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Im Hause des Sägemüllers Anton Pyrker zu St. Ulrich ging es festlich her. Das zweite Kind, das dem reichsten Manne auf der Lahn geboren worden war, sollte heute getauft werden. Lange genug hatte es auf sich warten lassen, und auch diesmal war es wiederum kein Erbe gewesen, wie ihn der Sägemüller sich gewünscht und erwartet hatte, sondern ein Mädchen.
Anton Pyrker hatte nun einmal kein Glück mit seiner Nachkommenschaft. Seine erste Frau war ihm kinderlos gestorben, die zweite hatte ihm im ersten Ehejahr nur ein Mädchen geboren, das nun im fünften Lebensjahre stand, und alle Gebete der Ehegatten um einen männlichen Sprößling schienen unerhört bleiben zu sollen. Darüber hatte sich die Laune des Sägemüllers von Jahr zu Jahr mehr verdüstert. Finster und unzugänglich war der stolze, selbstbewußte Mann, der zugleich das Amt eines Bürgermeisters von St. Ulrich verwaltete und wie ein Fürst auf seinem Erbe und Eigen saß, ohnehin von jeher gewesen. Dann schienen seine schon aufgegebenen Wünsche sich plötzlich doch noch verwirklichen zu sollen. Frau Aloysia Pyrker fühlte sich zum zweiten Male Mutter. Da bestand für den Sägemüller kein Zweifel mehr darüber, daß die schmerzensreiche Muttergottes seine und der Seinigen Gebete endlich erhört habe, und jeder Gedanke daran, daß ihm zum zweiten Male ein weiblicher Sprößling geboren werden könne, lag ihm fern. Aloysia ihrerseits hatte mit banger Sorge ihrer schweren Stunde entgegengeblickt, ohne die bestimmte Erwartung ihres Mannes, die sie nicht teilte, durch den Hinweis auf eine andere Möglichkeit zu zerstören. So war der entscheidende Tag herangekommen, und als man dem Sägemüller dann hatte melden müssen, es sei ihm eine Tochter geboren worden, da war ihm ein wüster Fluch über die Lippen gequollen, wie man ihn noch nie von diesem starr sich selbstbeherrschenden Manne gehört hatte, und seine Faust hatte sich gehoben, als ob er jetzt irgend etwas zerstören oder irgendein Lebendiges tödlich niederschmettern müsse, um dem ungeheuren Ingrimm seiner Enttäuschung Luft zu machen. Dann freilich war er, als die Magd, welche ihm die Meldung gebracht, schreiend davongelaufen war, wieder ganz ruhig geworden. Kein Wort war je von der schweren Niederlage aller seiner Hoffnungen über seine Lippen gekommen, und wehe dem, der ihm gegenüber darauf angespielt oder wohl gar ein Wort des Bedauerns gewagt hätte! Ja, als Aloysia ihm zitternd die Hand von ihrem Schmerzenslager aus entgegengestreckt und, ihn mit traurigen Augen anblickend, gemurmelt hatte: »Verzeih' mir, – die himmlische Gnadenmutter hat es ja gewollt, Anton!« – da hatte er zornig abgewinkt und verboten, je wieder ein Wort darüber zu verlieren.
Wer den Sägemüller jedoch kannte, wußte, daß ihm das Fehlschlagen seiner Wünsche desto tiefer im Herzen fraß, je verschlossener er es ertrug und je ingrimmiger er jede Andeutung desselben in seiner Gegenwart verwehrte. Trotzdem – oder vielmehr gerade deshalb – wurde die Taufe des zweitgeborenen Kindes in der Sägemühle so festlich begangen, wie die eines Erben und Stammhalters nur irgend hätte gefeiert werden können. Anton Pyrker war nicht der Mann danach, es sich anmerken zu lassen, daß er bitter in seinen Hoffnungen betrogen worden war, und daß man alle Ursache gehabt hätte, ihn zu bemitleiden statt ihn zu beglückwünschen. Es hätte einmal einer wagen sollen, dem Sägemüller von St. Ulrich von Mitleid zu sprechen! Nicht einmal, wenn es heute eine Leichenfeierlichkeit statt eines Taufschmauses in der Sägemühle gegeben hätte, würde das einer gedurft haben. Anton Pyrker hatte kein Mitleid und keine Teilnahme nötig, er blieb, der er war und stand allezeit ganz auf sich selber. Wehe dem, der ihm je zu nahe treten wollte!
Die Bewohner der Lahn hatten sich fast vollzählig in der Sägemühle von St. Ulrich zusammengefunden. Die nicht geladen waren, standen draußen und blickten zu den Fenstern hinein oder warteten darauf, daß man ihnen von der Festtafel Wein oder Kuchen herausbrachte; auch Geld wurde unter die Armen verteilt, die herbeigeströmt waren. Für jedermann war ein Festtag gekommen; selbst von den Almen waren sie herabgestiegen, um sich an der Feier des seltenen Ereignisses zu beteiligen. Nach der kirchlichen Zeremonie, die Innocenz in Vertretung des Pfarrers vollzogen hatte, welcher ihm allmählich alle Pflichten seines Amtes abtrat, um selber mehr und mehr einem trüben Stumpfsinn zu verfallen, fand der Taufschmaus in der großen, holzgetäfelten Stube der Sägemühle statt. Die Familien, die auf der Lahn über ein eigenes Anwesen schalteten und deren männliche Häupter in der Gemeindeversammlung Sitz und Stimme hatten, waren sämtlich geladen. Sie hatten alle die feiertägliche Tracht angelegt, die im übrigen mehr und mehr im Werktagsleben zu verschwinden begann und in den Truhen verwahrt wurde; viel altertümlicher Schmuck und seltsamer Putz kam dabei zum Vorschein, der nur bei hohen kirchlichen Festtagen und bei Prozessionen sonst hervorgekramt zu werden pflegte. In steifer Würde, zum Teil auch durch die ungewohnte und wenig bequeme Tracht an allen rascheren Bewegungen gehindert, eingezwängt und erhitzt, saßen sie an den beiden langen Tafeln, die unter einer Überlast von Schüsseln einzubrechen drohten, und verzehrten in schweigendem Eifer eines der sich rasch folgenden nahrhaften Gerichte nach dem anderen, während die Silber- und Goldketten der Frauen vor dem weißen prallen Hemdeneinsatz der Samtmieder klirrten und die wunderlichen Pelzhauben auf ihren Häuptern hin und her schwankten. Dazu kreiste unablässig der Weinkrug. Man trank einen schweren welschtirolischen Wein, bei dem die Männer die Köpfe wiegten, wenn sie ihre Gläser erhoben und sich gegenseitig bedeutungsvoll zunickten. Solch ein Tropfen war den meisten von ihnen noch nicht über die Lippen gekommen.
