens. «Der Herr», sagte sie schlagfertig, «ist von Herr Pfarrer Kräutlein hierher geschickt worden. Es ist alles in Ordnung.»
«Rufen Sie Frau Wendrauch!» befahl der Landjäger.
25 «Die darf man jetzt nicht stören. Wenn ich Euch nicht genug bin, so kommt ein andermal wieder.»
Was wollte der Gendarm weiter? Mit Gebrumm gab er Leist die Papiere zurück, nachdem er sie nochmals mit unnötiger Sorgfalt durchgangen, und ließ ihn gehen. Dem Arbeitslosen war bei dem Auftritt zweierlei aufgefallen: erstens, daß er von der Magd noch als «Herr» eingeschätzt wurde (er ahnte nicht, daß der treue Hausgeist sämtliche Inhaber steifer Filzhüte als «Herren», die mit weichem Filz bedeckten als «Männer» einrangierte), und dann, daß die Polizeigewalt ihre Wirkung vor dieser weißen Schürze verlor. – Hm hm.
Beinahe hätten diese Wahrnehmungen den Gedemütigten erheitert. Aber nur allzu rasch geriet er wieder ins Erwägen der wohlgemeinten Räte der Frau Wendrauch. Nein, das hatte ihm die polizeiliche Anrempelung neuerdings gezeigt, an Prestige durfte er nicht das mindeste mehr preisgeben. – Holzhauen in der Arbeitshütte oder gar Hadern sortieren! Schon die Gesellschaft, die er dort träfe, brauchte nicht zu meinen, er zähle sich zu ihr. Aber auch Kost und Logis in der Herberge. – Ja, wenn er dort allein wäre! – Viel lieber verschwinden und den Versuch des Auftauchens an einem unbekannten Ort noch einmal wagen.
Eine Woche später erkundigte sich Frau Wendrauch über die weiteren Schicksale des Buchhalters. Weder in der Gesellenherberge noch in 26 der Arbeitshütte wußte jemand etwas von einem Werner Leist. Dafür hatte ein anderer die Gutsprache von Frau Wendrauch vorgewiesen und benützt. Er behauptete, sie einem Unbekannten in der Wirtschaft zur Ilge abgekauft zu haben. «Einer mehr», seufzte die gute Frau resigniert. Und von ihrem Neffen mußte sie sich aufziehen lassen: «Hab’ ich’s nicht gesagt, Tante? – Sehen Sie! Ein Gauner. Der gute Herr Pfarrer ist auf den Leim gegangen.»
Ueber die kahlen Waldwipfel des Bucheggberges pfiff ein eisiger Westwind, und im Laternenschein funkelten die Diamanten der Schneedecke, als der Melker des Grasbogenhofes mit dem Hüterbuben frühmorgens in die Futtertenne trat.
«Du,» sagte nach einer Weile der Bub, «was hört man eigentlich da droben? Es tönt wie Schnarchen.»
Sie horchten auf.
«Da schläft einer», meinte der Melker. «Meiner Seel’, da liegt einer im Heustock. – Geh’, steig’ hinauf! Ich will dir die Laterne hochhalten.»
Der Hüterbub bekundete gar keine Lust zu dem Unternehmen.
«Ei, du Hosensch...! Wagst’s nicht?» spottete der gabelbewehrte Schwingerkönig.
«Geh’ du selber!» sagte der Junge.
Einen Augenblick überlegte der Melker. Dann sagte er: «Wir müssen außen herum, man darf nicht mit der Laterne die Bühnenleiter hinauf.» 27 So trotteten sie um die Scheune herum und traten über die Einfahrt auf die Bühnenbrücke. Der Melker hielt die Laterne über das Geländer und bemerkte alsbald in dem duftenden Futterstock ein kleines Loch. Von dort her scholl das Schnarchen.
«He da!» brüllte er hinunter. «Auf! Es tagt. Wer bist?»
Unten bewegte sich das Heu kaum merklich, worauf der Hüterbube ein zerbrochenes Flegelscheit, das gerade dalag, hinunterwarf. Jetzt rührte sich’s, und ein städtisch gekleideter Mann setzte sich aufrecht, mit gekniffenen Augen nach der Laterne blickend.
«Mach’, daß d’ raus kömmst, Bürschli!» befahl der Melker.
Der Uebernächtler suchte nach seinem Hut, streifte sich das Heu von Haupthaar und Kleidern und tappte, halb kriechend, gegen die Brücke, getraute sich aber dann augenscheinlich nicht weiter.
«Sese!» trieb der Melker, «sollen wir dich heraufholen?»
«Wie soll ich da hinauf?» fragte der Uebernächtler.
«Wirst wohl wissen, wie du hinuntergekommen bist.»
«Hinunter ging’s eben leichter. Wenn ihr mir unten leuchten wollt, steig’ ich ins Tenn hinab.»
«Meinetwegen.»
Der Melker und sein Trabäntlein schlurften wieder um die Scheune herum in die Tenne. Wie 28 die Bilder von Titanen huschten ihre Schatten an den Wänden herum. «Seh, wo bleibst? Mach’, daß es rückt!» befahl der Stallgewaltige. Aber es rührte sich nichts mehr. Man hörte nur das Schnaufen der Kühe und das Sausen des Sturmwindes – des Windes, der einem über die allmählich tagenden Schneefelder davoneilenden, schlotternden Manne durch die fadenscheinigen Kleider pfiff.
Im hintersten Winkel eines Wirtshauses an der Straße von Büren nach Solothurn saß schon seit mehr als einer Stunde Werner Leist. Von der Aufwärterin als Geschäftsreisender taxiert erfreute er sich aufmerksamer Bedienung. Viel zu laufen gab es übrigens nicht. Hinter einem Zeitungsblatt verborgen, nippte er sehr sparsam an seinem längst nicht mehr dampfenden Grog. Wie geschickt aber der «Reisende» sein Zeitungssegel setzte, so vermochte er auf die Dauer doch nicht sein Gesicht den beiden Männern zu verbergen, die an einem andern Tisch ihren Schnaps mit ebenderselben Langsamkeit schlürften und sich mit Augenzwinkern über etwas zu verständigen schienen. Plötzlich erhoben sich die beiden und setzten sich, ohne lang zu fragen, dicht zu Leist.
«Salut!» sagte der eine frech vertraulich zu dem Einsamen. «Hilfst einen Jaß klopfen, he?» – Und als Leist, ohne Antwort zu geben, sich wieder in seine Zeitung vertiefte, gleichzeitig sein Glas näher ziehend, fuhr der zudringliche Geselle fort: «Kennst mich doch noch? Oder nicht?» 29 Und seinen Schnapshauch über Leists Gesicht ergießend, ergänzte er ganz leise: «Weißt noch, wie wir in Witzwyl Erdäpfel gewogen haben? – Bist wohl seither auch noch nicht z’Sädel gekommen, he? – Hast mir keinen Stumpen?»
«Da», sagte Leist trocken und streckte dem unwillkommenen Strafhausgefährten eine Zigarre hin. «Aber jetzt laß mich in Ruh’, bin nicht zum Spiel aufgelegt.»
Die zudringlichen Kerle blieben einige Minuten still, dann fingen sie an zu schwätzen und taten, als gehörte Leist zum Kleeblatt, erzählten nichtssagende Erlebnisse, erfreuten sich an faden Witzen und schmutztriefenden Zoten.
Leist verdroß die Gesellschaft. Ein Gefühl des Ekels überkam ihn. Nein, nein und abermals nein, rief es aus seinem Herzen, in diese Umgebung gehörst du nicht. Mache dich auf, fliehe! – Ja, fliehen! Wohin? Hier war es doch warm. Der unstät Umhergetriebene wußte noch nicht, wo er diese Nacht sein Haupt hinlegen sollte. Schon mehrmals hatte die Versuchung ihn beschlichen, den sympathischen Eindruck, den er offenbar auf die lockere Kellnerin gemacht, auszunützen, aber dagegen lehnte sich etwas in ihm auf. Er wußte, daß das eine Treppenstufe niederwärts geworden wäre, die er nicht mehr zurückzugewinnen vermocht hätte. Und dieses Etwas, das sich in ihm sträubte, hing es nicht im tiefsten Grunde zusammen mit – Maria, deren teilnehmender Blick ihm in jeder einsamen Stunde begegnete? Ja, um ihretwillen will ich 30 mich noch wehren, den Kampf noch nicht aufgeben. – Du Narr! tönte es da aus einem schwarzen Winkel seiner Seele. Bildest du dir wirklich immer noch ein...? Hast du so sehr deine wahre Lebenslage verkannt? So friere denn um dein Trugbild!
«Noch ein Grog?» Die Kellnerin stand mit einladenden Aeuglein so dicht neben ihm, daß er ihre Ausstrahlung fühlte. Ein Fiebern lag in der likörgewürzten Luft. An den Fenstern heulte die Bise um Einlaß. – Da sah Leist, wie seine Tischgenossen ihn und das Mädchen beobachteten und sich zublinzelten.
«So bringt mir noch ein Glas!» sagte er, nur um das Weib möglichst rasch von sich wegzubringen. «Maria», schrie es aus seines Herzens Tiefen.
In diesem Augenblick ging die Türe auf. Ein Schuß Bise fuhr bis an die Rückwand. Zwei dampfhauchende Männergestalten traten ein und verlangten einen Zweier Härdöpfler. «Was will man anders bei der Hundekälte?» sagte der eine. Stehend und stampfend schlürften sie den Feuertrank.
Nach einer Weile stieß der eine den andern an und sagte – es sollte leise sein, geriet aber etwas zu laut: «Du, das ist meiner Seel’ der Vagant, der vorgestern in unserm Heustock gelegen hat.» Und auf den verwunderten Blick seines Gefährten ergänzte er: «Der dort mit der Zeitung.»
Leist kam erst jetzt zum Bewußtsein, daß er die Zeitung wieder in der Hand hielt. Bildete 31 er sich ein, daß aller Augen auf ihm hafteten, oder war es wirklich so? – Seine Tischgenossen jedenfalls – da war nichts mißzuverstehen – hatten ein übereinstimmendes Grinsen in den Mundwinkeln.
Vagant! hatte der Mann gesagt.
Die Kellnerin war der Geächtete nun los.
Sobald die beiden Bauern wieder draußen waren, sprang Leist auf, bezahlte seine Zeche und rannte gesenkten Hauptes in den schneidenden Nachtwind hinaus. Ziellos stürmte er unter dem flimmernden Sternenhimmel die Straße entlang. Dort ragte ein schwarzer Wald über den schneeigen Hügelrücken. Daß ich dort drin verschwinden könnte! Aber ganz. In irgend etwas hinein, was mich ganz verschlänge. Pechschwarzes Wasser oder was immer. Aber begraben sein, dem verfluchten Menschenzeug entrissen. Vernichtet. Gott! – Maria, gibt es einen Gott, einen erbarmenden? – Tun Sie vor allem Buße! – O Herrgott! Buße! – Tun Sie Buße! – Hohngeheul des Nordwindes. Vagant, tun Sie Buße! – Hörst du? Vagant! – Herr Leist! – Vagant!
Vor einem Bauernhause, das behäbig unter seiner Schneehaube an der Straße schlummerte, fletschte ein Hund unter hässigem Gebell die Zähne. – Recht so, Ordnung muß sein! Sie sollen selig schlummern, die Gerechten, welche die Summe ihrer Sünden in so kleine Krümchen zu zerbröseln verstunden, daß die Zähne des Strafgesetzgeräders sie nirgends zu fassen vermochten.
32 Plötzlich kam es dem nächtlichen Wanderer in den Sinn, daß er einer Stadt zueile. Dort schwebte der Schein eines Lichtermeeres über dem Wald? Solothurn? – Gibt es dort nicht Klöster? – Wenn man so in einem Kloster verschwinden könnte und die Welt nie mehr sehen müßte! – Das waren kluge Menschen, die so etwas erfanden. Die entgingen dem Vagantentum. – Buße. – Tun Sie B...!
