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Eine qualvolle, schlaflose Nacht war es, die Margot nach diesem aufregenden Tag verbrachte. Der Mistral war rastlos ums Haus gestrichen und hatte in den Kaminen gepfiffen und um die Dachfirste georgelt. Mit sausendem Ungestüm hatte er die Platanen an der Straße niedergebogen und die Baumwipfel im Garten durcheinander geschüttelt, daß es manchmal wie ein Ächzen und Stöhnen aus menschlicher Brust zu ihr hinaufklang. Und zwischen all dem tobenden Aufruhr hindurch war es ihr manchmal gewesen, als höre sie die abgerissenen Töne des Klavierspiels aus der Nachbarvilla herüberdringen, gerade als wenn eine irrende, ruhelose Seele durch Nacht und Sturm sich einen Weg zu ihr suche. Sie wußte nicht, ob sie sich täuschte, ob nur immer die Melodie jenes Liedes, das Erich Holdheim vor allen liebte, ihr in den Ohren hallte, wie das Leitmotiv ihrer verfehlten Liebe, ihres verfehlten Lebens: »Ich liebe dich und weiß, es darf nicht sein.«
Die Hände unter dem Kopf verschränkt, wachte sie Stunde um Stunde, immer von ihren düsteren Gedanken umschwärmt, und sann und sann. Und doch wußte sie, daß es nur eines gab – kein anderer Ausweg, keine andere Rettung.
Nun war der Morgen heraufgekommen, strahlend und sieghaft, und die Macht des Sturmes hatte sich gebrochen. Die Kronen der immergrünen Bäume und die blühenden Gesträuche im Garten wiegten sich nur leise hin und her, und man hätte in all dem Duft und Zauber dieser lockenden Frische glauben können, der ganze rasende Tumult der Nacht sei nur ein Spukgebilde gewesen. Einzig das ferne Donnern der Brandung gemahnte an den wilden Aufruhr, der auch das Meer emporgewühlt hatte. Das aber, was in Margots eigener Seele gestürmt und gewogt hatte, war noch nicht zur Ruhe gekommen. Sie stand am Fenster und blickte über den Garten hin, und ihr Herz schwoll von Sehnsucht und Gram. Sie schämte sich der Träne nicht, die ihr an die Wimper trat und langsam ihre Wange hinabrollte. Die durfte sie ja wohl ihrer Liebe nachweinen – sie, die so sanft, so kühl, so leidenschaftslos sein sollte. Wie schlecht sie doch selbst die kannten, die ihr die liebsten Menschen auf Erden waren! Wenn sie geahnt hätten, wie sie in dieser Nacht gerungen und geknirscht hatte gegen das, was nun doch getragen werden mußte, ob das eigenwillige Herz sich gleich darüber verbluten zu müssen wähnte. Klar vorgezeichnet war ihr Ziel. Sie hatte es ihrer sterbenden Mutter in die erkaltenden Hände gelobt – ein halbes Kind noch –, für diesen Bruder, an dem sie so abgöttisch gehangen, weil er seines Vaters Ebenbild war, zu sorgen, über ihn zu wachen, ihm die besten und heiligsten Kräfte ihres Lebens zu weihen. Das Bild der schönen, unglücklichen Mutter stand wieder vor ihrer Seele. »Mutter«, sprachen Margots Lippen leise vor sich hin, »Mutter, du sollst mit mir zufrieden sein!«