Gesprochen wurde wenig. Man war nicht deshalb gekommen und wußte sich auch nichts zu sagen. Was über das Wetter des heurigen Sommers, das Almheu, den Viehstand und die Holzpreise zu reden war, wurde Sonntagnachmittags, wenn man beim Poldl Rohracher im »goldenen Ochsen« zum Kegelschieben und zu einem Trunk zusammenkam, abgehandelt. Dort konnte es unter Umständen sogar einmal laut und lärmend hergehen und erhitzte Köpfe sowie drohend gegeneinander aufgereckte Fäuste geben. Selbst das Messer blieb nicht immer im ledernen Hüftgurt dabei stecken. Hier ging es ehrbar und würdevoll zu. Sogar die Kinderscharen, die sich draußen vor den Fenstern angesammelt hatten und oft, eines auf den Schultern des anderen, neugierige und verlangende Blicke ins Innere warfen, enthielten sich aller lauten Äußerungen des Staunens über das niemals Gesehene.
Endlich erschien die Musik. Sie war von Innichen her bestellt worden und hatte sich auf dem weiten Wege verspätet. Eigentlich hatte während des Tafelns gespielt werden sollen. Nun begann man gleich nach beendigter Mahlzeit zu tanzen. Dabei konnten die älteren Männer ihre Pfeifen rauchen und den schweren Welschtirolischen weitertrinken. Die Frauen saßen steif in ihrem Schmuck an den Wänden entlang aufgereiht, ohne ein Wort zu sprechen.
Auch beim Tanz ging es anfangs ohne besondere Lustigkeit her. Nur die schweren, nägelbeschlagenen Stiefel stampften den Dielenboden, der darunter krachte und dröhnte. Es wurde so wuchtig und ausdauernd getanzt, als gälte es eine Arbeit. Die Dirnen, welche die langen, schweren Zöpfe rund um den Kopf gelegt trugen, schmiegten sich nicht an ihre Tänzer an, sondern hielten sich so starr und gerade, als hätten sie jede körperliche Berührung wie eine Todsünde zu scheuen. Dabei wurde weder gelacht, noch ließen sich sonst Anzeichen einer inneren Fröhlichkeit hören oder erkennen.
Erst allmählich erwärmte man sich. Der Wein übte seine Wirkung. In dem niedrigen, von Speisegerüchen aller Art, von Pfeifenrauch und schließlich auch von Lampendunst durchquollenen Raum entwickelte sich trotz der offenstehenden Fenster eine drückende Hitze. Den Tanzenden rann der Schweiß in Strömen übers Gesicht. Und nun begannen die Burschen in überschäumendem Kraftgefühl die Dirnen mit lauten Juchzern und gellenden Schreien in ihren Armen hoch emporzuheben und durch die Luft zu schwenken oder wirbelnd im Kreise umherzudrehen, bis der Atem ihnen ausging. Das alles machte aber nicht den Eindruck überquellender Lustigkeit, sondern nur den der rohen Kraft, die man bisher im Zaume gehalten; es war etwas Derbes und Gewaltsames, ja, manchmal etwas Tierisch-Wildes in diesem Frohsinn.
Vor den Fenstern wurde es inzwischen stiller. Die Kinder waren zu Bett getrieben worden, die ferner wohnenden Häusler waren heimgewandert, um morgen wieder früh bei der Arbeit zu sein, und den übrigen, die nun stundenlang dem Tanz zugeschaut hatten, war die Weile lang geworden. Zuletzt schlichen auch sie nach Hause. Und nun kreiste drinnen der Enzeler. Da war er wieder, der Feind des Volkes dieser Berge, den Innocenz schon vom ersten Tage an in seinen verderblichen Einflüssen erkannt und beobachtet. Sie tranken ihn, wenn die Sonne zu heiß bei ihrer Arbeit auf sie niederbrannte und wenn der Wind scharf über die Höhen ging; sie tranken ihn, wenn der Regen niederstürzte und sie in ihren braunen Koltern auf die Arbeit auszogen; der Enzeler war ihnen gut gegen Hitze und Kälte, er stärkte sie zur Arbeit, und er diente ihnen zur Belohnung, wenn sie überstanden war, er war ihre Arznei in allen Krankheiten. Selbst die Weiber verschmähten ihn nicht, und es war nicht selten, daß man kränkelnde und schwache Kinder schon an ihn gewöhnte.
Innocenz hatte von Anfang an gegen diesen schleichenden Erbfeind geeifert, den er auf den entlegensten Hochalmen so gut vorfand wie im Hause des Bauers, ja, wie er ihn im Pfarrhause selber gefunden hatte; seine Worte waren jedoch an dem ehernen Widerstand langjähriger, tief eingewurzelter Gewohnheit, an dem nicht zu brechenden Starrsinn dieser harten, eigenwilligen Köpfe wirkungslos abgeprallt. Umsonst hatte er wieder und wieder auf die verheerenden Wirkungen des Branntweins hingewiesen, wie sie sich für ihn in dem Vorhandensein so vieler Mißgestalten und geistiger Krüppel unter den Bewohnern der Lahn aussprachen; man hatte ihm erwidert, daß er davon nichts verstehe, das müsse eben sein. Von der Kanzel herab wollte man ihn gern gegen den Teufel des Branntweins zu Felde ziehen hören, auch das mußte so sein, und sie waren es von jeher so gewohnt gewesen, selbst wenn ihre Pfarrer selber den Enzeler nicht verschmähten, aber unter vier Augen ließen sie sich nichts dreinreden; der Enzeler war für das Volk der Berge eigens geschaffen worden und ihm unentbehrlich trotz Pfaff und Teufel.
Nirgends aber trank man einen besseren Enzianbranntwein, als in der Sägemühle von St. Ulrich. Die Gesichter derer, welche die Spitzgläser jetzt an die Lippen führten und die Augenbrauen dabei hochzogen, bewiesen es deutlich genug, und dann erreichte die lärmende Fröhlichkeit ihren Höhepunkt. Auch von den älteren Männern ließ sich jetzt manch einer verführen unter der Einwirkung des verjüngenden Trunkes, der ihm neues Feuer in die Adern goß, am Tanze teilzunehmen, und es kam zu allerlei possierlichen Auftritten dabei, welche die allgemeine Lust noch steigerten.
