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I. Die Natur und der Genius im Menschen

Meine Dornen und Glätten sind ebenso Eigenschaften eurer Hand, wie meine Eigenschaften. Ich kann nicht sagen, was ich bin; nicht mehr als ein Sommersonnenstrahl. Was ich bin, das bin ich und spreche es nicht. Sein ist der große Erklärer. Soll ich mit dem Versuch zu erklären alle Stacheln wegbrechen, bis keine Distel übrig bleibt, sondern ein Strunk?

*

Mein Gedanke ist ein Teil von der Bedeutung der Welt, und also gebrauche ich einen Teil der Welt als Symbol, um meine Gedanken auszudrücken.

(Tagebücher)

*

Ich will ein Wort für die Natur einlegen, für vollkommene Freiheit und Wildheit im Gegensatz zu bloß bürgerlicher Freiheit und zu Kultur; ich will den Menschen als Bewohner oder Stück und Teil der Natur betrachten und nicht als Glied der Gesellschaft. Ich will meine Darlegungen auf die Spitze treiben, wenn es mir nur gelingt, ihnen damit genügend Nachdruck zu verleihen; denn die Zivilisation findet Streiter genug: der Geistliche und der Schulrat und jeder von euch wird sich ihrer annehmen.

(Ausflüge)

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Wer gewissenhaft als Beobachter auszieht, bringt keine Kunde von der Natur; aber dem, der von Leben strotzt, stürmt sie entgegen, um sich zu offenbaren. Dem vollen Herzen ist sie alles eher als eine Redensart.

(Tagebücher)

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Die Gesetze, nach welchen die Welt entstand und die Weltsysteme kreisen, sind in einem Bächlein geschmolzenen Schnees in voller Wirksamkeit zu sehen.

(Tagebücher)

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Warum schafft das Stöhnen des Sturmes Genuß? Wohl deshalb, weil es die Alltäglichkeit unseres Schön-Wetter-Lebens vertreibt und diesem wenigstens ein tragisches Interesse verleiht. Dieser Laut wirkt wie ein erfreuender Weckruf, der unsere Energie zum Widerstand gegen Eindringlinge in den Bereich unseres Lebens auffordert. Er ist Musik und durchbebt uns wie des Feindes Horn.

(Tagebücher)

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Lasset uns den Einklang unseres Lebens mit dem Leben der Natur andächtig bewahren und bewachen. Hitze und Kälte, Tag und Nacht, Sonne, Mond und Sterne, was wären sie uns sonst? Geschah es nicht aus Übereinstimmung mit dem gegenwärtigen Leben der Natur, daß wir gerade zu dieser Zeit geboren wurden und nicht zu einer anderen? Mein Leben gehört der Gegenwart so innerlich an, wie das der Weide im Frühling, jetzt erblühen ihre Kätzchen, jetzt blinkt ihre gelbliche Rinde, jetzt steigt ihr Saft, jetzt oder nie müßt ihr Pfeifen scheiden. Laßt den Tag euch Helfer sein, den Tag und die Nacht.

(Tagebücher)

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Obgleich die Gesetze der Natur unveränderlicher sind als die irgend eines Despoten, erscheinen sie doch selten starr, sondern gewähren manche Freiheiten an schönen Sommertagen. Wir werden nicht oft und nicht rauh an das erinnert, was wir nicht tun dürfen. Ich wundere mich oft darüber, wie lange manche Leute, denen ich auf der breiten Heerstraße begegne, ihr Leben in offensichtlicher Übertretung der Naturgesetze zu behaupten vermögen. Die Natur versagt ihnen nicht den Unterstand und läßt sie nicht ohne Priester sterben. Zugleich frohlockt sie immerzu, denn sind sie nicht der eine Teil von ihr, so sind sie eben der andere.

(Tagebücher)

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Natur ist immer mythisch und mystisch und arbeitet mit der Willkür und Überschwenglichkeit des Genies. Sie hat ihren schwülstigen und überladenen Stil so gut wie die Kunst. Wenn sie das Trinkgefäß eines Wanderers gestalten will, so gibt sie dem Ganzen: dem Stengel, der Schale, dem Henkel und der Nase, eine ganz phantastische Form, als sollte der Wagen einer sagenhaften Meergottheit, eines Nereus oder Triton, daraus werden.

(Ausflüge)

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Natur ist höhere und vollkommenere Kunst, die Kunst Gottes; auf sich selbst bezogen ist sie jedoch Genie. Sie hat sich vervollkommnet durch Übung von Ewigkeit her.