Und was war es denn auch im Grunde so großes, was sie tun wollte? Wenn ihr Leben doch dem nicht gehören durfte, dem sie es mit jedem ihrer Blutstropfen hätte weihen mögen – und er begehrte ja ihrer nicht –, warum sollte sie es nicht um den hohen Preis hingeben, der hier auf dem Spiele stand? Welche Zukunft winkte ihr denn sonst? Lebenslang so weiter die Gouvernante spielen, in fremdem Sold stehen und niemals ein Zuhause haben in der Welt? O nein, sie durfte sich gar nicht einmal vor sich selber rühmen, ein gar so großes Opfer zu bringen. Wieviel besser wurde es ihr immer noch als Tausenden ihresgleichen? Und worauf hatte sie denn Ansprüche zu erheben im Leben? Stand es so fest, daß der Mensch das Recht auf Glück hatte in der Welt? Wie vielen ward es denn erfüllt? Und was war überhaupt Glück? War das Bewußtsein, seine Pflicht getan zu haben, nicht Glück? Margot hatte über all diesen Gedanken, die ihr durch den schmerzenden Kopf schossen, ihren Anzug beendet und ging nun hinunter, um mit Harro im Gartensalon zu frühstücken. Eben hatte der Gärtnerbursche aus Villa La Paix wieder den üblichen Korb mit Blumen unten abgegeben und Jean sie mit dumpfem Groll in Empfang genommen. Heute aber waren es ganze Berge der kostbarsten Blüten, die er gebracht hatte. La-France-Rosen, Parmaveilchen, Gardenien und Syringen; es war eine wahrhaft berauschende Pracht und Fülle. Und nun fiel Margot erst wieder ein, daß heute ja der Tag der ersten Blumenschlacht war und daß Erich Holdheim aus diesem Grunde offenbar die Weisung erteilt hatte, sie so reich zu beschenken. Sie lächelte bitter. Sie sollte sich heute zum Fest mit seinen Blumen schmücken – wie man ein Opfer schmückt, ehe es den tödlichen Streich empfängt. Es hallte ihr noch im Ohr, was Arno von Meyburg ihr gestern beim Abschied in St. Jean zugeraunt hatte, nachdem er sonst kein Wort mehr zu ihr gesprochen: »Morgen beim Blumenkorso hole ich mir meine Antwort!« Es hatte sehr siegessicher geklungen. Und nun sollte sie Erich Holdheims Blumen tragen, wenn Arno kam und sie sich ihm widerstandslos ergab? Was das für ein tolles Leben war! Man wußte wahrhaftig oft nicht, ob man lachen oder weinen sollte. Lachen! Lachen! Die Menschen wollten ja alle nur lachende Gesichter sehen.
Als sie in den Gartensalon trat, wo das Teebrett schon bereit stand, kam ihr Harro mit einem übernächtigen Gesicht entgegen. Auch er mußte eine schlaflose Nacht gehabt haben. Etwas Scheues war in seinen Blicken, was sie sonst nicht an ihm kannte. Nachdem sie sich begrüßt und ein paar Worte über den nächtlichen Sturm getauscht hatten, reichte er ihr eine Depesche, die vor einer halben Stunde angekommen war; sie war vom Justizrat Weilheim und lautete: »Erbschaftsprozeß wegen Unerweisbarkeit der elterlichen Ehe verloren. Brief folgt. Sehe kein Mittel mehr, Urteil zu redressieren.« Schweigend gab sie ihm das Blatt zurück.
»Nun?« lachte er bitter auf. »Was sagst du? He? Eine famose Gerechtigkeit! Weil dieser Wisch nicht aufzufinden ist, sind wir ausgestoßen – um eine halbe Million geprellt. Das nennt man ein gerichtliches Verfahren nach dem Gesetz! Eine Karikatur ist's – eine himmelschreiende Posse, in der wir die Düpierten spielen. Nein, eher –«
Sie hatte ihm die Hand auf den Arm gelegt. »Rege dich nicht auf, Harro! Sie konnten ja nicht anders. Und es wird trotzdem alles noch gut werden.«
»So?« fragte er gedehnt und ein neugieriges Forschen trat in seine Augen, während er sich über den Tisch zu ihr beugte. »Hast du dich wirklich entschlossen –?«
»Wozu entschlossen?« Alles Blut trat ihr vom Herzen zurück, während sie es sagte.