Leist war, als hätte jemand nach ihm gerufen. Er blieb stehen, blickte sich um und sah zwei Menschen hinter sich herlaufen. Was wollten die? – Noch war er nicht entschlossen, ob er fliehen oder mit ihnen anbinden sollte, als er sich zwischen den beiden Tischgenossen von der Schenke sah. In frech angemaßter Kameradschaft nahmen sie ihn in die Mitte. Ob er auch nach Solothurn hinein wolle, fragten sie. Wenn er’s nicht gar so eilig hätte, wüßten sie ihm dort zu warmer Unterkunft zu verhelfen. Leist, die Brust voller Verwünschung, gab keinen Laut von sich. Und so stürmten die drei wohl eine Viertelstunde weit nebeneinander her. Die Straße lief auf einem Damm, vom Winde scharf überfegt. Da fühlte Leist plötzlich den Fuß des einen Nebenmannes vor seinem Schienbein. Er stolperte, schlug auf die eisharte Straße hin und kollerte über den Damm hinab. Sein Hut flog weg, und ein heftiger Schlag traf ihn auf den Hinterkopf. Ein zweiter Hieb, und der Ueberfallene wußte nichts mehr von sich.
* * *
33 Helles Taglicht blendete den Erwachenden. Wie in Betäubung starrte Werner Leist an eine weiße Wand. Weiß, kahl – mitten drin ein dunkler Gegenstand – ein Kreuz – ein Kruzifix – ein Jammerbild des Heilandes. – Bin ich nun doch in einem Kloster? – Ein brennender Schmerz brachte den Träumenden zum klaren Bewußtsein – ein rasender Schmerz. Von den Füßen herauf rieselte es durch den ganzen Leib. – Auch die Hände brannten, das Gesicht. Der Kopf war wie in Zement gegossen – ah – er steckte in einem Verband, auch die Hände. Nach dem Gefühl auch die Füße. Wieder verfiel er in Dämmern, blickte starr auf den Gekreuzigten. Ja, der auch, der hatte die Menschen erfahren. – Dazu war er schuldlos. Es gibt also noch Schlimmeres. Schuldlos und gekreuzigt. – – Der Gedanke machte ihn still. – Ein leises Geräusch weckte den Kranken. Etwas Großes, Dunkles, Lebendiges kam heran. Er stieß einen Schrei aus, erwachte und sah eine barmherzige Schwester neben sich.
«Wo bin ich?»
«Seien Sie ruhig,» sagte sie, «Sie sind im Kantonsspital.»
«Wieso? – Wo?»
«In Solothurn. Man hat Sie heute früh mit erfrorenen Füßen und Händen hierhergebracht. Sie sind wohl angefallen worden?»
«Angefallen?» – Leist erinnerte sich der herumhuschenden Lichter jener Stallaterne. Er sah die beiden Gestalten auf der Bühnenbrücke; 34 aber weiter kam er mit seinen suchenden Gedanken nicht. Ihn fesselte der aufwallende Schmerz der Glieder. Wie ein Strom von glühenden Nadeln stach es.
– – – – – –
Wochenlang hatte er dagelegen in Qualen Leibes und der Seele. Denn wie gut sie ihn auch pflegten, es klang, ihnen unbewußt, doch immer ein wenig Herablassung durch. – Erbarmen mit dem Vagabunden. Wie weh tat das!
Polizeibeamte waren schon in den ersten Tagen seines Krankenlagers gekommen und hatten ihn abgehört. Nach und nach hatte Leist die Vorgänge jener Unglücksnacht sich wieder zusammengefügt. Er konnte seinen Strafhausgenossen, den mutmaßlichen Täter, beschreiben. Was die Nachforschung ergeben würde, war ihm gleichgültig. Er fühlte weder Mitleid noch Haß gegen die Strolche. Fast kam ihn das Lachen an, wenn er daran dachte, daß die Räuber in seinen Taschen kaum noch ein paar rote Rappen gefunden haben konnten.
Der Schnee hatte sich in die blauen Schluchten des Jura zurückgezogen, und ein Frühlingsahnen schlich durch die braunen Wälder, als Leist mit seinen vernarbenden Füßen zum erstenmal durch den Garten humpeln durfte. Er war der Genesung nahe. – Das war gut. Aber jetzt erhob sich wie ein drohender Schemen die Frage: Was nun? Störenweise kam sie, wie seinerzeit die Schmerzen seiner Wunden. Einmal fragte er den Arzt, was nun aus ihm würde. «Sie 35 werden nächstens in Ihre Heimat geschickt, nach Marchwyl», war die Antwort.
Da schrie es tief aus seiner Seele auf. In meine Heimat! – Das soll heißen: meine sogenannte Heimatgemeinde, wo niemand mich kennt, wo man nur von dem entlassenen Sträfling weiß, wo sie mich... Herrgott! Nein, das nicht. Nein, nein. Ich habe keine Heimat. Schützt mich vor diesen Menschen! – Sechs Fuß tief unterm Rasen, da ist meine Heimat.
Unabwendbar kam der Tag der Entlassung heran. Man gab dem Genesenen Zehrgeld. Am andern Morgen sollte ihn ein Wärter zum Bahnhof bringen. Man erlaubte ihm, heute noch zum Barbier zu gehen, um sich den häßlichen Bart abnehmen zu lassen, der ihm während der Krankheit zwischen den Frostbeulen entsprossen. Er ging. Aber er ging auch zum Waffenschmied nebenan und kaufte sich einen Revolver, den billigsten – wenn er nur ein einziges Mal funktionierte! Dazu ein Päckchen Patronen.
Dann kam der Morgen. Das Schluchzen niederkämpfend, nahm er Abschied von den guten Schwestern.
Er saß im ostwärts rollenden Eisenbahnzug. Daß er aber nicht bis nach Marchwyl reiste, stand ihm so fest wie die Tatsache, daß er von Solothurn wegfuhr. Schon auf der zweiten Station stieg Leist aus. Er lief, so schnell es ihm die verstümmelten Füße erlaubten, in die zum Leben erwachende Landschaft hinaus. Bald bog ein Seitenweg ab gegen einen Wald hin. Dorthin 36 schritt der Flüchtling. Dort, in des Waldes Dunkel... Er lief, lief, den Tannenreihen entlang. Die wohlgesetzten Bäume, die sorgfältig angelegte Straße, die Telegraphenleitung – alles Dinge, welche die zum produktiven Leben zugelassenen Menschen geschaffen – dienten ihm, dem Verfehmten, nur noch zur Flucht aus dem Leben. – Er auch, er hatte einst auch dienen und nützlich sein wollen, war gestrauchelt, gefallen, hatte wieder gewollt, aber Fama, die verfluchte...
Ein knirschender, lästernder Laut entrang sich seinem Munde. – Wo kommt die erwünschte, ganz einsame Stelle?
Nach einer Weile stand er still, sah sich um. Die Tannen rauschten. Nein, es ging ja kein Wind. Aber es rauschte leise, weich und gleichmäßig wie die erzählende Stimme einer Mutter. Das war ja die Stimme der – Emme! Er lief weiter. Richtig, da lichtete sich der Wald. Eine einsame Wiese voll Schlüsselblümchen lag vor ihm, und jenseits blinkten eilende Wellchen durch den zart ergrünenden Schachenwald. – Die Emme flüsterte von Leben, sie sang von Maria! O Maria! – Noch eine Hoffnung, ferne, ferne, aber doch eine lebendige Hoffnung. – Hatte nicht die Erinnerung an Maria ihn dort in der schnapsduftenden Schenke vor dem Sturz in die Gemeinheit bewahrt? – Ich will der Emme entlang wandern, hinauf. Vielleicht, vielleicht, bekomme ich sie zu Gesicht, die Reine, Rettende!
Die Vögel zwitscherten im Sonnenflimmer der Erlenbüsche. Leist verspürte Lust, sein Mordinstrument 37 in den Fluß zu werfen. Aber eine Stimme flüsterte ihm zu: «Und wenn du sie nicht mehr findest? Wenn sie nichts mehr von dir wissen will?» Und die Waffe blieb in der Rocktasche.
Es lag aber so viel Lebensdrang in der Luft, daß der kämpfende Wanderer doch mit etwelchem Mut weiterschritt. Wo er hinsah, sproßte etwas zwischen Wurzeln und Steinen, und aus allen Stämmen guckten blutrote Knösplein. Alles fing im Kleinsten an, und er wußte, daß es groß und fruchtbar werden würde. Vor Monaten hatte ihm eine gute Seele in einfältiger Wohlmeinenheit gesagt: «An Ihrer Stelle würde ich mit der geringsten Arbeit vorlieb nehmen.» Die Gründe seiner Ablehnung galten noch jetzt, aber inzwischen hatte das Leben manches in ihm zerbrochen. Um einen Preis wollte er doch eigentlich das Schlimmste über sich ergehen lassen: um die Nähe von – durfte er’s wagen, den Namen auszusprechen? Jawohl. Lispelnd erst, dann laut sagte er: «Maria». Da war’s, als wäre eine Knospe in seiner Seele aufgesprungen, als füllte sich’s um sein zerschlagenes Ich herum mit Leben weckendem Duft. Rascher, mutiger schritt er aus.
In den ersten Nachmittagsstunden kam er in die Hauptstraße des Städtchens am Fuße der altersgrauen Burg. Sein humpelnder Gang hatte trotz der Müdigkeit etwas Sicheres. Sein Entschluß war gefaßt. Er wollte als gemeiner Arbeiter dem wackern Direktor Junker seine Dienste anbieten, oder, wenn das nicht ging, sich 38 als Handlanger in der Nähe verdingen. Wenn’s nur unter Junkers und seiner Tochter Augen geschehen konnte.
Da fiel ihm ein Herr auf, der vor ihm herging. Es war einer jener Verwaltungsräte, die ihn aus der Fabrik vertrieben hatten, ein blühender, seiner Sache sicherer Mann, kaum ein paar Jahre älter als er selbst. In Leist flammte es auf, wie wenn Luft in verhaltene Glut fällt. Nieder mit dem unheilvollen Drang! befahl er sich. Fest! Fest! Er überholte den behäbigen Herrn im Pelzkragen und atmete schon wieder etwas freier.
Am Ende der Gasse betrat Leist ein Restaurant. Er war recht müde und hungrig. Kaum hatte er sich bei Bier und Wurst niedergelassen, so betrat der Herr Verwaltungsrat ebenfalls die Schenkstube. Ohne sich umzusehen, ging er an dem hinter der Türe sitzenden Leist vorbei, bestellte sich seinen Kaffee und fragte nach dem Telephon.
«Dort hinter der Rollwand, bitte!» sagte die Kellnerin.
Der Herr verschwand hinter der Rollwand und verlangte eine Nummer. – Hatte Leist recht verstanden? Die Nummer tauchte aus seinem Gedächtnis auf, und er horchte, was ihm um so leichter wurde, als alle Gäste aus Rücksicht oder Neugier ihre Gespräche unterbrachen. Nun hörte man folgendes Gespräch:
«Remser ist hier. Ist Herr Direktor Junker dort? Ach so! Wann kommt er zurück? Aha! 39 Sind Sie’s, Maria? (Er sagte nicht: Fräulein Maria.) Ei der tausend, das trifft sich fein. Hören Sie, ich komme in einer halben Stunde mit dem Auto und hole Sie ab. Einen solchen Frühlingstag läßt man nicht unbenützt. Verstehen Sie? Also? Was?... Papperlapapp! Was sollten Sie versäumen! Dafür will ich gutstehen. Sapristi, werde doch noch etwas zu sagen haben. Uebrigens (das sagte er gedämpft) passen Sie nur auf und seien Sie froh, fortzukommen. Der Dingsda ist im Anzug, wissen Sie, da der nette Buchhalter, der Schwindler, den wir letztes Jahr aus der Fabrik geschmissen haben. Was? – – Machen Sie keine schlechten Witze. Was würde Papa sagen, wenn er das hörte! Also, abgemacht, ich komme!»
