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Der plötzliche Tod des Australiers erregte Aufsehen und wurde in den Zeitungen in langen Artikeln besprochen.
Am Stammtisch in der Bülowstraße entspann sich über den Fall eine lebhafte Debatte, und Fantig gab der allgemeinen Stimmung Ausdruck, als er in ehrlicher Anteilnahme ausrief: »Das Haus hat noch allen Unheil gebracht, die damit zu tun hatten, und wenn Hunter auch sein eigener Herr war und keiner ihm querkommen durfte, recht ist es mir nie gewesen, daß er sich gerade da einnisten mußte!«
Nur Jeremias Kluckhohn hielt sich zurück. »Nee?« näselte er und schielte scheu auf die Tischplatte. »Hast du's ihm denn nicht gesagt? Er war doch dein Gönner.«
»Jawohl, war er!« betonte Fantig gereizt. »Aber keiner wie dein Wutschow! Pah, der Vergleich beleidigt schon. Der Mann hatte Herz und Wert – dein Wutschow, ach was, die Namen lassen sich ja gar nicht in einem Zuge nennen...«
»Geizig war er wohl nicht«, stichelte Jeremias.
»Nein, aber dein Freund ist es, eklig sogar«, trumpfte Fantig. »Und die Alte! Na, die passen zusammen. Prachtexemplare ...«
»Ja, ja«, warf der Wirt besänftigend ein, »so'n bißchen Leben, was ist das! 'n Streichholz ist auch nicht leichter auszublasen.«
»So«, knurrte Jeremias, »mußte er denn selbst blasen?«
»Kaue deinen eigenen Priem«, wies Fantig ihn zurecht. »Hat er's getan? Ist es ein Unglück gewesen? Weißt du es? Und hast du zu richten?«
»Das nicht. Bleibt aber immer feig!«
»Rede keinen Quatsch! Feig – feig! Gottbewahre, eher das Gegenteil! Was willst du denn? Der Mann hatte alles, was er wünschen konnte; Geld, Gesundheit, Arbeitskraft – sorglos konnte er leben, wenn sein Sinn bloß auf das Äußere gerichtet war. Aber das war es eben nicht. Der Mann hatte was in der Brust, was bei dir und deinem Wutschow nicht da ist; und weil das, weil das Herz nicht zufrieden war, warf er Gold und Leben von sich. Wenn's kein Unfall war – ich kann das nur immer wiederholen.«
»Hat er den schönen Tisch auch zufällig erbrochen?«
Fantig musterte Jeremias geringschätzig. »Einer, der ein armer Teufel oder ein Geizkragen ist, trägt seinen Rock sieben Jahre, und wenn's auch kaum noch Fetzen sind: 'n anderer latscht in seinen Stiefeln nur eine Woche herum und stülpt sich alle paar Tage einen neuen Deckel auf seinen Schädel. Soll einer, der mit Millionen wirtschaftet, nicht auch mal so'n nichtswürdigen Holzkasten kleinmachen dürfen, wenn er was drin sucht und nicht anders dazu kann oder wenn es ihm Vergnügen macht? Brauchte er mit Groschen zu rechnen?«
»Na, na, sollte es nicht mit seinen Groschen zu Ende gegangen sein?« setzte Jeremias seine Herausforderung fort.
»Du bist ein Kindskopf«, erwiderte Fantig entschieden. »Hätte er nicht da noch den schönen Bauplatz gehabt? Kannst du nicht bis drei zählen, daß dir das nicht einleuchtet?«
Fantig stand gereizt auf. »'n Abend, meine Herren.«
»Komm wieder«, rief ihm der Wirt begütigend nach.
Und am nächsten Abend stellte er sich wieder ein und fand die Situation ziemlich verändert.
Die letztwilligen Verfügungen waren inzwischen bekannt geworden.
Jeremias schnellte aus seiner hockenden Stellung auf und streckte dem Agenten die zittrige Hand hin.
»Na, da – gratuliere...«
Fantig war ernst und glitt fast müde auf einen Stuhl.
»Ich habe gar nicht gewußt, wen ich da verloren habe«, sagte er, und seine Stimme bebte.
»Kannst aber lachen«, wisperte Jeremias.
»Nein.«
Fantig saß in stillem Nachdenken.
»Ich habe viele miserable Menschen kennengelernt«, sagte er halb für sich, »aber wieviel doch ein einziger gutmachen kann. Wieviel mehr als gut. Und gerade der mußte gehen. Gerade dem kann man nicht mehr Dank sagen. Der liegt bleich und kalt, wird bald begraben und vergessen sein. Nein, von mir nicht...«
Er fuhr sich über die Augen.
»Ist das wahr, daß der Staatsanwalt die Leiche noch nicht zur Beerdigung freigegeben hat?« fragte Jeremias nach einer Weile.
Fantig nickte, ohne sich weiter auszulassen, und ein gewisser Ernst ehrte auch die übrigen Stammtischler, selbst den nervösen Jeremias nicht ausgeschlossen.