»Nun – Arno sagte mir gestern doch – er wollte mich vorbereiten – es war ja gut gemeint –«
»Was sagte er dir?«
»Nun, zum Henker, du fragst ja gerade, als hätt' er ein Kapitalverbrechen begangen. Daß er dir einen Heiratsantrag gemacht hätte – das sagte er mir. Und daß die Entscheidung in diesem hundertmal vermaledeiten Erbschaftsprozeß nun weiter nichts auf sich hätte, wenn du seinen Antrag annähmst, weil wir dann untereinander – Nun, was fragst du denn? Du weißt das doch alles selbst.«
Margot lächelte trübe vor sich. Also auch dafür hatte er gesorgt, daß Harro beizeiten wußte, was von ihrer Entscheidung für ihn abhing! Daß ja auch er noch einen Druck auf sie ausüben und sie in die Enge treiben sollte! Nun, es hätte dessen nicht mehr bedurft.
»Du willst mir wohl andeuten«, sagte Harro mit unsicher lauerndem Blick, »daß du nicht gesonnen bist – Und dann freilich – dann bedeutet diese Depesche da nicht viel weniger für mich, als daß ich am besten täte, mich neben dem alten Fürsten Caraffa an den grünen Tisch zu setzen und mein Glück – auch nach einem ›System‹ – zu versuchen und, wenn es fehlschlägt – nach Spielerart eine –.« Er brachte den Satz nicht zu Ende, sondern fuhr sich mit einer leidenschaftlich-hastigen Gebärde über die Stirn hin.
Margot lächelte müde. »Versündige dich nicht, Harro!« sagte sie. »Ich werde heute noch Arno von Meyburg mein Jawort geben.«
Er stieß einen jauchzenden Ruf aus, sprang auf, wollte sie umarmen, sie emporreißen und mit ihr durchs Zimmer tanzen. Aber sie wehrte ihn mit sanfter Entschiedenheit ab. »Laß! Ich bin nicht wohl heute. Diese schauerliche Nacht –«
Etwas verlegen sah er sie an. »Ja, du siehst nicht gut aus. Na, wenn er kommt, wirst du wohl wieder ein anderes Gesicht machen, was? Meine kleine Margot als Braut! Du, ich kann mir das noch gar nicht vorstellen. Und daß es jetzt der hat sein müssen! Weiß Gott, es geht doch toll zu in der Welt! Findest du nicht auch?«
Er plauderte munter und aufgeregt weiter; er fühlte sich so erlöst – so frei. Alle Welt hätt' er umarmen mögen.
»Und weißt du, Margot, wir heiraten am selben Tage, ja? Und bald – warum nicht bald? Hier in Nizza, unter Rosen und Orangen! Und Adele Lindenthal wird Brautjungfer – du, das mußt du mir versprechen, anders tu' ich's nicht. Saldern kann sie ja führen. Der tut mir eigentlich leid. Der arme Junge ist offenbar bis über die Ohren in dich verliebt. Der – und nun gar der andere! Na, das hätte ja nun beides doch nie was werden können, da war's schon besser –. Weißt du, Margot –«, er riß seine Uhr heraus, »ich fahr' jetzt gleich nach Monte Carlo hinüber, ich muß es ja Eugenia sagen, begreifst du? Und wir müssen beraten, wie dem alten Herrn die Dinge am besten beigebracht werden können – es gibt eine Welt zu besprechen. Zu Mittag bin ich natürlich wieder da. Ich will versuchen, Eugenia zum Blumenkorso mit herzubringen. Der Fürst braucht ja nun nicht mehr zu spielen. Ah, wie schön – wie schön wird nun alles werden! Margot, ich tanze heut' doch noch einmal mit dir durchs Zimmer!«
Er fuhr ihr liebkosend mit beiden Händen über die Wangen hin. Als sie aber immer nur ein gutmütiges Lächeln für ihn hatte, wurde er plötzlich ernst, legte seinen Kopf an ihre Stirn und fragte leise, wie aus dem aufsteigenden Gefühl eines Unrechts heraus: »Du liebst ihn wohl gar nicht sehr, Margot, wie?«
Nun tat er ihr wieder leid; er war so liebenswürdig gewesen in seinem übermütigen Egoismus. Sie strich ihm begütigend das Haar an der Schläfe zurück. »Ich werde ihn lieben lernen, Harro«, sagte sie mit Überwindung. Dann stand sie auf und winkte ihm zu. »Bring' Eugenia meine Grüße, hörst du? Und sie soll ja mitkommen. Auf Wiedersehen!«
Sie wollte das Zimmer verlassen, aber Harro stürzte noch einmal zu ihr hin, riß sie stürmisch in seine Arme und küßte sie. Dann erst lief er, um seinen Hut zu holen und sich auf den Weg nach dem Bahnhof zu machen. Er hatte kein Wort dabei gesprochen, aber Margot begriff, was in ihm vorging. Sie sah ihn durch den Vorgarten und auf der Straße draußen davonhasten. In einer Stunde würde er bei seiner Braut vergessen haben, um welchen Preis er sie nun besitzen durfte. Und er wußte noch nicht einmal, wie hoch dieser Preis eigentlich war.