Was während dieses Gesprächs in der Seele des Heimatlosen vor sich ging, glich dem Einsturz einer Brandruine, aus welchem ein wolkiger Wust von Rauch, Staub, Flammen und Funken in die Luft wirbelt. Blitzartig jagten sich seine Empfindungen von stürzender Enttäuschung zu verzweifeltem Haß. All die warnenden Stimmen, die er wieder und wieder vernommen, waren übertönt vom Schrei der Rache. Ein gräßlicher Entschluß überrumpelte jeden Widerstand. – Wenn ich denn wirklich auf ein menschenwürdiges Leben verzichten muß und von der Gesellschaft in endgiltige Acht gestoßen sein soll, dann sollst du mit in den Abgrund, Mörder meiner Hoffnung! Die letzten Worte waren auf seinen Lippen hörbar geworden. Ehe noch jemand 40 begriff, was geschah, war er, schäumend vor Wut, aufgesprungen und hatte, an allen Gliedern zitternd, seinen Revolver auf den hinter der Rollwand Hervortretenden abgefeuert, ohne ihn tödlich zu treffen. Verwundet streckte der Herr seine Hände zur Abwehr und stürzte, die Rollwand mit sich reißend, zu Boden. Gellende Schreie durchrissen das Gepolter, Stühle, Tische stürzten, Geschirr klirrte.
Einen Augenblick trat Stille ein, unterbrochen von Stöhnen. Niemand rührte den wild vor sich hinstarrenden Leist an. Er stand wie betäubt in einer von den Sonnenstrahlen schräg durchleuchteten Staubwolke. Erst nach einer Pause allgemeiner Lähmung fühlte er sich von eisernen Fäusten gepackt und in eine Lache von Blut und verschütteten Getränken geworfen. Fußtritte, Stockschläge hagelten auf ihn nieder. Er wurde fortgeschleppt, während ihm unter einem betäubenden Wirrwarr von Geräuschen und Schatten die Sinne schwanden.
* * *
Abermals brachen aus altersrissigen Stämmen die kleinen blutroten Knospen. Auf der Schattenseite des Tales freilich fröstelten noch die kahlen braunen Besen der jungen Buchen, und in tiefeingeschnittenen Bachrunsen hingen sogar noch verlorene Schneeflecken. Aber jenseits der Emme, wo der Sonnenschein selbst an den kurzen Lenztagen sich länger auf den waldigen Kuppen verweilt, lag – wenn nicht das wintersatte 41 Auge sich täuschte – etwas wie ein grünlicher Hauch auf dem Schachengebüsch. Der Fluß gurgelte dumpfer und schwoll mit jedem Tag um ein Kleines höher an.
Da saß eines Tages, kurz nach dem Mittagsgeläute, Frau Direktor Junker an ihrem Wohnzimmerfenster und stichelte an einer Handarbeit. Von Zeit zu Zeit schielte sie nach ihrem Mann, der, die Hände in den Hosentaschen, in langen Schritten auf und nieder ging. Der Duft einer kräftigen Suppe durchdrang das kleine Haus, und man wartete auf die Tochter, die mit Ungeduld erwartet wurde. Aber nicht des Hungers wegen war man ungeduldig, sondern weil da ein Brief auf dem Tische lag, der die Neugierde herausforderte. Er war an Fräulein Junker adressiert und trug als gedruckten Kopf die Aufschrift «Strafanstaltsverwaltung Thorberg». Wohl schon zehnmal hatte Direktor Junker den Brief in die Hand genommen, betrachtet und wieder auf den Tisch geworfen. Die Frau Mama stichelte und stichelte an ihrem Linnenzeug und folgte dabei einer wunderlichen Gedankenreihe, die immer wieder auf einen gewissen Herrn Remser führte, der seit Jahren ein lebhaftes Interesse für Fräulein Maria Junker an den Tag legte, ohne von ihr je auch nur einen dankenden Blick zu empfangen. Nur Spott hatte sie in ihren Mundwinkeln, wenn sie etwas von dem «Remserle» sagte. Aber just darum, dachte Frau Junker. Grad so fängt es ja oft an. Zur Schau getragener Spott täuscht am wirksamsten über heimliche Zuneigung 42 hinweg. Daß der spöttische Zug im Gesicht ihrer Tochter zuweilen ins Verächtliche überging, hatte sie nicht bemerkt und noch weniger, daß dies jedesmal eintrat, wenn mit irgend einem Wort an die Sühne jenes Ueberfalls erinnert wurde, dessen Opfer Herr Remser vor drei Jahren geworden. Jetzt erinnerte sie dieser Brief wieder daran, und das warf einen unangenehmen Schatten in ihre Gedanken. Eben gelüstete es Frau Junker, den Brief gegen das helle Sonnenlicht zu halten, da ging die Haustüre, und ein paar Sekunden darauf trat Maria, einen Hauch frischer Luft auf dem Gesicht, in das Zimmer.
«Was bekommst denn du da für interessante Briefe?» fragte Papa Junker.
«Einen Brief?» Nach einem kurzen, fruchtlosen Versuch, Gleichgiltigkeit vorzutäuschen, riß Maria den Umschlag auf, und je mehr sie die neugierigen Blicke ihrer Eltern auf sich haften fühlte, desto mehr Zeit nahm sie sich zum Lesen des langen Schreibens. Da riß der Mutter die Geduld. «Kommt zum Essen!» befahl sie. «Wir haben wahrlich schon lange genug auf dich gewartet.» Man setzte sich zu Tisch, und nun legte Fräulein Maria mit ihrer Selbstbeherrschung dem Elternpaar eine neue Geduldsprobe auf, denn sie schob den Brief, ohne ihn ganz gelesen zu haben, unter den Teller und aß, als wäre gar nichts vorgefallen. Nach der Mahlzeit verschwand sie mit ihrem Briefe. Das verdroß die Eltern so, daß sie nun eins wurden, mit keinem 43 Ton mehr danach zu fragen. Maria sollte sich nicht einbilden, man könne vor Neugier nicht warten. Und daß sie das Geheimnis nicht lange würde bewahren können, war ja sicher.
Sie bewahrte es aber doch und war an den folgenden Tagen sichtlich bemüht, die Aufmerksamkeit der Eltern davon abzulenken. So kam der Sonntag, und dieser brachte den Besuch des Sohnes, der an der Universität in Bern Medizin studierte. Es war durchaus kein Spazierwetter. Ein richtiger Spielverderber, jagte ein unartiger Westwind bald Schneeflocken, bald Regenschauer durch den Sonnenschein, der den Menschen zu Diensten sein wollte. Vernünftige Leute würdigten die Behaglichkeit des Kachelofens. Aber diese zwei, Maria und Alfred, zogen ihre Kapuzen über und liefen die Kreuz und die Quer im Talboden herum. Daß sie das Geheimnis des Briefes aus der Strafanstalt besprachen, ließ sich leicht erraten, und Mama war sehr verschnupft über diese Art, den Sonntag zu verbringen. Dreimal nacheinander hatte Alfred den Sonntagsbesuch im Elternhaus unterlassen, und nun hatte man wiederum nichts von ihm. Kein Zweifel, die beiden konspirierten, und da sie darüber keinen Ton verlauten ließen, ging es offenbar gegen Wunsch und Willen der Eltern. Aber wo gut geartete Kinder geschlossen den Eltern gegenüberstehen, hinkt deren Widerpart von Anfang an.
So fühlte sich Maria, als sie mit Herrn Junker ihren Bruder zur Station begleitet hatte und 44 nun fest in des Vaters Arm eingehakt, gegen Wind und Wetter kämpfend, heimschritt, durchaus nicht geniert. Eine getrübte Laune hatte sie nach ihrem heutigen Benehmen bei Papa zum mindesten erwartet. Statt dessen schien er recht zugänglich gestimmt zu sein. Ob das auch in Mamas Nähe vorhielt? Also los!
«Ich bin dir immer noch Aufschluß schuldig über den Brief des Strafhausdirektors», sagte Maria, sich noch enger an den Vater schmiegend. Sie sprach hastig, indem sie gleichzeitig den Schritt verlangsamte. «Du wirst dir’s übrigens schon zurechtgelegt haben, daß es sich um den unglücklichen Leist handelt, der in einigen Wochen entlassen wird und natürlich nicht weiß, was nun aus ihm werden soll. Der Direktor hat ihn gefragt, ob er denn auch gar niemanden in der Welt draußen hätte, der ihm zu einer Existenz verhelfen könne. Da habe er gesagt, wenn irgendwer noch eine Spur von Herz für ihn hätte, so wäre ich es. Sei nicht unwillig, Papa, aber weißt du, einem solchen Hilferuf kann ich mein Ohr nicht verschließen.»
«Aber Kind...»
«Sei nicht böse, Papa, ich...»
«Ich möchte nur wissen, warum du daraus solch ein Geheimnis machst. Habe ich dir denn je meine Hilfe versagt, wenn du ein gutes Werk tun wolltest?»
«Sei mir doch ja nicht böse, Papa! Ich habe mir etwas ausgedacht. Aber ich fürchtete, du 45 würdest mich auslachen. Nun, da ich weiß, daß Alfred es nicht so ungeschickt findet...»
«Kind, da gibt es nur eines. Wozu haben wir einen Verein für entlassene Sträflinge? – Das ist doch sehr einfach, ich werde...»
«Nein, um Gottes Willen nicht, Papa, siehst du, schon allein dieser entsetzliche Titel!»
«Ja, du lieber Gott! Wenn man das Kind nicht mehr bei seinem wahren Namen nennen soll! Wo ein neues Leben beginnen soll, muß doch die schlichte Erkenntnis vorausgehen, daß das bisherige verwerflich war. Wer sich das nicht gefallen lassen kann, ist noch nicht reif.»
«Ich meine aber, vor allem müsse einer wieder Vertrauen finden.»
«Ei freilich, aber Vertrauen ist ein Geschenk. Und wer auf Geschenke angewiesen ist, hat kein Recht, Bedingungen zu stellen.»
«Aber denk’ dir doch einmal, Papa...»
«Nun, mein Kind, so sag mir, was du dir Besseres ausgedacht hast.»
Sie waren vor dem Gartentor angelangt, Herr Junker stieß es auf und bedeutete seiner Tochter voranzugehen, um endlich unter Dach zu kommen. Aber diese blieb stehen und zwang ihn damit, noch einen Augenblick still zu halten. Ungeduld in jedem Muskel seines energischen Gesichtes, blickte er auf Maria.
«Ich dachte an den Ranflüh-Peter», sagte sie, um mit einem Wort ihren Plan zu enthüllen. Direktor Junker schien nicht überrascht. Eine Minute noch verharrte er in seiner lauschenden 46 Stellung, dann wandte er sich wie einer, der ein unbequemes Bittgesuch in die Tasche gesteckt hat, um und schritt seiner Tochter voran dem Hause zu.
Ja, der Ranflüh-Peter! Das war eine naheliegende Idee. Aber es kostete eine gewisse Ueberwindung, den um Hilfe anzugehen. Er war ein Mann von weitreichendem Einfluß. Wirt, Metzger, Landwirt und Großrat, hatte er seine Hände in allem drin und fing mit seinen Ohren sozusagen jedes Geräusch auf, das der Wind über die Berge trug. Direktor Junker stand in geschäftlichem Verkehr mit Peter, in einem ganz eigentümlichen. Es war so eine Art Sport unter allen Leuten, die mit dem Großrat zu tun hatten. Jeder wollte sich mit ihm an Schlauheit messen, und jeder freute sich, wenn er einen andern von Peter hinter das Licht geführt sah. Gelang es aber einmal ausnahmsweise den Peter über den Kübel zu lüpfen, so grinste die Schadenfreude auf allen Höfen weitherum, und Peter lachte selbst mit, denn seine Gegner fing er am sichersten in der Unachtsamkeit ihrer Siegerstimmung.