(Eine Woche)

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Wir haben Ursache, für die Erscheinungen am Himmel dankbar zu sein, weil sie vor allen anderen unsern Idealen entsprechen. Die Sterne sind fern und unaufdringlich, aber leuchtend und unwandelbar wie unsere liebsten und denkwürdigsten Erlebnisse.

(Tagebücher)

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Die wundervollste Szenerie hört auf erhaben zu sein, sobald sie deutlich wird; mit anderen Worten: sobald sie Grenzen zeigt und die Phantasie nicht mehr zur Übertreibung anregt. Die tatsächliche Höhe und Breite eines Berges oder eines Wasserfalles ist immer lächerlich gering; nur was wir in der Phantasie sehen, befriedigt uns. Die Natur ist nicht so beschaffen, wie wir sie haben möchten. Wir übertreiben liebevoll ihre Wunder, wie wir die heimatliche Landschaft überschätzen.

(Eine Woche)

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In der ganz wilden Natur liegt nicht nur das Rohmaterial für die höchste Kultur und gewissermaßen die Vorwegnahme ihrer letzten Ergebnisse, sondern auch schon eine größere Verfeinerung, als sie je durch Menschenhand erreicht werden kann. Die Natur ist immer bereit, das herrlichste Werk menschlicher Kunst in ihrem Bereich willkommen zu heißen, denn sie selbst ist ein Kunstwerk von solcher Vollendung, daß der Künstler nie in seinem Werk erscheint.

(Eine Woche)

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Ich empfinde es bei einem Vortrag als größeren Erfolg, auf nicht kultivierte Naturen zu wirken, als auf die höchst verfeinerten, denn alle Bildung ist notwendig oberflächlich, und ob ihre Wurzeln nach dem Zentrum des Daseins gerichtet sind, ist nicht gewiß.

(Tagebücher)

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Ich sehe eine glühend rote Wolke am Horizont. Ihr sagt: es ist eine Dunstmasse, die alle Strahlen aufsaugt und nur die roten zurückwirft. Aber das hat nichts mit der Sache zu tun, denn diese Vision von Rot regt mich auf, bringt mein Blut in Wallung, meine Gedanken in Fluß und erweckt unbeschreibliche, neue Gebilde in meiner Phantasie. Das Geheimnis dieser Wirkung habt ihr nicht berührt; wenn in eurer Erklärung nichts Mystisches liegt, so ist sie vollkommen unzulänglich.

(Tagebücher)

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Im Mondenlicht ist alles einfach. Es bleiben so wenige Gegenstände übrig, daß wir unsern Geist aufrichten können und uns selbst. Alle Ablenkung fällt weg. Es ist einfach Wasser und Brot. Es ist einfach wie die Anfangsgründe einer Kunst, in der wir vor Anbruch des Tages unterwiesen werden, – vielleicht, um uns auf ihn vorzubereiten.

(Tagebücher)

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Es gibt Gedanken fürs Freie und Gedanken fürs Haus. Meine Gedanken sollen wie die wilden Äpfel eine Kost sein für Wanderer; ich stehe nicht gut dafür, daß sie im Hause genossen wohlschmeckend sind.

(Ausflüge)

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Der Steinmetz poliert nur den Zierat für den Kaminsims; aber die Pyramiden sind roh behauen. In einem rauhen Äußeren, in unbearbeitetem Granit liegt ein Ernst, der zu Tiefen in uns spricht; eine glatte Oberfläche aber wirkt nur auf unseren Augapfel.

(Tagebücher)

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Wenn ich aus dem Hause trete, um spazieren zu gehen, und die Entscheidung, wohin ich die Schritte lenken will, meinem inneren Trieb überlasse, so finde ich – es mag absonderlich und grillenhaft erscheinen –, daß ich schließlich unfehlbar gegen Südwest aufbreche, nach einem Wald oder einer Wiese, nach einer verlassenen Halde oder einem Hügel, die in dieser Richtung liegen. Meine Nadel schwankt wohl eine Weile hin und her, weicht auch um etliche Grade ab und zeigt nicht immer rein nach Südwesten, aber zwischen West und Südsüdwest setzt sie sich sicherlich fest. Dortzu liegt für mich die Zukunft, dort erscheint mir die Erde weniger erschöpft und noch reicher. Nach Osten gehe ich nur gezwungen, nach Westen freiwillig.