Sie ging in den Garten hinüber, langsam, mit gesenkter Stirn, fast wie eine Nachtwandlerin. Sie war sich nicht klar darüber, was sie tat und was sie wollte. Nur daß sie sich plötzlich an der Hecke sah, die an die Villa La Paix grenzte, und daß sie neben dieser Hecke in die Knie sank, wie von Müdigkeit überwältigt, und das Haupt mit geschlossenen Augen gegen das grüne Rankengeflecht lehnte, als wollte sie nichts mehr hören noch sehen von dieser Welt, die so schwere Opfer verlangen konnte von einem schwachen Menschenherzen. Und es war ihr auch, als müsse sie hier Abschied nehmen für immer von einem, den sie nun am besten nie wiedersah in ihrem Leben, und müsse ihn stillschweigend um Verzeihung bitten für das, was sie ihm antue, und ihm sagen, sie könne ja nicht anders. Lange, lange lag sie in stummem Ringen da, und die ganze Morgenherrlichkeit des Frühlings jubelte um sie her.
Harro kam in glücklichster Stimmung aus Monte Carlo zurück. Der Fürst hatte versprochen, mit Eugenia zum Blumenkorso nach Nizza zu fahren. Sein Gesundheitszustand hatte sich infolge der Entdeckung eines neuen, diesmal für ganz unfehlbar gehaltenen Systems wesentlich gebessert, und man hatte ihn bereits darauf vorbereitet, daß Eugenia nächstens gleichfalls nach demselben zu spielen anfangen werde, um ihm dadurch ihren späteren immensen Gewinn plausibel zu machen und ihn zur skrupellosen Annahme des Geldes zu bewegen. Wenn irgendwo, war hier eine Notlüge wohl berechtigt, durch die ein Menschenleben gerettet und ein liebendes Paar glücklich vereint wurde und die einem alten ehrenvollen Namen wieder zu makellosem Glanz verhalf.
Mittags kam der Wagen mit dem Reiherschen Ehepaar, das die Geschwister zum Korso abholte. Die anderen waren schon alle voraus. Adele Lindenthal hatte die Zeit nicht erwarten können. Die kleine Frau Reiher war entsetzt über Margots dunkles, unfestliches Kleid. Sie wollte in keinem Falle dulden, daß sie darin blieb, und ruhte nicht eher, als bis sie selber in Margots Kleiderschrank ein anderes, helles Kleid entdeckt hatte, das sie ihr nun in der Eile anziehen half. »Wie eine Klosterschwester sahen Sie ja aus«, schalt sie, »Sie verkörperter Frühling. Schämen Sie sich, sich mutwillig zu entstellen! Überhaupt, was machen Sie heut' für eine Duldermiene? Gar nicht ein bißchen nach Sonnenschein und Blumenschlacht sehen Sie aus. Ist das recht? Gar keine Farbe im Gesicht. Und Ihre Blumen? Wo haben Sie denn Ihre Blumen? Schnell, schnell! Die Herren werden sonst ungeduldig, mein Adolf wartet nicht gern.«
»Ich möchte keine Blumen vorstecken«, sagte Margot, während die kleine Frau ihr kniend die letzten Falten an dem übergestreiften Kleide zurechtzog.
