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Der Reickendorfer Gendarm war der erste, der in der Verfolgung der als Wilderer in Frage kommenden Personen einen Erfolg zu verzeichnen hatte. Unweit der Holzung, an der der Mordstelle entgegengesetzten Seite, betrieb in der kleinen, vorwiegend von Tagelöhnern bewohnten Ortschaft Kölling ein Schuhmacher Tiedjohann neben seinem Hauptgeschäft einen Kramladen und verschenkte, ohne daß er dazu die Konzession besaß, gelegentlich auch Bier und Schnaps. Das war in der Gegend bekannt, und wenn auch jedermann wußte, daß der Schuster auf verbotenen Wegen war, fand sich doch umsoweniger ein Ankläger, als das Vergehen harmlos und doppelt entschuldbar erschien, weil die nächstgelegene Wirtschaft in Reickendorf immerhin eine halbe Stunde entfernt und den Leuten nach des Tages Last und Mühe nicht zuzumuten war, so weit zu gehen, um zu einem Trunk zu kommen oder den geringen Vorrat für den nächsten Tag einzukaufen. Auch der Gendarm wußte um die kleine Ungehörigkeit, ohne sich indes darum zu kümmern; er wandte dem kleinen Anwesen erst erhöhte Aufmerksamkeit zu, als gegen den erwachsenen Sohn des Meisters der Verdacht des Wilderns in ihm auftauchte und er bei einer nächtlichen Absuchung der Umgebung des Hauses Anzeichen zu finden glaubte, die sein Mißtrauen bekräftigten. Zum Hause des Krämers gehörte ein Stück Gartenland, das hauptsächlich zum Gemüsebau diente, nach einer Seite vom Hause und einem Holzgitter und nach den andern Seiten von einem niedrigen Wall mit zugestutzter Dornenhecke begrenzt wurde. In dieser Hecke schienen an kräftigeren Stämmen Drahtreste auf ehemalige Schlingen hinzuweisen, und der Beamte observierte den Garten um so eifriger, seitdem Schnee gefallen war und je länger dieser liegen blieb.
Seine Vermutung, daß der Schnee den Wilderer seine Thätigkeit bald erneuern lassen würde, fand rasche Bestätigung. Nachdem er einige Nächte an dem Hause sich nicht hatte sehen lassen, fand er eines Morgens die Schlingen neu aufgestellt und in einer einen Hasen gefangen, der auf dem weißen Schneegrund schon aus einiger Entfernung sichtbar war.
Der Beamte legte sich in den Hinterhalt und wartete. Er hätte über der dem Hause zugewandten Aufmerksamkeit fast nicht bemerkt, daß vom Gehölz her sich ein Mann näherte, der sich dicht am Knick hielt, einen so großen Bogen dieser auch beschrieb, und der so scharf vor sich und um sich zu spähen schien wie der Gendarm von seinem Versteck aus. Der Mann trug einen Sack über der Schulter, der, nach der gebückten Haltung des Trägers zu urteilen, ziemlich schwer sein mußte. Er beschleunigte seine Schritte, als auch er den gefangenen Hasen gewahrte, ließ den Sack in den Schnee gleiten, holte eine kleine Zange aus der Tasche und knipste mit gewandtem Griff die Schlinge dicht am Stamm ab. Sekundenlang schien er in dem erhobenen Arm den Lampe zu wiegen, dann ließ er das Opfer der heimtückisch gelegten Falle in den Sack gleiten, nahm diesen wieder auf und wollte eben an dem Versteck des Gendarmen vorbei, als dieser, der bis dahin in einer Grabenvertiefung platt am Boden gelegen hatte, aufsprang und den Ueberraschten mit einem ruhigen: »Morgen, Christian Tiedjohann!« begrüßte.
Tiedjohann junior war kein Held. Er stand schlotternd vor dem Beamten und ließ den Sack im Schrecken zu Boden gleiten.
»Früh auf den Beinen, Christian. Was haben Sie denn da in dem Rucksack?« fragte der Gendarm gemütlich. »Machen Sie doch 'mal auf.«
Der Aufgeforderte gehorchte willenlos.