Ich würde diese Tatsache nicht weiter betonen, wenn ich nicht glaubte, daß eine ähnliche Tendenz bei meinen Landsleuten vorherrscht. Meine Wanderung führt mich nach Oregon, nicht nach Europa, und denselben Weg wandert die Nation; ja, es läßt sich sogar behaupten, daß die Menschheit von Osten nach Westen fortschreitet. – Ostwärts gehen wir den zurückgelegten Weg der Rasse nach, um uns die Geschichte zu vergegenwärtigen und um die Werke der Kunst und Literatur zu studieren; westwärts gehen wir gleichsam in die Zukunft hinein, belebt von Unternehmungsgeist und Abenteuerlust.

(Ausflüge)

*

Der Westen, von dem ich spreche, ist nur ein anderes Wort für das Wilde, und die Behauptung, die ich vorbereiten wollte, ist diese: daß in der Wildheit die Erhaltung der Welt liegt. Ich glaube an den Wald und an das Feld und an die Nacht, in der der Mais wächst.

(Ausflüge)

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Leben besteht nur zusammen mit Wildheit. Das lebendigste Leben ist das wildeste. Mit seiner Gegenwart erfrischt es den Menschen, weil es ihm noch nicht Untertan ist. Wer unaufhörlich vorwärtsdrängte und nie von seinen Arbeiten ruhte, wer rasch weiterkäme und unbegrenzte Anforderungen an das Leben stellte, der wäre immer in einem Neuland, immer in einer Wildnis, immer umgeben von dem Rohmaterial des Lebens. Er würde über die hingestreckten Stämme der Urwaldbäume klettern.

(Ausflüge)

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Wir dürfen nicht erwarten, das Allerheiligste irgend eines Lebens, des tierischen oder des pflanzlichen, mit den Fingern greifen zu können. Wenn wir es tun, so finden wir wieder nichts als Oberfläche. Die bedeutungvollste Kundgebung, die Frucht jedes erschaffenen Dinges liegt in einer feinen Ausstrahlung, die allein das liebende und reine Herz und nur in ehrerbietiger Entfernung von der Oberfläche wahrnimmt.

(Tagebücher)

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Ich glaube, der Gelehrte (und mit ihm die Mehrzahl der Menschen) irrt mit der Annahme, daß wir einem eindrucksvollen Naturphaenomen unsere Aufmerksamkeit in der Art zuwenden, als wäre es etwas von uns ganz Unabhängiges, und nicht so, wie es mit uns in Beziehung steht. Die Hauptsache ist gerade, wie es auf mich wirkt. Der Gelehrte meint, ich habe an einem Regenbogen nichts anderes zu sehen, als was mir seine Definition darüber gibt. Mir ist es aber ganz gleichgiltig, ob die Erscheinung, die ich sehe, ein wacher Gedanke ist oder die Erinnerung an einen Traum, ob sie sich auf hellem oder auf dunklem Grunde abhebt. Das Subjekt der Erscheinung, ihre Wahrheit allein ist's, was mich angeht. Der Philosoph, für den der Regenbogen wegerklärt werden kann, hat ihn nie gesehen.

(Tagebücher)

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Die Natur muß vom Gesichtspunkt des Menschen aus betrachtet werden, wenn sie überhaupt betrachtet werden soll; das heißt, ihre Erscheinungen müssen mit Regungen des menschlichen Gemüts in Zusammenhang gebracht werden, wie sie zum Beispiel mit dem Boden der Heimat verknüpft sind. Einem Liebenden hat sie unendlich viel zu sagen; wenn ich aber keinen Freund habe, was ist mir Natur? Sie hört auf, eine sittliche Bedeutung zu haben.

(Tagebücher)

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Es genügt, das unscheinbarste Ereignis, das bestbekannte Phänomen um eines Haares Breite abseits von dem altgewohnten Standpunkt zu betrachten, und sogleich wird uns seine Schönheit überströmen und entzücken. Nur was wir gegriffen und abgenützt haben, ist trivial: unser Schorf, unsere Wiederholungen, Traditionen und Gleichförmigkeiten. Die Zeit der Wunder kehrt immer wieder; jetzt sind's wilde Äpfel, jetzt Spiegelungen im Fluß und jetzt ein Flug kleiner Leinfinken. Schönheit und Musik sind nicht Besonderheiten und Ausnahmen, sondern die Regel und der innewohnende Charakter.