Die Sache wurde nun unter vier Augen zwischen Direktor Junker und seiner Frau besprochen. Beide waren durch die Geheimtuerei ihrer Tochter sehr mißtrauisch geworden. Die mußte ihren bestimmten Grund haben. Vater und Mutter ahnten ihn, aber beiden schien er so ungeheuerlich, daß sie es gar nicht wagten, sich die Vermutung gegenseitig einzugestehen. Desto rascher hatten sie sich auf den Entschluß geeinigt, Maria ihr Entgegenkommen dadurch zu beweisen, daß sie 47 unverzüglich mit dem Verein für die entlassenen Sträflinge Fühlung nahmen. Da war wirksame Hilfe zu gewärtigen und zugleich die Möglichkeit geboten, den unglücklichen Leist dem Hause gänzlich fernzuhalten. Als aber Herr Junker den ersten Schritt tun wollte, sah er sich dem entschlossenen Widerstand nicht nur Marias, sondern auch seines Sohnes gegenüber. Um des Sträflings willen, der ihn ja im Grunde gar nichts mehr anging, wollte er es nun entschieden nicht auf ein Zerwürfnis mit Alfred ankommen lassen, und so stellte er seine Hoffnung auf ein baldiges Vergessen. Die Sache einschlafen zu lassen, schien ihm das Beste, und schon glaubte er an den Erfolg dieses Weges, als ihm eines Tages am Bahnhof der von einer Großratssession heimfahrende Ranflüh-Peter verriet, er habe das Vergnügen gehabt, in Bern mit dem jungen Herrn Junker zu sprechen, der ihm etwas ans Herz gelegt habe, worüber er freilich noch nachdenken müsse. Der Herr Papa werde schon wissen, um wen es sich handle.
Der Zug war schon wieder ins Rollen geraten, so daß Direktor Junker dem Großrat nur noch nachrufen konnte: «Das hat keine Eile. Wir werden darüber noch reden.» Diesmal verhehlte er seine Verstimmung nicht. Noch ahnte Maria nicht, was geschehen war, als ihr Vater sie anherrschte: «Mit dem Ranflüh-Peter habt ihr euch nicht hinter meinem Rücken einzulassen. Das ist meine Sache.»
An einem föhnklaren, warmen Frühlingstag 48 wanderte Herr Direktor Junker mit seiner Tochter zuversichtlichen Sinnes nach Ranflüh hinauf, um mit dem gewichtigen Manne zu reden. Er war ziemlich sicher, an Peter einen Berater zu finden, der im Handumdrehen die törichten Hoffnungen seiner Kinder zunichte machen würde. Dann war er selber der ihm so peinlichen Aufgabe enthoben, und das war schon eine Flasche vom Bessern wert. Eine solche wurde im Hinterstübli angestochen, sobald Peter herangeholt war. Und nun wollte Herr Junker wissen, was denn eigentlich das Anliegen seines Sohnes gewesen sei. Da lag in den grauen, von dicken Wülsten überwölbten Augen und um den breiten, bartlosen Mund des Wirtes bereits jenes überlegene, ungläubige und sacht abweisende Lächeln, das immer in den Runzeln der Leute lauert, welche die Illusionen der Jugend weit hinter sich haben. Peter sagte kein Wort. Durch beharrliches Schweigen verlockte er seinen Besucher zu immer weiteren Ergänzungen seiner ersten Frage, so daß nach wenigen Minuten Herr Junker nicht nur diese selbst beantwortet, sondern noch alles Nötige und Unnötige zur Aufklärung Peters über den Fall Leist mitgeteilt hatte. Maria, der die Argumente des Vaters längst vertraut waren, horchte nur mit halbem Ohre. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt dem Gesicht des Wirtes, dessen spielender Ausdruck immer dreister ihren Widerspruch herausforderte.
Als nun Herr Junker seine Darlegungen geschlossen hatte, begnügte sich der Großrat damit, 49 die letzten Worte seines Besuchers zu unterstreichen. «Präzis,» sagte er, «so ist’s. Für solche Leute hat man eben die Schutzaufsichtsvereine. Es ist keinem vernünftigen Menschen zuzumuten, Dieben und Totschlägern sein Vertrauen zu schenken.»
Der Direktor, der einen flammenden Blick seiner Tochter aufgefangen, fand nun doch für gut, zu ihrer Besänftigung noch ein Wort zugunsten Leists einzulegen. «Es ist allerdings richtig,» wandte er ein, «daß es sich hier nicht um einen bösartigen oder verkommenen Delinquenten handelt. Vielleicht – vielleicht ließe sich jetzt noch etwas aus ihm machen, wenn er in die richtigen Hände käme. Ich habe mir eben gedacht – eigentlich ganz wie da meine Tochter – wenn irgendwer den unglücklichen Mann am richtigen Ort unterzubringen wüßte, so wäre es eben der Herr Großrat, der so viele Fäden in Händen hat. Vielleicht wüßten Sie einen Schlupfwinkel, in welchem Leist Gelegenheit fände zu zeigen, ob er irgend eines Vertrauens würdig ist.»
«Ja, du lieber Herrgott,» pfiff jetzt Peter durch seine Zahnlücken, «wem soll ich das antun? – Einmal ich selber wollte es nicht riskieren. Denken Sie sich nur, Herr Direktor, was aus einem altrenommierten Gasthaus würde, wenn sich das Gerücht verbreitete, es sei daselbst ein entlassener Zuchthäusler angestellt. Das ginge meiner Seel’ wie ein Feuerlauf landauf, landab, und die Leute würden sagen: So, so! Es muß 50 übel stehen um Peters Geschäft, wenn er sich mit solchen Dienstleuten zufrieden gibt.»
Maria war ein heißes Rot in die Wangen gefahren. Mit scharfer Stimme sagte sie zu dem Wirt: «Da haben wir’s ja wieder einmal. Pharisäer seit ihr allesamt, so mancher hier ein und aus geht. Gott weiß, wie viel Mord und Totschlag sich da drüben in Eurer Gaststube um den Tisch herumsetzt. Den meisten dieser Tugendhelden fehlt es vielleicht nur am Mut, den Unrat ihrer Gedanken in die Tat umzusetzen. Solch ein Ausbund kriegte ja Brandblasen an seinen reinen Händen, wenn er ein von einem Bestraften gespültes Glas anrührte.»
Direktor Junker suchte mit strafenden Blicken seine Tochter zur Raison zu bringen, indes Peter, der schon gröberem Geschütz standgehalten, nur Belustigung zur Schau trug. «Liebes Kind,» sagte Herr Junker, «wir wollen dem Herrn Großrat nicht eine Aufgabe zumuten, zu der er keinen innern Antrieb hat. Es ist nicht jedermanns Sache, verirrte Schafe herumzubringen. Und daß es seinem Geschäft schaden könnte, mag wohl sein. Man muß nun einmal mit den herrschenden Vorurteilen rechnen.» Diese Worte waren darauf berechnet gewesen, beide Teile zu beruhigen. Daß sie einen Stachel enthielten, der den Großrat an sehr empfindlicher Stelle traf, hatte sich Herr Junker nicht überlegt. Den leisen Schatten von Verdrossenheit, der auf des Wirts Angesicht trat, legte er den leidenschaftlichen Worten seiner Tochter zur Last. Das Gespräch 51 verlor sich nun auf andere Dinge, und man ging heute auseinander, ohne zu einem Entschluß gekommen zu sein. Herr Junker war dessen nicht gar zu unzufrieden, indem er annahm, Maria habe mit ihrem Dreinfahren ihre und ihres Bruders Pläne selber zunichte gemacht.
Aber Herr Junker hatte die Rechnung ohne die Frau Großrat gemacht. «So,» sagte die, als Peter ihr von dem Besuch erzählte, «kein Herz soll unsereins haben für so einen armen Züttel? – Potz Tüüner hingere! Dem Junkerli wollen wir’s zeigen. Zwei für eins, wo die da unten nur ein halbes haben.» Damit hatte Ranflüh-Peters Züsle die Wahrheit gesagt. Sie und ihr Mann waren in der Tat zwei Herzen für eins, und je mehr sie wahrnahm, welch ein gescheiter Gschäftlimacher ihr Peter war, desto eifersüchtiger hütete sie sein Ansehen als rechtschaffener Christenmensch. Unter ihren Händen bekam dieser Doppelglorienschein den gleichen hellen Glanz wie das Möschige in ihrer Küche. Sie wußte auch jetzt wieder einen Rank. Peter besaß hoch oben an der Kante zwischen Ilfis und Emme einen «Berg» mit Sommerwirtschaft. Diese Sommerwirtschaft wollte nie recht lohnen, weil Peter nicht die Zeit fand, sich ihrer selbst anzunehmen und bis jetzt auch nicht den Mann gefunden hatte, der sie rentabel zu machen verstund. Dort hinauf, meinte Frau Züsle, sollte man den verschüpften Schlufi schicken, da könnte er allein mit dem lieben Gott sein Glück probieren. «Aber weißt,» fügte sie bei, «den Junker mußt auf eine 52 Art zuechebinde. Der muß das Heimet übernehmen, wenn der Hudilump etwa eine Mördergrube draus machen sollte.» Dieser Rat gefiel Peter ausnehmend wohl, besonders die in der Ferne winkende Möglichkeit, das Bergheimet auf vorteilhafte Art loszuwerden.
Ein wolkenloser Himmelfahrtstag war angebrochen. Mit jubilierenden Fenstern fuhr ein langer Zug der Emmentalbahn bergan. Fast in jedem Geviert übertönte das Lachen und Singen den Lärm der klirrenden, rumpelnden Wagen. Nur an einer Stelle war es auffallend still. Da saß nämlich ein bärtiger Mann – man wußte nicht, war’s ein Lehrer oder sonst ein Kinderfreund – inmitten einer andächtig lauschenden Kinderschar. Seiner Erzählung hörten nicht nur seine kleinen Schutzbefohlenen zu; auch die Ausflügler der nächsten Gevierte spitzten die Ohren. «Einstmals nun», so hörte man ihn während des Haltens auf einer Station sagen, «hing der Nebel ganz dick im Tal. Es sah so traurig aus, als sollte die Welt in den Tränen ihres Leides ertrinken. An jeder Dachrinne spazierten in langer Reihe die lauen Regentropfen. Busch und Baum troffen wie aus dem Bach gezogen. Da kam die rotbestrumpfte Bergdohle herabgeflogen und spazierte um einen Bauernhof herum. Als sie die Trübsal betrachtete, mußte sie lachen. ‹Was machst denn du für ein schauderhaftes Gesicht?› begann sie den Hahn aufzuziehen, der mit schlaffem Kamm und 53 hängendem Gefieder auf einem Zaunpfahl hockte. Und noch mehr mußte die Dohle lachen über die Hühnerschar, die an einem Häuflein unter dem Dachscherm zusammengeduckt war, dann und wann mißmutig im trockenen Sande scharrte und ein grämliches Gruchzen von sich gab. ‹Du hast gut lachen, Dreckspatz›, knurrte der Hahn in seinen grünschillernden Kragen. ‹Fürs erste bin ich kein Spatz›, meinte die Dohle, indem sie ihre hübschen Strümpfe zeigte. ‹Und zweitens bist du ein dummer Kerl, wenn du nicht mit mir hinaufkommst auf die Felszinnen, wo die ewige Sonne lacht. Stell’ dir doch mal vor, welch ein stolzes Bild das wäre, wenn du so auf einer Felsnadel säßest und das goldene Licht auf deinen bunten Federn spielen ließest.› ‹Schwatzbase,› grollte der Gockel, ‹ich kann doch nicht von meinen Hühnern fort.› – ‹Nimm sie doch mit!› – ‹Du, wenn du mich noch weiter foppst, so geh’ ich dir an den Kragen.› Und er reckte sich, der Gewappnete. ‹Nun, so bleib’ bei deinen Hühnern, tiäää!› Hell auflachend flog die lustige Berglerin durch die Nebeldecke ins Reich der Firne zurück.»