Auch der Orgelbauer begann nun seine gewagtesten Späße, welche wieherndes Gelächter hervorriefen. Der war einst ein von Hause aus wohlhabender und im ganzen Puster- und Ampezzotal bis weit nach Welschland hinein wohlbekannter Mann gewesen, den man wegen seiner Kunstfertigkeit im Orgelbau hochschätzte und der jahraus, jahrein durchs Land zog, um überall die Kirchenorgeln auszubessern und zu stimmen. Das hatte ihm reichen Gewinn eingebracht, und er hatte sich sein eigenes Gütchen in Sillian kaufen können, wo er behaglich ausruhte, wenn es nichts für ihn zu tun gab. Aber das Umherstreifen, bei dem man ihn überall mit einem guten Trunk willkommen geheißen, zumal er allezeit guter Laune und ein trefflicher Erzähler gewesen, war ihm zur Gewohnheit geworden, er war dem Enzeler zum Opfer gefallen, hatte sein Hab und Gut vertrunken und strich seitdem als ein heimatloser Loder durchs Land, selten nur noch nüchtern genug, um sein früheres Gewerbe ausüben zu können und sich das Geld für die Befriedigung seiner Gelüste zu verdienen. Wo es eine Festlichkeit gab, auf zwanzig Meilen in der Runde, war er immer dabei und immer gern gesehen. Denn in Schnurren und Schnadahüpfln war er unerschöpflich, und wenn er erst einen Liter Roten getrunken hatte, gab es keinen lustigeren und unterhaltsameren Gesellschafter in der Welt als ihn. Später, wenn er seiner Zunge nicht mehr Meister war, ließ man ihn seinen Rausch in einem Heustadel ausschlafen, dann trollte er sich wieder davon. Heute hielt er sich ungewöhnlich lange aufrecht. Seine langen, blonden Locken, die ihn aus der Ferne wie eine Johannesgestalt erscheinen ließen, umflatterten das bärtige, wohlgebildete Gesicht, das er in beide Hände gestützt hatte. So saß er am Tische vor seinem Glase und erzählte seine Geschichten oder sang mit blecherner, aber gutgeschulter Stimme seine Stachelverse, hin und wieder mit der Faust auf die Tischplatte schlagend, während seine großen, wasserblauen, verglasten Augen listig zwinkerten und es unablässig um seine Mundwinkel zuckte. Und je weiter die Zeit vorrückte, desto derber und anstößiger wurden seine Schnurren, aber desto enger rückte man um ihn zusammen, und desto lauter dröhnte das Gelächter der schmauchenden und trinkenden Männer, die rittlings auf ihren Holzstühlen um ihn her saßen. Und dazwischen stampften und scharrten die schweren, schleifenden Schritte der Tanzenden, hallten die Juhschreie und das Kreischen der Weiber. Und der Sägemüller Anton Pyrker blickte, die Hände in den Hosentaschen, die Pfeife im linken Mundwinkel, mitten in dies tolle, lustige Gelärm hinein, während der verbissene Ingrimm über das Fehlschlagen seiner Hoffnungen noch immer an ihm zehrte, und er die Zähne fest aufeinanderpressen mußte, um nicht in diese ausgelassene Festfröhlichkeit hinein seinen Zorn zu schreien und die Vorsehung zu lästern.
Innocenz hielt es endlich an der Zeit, zu gehen. Er hätte schon lange sich aus dem wilden Festlärm geflüchtet, wenn ihn nicht der Pfarrer Antholzer vorher darauf aufmerksam gemacht hätte, daß er dadurch dem Hause, in das man ihn geladen, den größten Schimpf antue, der sich erdenken ließ. So hatte er bisher mit Frau Aloysia Pyrker im Gespräche zusammengesessen, und sie war es auch, die ihn jetzt bis vor die Tür geleitete, als er Abschied nahm. Die Gattin des Sägemüllers war eine stille, fromme Frau, mit der sich wohl reden ließ. Sie hatte etwas Demütiges und Gedrücktes in ihrem Wesen, das zu der protzigen Großtuerei ihres Mannes in scharfem Widerspruch stand, vielleicht durch dieselbe erst hervorgerufen worden war. »Ich bitt' Euch, Hochwürden,« sagte sie draußen unter der Tür, »sprecht bald wieder bei uns vor!«
Dabei bückte sie sich herab, um dem Mönch die Hand zu küssen, als sie plötzlich eine Gestalt gewahrte, die vor dem Hause umherstrich, um hin und wieder einen Blick durch die Fenster in das Innere des lärmerfüllten Saales zu tun. In diesem Augenblicke geschah das abermals. Der Lichterschein von innen fiel auf ein verwildertes, bärtiges Gesicht, in dem zwei lodernde Augen brannten. Und Aloysia Pyrker stierte wie gebannt hinüber. Sie ließ die Hand des Mönchs los, ein Schauer rann ihr durch den Leib, unter dem er zu erstarren schien, dann schrie sie plötzlich gellend auf: »Jesus, Maria und Joseph!« Und mit verlöschender Stimme hintenüberfallend, danach: »Der Seppl! Der Windisch' Sepp!« Dann lag sie besinnungslos am Boden.
Drinnen in dem wilden Gelärm des Festsaals hatte man den gellenden Aufschrei nicht gehört. Man tobte unbekümmert weiter. Der Mönch, der sich erschrocken über die reglos Daliegende herabgebeugt hatte, mußte erst Hilfe herbeirufen, ehe man drinnen von dem Geschehenen erfuhr. Auch dann legte man ihm kein großes Gewicht bei. Es werde eine Ohnmacht sein, meinten die Weiber, die sich hilfsbereit herzudrängten, wahrscheinlich sei die Aloysia zu fest geschnürt, oder sie sei zu rasch aus dem heißen Saal in die kalte Nachtluft hinausgekommen. Man trug sie auf ihr Bett und löste ihr die Kleider. Dann rieb man ihr die Schläfen mit Branntwein ein und flößte ihr auch davon ein, bis sie endlich die Augen wieder aufschlug. Sie war sichtlich bei voller Besinnung, aber ein starres Entsetzen lag in ihrem Blick, während ihre Lippen geschlossen blieben und sie sich manchmal mit der Hand langsam über die Stirn hinstrich, als wollte sie sich klar darüber werden, ob sie vorher geträumt habe oder nicht.
Inzwischen war die Gestalt draußen vor den Fenstern verschwunden. Innocenz hatte den Mann schon nicht mehr gewahrt, als er die besinnungslose Frau den anderen Weibern übergeben hatte und sich nun nach ihm umsah. Drinnen erklärte Aloysia jetzt, daß sie wieder völlig wohl und daß ihr vorher nur ein jäher Schreck in die Glieder gefahren sei, sie wolle nun ruhen und man möge sie wieder allein, sich selbst aber um keinen Preis in der festlichen Lustigkeit stören lassen. Damit gingen die Weiber, und im Saal dröhnte der Lärm des Tanzes fort; der unbedeutende Vorfall war vergessen.