»Den Donner!« stieß der Beamte hervor und that überrascht. »Daß dich die Maus beißt! Eine Ricke, ein Lampe. Beide – –« er machte die Gebärde des Halszuschnürens. »Ja, das thut mir leid, Tiedjohann. Da nehmen Sie den Packen man wieder auf und kommen Sie mit mir. Ich habe ohnehin auf dem Amtsgericht zu thun und kann Ihre dumme Geschichte gleich mit abmachen.«
Der etwa fünfundzwanzigjährige Mensch sah seinen Peiniger entsetzt an.
»Na, vorwärts!« munterte der Gendarm ihn etwas energischer auf, und der Ertappte griff stumm nach der Bürde und ging dem Beamten voran.
»Wer weiß,« reflektierte der Gendarm im stillen, »wenn er eine Waffe bei sich hätte –! Solche Kriecher und Hasenfüße sind oft die gefährlichsten. Na, mein Junge, wir werden sehen, was du auf dem Kerbholz hast. Vielleicht auch das Scharmützel mit dem Bauern vom Sod? Es wäre, wenn das durch mich heraus käme –!«
Aber der Erfolg des Beamten stieß bei denen, die den Verhafteten kannten, auf Zweifel und Kopfschütteln.
»Den werden sie bald wieder loslassen müssen,« sagte David Riecken in der ›Weintraube‹ zu einem Gaste, und seine Worte trafen die Stimmung im Dorfe.
»Der Schuster, der vor einem rauhen Handschuh das Gruseln kriegt?« fragt der Ortsvorsteher Blank, als ihm die Neuigkeit gemeldet wurde. »Der und ein Mord! Unsinn.«
Der Erbe vom Sod hatte die zugesagte Besprechung mit den Leuten und hörte durch diese auch seinerseits von dem Vorgang.
»Tiedjohann, so?« fragte er und schlug in seinem Gedächtnis nach. »Da draußen von Kölling, was? Die Frau Hökerin, der Alte so was halbes von Wirt, und der Junge Schuhkünstler, Schlingensteller und anderes mehr ... also der – – so so!«
»Wegen dem bißchen Wildern,« meinte einer der Knechte, »werden sie ihm wohl den Kopf nicht nehmen können. Und daß er das andere gethan haben sollte, glaubt außer der Pickelhaube doch kein Mensch.«
»Nicht?« warf Oldekop hin und zog die Brauen hoch. »Und warum nicht?«
Der Gefragte zuckte die Achseln. Was war da eine Begründung nötig!
»Ach der!« sagte er nur geringschätzig. »Der nich, Bauer ...«
»Der nich!« spottete Oldekop. »Wer denn? Bist du etwa allwissend, Weisheit? Na also! Da wollen wir's doch erst 'mal abwarten. Ich habe seit meiner Militärzeit keine solche Donnerbüchse in der Hand gehabt, aber das kann ich mir doch denken, daß so'n Ding in der Aufregung 'mal leichter losgeht, als einem nachher lieb ist. Mit Vorsatz und Ueberlegung, nein, das glaube ich auch nicht; aber so in der Rage oder wenn jemand perplex ist und nicht mehr weiß, was er thut! – Quod optime notandum, das heißt auf deutsch: schreib dir's hinter die Ohren und halte dein Maul ...«
Während über das Ereignis im Dorfe diskutiert wurde, saß der Untersuchungsrichter Dr. Mackens in seinem Bureau und beschäftigte sich mit mehreren Schriftstücken, die sein besonderes Interesse erweckten und ihn bewogen, noch einen weiteren Beamten der Kriminalpolizei mit Nachforschungen im Falle Oldekop zu beauftragen.
Er ließ den Kommissar Grotthus, einen tüchtigen und bewährten Kriminalisten, zu sich bescheiden, nahm sofort nach seinem Eintritt eines der Schriftstücke zur Hand und eröffnete ihm in der ihm eigenen bestimmten Art, um was es sich handle.