Für die meisten Fahrgäste ging der Rest der Erzählung im Lärm des weiterrollenden Zuges unter. Direktor Junker, der mit seiner Familie dem Erzähler zunächst saß, gab sich keine Mühe, den Faden weiterzuspinnen; aber in seinen Ohren verwob sich mit dem langweilig rhythmischen Rollen der Räder der Satz: «Ich kann doch nicht von meinen Hühnern fort... ich kann doch nicht von meinen Hühnern fort.» Warum nur 54 blieb ihm denn das im Gehör? Seine Fabrik war doch kein Hühnerhof, und noch weniger hatte er etwas Gockelhaftes an sich. Allerdings auch nicht viel von einer Bergdohle. Nur das Eine hatte er heute mit ihr gemein, das Bedürfnis, in eine sonnige Höhe hinauf zu entfliehen. Ordentlich stolz war er auf den Entschluß, mit dem er sich endlich einmal von seinen Geschäften losgerissen hatte, um sich ganz seiner Familie zu widmen. Er verspürte etwas wie Jugendlust, als er, bei der nächsten Station aussteigend, den Rock auszog, über den Arm legte und allen voran den Bergpfad suchte, auf dem er, wie einst, vor langer Zeit, der Dieboldshusenegg zusteuern wollte. Nach einigen hundert Schritten kam ihm vor, seine kleine Reisegesellschaft teile seine Wanderlaune nicht. Daß seine Frau schweigsam des Weges ging, nun ja, dagegen hatte er nichts; sie hatte endlich gelernt, ihren Atem zu sparen. Aber die beiden Kinder kamen immer zehn Schritte hinterdrein und hatten sich offenbar auch nicht viel zu erzählen. Herr Junker machte sich schon darauf gefaßt, bei der nächsten Wegbiegung zu hören: «Papa, muß es denn wirklich sein, da hinauf?» Solche Redensarten wurden zwar nicht laut; aber schon der bloße Gedanke an ihre Möglichkeit verstimmte das Familienhaupt. Sobald die Steigung nachließ, begann Papa Junker ein Lied zu summen, in der Hoffnung, die Jungen würden einfallen oder wenigstens ein Zeichen des Vergnügens über die väterliche Wanderlust von sich geben. – Nichts von alledem.
55 Mit jeder Hügelwelle, die sie überwanden, sank des Vaters Stimmung um einen Grad. Schon legte sich der Aerger in die Falten seines Gesichtes. Das merkten die andern erst, als sie an einem Aussichtspunkt, wo er stehen blieb, dicht neben ihn traten. Ueber einem Einschnitt in den vor ihnen liegenden Hügellinien sah man in weiter Ferne eine Schneefirst aufsteigen. «Ist das nun die Weiße Frau oder das Doldenhorn oder die Altels?» fragte Alfred. Herr Junker war in seinem Mißmut versucht zu antworten: «Das ist mir doch wurst.» Aber er war ja froh, endlich ein Wort zu hören. «Das werden wir gleich heraus haben», sagte er weiterschreitend, indem er den Kindern Raum ließ, neben ihm zu marschieren. Maria ging darauf ein. Aber sie tat, als würgte sie an irgend etwas. Da hielt er’s nicht länger aus. Finstern Gesichtes fragte er: «Was hast du eigentlich heut’? Ihr tut wahrhaftig, als wäre euch der Ausflug die sauerste Pflicht. Einander anschweigen könnten wir daheim ebensogut.»
«Ach,» seufzte das Mädchen, «wenn du nun doch danach fragst, Papa, so will ich dir’s sagen, obschon ich mir vorgenommen habe, dich heute damit zu verschonen. – Ich kann einfach die Sorge um den armen Leist nicht los werden, der in diesen Tagen entlassen werden soll. Vielleicht ist er schon auf freiem Fuß und sucht, Gott weiß wo, ein Unterkommen.»
Einen derben Ausdruck des Unmutes niederringend, blieb Herr Junker einen Augenblick 56 stehen. Aber er besann sich eines Bessern und fragte: «Hast du heute morgen nicht gehört, was der Schulmeister in der Bahn sagte: Ich kann doch nicht von meinen Hühnern fort? – Laß doch endlich um des Himmels willen diese Sache, die dich gar nichts angeht, liegen. Jetzt wollen wir wandern und fröhlich sein.»
«Wenn ich das könnte!» sagte Maria halblaut.
«Man kann alles, was man ernstlich will», fuhr der Vater fort. «Und diese besondere Sorge kannst du am leichtesten los werden, mein Kind. Denn niemand anders als du selbst hat dafür gesorgt, daß wir nichts mehr für den Mann tun können.» Mit Genugtuung fügte er nach einer kurzen Pause bei: «Mit deinem unklugen Ausfall gegen den Ranflüh-Peter hast du die Sache für alle Zeit zur Erledigung gebracht.»
Herr Junker hielt die Sache allen Ernstes für abgetan. Um so ärgerlicher war es ihm, daß Maria immer noch anders dachte. Er fing jetzt mit erzwungenem Eifer von andern Dingen zu reden an, um seine Tochter von der Nutzlosigkeit weiterer Fürsprache für ihren Schützling zu überzeugen.
Die Stunde, die man auf der Egg weilte, wurde in stummer Bewunderung zugebracht. Die Bergstille tat ihre gute Wirkung. Der Störefried, welcher im Aufstieg jenes dumpfe Schweigen auf die Wanderer gelegt hatte, war ja totgeschlagen, und wenn auch jetzt noch gar wenig Worte laut wurden, so lag das wohl einfach 57 daran, daß vernünftige Menschen auf Bergeshöhe überhaupt kein Bedürfnis nach müßiger Unterhaltung empfinden. Die Sonne stand nahezu im Zenit, als man sich nach dem Wirtshaus auf den Weg machte, wo das Mittagsmahl eingenommen werden sollte. Je freier Herr Junker sich fühlte, desto häufiger zitierte er das geflügelte Wort des Gockels, womit er sich und den Seinigen so recht zum Bewußtsein bringen wollte, daß er es fertig gebracht habe, seine Alltagssorgen abzuschütteln.
Frohgemut betrat endlich das Familienhaupt die Sommerwirtschaft, aus der verschiedene Partien sich bereits zum Mittagsschläfchen in den Wald zurückgezogen hatten. Rasch ward in der offenen sonnigen Laube der Tisch für die Neuangekommenen gedeckt. Bis die Suppe aufgetragen war, hatte man Zeit, sich nach den andern Gästen umzusehen. Da entdeckte Herr Junker an einem Tisch unter den Bäumen neben der Kegelbahn ein hemdärmeliges Trio. Der gewichtigste darunter war der Ranflüh-Peter. Sofort war Herr Junker entschlossen, dieses glückliche Zusammentreffen auszunützen, um die Erinnerung an den letzten peinlichen Zusammenstoß zu verwischen. Vorläufig rief er dem Großrat einen freundlichen Gruß zu. Wenn er, der ja selber Wirt war, an solchem Tage hier oben weilte, so mußte das seinen geschäftlichen Grund haben, und da wollte Direktor Junker nicht stören. Aber hernach würde wohl schon der richtige Augenblick kommen, den Peter zu einer 58 bessern Flasche herüberzuholen. Er mußte sich gewissermaßen auf die Lauer legen, um diesen Augenblick zu erhaschen, was dem unbefangenen Tischgespräch nicht gerade förderlich war. Dafür vergaß er jetzt endlich den Gockel und seine Hühner.
Man wartete noch auf den Kaffee, und Papa Junker steckte sich einstweilen eine Zigarre an. Als er das Streichhölzchen ausblies, stand auf einmal der behäbige Peter neben ihm und lud ihn freundlich ein, auf einen Augenblick an seinen Tisch unter die Bäume zu kommen. Damit war ihm der schlaue Mann wieder zuvorgekommen.
Maria war ein listig freundliches Blinzeln Peters aufgefallen. Mit Spannung verfolgte sie die beiden Männer, die sich nun dort drüben bedächtig an den rohgezimmerten Tisch setzten, von welchem sich die beiden Kameraden Peters entfernt hatten. Peter bot dem Direktor ein Glas und stieß mit ihm an. Dann begann er zu reden. Aus der Kopfhaltung ihres Vaters schloß Maria, daß ihm die Mitteilungen des Wirtes wenig Freude bereiteten. Als Peter innehielt, stützte sich Herr Junker schwer auf den rechten Ellenbogen und blickte sinnend in die Wiesen hinaus. Dann wandte er sich wieder dem Großrat zu und schüttelte langsam den Kopf. Endlich schien auch er sich mit einem gewissen Eifer in das Gespräch einzulassen. Er beugte sich über den Tisch und redete auf Peter ein. Als die Kellnerin in ihre Nähe kam, winkte er sie heran und bestellte eine Flasche, nur um dem Großrat ja nichts schuldig 59 zu bleiben. Dieser aber erhaschte den Augenblick, um Alfred Junker an den Tisch zu rufen. Alfred setzte sich neben Peter und ließ sich ohne Widerstreben von ihm ein Glas Wein reichen. «Ich sagte just zu Ihrem Vater,» wandte sich der Mann von Ranflüh an Alfred, «es war mir gar nicht recht, daß wir das letztemal so ungeschickt auseinandergekommen sind. Ich habe mir erst nachher überlegt, in welch trauriger Lage dieser Leist eigentlich ist. Ihre Schwester hatte im Grunde genommen recht. Man sollte solche Leute nicht so ganz fallen lassen. Nun wäre ich ja gerne bereit, einen Versuch zu machen und den Verschüpften auf die Ilfis-Schwandegg zu nehmen. Man müßte es halt in Gottes Namen probieren und für einen Sommer draufankommen lassen. Manchmal, wenn so einer auf eigene Rechnung schaffen muß, so lehrt es ihn ganz von selber Vernunft anzunehmen.»
«Das meine ich eben auch», sagte Alfred, nicht zur Freude seines Vaters. «Sie tun ein gutes Werk und werden es nicht bereuen.»
«Ich glaube es selber auch,» versicherte der Wirt, «nur werden Sie verstehen, daß ich auf irgend eine Art sichergestellt sein möchte. Unsereiner kann es nicht draufankommen lassen, daß einem ein Heimet grad völlig zu Schanden geht. Etwa grad gar so schlimm wird es ja gewiß nicht gehen, aber ich meine nur so. Nicht wahr? – Wenn der Herr Junker sich dazu verstehen könnte, mir ein Reverslein auszustellen, das mich für den schlimmsten Schaden deckt... Du mein Gott, 60 so weit wird es ja nie kommen; aber nur so der Ordnung wegen. Unsereiner muß eben ein wenig auf Ordnung halten. Wenn der Schlufi weiß, daß eine Mißwirtschaft seinem Wohltäter zum Schaden gereichte, so wird er sich um so mehr anstrengen.»
Herr Junker drehte sich links und drehte sich rechts, schob sein Glas hin und her und blickte bald seinen Sohn, bald den Großrat an, als wollte er ihnen zu verstehen geben, daß sie seines Erachtens nicht beide an ein und denselben Tisch gehörten. Seine eigenen Kinder in geschlossener Front mit dem schlauen Wirt sich gegenüber zu wissen, war ihm sehr bitter.