Da ging auch der Mönch dem Pfarrhause zu. Er hatte es jedoch noch nicht erreicht, als sich von einem der schrägstehenden Grabkreuze des Friedhofes plötzlich eine dunkle Gestalt ablöste und gerade auf ihn zugeschritten kam. Innocenz war nicht furchtsam, aber unwillkürlich schlug sein Herz doch rascher, und seine Faust ballte sich, als er stehenbleibend den Mann erwartete. »Verzeiht, Hochwürden,« raunte dieser mit einer heiseren Stimme und in einer fremd anklingenden Mundart, während er, dicht in einen braunen Lodenmantel gehüllt, sich vor dem Mönch demütig beugte, »welch' ein Fest feiert man da drinnen in der Sägemühle?«
Innocenz sagte es ihm. Da schlug der andere ein wildes Gelächter auf. »Und dazu gibt die Kirche ihren Segen!« schrie er. »O Christus Jesus! Da soll einer ein guter Mensch bleiben und an den lieben Herrgott glauben!« Er lachte fort, als er grußlos davonstürzte.
Der Mönch sah ihm kopfschüttelnd nach, wie er in der Nacht verschwand. War das nicht derselbe Mann gewesen, der vorher durch das Fenster in den Tanzsaal geblickt hatte und vor dem die Frau des Sägemüllers so tödlich erschrocken war? Ein Verrückter schien es zu sein oder ein Trunkenbold. Und dennoch hallte es Innocenz in den Ohren nach, wie er mit so verzweifeltem Hohn gerufen hatte: »Und da soll einer an den lieben Herrgott glauben!« Er konnte den Klang aus seiner Seele nicht wieder loswerden.
In seiner Kammer warf er sich vor dem Betschemel nieder und betete lange und heiß. Es war eine seltsame Unruhe in ihm seit den letzten Tagen, und er konnte ihrer nicht Herr werden. Die Luft dünkte ihn wunderlich schwül. Er riß das Fenster auf und blickte lange in die Sternennacht hinaus, die wie ein funkelnder Mantel über der schweigenden Bergrunde lag. Nur der Bach, der tags das Rad der Sägemühle trieb, rauschte in der Ferne.
Gegen Morgen, als Innocenz endlich Schlaf gefunden hatte, pochte es draußen an sein Fenster. Er fuhr verwirrt auf und fragte, wer da sei.
»Ich bin's!«
Der Mönch erkannte die Stimme. Es war die des Großknechts Abraham Hirzer auf der Sägemühle, den sie in St. Ulrich den Hamerl nannten und der im Ruf besonderer Frömmigkeit und Glaubensstrenge stand, wie er denn auf der Sägemühle auch als Vorbeter alle häuslichen Andachten und Gebetsübungen leitete. Es war ein kräftiger Mann in mittleren Jahren mit einem bartlosen, eckigen Gesicht und starren Zügen; in seinen Augen glühte etwas Finsteres und Fanatisches. »Was gibt es denn?« fragte Innocenz hinaus.
»Die Sägemüllerin verlangt nach Euch, Hochwürden.«
Innocenz erschrak. »Sie ist doch nicht krank geworden?« fragte er.
»Nein, sie sagt, sie müßt' mit Euch reden und jetzt gleich. Aber mit Euch allein.«
»Und der Sägemüller?« fragte Innocenz verwirrt.
»Der ist noch nicht lange zu Bett gekommen und liegt nun wie tot. Den könnt' man mit einem Kanonenschuß jetzt nicht aufwecken. Ihr kommt also?«
»Ich komme gleich.«
Der Großknecht ging und Innocenz kleidete sich an. Alle Schlaftrunkenheit fiel von ihm ab, als er in die kalte Frische des Frühmorgens hinaustrat. Wie aus Erz gehauen, reckten die Felsen sich in das silberig dämmernde Firmament empor. Das Dorf lag noch im Schlaf, nur ein paar Hähne krähten, und ein Hund schlug irgendwo an. Herb schauerte der Wind über die Lahn.
Vor der Sägemühle stand Hamerl in seiner grauen Lodenjacke und reckte gähnend die Arme. Als er des Mönchs ansichtig wurde, rückte er an seinem verwaschenen Filz und führte ihn schweigend in das Haus. Er stieß die Tür des Saales auf, in dem das Tauffest erst vor wenig Stunden ein Ende gefunden hatte. Es war dort noch nicht aufgeräumt worden; Tische, Bänke und Stühle standen wirr durcheinander, Flaschen und Gläser lagen umher. Auf dem Boden zertrat der Fuß klirrende Scherben. Überall stäubte Pfeifenasche, und eine dumpfe widrige Luft von Fusel und kaltem Tabakrauch schlug dem Eintretenden entgegen.
Und mitten in diesem Wirrwarr saß die Sägemüllerin. Sie war so angekleidet, wie der Mönch sie gestern verlassen hatte, als sei das Fest für sie noch nicht zu Ende. Aber ihre Haltung und ihre Mienen deuteten nicht auf eine festtägliche Stimmung. Sie sah vielmehr verdüstert aus, als sei in den letzten Stunden, seitdem Innocenz sie verlassen, etwas in ihr Leben eingetreten, was eine lähmende, entgeisternde Wirkung auf sie ausgeübt. Innocenz hätte glauben können, daß der Tod sie im Vorübergehen gestreift habe. Sie saß mit schlaff herabhängenden Armen auf einem Holzschemel am Fenster und stierte zu Boden, – auf diesen Boden, dessen Dielen die Schrammen von den nägelbeschlagenen Schuhen der Tanzenden aus dieser Nacht noch aufwiesen. Als sie den Mönch gewahrte, der ihr den frommen Gruß der Landessitte zurief, sah sie ihn, die Erwiderung murmelnd, anfangs wie erstaunt an. Dann erst schien sie sich darauf zu besinnen, daß sie selber ihn hatte rufen lassen. Hamerl war wieder gegangen, vom Nebengemach her scholl das eintönige, rasselnde Schnarchen des Sägemüllers, und Innocenz fragte: »Ihr habt nach mir verlangt, Sägemüllerin?«
»Ja,« sagte sie mit einer ganz anderen Stimme, als er sie an ihr kannte, wie auch sie selber ihm überhaupt als eine Fremde erschien, »ich muß mein Gewissen freimachen.«
Innocenz wurde plötzlich von einem ihm unerklärlichen Bangen überfallen. »Wär' es nicht besser, wenn Ihr Euch an Euren alten Seelsorger, den hochwürdigen Pfarrer, damit wendetet, Sägemüllerin?«
»Nein, nein,« murmelte sie, »er versteht's nicht. Ihr seid der Rechte.«
»So kommt in den Beichtstuhl, wenn Ihr mir etwas zu bekennen habt!«
Aloysia Pyrker schüttelte den Kopf. »Nein, das ist das Rechte nicht. Ich muß Euch dabei ins Auge sehen können. Und hier ist der beste Platz, nicht in der Kirche. Aber das Beichtgeheimnis müßt Ihr trotzdem bewahren, als ob ich's Euch dort bekannt hätte, hochwürdiger Herr, es sei denn, daß ich selber Euch bäte, es zu brechen.«
»Redet also!« sagte Innocenz, dem es seltsam schwer auf der Brust lag.