»Ich habe Sie rufen lassen, Herr Kommissar, weil die bisherigen Ermittlungen im Falle Oldekop durch zwei Ihrer Kollegen und die Gendarmerie nicht bloß zu langsam gehen, sondern auch, und nicht zum wenigsten, weil ich neuerdings etwas zweifelhaft geworden bin, ob sie sich überhaupt in den richtigen Bahnen bewegen. Es ist ein Gedanke, vielleicht kann ich sagen: ein Verdacht in mir aufgestiegen, der vorläufig nicht gerade erdrückend begründet erscheint, immerhin aber Veranlassung giebt, nach einer Richtung hin zu recherchieren, die bisher nicht angeregt wurde. Von einem Ihrer Kollegen ist eben der Bericht eingegangen, daß der Erbe des Bauern Hans Oldekop am gestrigen Nachmittag nach Reickendorf übergesiedelt ist und den Hof in Besitz genommen hat. Mit der Person dieses Erben, des früheren Rechtskonsulenten Detlev Oldekop, müssen wir uns in einer Angelegenheit beschäftigen, die mit dem an dem Bauern begangenen Verbrechen keinen ersichtlichen Zusammenhang hat, aber den Herrn Winkeladvokaten doch in etwas merkwürdigem Lichte erscheinen und ihm Verschiedentliches zutrauen läßt. Vorausschicken muß ich, daß ich schon früher auf die Persönlichkeit des Rechtskonsulenten aufmerksam wurde, und zwar durch die im Nachlaß des Bauern gefundenen, beschlagnahmten Briefe von seiner Hand und durch eine von dem Bauern über den Bruder eingeholte Auskunft. Beide sprachen dafür, daß die Vermögensverhältnisse des Detlev Oldekop ungeordnete waren, und veranlaßten mich, von der Hamburger Polizeibehörde ein Leumundszeugnis über ihn einzufordern. Es fiel dahin auf, daß der Behörde ›über die Vermögenslage und die persönliche Führung des pp. Oldekop amtlich Nachteiliges nicht bekannt geworden sei‹. Das behördliche Zeugnis ließ mich damals Abstand nehmen, den Verhältnissen und der Persönlichkeit des Erben weiter nachzuspüren, zumal mich nur ein möglicher Zusammenhang mit dem Reickendorfer Verbrechen hätte interessieren können. Nun ist aber eine Anzeige gegen den Oldekop eingelaufen, die aufs neue gegründete Zweifel in seinen Charakter setzt, und die Behörde zwingt, sich nochmals und diesmal eingehender als früher mit dem Erben zu beschäftigen. Hier – Datum: ›Hamburg den 15. November 1896.‹ Ich werde Ihnen das lange, an die Staatsanwalt gerichtete und stellenweise breite Schreiben nicht vorlesen; sein Hauptinhalt – –«
Dr. Mackens überflog noch einmal den Eingang des mehrere Bogen umfassenden Aktenstückes.
»– – ist der: der Rechtskonsulent Detlev Oldekop hatte von einem früheren Gastwirt Rinkens oder Reinkens – der Name ist undeutlich geschrieben – den Auftrag erhalten, von einem alten Schuldner den Betrag von Einhundertneunundzwanzig Mark einzuziehen ...«
Er begann abzulesen:
»– ›Von diesem Betrage sind in kurzen Abständen eingegangen: vierundzwanzig, dreißig und fünfundsiebzig Mark und zuletzt achtundzwanzig Mark an berechneten Kosten. Von den gesamten Einzahlungen hat der Einziehende an seinen Klienten nicht einen Pfennig ausgehändigt, diesem vielmehr nur einen Eingang von vierundzwanzig Mark zugestanden und diesen Betrag als noch nicht zur Deckung der Kosten ausreichend bezeichnet und einbehalten. Der p. Oldekop hat dann am heutigen 15. November sein Rechtsbureau in Hamburg aufgegeben und ist angeblich nach Reickendorf in Holstein übergesiedelt, ohne für eine vorherige Ordnung des Inkassos gesorgt zu haben. Er hat sich damit einer Unterschlagung schuldig gemacht, derentwegen der Strafantrag hiermit gestellt wird.‹«
Der Richter legte das Schriftstück vor sich auf den Tisch.