(Tagebücher)

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Die Dinge sind nicht so sehr deshalb vor unseren Blicken verborgen, weil sie außerhalb unseres Sehfeldes liegen, als vielmehr darum, weil wir Sinn und Auge nicht auf sie zu richten verstehen; denn in dem Auge selbst liegt keine Sehkraft, nicht mehr als in irgend einer anderen Gallertmasse. Wir machen uns nicht klar, wie ferne und umfassend oder wie nahe und begrenzt wir zu schauen haben. Die meisten Naturerscheinungen bleiben uns daher unser ganzes Leben lang verborgen. Der Gärtner sieht nur den Garten des Gärtners. Auch hier entspricht das Angebot der Nachfrage, wie in der Nationalökonomie. Die Natur wirft keine Perlen vor die Säue. In einer Landschaft ist genau so viel Schönheit für uns sichtbar, als wir zu würdigen verstehen – und kein Atom mehr.

(Ausflüge)

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Ich rede zu gar keiner Intelligenz in der Natur, sondern ich denke mir irgendwo ein unendliches Herz, in das hinein ich spiele.

(Tagebücher)

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Sieh, welch ein Leben uns die Götter gegeben haben, umsäumt von Schmerz und Lust! Es ist zu seltsam für Trübsal, zu seltsam für Freude. Einmal erscheint es so seicht und auch so verworren, wie ein kretisches Labyrinth; und dann wieder ist es eine weglose Tiefe. Ich verlange unaufhörlich nach Brot, damit mein Leben mich aufrecht erhalte so wie Speise meinen Körper. Keiner weiß, in welcher Stunde sein Leben beginnen mag.

(Tagebücher)

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Die Leute schwätzen über die Wunder in der Bibel, weil es kein Wunder in ihrem Leben gibt. Hört auf, diese Rinde zu benagen! Es hängt reife Frucht über euren Häuptern.

(Tagebücher)

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Wenn man bei einem Spaziergang schon glaubt, er sei fruchtlos und mißlungen, wenn man sich nur mit Mühe überreden kann nicht umzukehren, so steht man vor dem Augenblick des Erfolges, denn dann ist man in jener ergebenen und demütigen Stimmung, der die Natur sich zu erschließen nie verfehlt.

(Tagebücher)

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Mein Geschäft besteht darin, aus der Natur jede Nahrung zu gewinnen, die sie mir liefern kann, bei Gefahr endloser Wiederholung. Ich melke den Himmel und die Erde.

(Tagebücher)

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Ich kenne keine ermutigendere Tatsache als die unleugbare Fähigkeit des Menschen, sein Leben durch bewußte Anstrengung in eine höhere Sphäre zu erheben. Es hat schon etwas zu bedeuten, wenn einer ein hervorragendes Bild zu malen oder eine Statue zu meißeln versteht, kurz, etwas Schönheit in die Dinge zu bringen weiß. Aber weitaus köstlicher ist es, die Atmosphäre, das Medium selbst, durch welches wir hindurchblicken, zu meißeln und zu malen, wozu unsere moralische Kraft uns befähigt. Auf die Beschaffenheit des Tages einzuwirken, das ist die höchste Kunst. Jeder hat die Verpflichtung, das eigene Leben bis in seine Einzelheiten der Betrachtung seiner weihevollsten und kritischesten Stunden würdig zu gestalten.

(Walden)

*

Ich finde, daß die Ereignisse der Aktualität, ungeachtet des besonderen Platzes, den wir ihnen einräumen, weit weniger wirklich sind, als die Geschöpfe meiner Phantasie. Alles, was wir gemeinhin Leben und Tod nennen, ist nur ein bedeutungsloser Schatten und berührt mich weniger als mein Traumleben. Unsere Gedanken sind die Epochen in unserem Leben: alles andere ist nur wie das Tagebuch des Windes, der blies, während wir gerade da waren.

(Briefe)

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Eines Nachmittags, da ich so durch den Wald schlendere, flitzt der Schatten eines Gedankenflügels durch die Landschaft meines Geistes und bringt mir in Erinnerung, wie wenig ereignisreich unser Leben ist. Was waren sie, alle diese Kriege und Kriegsgerüchte, diese modernen Entdeckungen und sogenannten Fortschritte? Nichts als eine Reizung der Oberhaut. Aber dieser Schatten, der so rasch vorübergehuscht war und dessen Substanz unentdeckt ist, gibt mir zu verstehen, daß es Ereignisse von Bedeutung gibt, zwischen denen für uns die Perioden der wahren Geschichte liegen.

(Tagebücher)

*

Alle Ereignisse, die die Annalen der Völker bilden, sind nur die Schattenbilder unserer eigenen Erfahrungen, eine unvollkommenere Erinnerung an eigene Erlebnisse. Überlieferung bedeutet eine losere und blassere Erinnerung.