»Du gehst doch wohl immer noch zu deinem Freund hin«, wandte sich der Wirt an Jeremias. »Hast du nicht was von der Tochter gehört?«
»Ich misch mich nicht ein«, erklärte der Gefragte murmelnd.
»Na ja. Aber richtig scheint da auch nicht alles zu sein«, fuhr der Wirt fort. »Die Alte hat sich eine Frau als Aushilfe genommen – das ist ihr früher nicht eingefallen. Und die Tochter, sagt die Frau, ist nirgends zu sehen. Gekocht wird auch nur für zwei. Wenn da nichts dahintersteckt, will ich Muck heißen. Bloß Genaues weiß man nicht.«
Fantig verhielt sich schweigsam, bis das Gespräch sich abermals dem anscheinend auffälligen Eingreifen des Staatsanwalts zuwandte.
»Auffällig?« fragte er. »Wieso das? Passiert das nicht bei jedem derartigen Anlaß? Die Redensart: ›Das Genaue wird die Untersuchung oder die gerichtsärztliche Obduktion ergeben‹, die liest man doch fast alle Tage.«
»Ja, aber hier hat doch die Polizei schon gesprochen.«
»So? Die hat das Geschehene aufgenommen. Alles versteht die auch nicht, und ob wirklich ein Selbstmord vorliegt, ob wenigstens die tödliche Wunde von der eigenen Hand beigebracht sein kann und ob die Wahrscheinlichkeit dafür vorliegt, darüber haben andere Leute zu befinden: Fachleute, Ärzte. Und von denen das Gutachten einzuholen dürfte alles sein, was der Staatsanwalt will. Meines Erachtens eine Formsache, nichts weiter. Ja, wenn der Verwundete sich nicht selbst bezichtigt hätte, dann läge die Sache anders. Aber so – ich bin überzeugt, daß die Leiche sehr bald wieder freigegeben und das Verfahren abgeschlossen wird.«
Am dritten Tage nach dem Hinscheiden Hunters fand die Obduktion statt und ergab nach Ansicht der Sachverständigen die Bestätigung, daß der tödliche Schuß aus nächster Nähe und von der Hand des Getroffenen abgefeuert worden sei. Für die Tat von eigener Hand sprachen auch die Umstände, daß die aus dem Körper entfernte Kugel mit den noch in dem Revolver befindlichen übereinstimmte und daß die Waffe selbst als das Eigentum des Verstorbenen festgestellt werden konnte. Hätten die auf dem Schaft eingravierten Initialen W. H. noch einen Zweifel gelassen, so würde dieser durch das Zeugnis der Aufwartefrau Hunters beseitigt worden sein, die die Waffe wiederholt in dem geöffneten Schubfache des Schreibtisches hatte liegen sehen, wenn der Eigentümer sich mit seinen Bauplänen beschäftigte und das Fach ruhig hatte halb offenstehen lassen.
Nach dem gerichtsärztlichen Urteil kam die Erlaubnis zur Bestattung des Toten bereits in der Frühe des nächsten Tages.
Dr. Bruchs hatte einen Kollegen mit der Vertretung in seiner Praxis beauftragt und widmete sich ausschließlich der Sorge um den toten Freund.
Die Aufbahrung erfolgte sofort nach Eingang des staatsanwaltlichen Schreibens.
Um die Mittagszeit wurde Hedwig mit Frau Marie aus London zurückerwartet. Sie sollte noch mit einem Blick in das Antlitz des Freundes von diesem Abschied nehmen, dann der Sarg geschlossen und am Nachmittag der Erde übergeben werden.
Bruchs begab sich lange vor der Ankunft des Zuges nach dem Bahnhof und wartete. Als der Zug in die Halle einlief, gewahrte er in einem geöffneten Coupéfenster schon von fern den blonden Kopf seiner Braut. Aber kein Tücherschwenken grüßte; stumm, mit tränenverdunkeltem und doch leuchtendem Blick stand das junge Mädchen, nickte dem Verlobten zu und schmiegte sich ihm still in die ausgebreiteten Arme.
Und dann standen sie an dem Sarg des Mannes.
»Max, wie schrecklich ist das alles«, flüsterte Hedwig durch ihr Schluchzen.
»Ja, mein Lieb. Aber es liegt so voller Frieden auf seinen Zügen – der Tod ist auch etwas Erhabenes. Er hat gekämpft in den letzten Stunden, sein Gesicht war verzogen und eingefallen – der Tod hat die Züge gerundet, geklärt und verschönt.
Hedwig und Frau Marie stiegen in den ersten Stock empor und traten befangen in das Prunkgemach der Hausfrau.
Frau Wutschow mochte ihre Ankunft bemerkt und sie bereits erwartet haben. Sie empfing die Tochter an der Tür, schloß sie im ersten Empfinden in die Arme und zog den blonden Kopf an ihre Brust. Kein Laut kam von den stolzen Lippen, nur ein Druck der Arme gab der Wiedersehensfreude Ausdruck, und nach wenigen Augenblicken schien die Frau ihre volle Fassung wiedergewonnen zu haben.