»Warum nicht gar!« Frau Reiher schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Keine Blumen! Und hier steht ein Korb voll, der direkt aus einem königlichen oder kaiserlichen Hofgarten stammen muß! Gegen die können sich unsere Wagen nur verkriechen. Jetzt aber keine Faxen gemacht, Kindchen! Schnell, hier die La France ins Haar – Gott, was für herrliches Haar! Wer's auch so hätte! – So, und nun die Gardenien vorn an die Brust – prachtvoll! Warten Sie mal! Hier stecken wir noch eine Rose an der Schulter fest. Na, nun sehen Sie sich aber mal im Spiegel! He? Wie gefallen sich Mademoiselle? Bloß noch ein bißchen freundlicher aussehen, ja? Wie beim Photographen! So, nun lächeln Sie schon. Bravo! Bravo! Jetzt kann man Staat mit Ihnen machen. Kommen Sie! Es wird riesig fidel werden. Mein Adolf ist in rosigster Laune.« Sie zog sie am Arm mit fort. Der viersitzige Korbwagen, der draußen vor der Villa auf sie wartete, war mit Blumengirlanden geschmückt, flache Körbe voller Buketts waren zwischen den Sitzen und auf dem Kutscherbock festgebunden. In scharfem Trabe fuhr man die Rue de La France hinauf, um von da durch eine Seitengasse in die Promenade des Anglais einzubiegen und sich der unabsehbaren Wagenreihe anzuschließen, die auf und nieder fuhr. Ein buntes, bewegtes Bild entfaltete sich hier.
Die breite, palmenbepflanzte Avenue am Meer war mit einem Wald von Fahnenmasten zu beiden Seiten eingehegt, Girlanden zogen sich dazwischen hin und die farbigen Banner und Wimpel aller Nationen flatterten darüber im Seewind, der die kleinen, weißschäumigen Wellen der blauen, sonnenüberflimmerten Engelsbucht gegen das herrlich geschwungene Ufer heraufwarf. In zwei langen Reihen rollten die blumenbekränzten Wagen mit ihren festlich gekleideten Insassen zwischen dem grünumwundenen Spalier aneinander vorüber. Die amphitheatralisch aufsteigenden Tribünen, die an der Meeresseite errichtet worden, waren mit Menschen überfüllt, und zwischen den Fahnenstangen drängten sie sich in dichten Scharen. An allen Fenstern und auf allen Balkonen der Villen und großen Hotels, die auf die Promenade blickten, standen und saßen Leute. Und alle waren in festlich-erregter Stimmung, alle hatten Körbe mit Blumen und Sträußen vor sich. Und nun begann unter diesem herrlichen Himmel und angesichts des schimmernden Meeres ein anmutiger Kampf. Von einem Wagen zum anderen hinüber, von den Tribünen her, von Fenstern und Terrassen, aus den Händen der Fußgänger flogen die Blumen durch die Luft. Alle Hände griffen danach, alle Hände beteiligten sich an dem graziösen Spiel. Einzelne Blumen, einfache kleine Sträußchen und kostbare Buketts wurden geworfen, ein unaufhörlicher Regen von Blüten ergoß sich herüber und hinüber. Ganze Körbe von abgeschnittenen Blumen wurden von den Tribünen und Baikonen manchmal über einen besonders prächtig dekorierten Wagen, über eine durch Toilette, Schönheit oder beides zugleich ausgezeichnete Insassin ausgeschüttet. Wogen von Duft schwammen in der Luft. Zwischen den rollenden Wagen her schoß sich überkugelnd, trotz aller polizeilichen Verbote und der hoch zu Roß dahertrabenden Gendarmerie, die den Wagenzug anführte, die Straßenjugend, um die nicht aufgefangenen Sträuße mit ihren halb zerschlagenen und völlig verstaubten Blumen aufzulesen, und die Blumenverkäufer mit ihren Körben voll duftiger Ware drängten sich mit anpreisenden Rufen durch das bunte Getümmel. Lauter lachende Gesichter, helle Daseinsfreude draußen und auf aller Mienen.