(Eine Woche)

*

Die Welt ist nur Leinwand für unsere Vorstellungen. Ich sehe die Menschen rastlos bestrebt und bemüht, die Fähigkeiten ihres Geistes zum Nutzen ihrer Leiblichkeit anzuwenden; ich aber möchte diese Fähigkeiten – was nicht weniger mühevoll ist – für meine Ideenwelt verwerten, in der sicheren Überzeugung, daß es über den Bedürfnissen des Körpers und unabhängig von ihm ein geistiges Leben gibt. Oft wird der Körper erwärmt, während die Phantasie erstarrt bleibt; der Körper ist wohlgenährt, aber die Phantasie ist dürr und verschrumpft. Was helfen alle anderen Güter, wenn dieses eine fehlt? »Die Phantasie ist für den Geist die Luft«, in der er lebt und atmet. Alle Dinge sind so wie ich bin; wozu brauche ich die Wechselstube? Die Vergangenheit ist nur in dem Grade heroisch, in dem wir sie heroisch sehen. Sie ist die Leinwand, auf die unsere Vorstellung von Heroismus gemalt wird; daher ist sie auch in gewissem Sinne der dämmerige Ausblick in unsere Zukunft. Die Verhältnisse, in denen wir stehen, entsprechen den Erwartungen, die wir hegen, und den Forderungen unserer Natur.

(Eine Woche)

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Letzten Endes treffen die Menschen nur das, wonach sie zielten. Darum täten sie besser, wenn sie es auch fürs erste fehlen sollten, nach einem hohen Ziel anzulegen.

(Walden)

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Es ist ganz wunderbar, wie wir in unserem Leben fortwährend bis in die geringsten Alltäglichkeiten auf das Übernatürliche hingewiesen werden. Wenn ein Porträt gemalt wird, so ist nicht das Urteil der Frau über ihren Gatten, nicht des Gatten Urteil über seine Frau, noch ihrer beider Urteil über den Künstler, überhaupt kein Urteil von Menschen über Menschen endgiltig und hinreichend. Der Mensch ist niemals der entscheidende Richter über eine Handlung, und wäre sie so minderwertig wie etwa Holzspalten. Die Königin und die Zofe, der König und der Söldner, der Indianer und der Sklave, sie alle appellieren an Gott.

(Tagebücher)

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Wir sollten Geschichte ebensowenig kritisch lesen als wir eine Landschaft kritisch betrachten; wir sollten unser Interesse den verschiedenen atmosphärischen Farben- und Lichtschattierungen, die der zeitliche Abstand hervorruft, in höherem Maße zuwenden, als dem Grundriß und Aufbau. Geschichte ist der Morgen, der Abend geworden ist und jetzt im Westen steht; die gleiche Sonne in neuer Beleuchtung und Farbe. Ihre Schönheit gleicht der des Sonnenuntergangs. Sie ist kein Freskogemälde, mit scharfen Konturen flach auf eine Wand gemalt, sondern sie schweift im Luftraum frei umher. Und wirklich, die Geschichte wandelt sich, wie das Landschaftsbild vom Morgen zum Abend. Von Wichtigkeit an ihr ist ihr Duft und ihre Farbe. Die Zeit hält keine Schätze verborgen; was wir von ihr fordern, ist nicht ihr Damals, sondern ihr Jetzt.

(Eine Woche)

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Der Mensch nimmt nur das auf, was er aufzunehmen bereit ist, sei es physisch, geistig oder moralisch, wie die Tiere ihre Art nur zu gewissen Jahreszeiten empfangen. Wir hören und verstehen nur, was wir schon halb wissen. Jeder folgt durchs Leben nur seiner eigenen Fährte.

(Tagebücher)

*

Übertreibung! Wurde jemals einem Manne eine Tugend zugeschrieben ohne Übertreibung? ein Laster ohne ungeheuere Übertreibung? Übertreiben wir uns nicht selbst vor uns selbst, oder gestehen wir uns etwa ein, was wir wirklich sind? Sind wir nicht alle große Männer? Aber was sind wir, wovon sich tatsächlich reden ließe? Wir leben nur durch Übertreibung. Mehr erhoffen als genießen, ist das etwas anderes? Der Blitz ist eine Übertreibung des Lichts, Geschichte in Übertreibung wird Poesie, wird Wahrheit, die ein neues Maß verlangt. Wer zu übertreiben nicht versteht, ist nicht danach beschaffen, die Wahrheit zu sprechen. Ohne solchen Nachdruck, der die Existenz jeder anderen Wahrheit zur selben Zeit auszuschließen schien, wurde nach meiner Meinung niemals eine Wahrheit vorgebracht. Und überdies: zu Harthörigen muß man laut sprechen und nimmt dadurch die Gewohnheit an, auch dann zu schreien, wenn's nicht nötig wäre.