Sie horchte einen Augenblick nach der Kammer hinüber, aus der die schweren, tiefen Atemzüge des schlafenden Sägemüllers noch immer herüberklangen, und dann auf das leise Wimmern eines Kindes, das sich sekundenlang vernehmen ließ, aber wieder erstarb. Die beiden Hände hatte sie im Schoß gefaltet. Und so vor sich hinstarrend, sagte sie: »Heute Nacht, als ich allein war und sie hier drinnen noch tanzten und lachten und tranken, war der Windisch' Sepp bei mir.«
Innocenz erinnerte sich, daß sie diesen Namen gerufen hatte, als sie gestern den bärtigen Mann im Lodenmantel vor den Fenstern der Sägemühle erblickt; er wußte auch, daß das Volk in diesen südlichen Alpenländern die Slowenen, die vielfach, auf Arbeit ziehend, das Land durchstreichen, die »Windischen« nennt. »Das war der Mann, der gestern vor dem Hause stand,« sagte er, als Aloysia verstummte, »nicht wahr? Aber was hat es für eine Bewandtnis mit ihm?«
»Er ist mein Mann gewesen.«
Sie sprach das mit dem nämlichen dumpfen Gleichmut wie das vorige. Der Mönch aber fuhr entsetzt von dem Stuhl auf, auf welchem er vor ihr gesessen hatte. »Sie ist wahnsinnig!« dachte er. Dann sagte er, sich gewaltsam fassend: »Ihr sprecht wunderlich, Sägemüllerin. Ich denke doch, Ihr seid das Eheweib Anton Pyrkers.«
»Ja, freilich wohl,« nickte sie, immer mit dem gleichen starren Blick, »freilich wohl. Aber der Windische Sepp ist doch auch mein Mann gewesen.«
»Ihr wollt sagen, daß Ihr früher eine Liebschaft mit ihm gehabt habt, nicht wahr? Wenn Ihr Euch damals versündigt habt, Sägemüllerin, so wollen wir zusammen beten, daß der Vater im Himmel Euch Euren Fehltritt vergibt um deswillen, daß Ihr nachher ein ehrsames und getreues Eheweib geworden seid.«
Sie schüttelte mit ruhiger Entschiedenheit den Kopf. »Nein, nein, wir sind verheiratet gewesen, gerade so, wie ich jetzt mit Anton Pyrker verheiratet bin, – gerade so.«
»Ihr redet irre,« sagte der Mönch strenge. »Die Ehe ist ein Sakrament, das nur der Tod löst. Ihr wißt das so gut, wie ich es weiß. Ihr hättet den Sägemüller nicht zum Manne haben können, wenn Ihr schon vermählt waret.«
»Das ist es ja eben,« murmelte das Weib völlig gebrochen. »Er hat mich ihm damals abgetreten und alles war recht. Nun kommt er doch zurück und sagt, der Handel reue ihn, und ich müßte wieder sein Weib sein, oder es würde nicht gut. Was soll ich also tun? Ich kann doch nicht das Weib von zwei Männern sein.«
Sie blickte dem Mönch zum ersten Male gerade ins Gesicht. Eine unendliche Hoffnungslosigkeit lag in ihren Augen. Innocenz aber war entsetzt aufgesprungen und hatte ihre beiden Hände mit den seinen umklammert, seine Augen sprühten und seine Muskeln zuckten. »Weib,« rief er, »ist das die Wahrheit, die Ihr da redet? Ist das mehr als eine Ausgeburt des Irrsinns? Dann seid Ihr eine der größten Sünderinnen, die je vor Gott reumütig an ihre Brust geschlagen haben!«
Ihre Augen blickten ihn leer und gefühllos an. »Wohl, wohl,« murmelten ihre Lippen, »ich brauche einen kräftigen Fürsprecher bei der heiligen Gottesmutter, wenn sie mir vergeben soll. Ich glaube, ein Engel müßte es sein. Was meint Ihr, hochwürdiger Bruder, wäre es nicht gut, wenn mein Kind ein Engel würde und könnte für mich am Throne der Gebenedeiten bitten? Das Kind ist verständig genug, um zu begreifen, was mir not tut. Und wenn es nun stürbe, – ich habe die ganze Nacht daran denken müssen, – könnt' es mich als Engel wohl losbitten von der heiligen Gottesmutter, und ich würde nicht in den höllischen Flammen brennen müssen.«
Es klang, wie wenn der Wahnsinn aus ihr redete. Der Mönch aber rief zornig: »Versündigt Euch nicht noch ärger durch so törichtes Gerede! Beichtet mir lieber alles und entlastet Eure Seele. Ihr scheint Furchtbares begangen zu haben, und ich muß alles wissen, ehe ich Euch raten und helfen kann.«
Aloysia schien jedoch nicht auf seine Worte, sondern auf ein abermaliges leises Wimmern zu horchen, das aus einem der Nebengelasse herüberdrang und jetzt von einem trockenen, kurzen Husten unterbrochen wurde. »Sie ist krank,« flüsterte sie vor sich hin, »und der Allbarmherzige wird sie vielleicht zu sich rufen, damit ich einen Fürsprecher hab' – Ja, die heilige Jungfrau ist gut. Sie weiß, was für mich auf dem Spiele steht. Und ich habe ihr gelobt –«
Der Mönch unterbrach sie, mit festem Griff ihren Arm umklammernd, »ich denke, Ihr wollt mir Eure Sünden beichten,« rief er, »sonst laßt mich wieder gehen.«
»Ja, ja,« nickte sie, »Ihr sollt es erfahren. Ich habe es Euch ja schon gesagt, hochwürdiger Bruder, er ist mein Mann gewesen. Wir haben damals in Kärnten gelebt, denn ich bin an der kärntisch-tiroler Grenze daheim, und der Windische Sepp hat auf der Goldzeche von Amlach als Knappe gearbeitet, als er mich geheiratet hat. Bin ein blutjunges Ding damals gewesen, hab' nicht Vater und Mutter mehr gehabt, und der Bauer, bei dem ich als Magd auf dem Hof gedient hab', hat mir nachgestellt. Da hab' ich in meiner Not nicht mehr aus und ein gewußt und bin davongelaufen. Und als der Sepp gesagt hat, ich sollt' ihn heiraten, da hab' ich mich nicht einen Atemzug lang besonnen. Lieber doch die Frau von einem Hallodri, hab' ich gedacht, als an der Straße verkommen wie ein herrenloser Hund. Und arm bin ich gewesen, so arm, als hätt' ich betteln gehen müssen. Der Sepp ist auch damals noch nicht gar so wüst gewesen wie nachher, nur ein bißchen getrunken hat er und mit den Madeln hielt er's viel. Aber seine Arbeit hat er immer richtig getan. Und wenn ich seine Frau werden wollt', würd' er brav und ordentlich werden, hat er gesagt. Nachher freilich, nachher hat er's bald vergessen gehabt. Als ich seine Frau gewesen bin, ist's immer toller mit ihm geworden. Und