«Das ist alles schön und recht,» sagte er endlich, «aber auch ich habe mir die Sache noch einmal überlegt und bin zum Entschluß gekommen, die Hand aus dem Spiel zu lassen.»
Da warf Peter einen gar seltsamen forschenden Blick auf den Direktor. Ungefähr wie ein Jäger schaute er drein, dem in sicherem Anschlag die Büchse versagt hat. Als Herr Junker Miene machte, aufstehen zu wollen, suchte er ihn mit der Frage zurückzuhalten: «Wie soll ich das verstehen, Herr Direktor? Haben Sie nun auf einmal Ihr warmes Interesse für diesen Leist verloren?»
Papa Junker stand nun wirklich auf. Peters Frage beantwortete er mit einem ablehnenden Achselzucken. Dann mahnte er Frau und Tochter zum Aufbruch und verlangte seine Rechnung. Als endlich die Kellnerin damit kam, vermißte er auf der Note die zweite Flasche Wein, die er mit 61 Peter getrunken. «Die hat der Herr Großrat bezahlt», erklärte das Mädchen.
«Wann denn? – Die zweite meine ich.»
«Soeben hat er mir auch die zweite bezahlt.» Die Kellnerin lachte nur ob dem unwirschen Laut, der dem Direktor entwischte.
Nach kurzem Besinnen lief Direktor Junker wieder zu Peter: «Herr Großrat, das kann ich nicht annehmen. Die zweite hab’ ich bestellt.» Er hielt die Börse in der Hand und entnahm ihr aufs Geratewohl einige Silberstücke. Aber der Herr Großrat winkte lachend ab. «Also, wie gesagt, Herr Direktor, wenn Sie sich noch eines andern besinnen sollten, so können wir ja immer noch darüber reden. – Auf Wiedersehn.»
Auf dem Heimweg, den man plangemäß über einen andern Höhenzug nahm, machte Herr Junker keinen Versuch mehr, die Laune wieder herzustellen. Er ging eine Strecke weit behenden Schrittes voraus und zog dann seine Frau in ein Gespräch, während die Geschwister in größerem Abstand blieben.
«Ich glaube, jetzt ist alles verderbt», sagte Alfred zu seiner Schwester. «Papa und der Ranflüh-Peter werden sich nicht mehr verstehen.»
Maria antwortete nichts. Und auch Alfred sprach weiter nicht von der Sache; aber jedes wußte vom andern, daß es nicht gesonnen war, die Sorge um Leists Zukunft solch kleinlichen Verstimmungen zu opfern.
Sie wandelten über einen langen Hügelrücken. In wechselnden Windungen bog der Weg 62 um waldgekrönte Buckel, durch Einsattelungen und Gehölze, an kümmerlichen Taglöhnerhütten und stattlichen Bauernhöfen vorüber, und die Frühjahrspracht, die Arm und Reich umfing, wurde nach und nach auch Meister über die trüben Gedanken der Familie Junker. Ein weiches Abendrot überhauchte die weitverzweigten Hügelwellen, indes die Täler allmählich in leichte Dämmerung versanken. Zu Füßen der Wanderer lief, mannigfach gebogen, ein Sträßchen dem Talgrund entlang. Dann und wann rollte ein Reitwägelchen mit heimkehrenden Ausflüglern auf dem hellen Bande. Hüterbuben zogen mit bellendem Hund einen Milchkarren nach der Käserei. Sonst war alles sonntäglich still und feierlich.
Auf einmal blieb Maria stehen. «Dort geht er», sagte sie mit der Hast eines Menschen, der etwas sehnlich Gesuchtes unvermutet entdeckt. «Ich wußte doch, daß er in diesen Tagen frei werden sollte.»
Drunten auf dem Sträßchen wandelte in der Tat einer nach der Art eines Handwerksburschen. Einen kleinen Handkoffer trug er an einem Stecken über die Schulter gehängt.
«Glaubst du wirklich...?» fragte Alfred.
«Er ist’s, er ist’s. Ich kenne ihn an dem Schritt. Dieser Schritt ist das Häßlichste an ihm. Er fällt so von einem Bein aufs andere. Aber das entspricht auch ganz seinem unbeholfenen Wesen. Er ist von Herzen gutmütig, und wenn ihm jemand übelwollend in den Weg tritt, so 63 begreift er nicht, warum man ihm so begegnet, und verliert die Fassung. – Der arme Mensch! Was wird er nun tun?»
Die hervorsprudelnden Sätze verrieten nur zu deutlich, wie sehr Marias Gedanken sich mit dem Verfehmten beschäftigt hatten. Sofort hatte sie sich zurechtgelegt, daß Leist eben jetzt aus seiner Haft kam und wohin seine Schritte zielten. Von Stunde an beschleunigte sie selbst ihren Gang und war nun immer voran. Von Zeit zu Zeit blieb sie stehen und blickte ungeduldig nach dem Elternpaar, das, wie ihr schien, immer langsamer folgte.
«Kind, warum rennst du so?» fragte endlich Alfred. «Du wirst ihm doch nicht nachjagen wollen!»
Maria antwortete zunächst nicht; aber sie beschleunigte ihren Schritt eher noch. Endlich, als das Elternpaar schon ganz außer Sicht blieb, hielt sie einen Augenblick inne. – Dann sagte sie mit wogender Brust: «Du hast recht, Alfred, jetzt ist alles verfahren. Weder Papa, noch der Ranflüh-Peter werden es über sich bringen, einen rettenden Schritt zu tun. Sie sind in ihre kleinen Sorgen und Bedenken verstrickt. Jetzt hilft nur, wer es wagt, den mottenden Hader vollends zum Ausbruch zu bringen. Ein Verdruß mehr oder weniger – ich werde mich selbst in die Wagschale werfen.»
«Ja, was willst du denn? – Jetzt wirst du Papa nicht überreden, jetzt am allerwenigsten.»
64 «Es handelt sich nicht mehr um Ueberreden. Ich werde ihn vor die Wahl stellen. Entweder bietet er Hand, einen Versinkenden zu retten, oder er wird mich verlieren.»
«Du wirst es doch nicht auf ein Zerwürfnis ankommen lassen?»
«Eben das werde ich. – Jetzt heißt’s am richtigen Ort Vertrauen zeigen. Ich wage es, und sollte es mich ein paar Jahre des Friedens mit den Eltern kosten. Ich weiß, daß sie mit der Zeit doch wieder die Hand nach mir ausstrecken werden. – Auch du, Alfred...! – Wirst du zu mir stehen?»
Alfred antwortete nicht. Er folgte der Schwester im dunkeln Gefühl, daß er Augenzeuge dessen sein müsse, was nun kommen würde.
Der Wanderer drunten hatte auf der Straße, die weniger Windungen machte als der Bergpfad, starken Vorsprung gewonnen und war den Geschwistern aus den Augen gekommen.
Als diese eine Stunde später am Gartentor des väterlichen Hauses ankamen, saß Leist neben der Haustüre. Er erhob sich und begrüßte die Heimkehrenden sehr höflich. Die herzliche Güte, mit der Maria seinen Gruß erwiderte, gab ihm die Haltung wieder, die er zu verlieren Gefahr gelaufen. Er fragte, ob er wohl den Herrn Direktor heute noch sehen würde.
«In wenigen Minuten wird er da sein,» sagte Maria, «aber Sie würden besser tun, ihn erst morgen aufzusuchen. – Kommen Sie sofort mit mir.»
65 Der entschlossene Ton, mit dem das gesagt wurde, ließ Leist keine Wahl. Er nahm seine Handtasche auf und folgte dem Fräulein. Bald erkannte er, wohin sie ihn führen wollte. Auf das Haus der Schusterswitwe steuerte sie zu, bei der er seinerzeit gewohnt, und bald standen sie sich in dem Zimmer gegenüber, in welchem Maria von ihm damals Abschied genommen. Es diente augenscheinlich jetzt als Rumpelkammer. Aber die Dämmerung gab dem Raum die gleiche Stimmung wie damals, und wieder hörte man draußen die Emme rauschen.
Nachdem Leist seiner Beschützerin kurz berichtet, wie er aus dem Strafhaus entlassen worden sei, fügte er mit zitternder Stimme bei: «Und nun habe ich mir in Gottes Namen ein Herz gefaßt und bin hierher gekommen; denn ich habe niemanden sonst in der Welt...» Eine tiefe Stille trat ein, da weder Leist noch Maria ihrer Stimme Meister waren.
«Sie haben recht getan,» sagte endlich Maria, «und Sie sollen es nicht bereuen, daß Sie dem Versprechen, das ich Ihnen einst gegeben, Vertrauen bewahrten. Nun bleiben Sie hier, bis ich Ihnen Bericht gebe.»
Noch ehe Leist in seiner Verwirrung Worte gefunden, um ihr zu danken, war sie verschwunden.
Während die Schusterswitwe das Zimmer herrichtete und ein Bett für den wieder eingekehrten Gast aufschlug, saß er, das Haupt in die Hände gestützt, auf einer Kiste. Auf die Fragen 66 seiner Gastgeberin, die ihn offensichtlich mit Widerstreben unter ihr Dach nahm, gab er nur zerstreute Antworten. Als er endlich allein war, sprang er auf und ging aufgeregten Schrittes hin und her. – Dieses eine kurze Zusammentreffen mit Maria hatte die bedrückenden Zweifel an der Menschheit, die mehr und mehr seine Seele verdunkelt, zerrissen. Tausend Worte, vom Strafhausgeistlichen und andern gesprochen, hatten diese Zweifel nicht zu zerstreuen vermocht. Diese eine Tat hingegen bewies unwiderlegbar, daß es noch Menschen gab, die nicht in der Sklaverei des Mißtrauens abgestumpft waren.
Direktor Junker war nach dem Abendessen verschwunden. Es hätte des Lichtes in seinem Kontor nicht bedurft, um zu erraten, wo er war. Gab es überhaupt einen Feiertag, an dem er nicht wenigstens auf einige Minuten in die Fabrik hinüberging? Eben hatte er sich vor dem Stehpult eine Zigarre angesteckt, wobei ihm die Geschichte vom Gockel und der Dohle noch einmal ein gutmütiges Lächeln auf das Gesicht gezaubert, da trat seine Tochter in den engen Bureauraum. Der Blick, der sie traf, war nicht besonders freundlich. Herr Junker liebte es gar nicht, wenn seine Leute herüberkamen, um ihn zu bitten, er möchte doch jetzt einmal bei ihnen bleiben. Er wußte ja wohl, daß sie in den Feierstunden ein gewisses Anrecht auf ihn hatten. – Eben darum ließ er sich nicht gerne daran erinnern.
Die Aufregung, in der Maria eintrat, riß den Vater sofort aus seinen Geschäftsgedanken.
67 «Papa,» begann sie, «ich muß dir etwas sagen. Herr Leist ist wieder da.»
«Wo?»
«In seiner alten Wohnung. Er wollte bei dir vorsprechen. Da habe ich ihn dorthin geschickt und gesagt, er möchte sich bis morgen gedulden.»
Direktor Junker warf ein Notizbuch, das er aufgeschlagen hatte, ärgerlich in sein Fach zurück. Maria ließ ihn nicht zu Worte kommen.
«Und nun», fuhr sie rasch fort, «muß es sich entscheiden. Ich habe mir die Sache überlegt und werde es nicht zugeben, daß er unverrichteter Dinge wieder weggeht. Ich weiß ganz genau, daß du dich nicht entschließen wirst, etwas Entscheidendes für ihn zu tun, wenn du nicht durch die Verhältnisse dazu gezwungen wirst. So wisse denn, daß ich entschlossen bin, das Aeußerste zu wagen für ihn.»