(Vermischte Schriften)

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Diese Welt ist ein Geschäftsplatz. Welches endlose Jagen! Das Dröhnen der Lokomotive weckt mich fast jede Nacht und reißt mich aus meinen Träumen. Es gibt keinen Feiertag, und doch wäre es köstlich, die Menschen wenigstens einmal müßig zu sehen. Aber alles ist Arbeit, Arbeit und wieder Arbeit. Ich finde, daß nichts, nicht einmal das Verbrechen, der Poesie, der Philosophie, ja dem Leben selbst so entgegengesetzt ist, wie dieses unaufhörliche Geschäft. Es ist die Verneinung des Lebens.

(Vermischte Schriften)

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Worauf läuft schließlich die praktische Seite des Lebens hinaus? Die Dinge, die einer sofortigen Erledigung bedürfen, sind ganz bedeutungslos. Ich könnte sie alle verschieben, um dem Zirpen dieser Grille zuzuhören.

(Eine Woche)

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Die Wege, auf denen Geld zu verdienen ist, führen fast ausnahmelos abwärts. Wenn uns eine Arbeit bloß Geld einbringt, dann sind wir wirklich faul gewesen, oder noch schlimmeres. Der Arbeiter, der nicht mehr erwirbt, als den Lohn, den ihm sein Herr zahlt, ist betrogen und betrügt sich selbst. Wer durch Schriftstellerei oder durch Vorträge Geld machen will, muß populär zu werden trachten, und das bedeutet senkrechten Niedergang. Die Dienste, für welche die Gesellschaft am bereitwilligsten zahlt, sind die, die zu leisten am peinlichsten ist: man wird bezahlt, um weniger zu sein, als ein Mensch.

(Vermischte Schriften)

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Ich möchte darauf hinweisen, daß man sehr fleißig sein und dabei doch einen schlechten Gebrauch von der Zeit machen kann. Es gibt keinen gröberen und unheilvolleren Mißgriff, als den, den größten Teil des Lebens dem Broterwerb zu widmen. Alle großen Unternehmungen erhalten sich selbst. Der Dichter zum Beispiel muß sich durch seine Dichtung lebendig erhalten, wie eine Dampfhobelwerkstätte ihren Kessel mit den eigenen Abschnitzeln speist. Unsere Liebe muß den Unterhalt unseres Lebens beschaffen. Wie aber unter den Kaufleuten nach allgemeiner Behauptung siebenundneunzig vom Hundert fallieren, so ist das Leben der meisten Menschen, an jenem Maß gemessen, ein Mißerfolg, und der Bankerott läßt sich sicher vorhersagen.

(Vermischte Schriften)

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Der innere Reichtum steht in geradem Verhältnis zur äußeren Armut. Bei kaltem Wetter brennt das Feuer mit reinerer Flamme.

(Tagebücher)

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Wer wirklich nutzbringend arbeitet, pfercht seinen Tag nicht voll mit Tätigkeit, sondern schlendert gemächlich zu seiner Arbeit, umflossen von einem breiten Schein von Muße und Behagen. Sein Tag gestattet ihm einen breiten Rand für Erholung. Er ist nur darauf bedacht, den Kern seiner Zeit in Sicherheit zu bringen, und übertreibt den Wert der Schale nicht. Wozu sollte die Henne den ganzen Tag sitzen? Sie kann ja doch nur ein Ei legen; und außerdem verabsäumt sie, den Stoff für ein neues aufzupicken. Wer viel arbeitet, arbeitet nicht tüchtig.

(Tagebücher)

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Die Leute sind närrisch, die vor allem materielle Güter, Häuser und Ländereien aufhäufen. Das Stammkapital unseres Lebens, unser wirklicher Grundbesitz, ist jene Summe von Gedanken, die wir gehabt und durchgedacht haben. Der Boden, den wir auf diese Art bereiteten, bleibt für alle Zeit der Weideplatz für unsere Gedanken. Wer jemals ein Werk ausgeführt hat mit diesen feinsten Werkzeugen: Phantasie, Geist und Verstand, der hat eine neue Schöpfung vollbracht, die unabhängig von der Welt als ewiger Besitz fortwährt. Ein Etwas, zurückgelegt für Regentage; ein Platz, ausgerodet in der Wildnis.

(Ausflüge)

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Ist der nicht gastfreundlich, der Gedanken bei sich empfängt?