Je weiter der Nachmittag vorrückte, um so lebhafter entwickelte sich die Schlacht. Immer neue Blumenwagen erschienen, die schönsten kamen erst jetzt, weil die Ausschmückung sich verzögert hatte oder man durch spätes Erscheinen doppeltes Aufsehen erregen wollte. Man kannte sich nun auch besser untereinander, persönliche Beziehungen hatten sich stillschweigend von Wagen zu Wagen und zwischen Tribünenbesuchern angeknüpft. Überall standen die Werfenden schon aufrecht in den Wagen, um besser sehen und zielen zu können, die bis zuletzt aufgesparten kostbareren Sträuße wurden geopfert, die ganze Luft war durchschwirrt von Blüten und Blättern. Das Erscheinen der prächtigsten Gefährte wurde mit Händeklatschen begrüßt, den schönsten Frauenerscheinungen in den Wagen fielen die wertvollsten Riesenbuketts in den Schoß. Die ganze Straße war längst bestreut mit Grün und verstaubten Kelchen, über welche die Räder erbarmungslos hinrollten.
Eine Fülle von Frauenschönheit und auserlesenen Toiletten bargen die Blumenwagen. Alle Nationen hatten dazu beigetragen; was an Reichtum und körperlichen Reizen nur irgend in Nizza zusammengeströmt war, das zeigte sich hier in seiner verführerischesten Gestalt. Fürstlichkeiten und Damen der Halbwelt, amerikanische Millionäre, die auf ihren luxuriösen Jachten den Ozean gekreuzt hatten, und dunkle Existenzen, die ihren Lebensunterhalt an der Spielbank von Monte Carlo gewannen – hier fuhren sie als Gleichberechtigte hinter- und nebeneinander her, bewarfen sich mit Blumen und wurden beklatscht; kein Rang oder Stand galt etwas in diesem Wettkampf, nur Geschmack und Anmut entschieden.
Der Wagen, in dem Margot neben Frau Reiher den Vordersitz einnahm, war natürlich im Gewühl nicht unbemerkt geblieben. Die beiden nebeneinander lehnenden Frauengestalten in den hellen Kleidern, beide in ganz verschiedener Weise reizvoll und anmutig, das geschmackvoll dekorierte Gefährt und die lebhafte Beteiligung der beiden Herren an dem Blumenkampf mußten auffallen. Es wirbelte von Buketts um sie herum, und die Körbe voll Blumen, die der Wagen barg, waren bald leer, da auch die kleine Frau neben Margot allmählich in ein wahres Fieber geriet und mit beiden Händen, lachend und strahlend vor Heiterkeit, ihre Blumen verstreute. Auf einer der mit rotem Tuch ausgeschlagenen und von Trikoloren umflatterten Tribünen war überdies der Fürst Caraffa mit seiner Tochter erschienen, und Harro konnte nicht Sträuße genug aufkaufen, um sie der Geliebten zuzuwerfen, die schön und mit einem so selig-befriedigten Gesichtsausdruck dasaß, daß es Margot eigenartig durchschauerte. »So sieht eine Glückliche aus!« mußte sie denken. Sie selbst beteiligte sich unter dem Vorwand der Müdigkeit – der übrigens kaum einer war – nicht an der lustigen Schlacht, sie konnte nicht; sie schloß nur immer die Augen, wenn die kleinen duftigen Geschosse heranschwirrten. Und dann spähte sie manchmal unruhig durch das Gedränge. War Arno von Meyburg immer noch nicht da? Aber er würde schon kommen, sie durfte ruhig sein. Und immer hatte sie eine krankhafte Angst davor, daß Erich Holdheim da sein und mit ansehen könne, wie Arno von Meyburg ihre Hand ergriff, ohne daß sie sich wehrte. Eine törichte, kindische Angst. Wie sollte Erich Holdheim hierher kommen? Gewühl und fröhliches Lärmen scheute und mied er ja vor allem – er, der Verfemte. Und dann, was lag daran, wenn er es erfuhr? Einmal mußte es ja doch sein. Nur daß es ihr davor bangte, seine Augen sehen zu sollen, wenn sie mit stummem Vorwurf, mit anklagender Frage auf ihr ruhten: »Warum hast du das getan? Ich habe dich doch gewarnt vor diesem Mann!« Diese schönen, traurigen Mannesaugen! – Wie in halber Geistesabwesenheit saß Margot da. Und um sie her brauste das muntere Treiben. Aus den Wagen mit den anderen Bekannten des Hotel Beaurivage flogen die Buketts unablässig zu ihr herüber, so daß sie wenigstens dankend lächelnd sich verneigen mußte. Und Herr von Saldern hatte ihr im Vorübergehen sogar ein Kamelienbukett von riesigem Umfang in den Schoß gelegt. Der gute Junge! Es mochte beinahe eine Monatsgage beansprucht haben, und er hatte ihr gestanden, daß er einen so kleinen Zuschuß hatte. Wie ehrlich bekümmert er sie dabei angeblickt hatte!