»Und so weiter!« fuhr er frei fort. »Die Behauptungen scheinen nicht hinreichend begründet, daß sie die Inhaftierung des Beschuldigten rechtfertigen würden. Ich bin deshalb zu dem Entschluß gekommen, einstweilen nur zu näheren und geheimen Nachforschungen Veranlassung zu nehmen. Was mir den Wert der Denunziation zu beeinträchtigen scheint, ist übrigens mancherlei: Da ist der Vertreter des Geschädigten: nicht Anwalt, sondern wie Oldekop Rechtskonsulent; da ist der schwülstige, oft gehässige Stil des Schreibens; ist die Hervorhebung der das Vergehen erhöhenden Notlage des Geschädigten; ist das Datum des Antrages, das die Vermutung aufkommen läßt, die Antragsteller hätten absichtlich den letzten Moment zum Zuziehen der Schlinge abgewartet und wohlvorberechnet ausgenützt; da ist endlich die Begründung der Unterschlagung mit den derangierten Verhältnissen des Beschuldigten, die ihn sogar dahin gebracht hätten, Möbel und Wohnung auf seinen unmündigen Sohn zu übertragen und durch diese Schiebung erstere vor den Gläubigern zu sichern. Aber es bleibt genug, um die Handlungsweise des Beschuldigten bedenklich und eine vorsichtige Verfolgung nötig erscheinen zu lassen. Ich sage: eine vorsichtige Verfolgung, und meine das in doppeltem Sinne. Vorsichtig, da der Beschuldigte die Ordnung der Angelegenheit ohne böse Absicht verzögert haben kann und das Versäumte vielleicht so schnell nachholt, daß eine Einmischung unsererseits entfällt, und zweitens vorsichtig, damit der Beschuldigte, wenn er etwa sein Konto belastet hat, nicht Wind bekommt ... hm ... Ich möchte Ihnen nicht eine vorgefaßte Meinung beibringen, die Sie vielleicht störend beeinflussen könnte ...«
Der Kommissar fiel ruhig ein:
»Sie tragen deshalb Bedenken, mir mitzuteilen, in welcher Richtung sich Ihre Gedanken über den Beschuldigten bewegen, und erachten die Aussprache doch insofern für wünschenswert, als sich aus Ihren Ansichten oder Folgerungen nützliche Fingerzeige für die Recherchen – wenigstens vielleicht – ergeben könnten. Eine Zwischenfrage, Herr Doktor: Soll ich in Hamburg und Reickendorf persönlich nachforschen?«
»Persönlich, selbständig oder in Verbindung mit den anderen Herren, ganz nach Ihrem Ermessen.«
»Dann gestatten Sie mir, Ihnen kurz darzulegen, wie ich meine Aufgabe auffasse. Ein Zusammenhang zwischen der Unterschlagungsaffaire und dem Verbrechen des Mordes kann als vorhanden nicht vorausgesetzt werden. Meine Nachforschungen sollen indes nicht allein feststellen, ob bei dem Inkassogeschäft des Beschuldigten eine dolose Handlungsweise vorliegt, sondern darüber hinaus über den Charakter des Mannes zu ermitteln suchen, was ihn für Vergehen überhaupt geeignet oder ungeeignet erscheinen läßt. Sollte sich erstens eine dolose Absicht in der Sache des Denunzianten und zweitens ein Verdacht gegen die allgemeinen Charaktereigenschaften des Mannes ergeben, so würde eine mögliche Verbindung der beiden Verbrechen nicht mehr ausgeschlossen und die Ermittlung entsprechend auszudehnen sein. Ohne dem Beschuldigten nahe treten zu wollen, möchte ich annehmen, daß Sie mit mir in seinen Wert einigen Zweifel setzen. Denn wenn auch die Denunziation übertrieben sein sollte: ganz aus der Luft werden solche Anschuldigungen doch wohl selten gegriffen. Und bewahrheitet sich die behauptete Schiebung mit dem Mobiliar, so könnte man dem Manne, der seinen Gläubigern das Schnippchen zu schlagen verstand, wohl auch andere gleichwertige – oder gewichtigere – Streiche zutrauen ...«
Dr. Mackens war einverstanden.
»Wir gehen konform, Herr Kommissar. Reisen Sie, sobald Sie abkommen können. – Wenn Sie sich aus den Akten Notizen machen wollen – sie stehen zu Ihrer Verfügung.«
»Ich bitte darum.«
Der Untersuchungsrichter nahm ein anderes Faszikel zur Hand und Grotthus entfernte sich in ein Nebenzimmer. Er füllte diverse Seiten seines Taschenbuches mit Notizen, las sämtliche Schriftstücke, auch die auf den Mord bezüglichen, noch einmal durch, brachte die Akten dem Richter zurück und empfahl sich.
»Wohin zuerst?« rief der Richter noch, als Grotthus schon in der Thür war.
»Ich werde zunächst den Herrn Rechtskonsulenten selbst beehren,« antwortete der Kommissar.