»Geh auf dein Zimmer, mein Kind, und lege ab«, sagte sie und lud die Begleiterin der Tochter kühl ein, Platz zu nehmen.
»Herrn Doktor Bruchs' Schwester?« fragte sie, als Hedwig zögernd gegangen war.
»Ja, gnädige Frau, und die Freundin Ihres Kindes.«
»Ich will Ihnen keinen Vorwurf mehr machen...«
Das klang herb.
»Ihr Kind hat meine ganze Liebe gewonnen«, sagte Frau Stahl freundlich.
»Und die der Mutter verloren«, fiel die Hausfrau ein.
»Kann ein Kind das?« fragte die junge Frau ernst.
Frau Wutschow wandte sich dem Fenster zu und sah hinaus.
»Sie haben den Sonnenschein im Hause, liebe Frau Wutschow; wärmen Sie sich doch daran«, redete Frau Marie freundlich zu.
»Ich kann nicht«, klang es bitter zurück. »Und wenn – fliegt der Sonnenschein nicht fort?«
Hedwig kam zurück. »Ich konnte nicht anders, Mama!«
»Nun ja«, murmelte die Frau dumpf. »Ja, laß es gut sein. Geh und hilf in der Küche, wir haben einen Gast.«
Sie eilte fort, sie selbst trug auf, und sie war froh, daß die Mutter sich so weit zu beherrschen suchte, wenigstens äußerlich den Besuch zu ehren.
»Ist dein Bräutigam unten?« fragte Frau Wutschow. Hedwig sah auf die Freundin.
»Mein Bruder hat noch zu tun«, antwortete Frau Marie.
»Magst du ihm eine Tasse Tee hinuntertragen?«
»Wollen Sie ihn nicht heraufbitten?« wandte Marie freundlich ein.
»Wenn er will ...«
Dr. Bruchs kam mit der Braut und begrüßte die Schwiegermutter mit freundlichem Ernst.
»Danke. Aber nur eine Viertelstunde ...«
Die kurze Frist verging in gezwungener Unterhaltung.
Einförmig und düster verlief die Trauerfeier in der Wohnung, und ernst und langsam setzte sich vom Hofe aus der Leichenwagen in Bewegung.
Die Wagen des Gefolges schlossen sich auf der Straße an, und nur Wutschow hatte die von ihm bestellte Kutsche auf den Hofraum beordert.
Mürrisch kletterte er die Verandatreppe hinab, schloß den Pelz über dem neuen, schwarzen Anzug und rückte an dem ihm unbequemen Zylinder. Dicht vor dem Wagen blieb er stehen, fixierte das ihm fremde Gesicht des Kutschers, schnupperte in das Innere des Gefährts, ging rundherum, stierte auf die Achse der Hinterräder und murmelte halb für sich: »Da fahre ich nicht mit – da hinten sitzt noch einer.«
Er zog eine Börse, händigte dem Kutscher den vereinbarten Fahrpreis und einen Zwanzigpfennignickel als Trinkgeld aus und zog sich schleppend auf die Veranda zurück.
»Was sagte er?« fragte der Mann auf dem Bock den in der Nähe stehenden Fritz Müller.
Müller zog sich hinter die Kutsche zurück, daß er von der Veranda aus nicht gesehen werden konnte, und tupfte sich gegen die Stirn.
»Der? Ja, der muß woll mehr sehn als andere Leute. Macht er bei mir auch so. Bald sitzt einer hinten auf dem Wagen und läßt 'n nicht los, bald geht einer vor die Schimmel und führt uns irre – bloß, daß die immer kein Mensch nicht sehen kann als bloß er...«
»Ick jloobe, der will sich bloß von die Fuhre drücken«, meinte Fritz Müllers Kollege drastisch.
Wenn er aber damit das Richtige getroffen hatte, so hatte Wutschow offenbar mit seiner List bei der Frau des Hauses keinen Anklang gefunden, denn er kroch eben wieder die Treppe hinab und kam, während Frau Wutschow hinter den Verandascheiben sichtbar wurde, aufs neue an den Wagen.
»Hinein gehe ich aber doch nicht«, knurrte er, kletterte neben den Kutscher auf den Bock und hieß ihn abfahren.
»Man immer langsam«, schränkte er ein, »dahinaus kommen wir noch früh genug ...«
Starr sah Frau Wutschow dem Wagen nach, bis der Duft von Blumen und Wachskerzen aus dem Sterbezimmer ihr belästigend auf die Nerven fiel und sie forttrieb.
Sie wankte wie eine Nachtwandlerin, die Schläfen schmerzten ihr, und der Gedanke befriedigte und marterte sie zugleich, daß ein neues Geheimnis des Hauses Nr. 100 nur ihr alleiniges Eigentum war.
Wer der Verstorbene gewesen war, wer die Hand gegen ihn erhoben hatte – niemand außer ihr wußte es.
Und sie litt in dumpfer Qual ...