Eben fuhr der russische Großfürst, der überall der Gegenstand besonderer Aufmerksamkeit war, in einem eleganten Viererzug, den er selber lenkte, an ihr vorüber, von allen Tribünen mit stürmischem Beifallsklatschen begrüßt. Und wieder kam es ihr vor, als ob die Blicke des hochgewachsenen Mannes sie streiften wie bei der jedesmaligen Begegnung; jetzt aber griff er sogar mit der Hand, welche die Peitsche gehalten hatte, die er nun dem Diener neben sich zuwarf, nach einem Kranz von Maiblumen und Syringen, der eine lange Seidenschleife trug, und mit einer geschickten Bewegung warf er ihn so, daß er sich Margot um den Hals legte. Dann fuhr er, den Hut ziehend und sich lächelnd verbeugend, weiter, während ein Klatschen und Rufen sich aus allen Reihen der dichtgedrängten Zuschauer erhob. Den Zunächststehenden entging die in großen Goldbuchstaben die Widmungsschleife zierende Aufschrift nicht: »Der Schönsten!« und einer wiederholte sie dem anderen, bis der ganze Haufe begriff, was der Kranzwurf aus so hoher Hand eigentlich hatte bedeuten sollen und es sich nun durch die Reihen fortpflanzte: »Die Schönste! Diese ist die Schönste!« Und nun wurde erst vollends Beifall gerufen, nun richteten sich aller Augen auf Margot, nun regnete es Blumen um sie her. Sie selber aber war wie erstarrt. Sie wußte gar nicht, wie sie sich vor all diesen Blicken retten sollte, die sich wie feurige Pfeile ihr ins Gesicht zu bohren schienen. Sie schloß die Augen. »Das ist die Schönste!« hallte es um sie her, und sie hätte allen diesen müßigen Gaffern zuschreien mögen: »Die Unseligste ist es – bedauert sie, aber beneidet sie nicht etwa gar!« Und sie zerrte den Kranz, der sie zu ersticken drohte, herab. Nur fort! Nur fort von hier, dachte sie.
Plötzlich hörte sie dicht neben sich eine Stimme, bei deren Klang sie ein Zittern durchrann. »Darf ich Ihnen helfen, Fräulein Margot?«
Es war Arno von Meyburg. Erschrocken schlug sie die Augen auf. Der Wagen hatte halten müssen, weil der Zug stockte, und Harro war ausgestiegen, um Eugenia drüben auf der Tribüne zu begrüßen. In diesem Augenblick hatte Arno sich in den Wagen geschwungen und berührte nun, während er ihr dabei behilflich war, sich des Kranzes zu entledigen, Margots beide Hände. Sein Gesicht war dicht vor dem ihrigen, er sah auffallend ernst aus, ein angstvoller Zug war in seinen Mienen. Und während der Wagen sich nun langsam in Bewegung setzte und das Ehepaar Reiher mit aller Leidenschaftlichkeit Blumen warf und auffing, hörte sie ihn, den Kranz in beiden Händen, fragen: »Welche Antwort hat die Schönste für mich, Margot? Darf ich hoffen?«
Es klang ganz leise, und noch leiser erwiderte sie, indes ihr's war, als stehe das Herz in ihrer Brust still: »Ja, ich bin bereit.« Es war nicht wie die Zusage einer Liebenden, sondern wie das Gelübde einer Opfermutigen. Und so saß Margot auch da, mitten unter dem Blumenregen, der auf sie herabrieselte, und unter den Beifallsrufen der enthusiasmierten Menge.