als sie ihn von der Zeche weggejagt hatten, da sind wir ausgewandert und sind im Land umhergezogen wie die Zigeuner und haben uns Arbeit gesucht, bald hier, bald da. Hat aber nie lange gedauert, daß wir irgendwo bleiben konnten. Immer hat der Sepp wieder getrunken und dann seine Arbeit nicht tun können oder ist aufsässig geworden in seiner Trunkenheit und hat sein Messer gezogen. Von Ort zu Ort hat man uns gejagt durchs halbe Tirol. War nirgends ein Unterschlupf für uns offen. Und zuletzt ist der Sepp gar nimmer mehr aus dem Wirtshaus herausgekommen. Jeden Tag betrunken; und mich hat er geschlagen, wenn ich ihm ins Gewissen hab' reden wollen wegen seiner Wüstheit, einmal so, daß ich das Aufstehen beinahe vergessen hätt'. Da ging's nicht mehr weiter. Ich bin ihm davongelaufen, bis ins hohe Gebirg und hab' mir einen Dienst gesucht und hab' mich losgesprochen von dem wüsten, verkommenen Menschen für Zeit meines Lebens. Mocht' er sich dann nur um sein letzt' bißchen Ehr' und Achtung trinken, mir konnt's recht sein. Hier oben auf der Lahn hab' ich mein Unterkommen gefunden. Die Sägemüllerin hat dazumal schwer darnieder gelegen, und so hat mich der Toni Pyrker in der Wirtschaft brauchen können. Da fing eine gute Zeit an, Hochwürden. So hab' ich noch nie das Leben gekannt gehabt wie damals, und hab' gar nicht gewußt, daß es so friedsam und schön sein könnt', und daß man so gern leben mag und sich so daheim fühlt und so arbeitet mit Lust und Freudigkeit. Und ich habe alle Tag' gebetet, daß ich hier nie wieder möcht' wegziehen brauchen, so kalt und lang und schwer auch der Winter war. Da ist die Sägemüllerin gestorben und der Toni Pyrker hat mich gefragt, ob ich seine Frau werden wollt', er braucht' eine Frau für sein Anwesen, und ich war' ihm grad' recht. Ihr könnt's Euch denken, wie ich erschrocken bin. Sägemüllerin von St. Ulrich, dem Toni Pyrker sein Eheweib, ich armes Ding, das vorher nie eine gute Stund' im Leben gehabt hatt', – das war beinahe zu viel für mich, bloß dran zu denken. Und es konnt' ja auch nicht werden. Wegen des Windischen Sepp nicht. Ich wußt' zwar nicht, ob der schon lang' tot oder verschollen war, und mir kam's schon nicht mehr vor, als ob ich sein Weib überhaupt noch wär'. Aber heiraten konnt' ich doch wohl keinen anderen. Und das sagt' ich dem Toni Pyrker auch. Der war aber anderer Meinung. Solch' eine Eh' sei gar keine mehr, hat er gesagt, und der Sepp sei so gut wie gestorben, und wenn ich nicht als, seine Frau bei ihm bleiben wollt', könnt' ich gar nicht bei ihm bleiben und müßt' wieder fort und könnt' dann mein Zigeunerleben abermals anfangen und zum Sepp zurücklaufen, wenn er noch lebte.
Das war nun freilich eine harte Sach', Hochwürden. Denn recht hatte er ja in allem, und wenn wir zusammengeblieben wären und hätten uns nicht geheiratet, wären wir schlecht geworden, so lieb wie wir uns hatten. Und wieder in die Fremde ziehen und arm und heimatlos und verachtet sein, – das wär' auch gar bitter gewesen. Und zum Sepp zurück hätt' ich schon gar nicht gewollt und gekonnt. Da hab' ich den Toni gebeten, er sollt' nach dem Sepp ausschauen gehen und in Erfahrung bringen, ob er noch lebte. Und das hat er auch redlich getan und hat ihn auch wirklich gefunden, wie er gerad' aus dem Spital in Linz gekommen ist, wo sie den verlotterten Menschen noch einmal von seinem Säuferwahnsinn geheilt hatten. Freilich, ein halber Mensch ist er doch nur noch gewesen, und was aus ihm hat werden sollen, hat er nicht gewußt, und an sich geglaubt hat er auch nicht mehr. Da hat ihm der Toni gesagt, er wollt' ihm Geld genug geben, daß er ins Amerika hinüber konnt', wo alle Menschen leicht reich werden und gut leben können, aber er müßt' gleich für immer verschwinden und nie wieder zurückkommen und nie von sich etwas hören lassen, damit es so sei, als wär' er tot, und seine Frau könnt' einen anderen heiraten. Und darauf ist der Windische Sepp auch gern eingegangen, hat alles gelobt, hat das Geld genommen und ist fortgezogen, nach Triest und dann übers Meer. Und dann bin ich dem Toni Pyrker seine Ehefrau geworden.«
»Heiliger Gott im Himmel!« rief der Mönch, entsetzt die Hände zusammenschlagend, »der Priester hat Euch zusammengegeben?«
»Freilich wohl,« erwiderte die Sägemüllerin dumpf, »freilich wohl. Es sind jetzt sechs Jahre.«
»Und Ihr habt niemals Reue empfunden über Eure Tat, Frau?«
»Reue?« Die Sägemüllerin starrte vor sich hin. »Ich weiß nicht, Hochwürden. Was hätt' ich denn damals anders tun sollen? Ich konnt' ja nicht anders. Hätt' ich mit dem Sepp in die weite Welt hinausgehen sollen? Damit früher oder später wieder alles so wurde, wie es gewesen war und ich ihm eines Tages wieder davonlief und damit wieder heimatlos und arbeitslos war? Konnt' man das von mir verlangen? Ich glaub', Hochwürden, das hätt' der Herrgott nicht gewollt. Was hab' ich denn gesündigt gehabt, daß ich zeitlebens sollt' an den schlechten Menschen festgebunden sein und nie wieder von ihm los könnt'? Wofür wär' das meine Straf? Und der Sepp hat nach mir auch gar nicht gefragt, und ich hab's nicht eher gewußt, daß er überhaupt noch lebt, als bis er ins Amerika hinüber war, was so viel ist, als ob er gestorben wär'. Für mich war er schon lang' tot. Und dann ist's ja auch nicht gegen seinen Willen geschehen, sondern er war's zufrieden und hat mich dem Toni abgetreten und war froh, daß er das Geld gehabt hat.«
Der Mönch blickte diesen Auseinandersetzungen gegenüber immer ratloser vor sich hin. »Es war eine furchtbare Sünde,« murmelte er, »und das ist Euch nicht eher klar geworden als jetzt, wo Euer rechtmäßiger Mann zurückgekommen ist, – in sechs Jahren ist es Euch nicht zum Bewußtsein gekommen?«