(Tagebücher)

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Das Kapital, dessen wir bedürfen, ist völlige Unabhängigkeit von jeglichem Kapital, außer von reinem Gewissen und entschlossenem Willen.

(Tagebücher)

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Der Wert einer Sache wird meistens nach der Menge Geld geschätzt, die sie einbringt. Jedes Ding, sagen wir etwa die hübsche Lage für ein Haus, gilt so lange für wertlos, bis es nicht in so und soviel Geld umgesetzt werden kann, das heißt, bis es nicht aufhört zu sein, was es ist, und zu etwas wird, das man vorzieht. Alle prosaischen Leute, Leute, die nicht mehr haben als Hausverstand und in erster Linie an diese Art Reichtum glauben, spekulieren also, wie man sieht, in unsicheren Papieren und betrügen sich fortwährend selbst; die Dichter aber und alle einsichtvollen Leute, die ideale Zwecke im Leben verfolgen und wissen, was sie brauchen, spekulieren in wahren Werten. Der gemeine und niedrige Wert der Dinge hängt ab von seiner Umsetzbarkeit in etwas anderes und hat mit dem inneren Wert nichts zu schaffen. Für die meisten hat die Welt und das Leben tatsächlich nur diesen niedrigen Wert. In den Südstaaten hat der Mensch als Sklave einen bestimmten Preis; so viele Dollars ist er wert. Im Norden ist es ganz ebenso. Mancher beginnt sein Leben mit der Absicht, innerhalb eines Zeitraums oder bis zu seinem Tode eine gewisse Summe Dollars zu machen; und die ist dann sein Preis, nicht anders, als wenn er in den Südstaaten um diesen Betrag bei einer Auktion veräußert worden wäre.

(Tagebücher)

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Ich kann weder denken, noch meine Gedanken aussprechen, wenn ich nicht unbegrenzten Raum habe. Der Dom des Himmels ist nicht zu hoch, die See ist nicht zu tief für den, der einen großen Gedanken entfalten will. Er muß mich nähren, wärmen und gewanden, er muß ein Fest sein, zu dem mein ganzes Ich geladen ist; ich muß wissen, daß die Götter mit mir zu Gast sein werden.

(Tagebücher)

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Ich bin wie eine Feder, die im Luftraum schwebt. Zu allen Seiten ist unergründliche Tiefe.

(Tagebücher)

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Es ist von größter Wichtigkeit, daß ein jeder seine Bestrebungen auf Gebiete beschränke, der Gelehrte zum Beispiel auf Studien, die seinem Leben zunächst liegen, zu seinem Leben hinführen und nicht wider die innerste Neigung seines Willens oder seiner Vorstellungswelt löken. Im Verlauf seiner Untersuchungen findet der Gelehrte manche Gebiete, die ihm besonders fruchtbar und leuchtend, manche andere, die ihm trocken, dürr und dunkel erscheinen. Wenn er weise ist, so wird er sich nicht mit diesen abquälen, wie eine Pflanze im Keller, die sich nach dem Lichte streckt. Er wird das Feld, auf dem sich sein Geist betätigen soll, so nahe als möglich an das Leben seiner Sinne und an ihre Erfahrungen heranrücken. Sein Gedankenleben muß von dem Leben seines Körpers belebt und beflügelt werden.

(Tagebücher)

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Der afrikanische Jäger Cummings erzählt, daß das Fell der Elenantilope, wie das der meisten Antilopen, wenn sie eben erlegt wurden, einen köstlichen Duft von Bäumen und Gräsern ausströmt. Ich würde wünschen, daß jeder Mensch in diesem Sinn der wilden Antilope gliche und so sehr Stück und Teil der Natur wäre, daß seine ganze persönliche Erscheinung unseren Sinnen auf die würzigste Art seine Gegenwart kund täte und jene Gefilde der Natur in uns wachriefe, die sein eigentliches Jagdrevier sind.

(Ausflüge)

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Ein guter Seemann steuert sich mit wenigen Windrichtungen durch und weiß die größten Hindernisse als Triebkraft auszunützen. Die meisten wenden und stagen, sobald der Wind von achtern umspringt; da aber innerhalb der Tropen der Wind nicht von allen Punkten der Windrose einkommt, so gibt es Häfen, die sie nie erreichen.