»Wenn Sie mir einen Dienst erzeigen wollen«, murmelte sie, während er ihr in stummer Verzückung ins Gesicht blickte, ohne daß er auch nur ihre Hände zu berühren gewagt hätte, »so führen Sie mich jetzt unverzüglich nach Hause. Mir ist nicht ganz wohl. Ich möchte die anderen nicht stören – wir können zu Fuß gehen.«
Arno hatte sich bereits erhoben. »Wenn wir durch diese Querstraße gehen, finden wir einen Wagen, in dem ich gekommen bin«, gab er leise zurück. »Soll ich halten lassen?«
»Bitte, ja.« Margot wandte sich ihrer Nachbarin zu. »Ich habe Herrn von Meyburg gebeten, mich nach Hause zu bringen. Ich halt's vor Kopfschmerzen nicht mehr aus. Sagen Sie es, bitte, Harro, wenn er zurückkommt. Und er soll sich um keinen Preis abhalten lassen, bis zum Schluß zu bleiben. Vielen Dank! Lassen Sie sich ja nicht stören – bitte, bitte! Und kein Aufsehen! Adieu, auf Wiedersehen!«
Frau Reiher war sehr bestürzt. »Drückt der Ruhm Sie so schwer, Liebste? Na, na, leugnen Sie nur nicht! Sie schämen und genieren sich bloß. Sie kennt man. Der Kranz macht Ihnen Kopfschmerzen! Adieu, Schönste von allen. Und Adele Lindenthal soll es sofort an die Zeitungen schreiben.«
Arno hatte Margot aus dem Wagen gehoben und führte sie nun am Arm durch ein dichtes Spalier von Menschen, das den Zugang der Seitengasse versperrte, bis an ein Coupé, in das er ihr einsteigen half. Bei allem benahm er sich so ritterlich und zugleich so zartfühlend, daß Margot angenehm davon berührt wurde. Als sie im Wagen saßen und dieser mit ihnen davoneilte, dachte sie: »Wenn er mich jetzt küssen will, habe ich keinen Grund mehr, es ihm zu verbieten – ich bin ja nun seine Braut.« Ein Schauer rann ihr dabei durch die Glieder. Seine Braut!
Aber Arno dachte offenbar nicht daran, seine jungen Rechte an sie geltend zu machen. Nicht einmal ihre Hand nahm er. Er richtete auch das Wort nicht an sie, um sie nicht zu stören. Nur seine Augen ruhten immer in seligem Triumph auf ihrem blassen, müden Gesicht. Und einmal flüsterte er kaum hörbar vor sich hin: »Mein Gott, wie Sie schön sind!«
So kamen sie vor Villa Erminia an. Margot stieg aus wie in halbem Traum. Es war ihr, als käme sie als eine ganz Fremde zurück, und mit ganz fremden Augen sah sie das Häuschen im Grün an. »Die Schönste!« klang es in ihr, und sie lächelte bitter. Es war doch schwer, das Leben – schwerer noch, als sie gedacht.
»Ich fürchte, ich darf nicht mit Ihnen hinein«, sagte Arno, seinen Hut in der Hand, als sie vor der Tür des Gartensalons standen.
Sie schüttelte den Kopf, ihr Antlitz war von Glut bedeckt. »Nein, bitte. Ein andermal – morgen – ich bin Ihnen so dankbar.« Sie drückte seine Hand. Es war, als griffe sie in Feuer; ihre eigenen Finger freilich waren eiskalt.
»Wenn ich Sie nur beruhigt verlassen kann, Margot«, sagte er.
»Das können Sie. Ich bin nur müde – sehr müde. Nochmals: ich danke Ihnen.«
Er beugte sich über ihre Hand und küßte sie. »Auf Wiedersehen, Margot!« Und er ging davon, ohne mehr nach ihr zurückzublicken.