Aloysia schien zu überlegen. »Als das Kind geboren ist,« sagte sie endlich, »und es ist ein Madl gewesen und kein Bub', wie der Toni sich's doch gewünscht hatte, da hab' ich gemeint, es wär' vielleicht der lieben Gottesmutter doch nicht recht gewesen, was wir getan haben; und als dann kein Kind weiter geboren ist fünf Jahre lang und zuletzt wieder ein Madl, da hab' ich mir nicht anders denken können, als daß die Gebenedeite das zur Strafe für uns geschickt hat, und hab's demütig hingenommen und hab' soviel Rosenkränze abgebetet, daß ich gemeint hab', nun könnt' sie versöhnt sein. Wär' mir auch gewiß nicht auf ein paar geweihte Kerzen oder ein silbern Herz und auf ein Dutzend Messen angekommen, Hochwürden, um die allerheiligste Jungfrau mir wieder gnadenreich zu machen. Aber nun denkt Euch meinen Schreck, als ich mit Euch gestern vor die Haustüre hinaustrete und sehe den windischen Sepp leibhaftig vor mir stehen, und er sieht noch gerade so aus wie damals! Da ist mir's denn freilich in die Glieder gefahren wie ein Blitzstrahl vom Himmel, und ich hab' gemeint, das Strafgericht Gottes kommt schon auf Erden über mich.«
»Da habt Ihr recht empfunden,« fiel Innocenz düster ein, »das ist Gottes Strafgericht, das über Euch kommt um Eurer Sünden willen.«
Die Sägemüllerin bekreuzigte sich. Dann fuhr sie fort: »In der Nacht hat es an mein Fenster geklopft. Der Lärm hier drinnen im Saal ist noch groß gewesen, aber ich hab' es doch gehört. Es ist ganz die gleiche Art Klopfen gewesen, wie der Sepp es immer in der Gewohnheit gehabt hat, als er noch in Amlach bei mir fensterln gekommen ist. Heiliger Gott, bin ich erschrocken! Und hab' hinausgefragt, wer da ist, während mir das Herz in der Brust gegangen ist wie ein Schmiedhammer. Da hat er gerufen: ›Mach' nur auf! Ich bin's. Wirst meine Stimm' schon noch kennen!‹ Und richtig, der Sepp ist's gewesen. Wie ich's Fenster aufreiß', steht er da und sagt, als wären wir gestern auseinandergekommen: ›Da bin ich wieder! Laß mich ein!‹ Ich hab' geglaubt, er wär' geradewegs aus dem Narrenhaus entsprungen, und sag' ihm das und frag' ihn, was er will und wie er so plötzlich daherkommt. ›Was ich will?‹ schreit er, ›mein Weib will ich, dich will ich!‹ Und nun fängt er an zu reden. Herr Gott im Himmel, was er alles geredet hat! Es wär' ein unehrlicher Handel gewesen, hat er gesagt, der zwischen dem Toni und ihm; mit Geld könnt' man sich keine Frau kaufen und, wem einmal eine Frau gehörte, dem gehörte sie gleich auf Lebenszeit, dafür wären die Gesetze da, und die heilige Kirche ließe es auch nicht anders gelten. Und ein schlechter Kerl wär' er gewesen, daß er damals auf solch' eine Sünd' eingegangen wär'. Aber bereut hätt' er's bald genug, kaum, daß er drüben in Chile angekommen wär', was ein großes Land in Amerika sein soll. Und dann wär' er ein rechtschaffner Mensch geworden und hätt' redlich gearbeitet und hätt' es auch wirklich zu etwas gebracht, und wenn er nicht die ewige Sehnsucht nach unseren Bergen gehabt hätt', wär' alles gut geworden. Die aber hat ihm keine Ruh' gelassen, sagt er, und an mich hätt' er auch immerfort denken müssen, weil wir nun glücklich hätten miteinander leben können, seit er ein ordentlicher Kerl war. Und zuletzt hat er's nicht mehr ausgehalten. Er ist wieder zu Schiff gegangen und ist heimgefahren und hat sich vorgenommen, er will sein Weib mit herüberholen oder wieder hierbleiben, wie sie's am liebsten will, aber ohne sie will er nimmer bleiben. Und da war er nun. ›Sepp‹, hab' ich gesagt, ›das ist gewiß alles gut und schön, und die lieben Heiligen werden eine Freud' an dir haben, daß du jetzt so einer geworden bist. Aber mich kannst nimmer mitnehmen und hierbleiben kannst auch nicht. Denn ich bin dem Toni Pyrker sein rechtmäßiges Eh'weib geworden und hab' zwei Kinder von ihm und leb' glücklich und in Frieden; mit uns Zweien ist's also aus.‹ Da hat er ganz teuflisch aufgelacht, hochwürdiger Herr. Und hat sich mit der Faust vor die Stirn geschlagen und hat geschrien, dann wär' alles umsonst gewesen und er könnt' nun gleich wieder der alte Hallodri werden und sich toll und voll trinken wie früher, denn es helf' ja nun doch nichts, ein ordentlicher Kerl zu sein, und es gäb' ja wohl keinen Gott im Himmel mehr, wenn das hätt' geschehen können. Und so sündhaft-lästerliche Reden hat er mehr geführt. Und dazwischen hat er immer wieder gesagt, der Handel hätt' keine Geltung vor'm Gesetz und vor der heiligen Kirche und, wenn der Pyrker ihm seine Frau nicht gutwillig herausgäb', brächt' er uns ins Zuchthaus und hetzte die Priester gegen uns auf. Ich sollte mir's überlegen, er wollt' mir Zeit lassen. Und damit ist er fortgestürzt.«
Dem Mönch war unter der Erzählung der Sägemüllerin immer schwüler zu Sinne geworden. Er hatte es zuletzt auf seinem Platze nicht mehr ausgehalten und war aufgestanden und hatte ein paar Gänge durch das Zimmer gemacht. Immer wieder fuhr er sich mit der Hand durchs Haar und über seine perlende Stirn. Eine Zentnerlast drückte ihm auf die Brust. Was für verwirrende Verhältnisse waren das! In welchen Abgrund mußte er hier blicken! Und diese Menschen, die das göttliche Gesetz mit Füßen getreten hatten, ohne Reue darüber zu empfinden, ohne sich eines Unrechts bewußt zu sein, galten als die frömmsten in der ganzen Gegend, wurden beneidet und geachtet von allen. Der Mann, der das heilige Sakrament der Ehe durchbrochen hatte und mit Geld sein Verbrechen zu sühnen vermeinte, war der Bürgermeister des Ortes. Und wie sollte man gegen die stumpfe Einsichtslosigkeit erfolgreich ankämpfen, mit welcher diese Frau das Geschehene betrachtete? Wo war überhaupt der Ausweg aus einer so unheilvollen Verstrickung?