«Und das wäre?»
«Wenn denn in der ganzen großen Welt der Menschen, die etwas zu bedeuten haben, niemand sich findet, der einem Verstoßenen – um einer Jugendverirrung willen Verstoßenen – wieder zurechthilft, so werde ich es tun. Ich will und werde sein Schicksal teilen.»
«Wie meinst du das?»
«Ich werde mich ihm hingeben und mit ihm diese famose, tugendhafte Welt durchwandern, ich werde...»
«Kind, du wirst dich eines Bessern besinnen.»
«Nein, jetzt ist es an euch andern, euch eines 68 Bessern zu besinnen. Ich werde tun, was ich mir vorgenommen habe.»
«Auch gegen den Willen deiner Eltern?»
«Wenn sich dieser Wille wider die Erfüllung meiner Gewissenspflicht sträubt, ja.»
Direktor Junker setzte sich in seinen Arbeitsstuhl und versank in stilles Nachdenken. Maria war über ihren eigenen Worten stutzig geworden. Sie fühlte, daß ihre Kraft zu versagen drohte, und kämpfte mit den Tränen, die ihr die Wimpern füllten. Trotzig wandte sie sich dem Fenster zu und trocknete mit dem Taschentuch die brennenden Augen.
Nach langer, lautloser Stille erhob sich Direktor Junker, trat zu seiner Tochter und sagte, indem er ihre Hand ergriff: «Maria, wir wollen einen Weg suchen.»
* * *
Am sonnigen Saum eines hochragenden Tannenwaldes zimmerte Werner Leist eine Bank zurecht. Die Stelle, an der er arbeitete, war seine Hoffnung. Sie bot eine ganz eigenartige Aussicht. Zu Füßen des buckelartigen Vorsprungs, den sie die Ilfis-Schwandegg nannten, lag in seiner herben, ernsten und kraftstrotzenden Schönheit das obere Emmental. In buschigen Schächen glitzerte der launenhafte Bergfluß. Wie die ihn begleitende Straße verlor er sich in duftiger Ferne im waldreichen Hügelgewirr, aus dem die herrlichen Trutzburgen des Hohgant zum blaßblauen 69 Himmel sich auftürmten. Und über die harten Linien der wilden Felsbrüche erhoben sich, durch die Weite sanft abgetönt, die schimmernden Firne der Hochalpen.
Wenn, wie heute, die milde Herbstsonne über dieser zugleich gewaltigen und freundlichen Landschaft stand, ließ Leist oft seine Arbeit ruhen und überließ sich seinen Träumereien. Sollte er sich eigentlich dieser Einsamkeit freuen oder sich darüber grämen? Im Grunde genommen wünschte er sich nichts Besseres. Hier endlich war er die Menschen los, die ihm auf Schritt und Tritt, ohne es nur zu ahnen, zu Gemüte geführt hatten, wie viel er ihrer Gnade verdanke. Die Gnädigsten waren immer die gewesen, die aus reiner Feigheit nicht gesündigt, die sehr gerne den Versuchungen nachgegeben hätten, wenn ihnen nur der Mut dazu nicht gefehlt hätte. Nicht viel demütiger waren die treu Behüteten, denen die Missetaten beim besten Willen nicht gelangen. Dann und wann – aber sehr selten – war er einem begegnet, den das Bewußtsein eigener Schuld stille und zur Vergebung willig gemacht. Ein wahrhaft Adeliger, der seine eigene Tugend für nichts achtete und alles Gute als Gottes Lehen hinnahm, war ihm noch nie begegnet. – Von den Menschen ferne zu sein, das dünkte den Einsamen gut. Und doch fühlte er sich noch sehr fern vom Glück der Freiheit. Er wußte sich in tiefer Schuld, und jeder Tag brachte ihm sein Unvermögen, diese Schuld zu tilgen, deutlicher zum Bewußtsein.
70 Ja, Herr Junker und seine Tochter hatten den Weg zu seiner Rettung gefunden. Hart war es seinen frühern Prinzipal angekommen, von seinen auf reiche Erfahrung gegründeten, geschäftsmännisch soliden Lebensanschauungen abzuschwenken, hart vollends, sich nochmals an den verschlagenen Ranflüh-Peter zu wenden. Was ihn dazu bewogen, war die Achtung vor dem eisernen Entschluß seiner Tochter, die ihm die Augen darüber geöffnet hatte, daß sein ganzes bisheriges System des Wohltuns und Mitteilens ein kleinliches Gekrümel sei, welches ausreichen mochte, um hie und da ein Labetränklein zu verschaffen oder eine kurze Betäubung zu bewirken, daß es aber noch eine längst vergessene Möglichkeit gab, Wunder zu tun: das Wagnis der Aufopferung, die am hohen Stabe wahren Gottvertrauens über den wohlgefügten Zaun kluger Bedenken hinwegsprang.
Aber nun galt es durch treue Arbeit dafür zu sorgen, daß wenigstens das Opfer an Geld, das ihm die Familie Junker gebracht, sich nicht in Schaden verwandelte, und das war Leist bis jetzt nicht gelungen. Die Ilfis-Schwandegg war in diesem Sommer noch nicht zum beliebten Ausflugsziel geworden. Fehlte es an Reklame? Fehlte es am Wirt? – Das heimelige kleine Wirtshaus dort, hinter dem Wald, stand wochenlang leer. Werner Leist und eine ältere Aufwärterin waren die einzigen Bewohner. Die Aufwärterin zeigte wohl Herz für ihren Herrn, aber mehr Eifer als Feingefühl, sonst hätte sie 71 Leist nicht hinterbracht, daß der Krämer im Dorf, bei dem man das Nötige holte, sie ausgefragt und zum Schluß beigefügt habe: «Nun, dort oben kann er wenigstens nur sich selbst betrügen.»
Werner Leist hatte auch heute bei seiner Arbeit die Gedanken rückwärts schweifen lassen und war darüber nicht froher geworden. Als es gegen Mittag ging, packte er sein Werkzeug zusammen und wandte sich dem Hause zu. Zu seinem Erstaunen saß auf der kleinen Terrasse vor der Gaststube ein Wanderer. Auf den ersten Blick erkannte er, daß es ein Sonderling sein müsse. An seiner Touristenkleidung war nichts Auffallendes; aber der Mann ging ohne Hut und trug seine ziemlich langen Haare glatt nach hinten gestrichen. Er hatte einen sanften und ernsten Blick. Ein ansehnlicher Vollbart verstärkte diesen Guten-Hirten-Eindruck noch. Da er durch die Aufwärterin bereits bedient war, kümmerte sich Leist zunächst nicht um den Gast, sondern trat in das Haus, um sich nach seiner Mittagsmahlzeit umzusehen. Es fiel dem so einsam Gewordenen überhaupt nicht leicht, sich mit Fremden einzulassen. Da er es aber hier ohne Zweifel mit einem Manne zu tun hatte, der nicht in den Schablonen der menschlichen Gesellschaft lebte, sondern seine besonderen Wege ging, fühlte sich Leist zu ihm hingezogen. Nachdem er seine Suppe gegessen, setzte er sich in die Nähe des Gastes und begann ein Gespräch über das Wetter und die Gegend, wobei er bald herausbrachte, daß der Mann mit dem Emmental ziemlich vertraut war, 72 obschon er den Dialekt nur kümmerlich beherrschte. – Ohne Zweifel auch ein vom Schicksal Verschlagener!
«Sie sind wohl Lehrer?» fragte Leist.
«Nur stellvertretend», antwortete der Gast. «Ich liebe die Jugend und möchte ihr etwas geben, was sie gewöhnlich in der Volksschule nicht bekommt.»
«Nämlich?»
«Die Schule ist heute nur noch darauf gerichtet, die Menschen mit dem auszustatten, was sie angeblich zum praktischen Leben gebrauchen. Allerhand Wissenswertes wird ihnen beigebracht; aber was das Leben lebenswert macht – der Auftrieb zur ewigen Bestimmung, das kennen die bestellten Volksbildner nicht. – Sehen Sie, wer äußern Erfolg hat, der kann sich eine Zeitlang Lebensgenuß vortäuschen, denn der Erfolgreichen Freundschaft ist allenthalben gesucht. Aber der Erfolg lenkt leicht von Gott ab. Darum sage ich: Wohl den Erfolglosen! Ihrer Heimkehr steht nichts im Wege.»
Das waren für Leist seltsame Worte. Nicht nur klangen sie so ganz anders als alles, was er in den letzten Jahren zu hören bekommen hatte; sie sagten auch so ziemlich das Gegenteil von dem, was er aus seiner kaufmännischen Lehrzeit mit ins Leben hinausgetragen. Er hatte es da offenbar mit einem Menschen zu tun, der sich dem konventionellen Gesellschaftsleben nicht beugte. Werner Leist faßte Zutrauen zu dem Gast und zog ihn mit sich zu der neu gezimmerten 73 Aussichtsbank hinaus. Da gab ein Wort das andere, und bald wußte das «Original» des einsamen Wirts ganze Lebensgeschichte. «Ich verstehe nichts mehr von Welt und Menschheit», schloß Leist seine Beichte, «geschweige denn von Gott. – Warum – wenn ich doch allen verächtlich und abscheulich bin – muß ich denn mitten unter ihnen und abhängig von ihnen leben? Die mich hassen und scheuen, ohne mich zu kennen, kann ich fliehen; aber warum muß ich in der schmachvollen, untilgbaren Schuld derer bleiben, die mir wohlgesinnt sind? – Schon das versteh’ ich nicht, daß die Menschen einen verabscheuen, der sich von ihnen nur dadurch unterscheidet, daß er dem Trieb, der doch in eines jeden Herzen schlummert, einmal nachgegeben und dafür gebüßt hat.»
«Sie verabscheuen», so antwortete der Fremdling, «im gefallenen Bruder nur ihr eigenes Bild. Alle Menschen sind, vom Standpunkt der göttlichen Gerechtigkeit betrachtet, wie photographische Platten. Man ahnt nur, was sie in sich bergen. Entwickelt man sie, so erkennt man das Bild in schonungsloser Wahrheit. Nur wer seine dunklen Triebe in sichtbare Tat verwandelt, gleicht der entwickelten Platte. Solchen Spiegel sehen die ‹Unenwickelten› nicht gern.
Nun ist es aber verkehrt, sich an den Unentwickelten zu messen. Was wir ihnen schulden, ist leicht eingeholt, sobald wir den Abstand erkannt haben, der uns von der absoluten Gerechtigkeit trennt. Da schwinden die Abstufungen unter den Menschen, die nun einmal – ob ‹entwickelt› 74 oder ‹nicht entwickelt› – allzumal Sünder sind und des Ansehens ermangeln, das sie vor Gott haben sollten.»
«Sie glauben also an einen gerechten Gott?»
«Ich glaube an den Gott, den Schöpfer Himmels und der Erde, der die Liebe ist in Gerechtigkeit, und an seinen Sohn, unsern Erlöser.»
Leist schwieg. Beide blickten lange stumm in die sonnentrunkene, herrliche Landschaft, in der man nur das leise Rauschen des in der Tiefe glitzernden Flusses hörte. Dann sagte der Fremde: «Hätten Sie sich dem Erlöser erschlossen und seine Vergebung gesucht, statt die Lieblosigkeit der Menschen mit Haß zu erwidern, so hätten Sie den zweiten Fehltritt nicht begangen. Nun Sie ihn begangen haben, sollte Ihnen Ihr Abstand von der heiligen Gestalt des Erlösers klar geworden sein. Darum rate ich Ihnen: Wenden Sie den Blick von den Menschen ab und lassen Sie sein Licht auf sich wirken, dann werden auch die Menschen mit andern Blicken auf Sie schauen.»