Nebenan schnarchte der Sägemüller noch immer. Er konnte schlafen, während das Strafgericht sich schon über ihm zusammenzog! »Frau,« sagte der Mönch hart, dicht vor der Sägemüllerin stehenbleibend, »Ihr seid eine große Sünderin. Vielleicht wird Euch verziehen werden, weil Ihr nicht wußtet, was Ihr tatet. Darum laßt uns beten. Das aber sage ich Euch kraft meines heiligen Amtes und als ein Verordneter unserer Kirche: Eure Ehe mit Anton Pyrker ist null und nichtig, und Ihr seid nicht sein Weib. Ihr seid einzig das Weib des Mannes, dem Ihr zuerst angetraut worden, denn solche Ehe ist unlöslich und währt bis zum Tode. Wenn Euch der Vater im Himmel, der voll unerschöpflicher Barmherzigkeit ist, auch vergeben mag, was Ihr getan, so Ihr fleißig darum betet und unablässig Buße tut, bei Anton Pyrker dürft Ihr fürderhin nicht bleiben, sondern müßt zu Eurem Ehemann zurückkehren; anderenfalls seid Ihr eine Ehebrecherin, begeht also eine Todsünde. Das ist, was ich Euch allein sagen kann.«
Die Sägemüllerin blickte den Sprecher in fassungslosem Erschrecken an. Dann bewegte sie eine Zeitlang den Kopf hin und her, und endlich brach sie in einen entsetzten Ruf aus: »Und meine Kinder? Was wird aus meinen Kindern, hochwürdiger Bruder?«
Innocenz zuckte zusammen. Seine Stirn hatte sich in düstere Falten gelegt. »Eure Kinder sind außerehelich geboren,« sagte er mit harter Bestimmtheit. »Laßt sie dem Sägemüller oder nehmt sie mit in Eure rechtmäßige Ehe, – das zu verordnen ist meines Amtes nicht. Am besten wird es sein, weiht diese Kinder der Sünde dem gekreuzigten Heiland und übergebt sie dem Kloster. So wird der schwere Makel ihrer Geburt von ihnen genommen werden.«
Über die Frau, die bis dahin stumpf und schmerzvoll erschüttert in ohnmächtiger Hilflosigkeit dagesessen hatte, schien plötzlich ein neuer Geist gekommen zu sein. Sie fuhr kerzengerade von ihrem Schemel empor, und ihre Augen funkelten den Mönch feindselig an. »Sündkinder wären das?« brach es mit mühsam verhaltener Empörung von ihren Lippen. »Sündkinder? Ich hab' sie in Ehren geboren, Hochwürden, weil ich mit dem Toni Pyrker in der Kirch' vor dem heiligen Altar bin getraut worden. Und dem Vater sollt' ich sie lassen, wo sie doch an erster Stell' immer zur Mutter gehören? Oder der Sepp sollt plötzlich ihr Vater sein, der keine Lieb' zu ihnen haben kann? Das eine kann nicht sein und das andere auch nicht. Und ob ich die kleinen Hascherl einmal ins Kloster tu', davon kann heut' noch keine Red' sein. Zur Mutter gehören sie jetzt, soviel steht fest. Und weil ich mit dem Toni verheiratet bin, bleib' ich auch bei ihm, daran ist nichts mehr zu ändern.«
»Dann ist mein Amt hier zu Ende,« sagte Innocenz strenge.
Die Sägemüllerin versank wieder in ihr dumpfes Brüten. Der Mönch hatte gehen wollen, nun wandte er sich doch noch einmal zu ihr, denn sie erregte sein heftiges Mitleid, und seine eigene Seele war von den widerstreitendsten Empfindungen zerrissen. »Bedenkt es in Ruhe und geht mit Eurem Gewissen zu Rate!« sagte er mit durchklingendem Erbarmen. »Ich will Euch in dieser schweren Stunde nicht drängen. Vor allem beratet Euch mit Eurem Manne, – mit Anton Pyrker will ich sprechen. Und denkt dessen, was ich Euch im Namen unserer heiligen Kirche gesagt habe, und woran nichts zu wandeln ist. Wenn Ihr meiner bedürft, so kommt zu mir. Ich will Euch in allen Dingen beistehen, wie ich kann, und Euch helfen, diesen furchtbaren Kampf siegreich zu Ende zu führen nach Gottes unverbrüchlichem Gebot. Lebt wohl. Der Allmächtige erleuchte Euch!«
Er machte das Zeichen des Kreuzes über die schweigend Verharrende und ging in tiefster Seele erschüttert hinaus. Das Bewußtsein, hier keinen Trost gespendet zu haben, keinen Trost spenden zu können, lag schwer auf ihm. Zum ersten Male hatte er gesprochen, wie es seine priesterliche Pflicht ihm gebot, ohne daß seine Worte mit dem in Einklang gestanden hätten, was sein eigenes Herz ihm eingab. Dieser Konflikt bedrückte ihn wie ein drohendes Unheil, das über seinem Leben heraufzog. Als er an der Sägemühle vorüber dem Pfarrhause zuschritt, hörte er immer noch die Atemzüge des schlafenden Mannes und dazwischen das leise Wimmern des Kindes. Oben auf der Brücke über dem großen Rade aber stand Hamerl, im Begriff, das Wehr aufzuziehen und das Triebwerk in Bewegung zu setzen. Er warf dem davonschreitenden Mönch einen argwöhnisch-finsteren Blick nach.