«Der Abstand ist zu groß», sagte Leist nach kurzem Nachdenken. «Ich sehe jetzt, daß nicht die Taten, um deren willen ich bestraft wurde, das Schlimmste an mir sind, sondern meine ganze Gedankenwelt, aus der sie hervorgingen. – Die kann aus sich nichts Gutes mehr schaffen.»
«Sehen Sie dort die Felswände», antwortete der Fremde aufstehend. «Sind sie nicht das Bild der starren Unfruchtbarkeit und des toten Trotzes? Und wie herrlich strahlen sie doch jetzt im Licht der sinkenden Sonne! Schauen Sie hin! Die 75 roten und goldenen Fluten, wie sie das Gestein zum Atmen bringen, zum Leben! Wie scharf die tiefen Schatten sich abzeichnen! Aber die Schatten verkriechen sich vor dem großen gewaltigen Licht. – Lieber Freund, wenden Sie sich dem Lichte zu, und Sie werden leben, wie dort der Fels in der Sonne lebt.»
Als der Gast sich verabschieden wollte, kam die Aufwärterin vom Hause hergelaufen, und ihr folgten zwei Landjäger auf dem Fuße. Als wollten sie ein Entrinnen verhüten, traten sie von zwei Seiten an Leist heran und fragten: «Ihr seid der Wirt von der Ilfis-Schwandegg, Werner Leist?»
«Ja.»
«Wo haben Sie die Nacht vom vierten auf den fünften September zugebracht?»
Leist warf seinem neuen Freund einen Blick zu, mit dem er sagen wollte: «Sehen Sie nun! Sehen Sie nun!» Den Häschern antwortete er mit verhaltenem Zorn: «Hier in meinem Hause.» Und die Aufwärterin eiferte dazwischen: «Ja, das kann ich beschwören.»
Der Fremde wandte sich an die Landjäger: «Ihr tut diesem Manne unrecht.» Aber sie ließen ihn nicht weiterreden, sondern hießen ihn zum Hause gehen und warten. Sie würden ihn dann schon noch abhören, wenn er was zu sagen wisse.
«Denken Sie an Ihn!» rief der Fremde im Weggehen Leist zu. «Diese Leute hier tun bloß ihre Pflicht. Bleiben Sie nur ruhig und getrost!»
Nach einer Viertelstunde zogen die Landjäger ab. Es war Leist nicht schwer gefallen, sein Alibi 76 zu beweisen. Um die Ursache ihres unerwünschten Besuches befragt, hatten die Landjäger erklärt, in jener Nacht sei nicht weit von der Schwandegg ein Einbruchsdiebstahl geschehen.
«Sehen Sie!» sagte Leist erbittert. «Und mit dem Fluche dieses Verdachtes behaftet, soll ich hier leben und die Schuld gegenüber meinen Wohltätern abtragen.»
Der Fremde versprach, daß er bald wiederkommen werde. Leist begleitete ihn eine Strecke weit bergab. Im Gefühl, daß ihm bessere Hilfe zuteil würde, wenn seine Wohltäter sich die Hände reichen könnten – oder bewog ihn noch eine andere Erwägung dazu? – bat er seinen neuen Freund, Maria aufzusuchen und ihr zu sagen, daß auch die Einsamkeit der Ilfis-Schwandegg ihn nicht vor den Fängen der Fama zu schützen vermöge. An das Zusammentreffen der beiden Freunde knüpfte Leist die Hoffnung, daß Maria, die wohl um seine äußern Schicksale wußte, aber noch nie in seines Herzens Tiefe geblickt hatte, diesen Einblick nun gewinnen würde.
Wie staunte Maria, als sie Tags darauf in dem unbekannten Besucher jenen Mann wiedererkannte, der am letzten Himmelfahrtstage in der Eisenbahn den Kindern das Märchen von der Bergdohle erzählt hatte!
* * *
Ein langer, harter Winter auf der Bergkante hatte den Einsamen vollends von der Welt geschieden. Außer dem fremden Mann, der ihn, 77 mühsam durch den Schnee aufsteigend, in großen Zeitabständen besuchte, bekam Werner Leist fast niemanden zu Gesicht. So wurden ihm wenigstens keine neuen Wunden geschlagen, und er konnte ungestört in sich verarbeiten, was ihm der auf seinem Lebensweg auch oft scheel angesehene Fremdling an Geistesnahrung zutrug.
Die wiederholte Mahnung, seine kranke Seele der Bestrahlung des ewigen Lichtes auszusetzen, hatte Frucht getragen und in Werner das Verlangen gezeitigt, sich den mißtrauischen Nachbarn dienstfertig zu zeigen. Als nun die finstern Tannenwälder ihr langes Schweigen brachen und im Frühlingssturm zu rauschen begannen, wurden auch die gebundenen Kräfte des Wassers lebendig und bahnten sich ihre Wege nach eigener Wahl. In einer wilden Nacht brachen sie aus hochgelegenen Runsen und wälzten sich in verheerendem Strome talwärts, füllten mit Geröll und Bäumen die altgewohnten Gräben und nahmen mit dumpfem Getöse ihren Lauf gegen einen entlegenen Stall, wo der Knecht eines Talbauern das letzte Heu an junges Vieh verfütterte.
Als Werner Leist, von dem Tosen und Krachen des Waldes aufgescheucht, vor seinem Hause Umschau hielt, war ihm, als hörte er in dem hundertfältigen Brausen der Tannen einen Hilferuf. Mit Axt und Karst bewaffnet, schritt er tapferen Mutes durch den ächzenden, stöhnenden Forst. Im dämmernden Frühlicht erkannte er, jenseits ins Freie tretend, alsbald das Unheil. Die Stalltüre 78 war schon verschüttet, und jämmerlich brüllte in dem wankenden Gebälk das geängstete Vieh, indes der Knecht vergeblich mit dem Schlammstrome rang. Nach stundenlangem Kampfe gelang es den beiden Männern, die Türe freizumachen und aus dem verschobenen Rahmen zu schlagen. Sie zogen das Vieh heraus und trieben es durch die immer noch tosende Waldnacht auf die Schwandegg hinüber.
Dann lief der Knecht ins Tal, Kunde zu geben und Hilfe zu holen.
Gegen Mittag kamen ihrer wohl ein Dutzend mit allerhand Werkzeug. Nachdem sie den Schaden besehen, kehrten sie bei Werner Leist ein und tranken ein paar Maß seines Weines. Bald wurden sie rätig, das gerettete Vieh zu Tal zu bringen. Der Bauer warf Werner Geld hin, den Wein zu bezahlen.
«Ihr gebt mir zuviel. Nur soviel macht der Wein», sagte der Wirt und schob einen Teil des Geldes zurück.
«Nein,» sagte der Bauer, «das ist der Lohn für die geleistete Hilfe.»
«Ich will keinen Lohn», wehrte sich Werner. «Ich habe nur getan, was mir mein Gewissen befahl.»
Halb spöttisch, halb ärgerlich blickte der Bauer drein, als er Werner von neuem das Geld zuschob und sagte: «Nehmt doch! Es steht Euch übel an, schöne Worte zu machen.» Dann wandte er sich zum Gehen und trieb mit seinen Leuten das Vieh bergab.
79 Nach einigen Tagen kam der Knecht noch einmal herauf, Zurückgelassenes zu holen. Er wollte auf der Schwandegg einen Schoppen trinken. Da er das Haus scheinbar verlassen fand, klopfte er derb an die Türe. Kaum vernahm er Werners Stimme, der ihn in seine Stube rief. Er fand den Wirt mit fieberglühender Stirn im Bette liegend.
«Was ist’s mit Euch? Seid Ihr krank?» fragte der Knecht.
Werner antwortete: «Nun ist’s an Euch, mir zu helfen. Seid doch so gütig und tragt mir diesen Brief zur Post.»
«Kann ich Euch sonst noch helfen?»
Werner bat den Knecht um einen Trunk und um ein Feuer im Ofen. Während der Knecht Holz einlegte, sagte Werner: «Ich bin’s halt doch nicht gewohnt – solche Arbeit. Dazu bin ich patschnaß geworden. Der Frost hat mich geschüttelt, noch am gleichen Abend. Und ein Seitenstechen. – Ich glaube, mich hat’s an der Lunge gepackt.»
Nach einer Weile seufzte der Kranke tief. Er ließ seine Blicke in der Stube herumschweifen, als suchte er etwas.
«Was möchtet Ihr haben», fragte der Knecht, vor dem Ofen kniend.
«Nichts weiter.» Werner legte sich flach hin und sagte mehr zu sich selber, als zu seinem Besucher: «Eigentlich wär’s mir gleich... Mich zieht’s heim.»
«Wo seid Ihr daheim?» fragte der Knecht, ohne sich umzusehen. Die Antwort, die er bekam, klang nicht eben freundlich.
80 Herb kam es über Werners glühende Lippen: «Allweg nicht bei den Menschen, den braven und gerechten. – Zum Glück nicht. Gott sei Dank!»
Jetzt tat der Knecht einen verwunderten Blick nach dem Bette. Ohne mehr wissen zu wollen, bemühte er sich, während der kurzen Zeit, die er hier bleiben durfte, dem Leidenden zu dienen, so gut er’s verstand. Er braute ihm Kaffee. Um den Trank wirksamer zu machen, goß er ein tüchtiges Glas Branntwein dazu. Dann sah er wieder nach dem Feuer und schickte sich an zu gehen. Als er dem Kranken seine derbe Hand reichte und versprach, den Brief eilends zu besorgen, wollte Werner sich aufrichten. «Ich will noch einmal die Felsen sehen, die lebendig gewordene Fluh. Weißt, die schönen, roten Felsen – die Gnadensonne.»
Verlegen blickte der Knecht auf den Fiebernden. Er drückte ihn sachte nieder und zog ihm die Decke bis ans Kinn.
«So laß mich doch!» sagte Werner. «Die Sonne, die Sonne möcht’ ich sehen.»
«Es ist ja trüb Wetter, Leist», versicherte der Knecht. «Ringsherum hängt grauer Nebel. Bleibt nur schön still.»
«Ach, die Sonne, die schöne Sonne.»
Der Knecht hörte das nur noch durch die Türe, die er fest ins Schloß zog. In langen, plumpen Schritten eilte er dem Dorfe zu.
Nach zwei langen, düstern Tagen brach ein Sonnenstrahl durch die Nebeldecke. Drei Wanderer hießen ihn willkommen und nahmen ihn 81 für ein gutes Zeichen. Maria und der fremde Kinderfreund kamen in Begleitung eines jungen Arztes auf die Ilfis-Schwandegg. Ohne lange zu klopfen, traten sie ein, fanden aber das Haus verlassen. Nach der ersten verlegenen Ueberraschung machten sie sich daran, eine Fährte zu suchen, welche ihnen den Weg des Kranken verraten könnte. Bald fanden sie in dem aufgeweichten Erdreich vor dem Hause deutliche Eindrücke von Holzschuhen. Die Spur ging in wankender Linie nach dem Wald und durch denselben nach dem Aussichtsplätzchen. Zwischen den letzten Tannen, wo der Blick nach den Bergen sich öffnet, lag Werner Leist auf dem Angesicht. Der Arzt legte den schweren, starr gewordenen Körper auf den Rücken, fühlte den Puls und stellte nach wenigen Minuten fest, daß der einsame Mann schon seit Stunden tot gelegen haben müsse.
Als die drei wieder aufblickten, glitt ein warmer Frühlingssonnenblick über die Felsbastionen des Hohgant, auf deren Gesimsen noch mächtige Schneebänder lagen. Wenige hundert Schritte von dem Aussichtsplatz schimmerte in einem wild aufgewühlten Graben das Schindeldach einer halb zerstörten Hütte, und tief unten rauschte die Emme ihr altes Lied von Leiden, Kampf und Sieg der Menschen.