(Eine Woche)

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Wenn du jemanden überzeugen willst, daß er unrecht tut, so tue recht. Aber lege kein Gewicht darauf, ihn zu überzeugen. Die Leute glauben, was sie sehen; sie mögen sehen. Verfolge dein Leben, halte gleichen Schritt mit ihm, umkreise es fort und fort wie ein Hund den Sessel seines Herrn. Wisse, wo dein Knochen liegt; benage ihn, grab ihn ein, grab ihn wieder aus und benage ihn wieder. Sei nicht zu moralisch; du könntest dich dadurch ums Leben betrügen. Strebe über Moralität hinaus. Sei nicht einfach gut; sei gut zu etwas. Jede Fabel hat wohl eine Moral; aber der Reine ergötzt sich an der Geschichte.

(Briefe)

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Tu, was keiner für dich tun kann; alles andere unterlasse.

(Briefe)

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Ein weiser Mann verläßt nicht seinen Weg um einer Auskunft willen. Er könnte ebensogut die Natur verlassen oder Selbstmord begehen.

(Tagebücher)

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Wie kann ein Mensch schwach sein, der überhaupt wagt, da zu sein? Die zarteste Pflanze erzwingt sich ihren Weg durch die härteste Erdschicht und durch Felsenritzen hindurch; einem Menschen nun gar vermag keine materielle Kraft zu widerstehen. Was für ein Keil, was für ein Hammer, was für ein Mauerbrecher ist ein Mann von Ernst! Jeder sollte dastehen als Verkörperung einer völlig unwiderstehlichen Kraft.

(Briefe)

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Große Männer sind nicht rasch auszulernen, nicht einmal in ihren Umrissen; sie verwandeln sich wie die Berge am Horizont, wenn man entlang reitet.

(Tagebücher)

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Jeder herzhafte Schlag, den ich mit diesen meinen Händen führe, tötet einen inneren Feind.

(Tagebücher)

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Sei entschlossen und ehrlich was du bist, in Demut, was du zu sein erstrebst. Gib den Menschen ja nur das Beste deiner Ware, mag es auch noch so armselig sein, und die Götter werden dir helfen, einen bessern Vorrat für die Zukunft anzulegen. Das vornehmste Geschenk von Mensch zu Mensch ist die Aufrichtigkeit, denn in ihr ist das Ganze seines Wesens eingeschlossen. Nur nicht ängstlich aus sich herausschleichen, um einem stärkeren oder schwächeren Magen bekömmlich zu sein, sondern frank und frei sich selber darbringen und die Schätze auf einmal ausschütten. Ich möchte in Gesellschaft und im Freien derselbe sein: der Natur gegenüber gibt es weder Zurückhaltung noch Unverschämtheit.

(Tagebücher)

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Es wäre gut, wenn wir uns immer gleichsam in Perspektive sähen, auf den Himmel scharf konturiert, an der Seite eines Gebüsches am Bachesrand. Gegen den Abendhimmel sollte sich unser Leben wie ein schöner, sonnbeschienener Baum abheben; bei Sonnenaufgang aber sollte es auf einem Hügel stehen im Osten, um in den ersten Strahlen des Morgenrots zu glitzern.

(Tagebücher)

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Nur wenn wir geneigt und vorbereitet sind, in einer Kreatur mehr zu erblicken, als was zutage liegt, können wir das würdigen, was offenbar ist.

(Tagebücher)

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Wir sind nicht gar weit vom Richtigen entfernt, wir Yankees, die wir eine Frage wiederum mit einer Frage zu beantworten pflegen. Ja und Nein sind Lügen. Eine wahre Antwort hat nichts festzustellen, sondern alles in Fluß zu setzen. Alle Antworten liegen in der Zukunft, und Morgen ist die Antwort auf Heute.

(Tagebücher)

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Wer in Übereinstimmung mit den höchsten Gesetzen lebt, ist in gewissem Sinne keinem Gesetz untertan. Wir machen sicherlich eine unheilvolle Entdeckung, wenn wir ein Gesetz auffinden, das uns bindet, wo wir uns für ungebunden hielten. Atme frei, Kind des Nebels. Der Mann, für den das Gesetz erschaffen wurde, nicht damit er dem Gesetz, sondern damit das Gesetz ihm gehorche, der ruht auf Daunenkissen, von denen er getragen wird, wohin es ihm gefällt; denn über allen himmlischen und irdischen Gesetzen erhaben ist der Mensch, der sich seine Freiheit nimmt.

(Tagebücher)

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Tu nichts bloß aus gutem Vorsatz. Gewöhne dich, nur der Liebe nachzugeben. Überlaß dich dem Zauber der Anziehung. Es ist vergebliche Mühe, über ein ersonnenes Thema zu schreiben; wir müssen warten, bis es eine Flamme in uns entzündet. Hinter jeder Bemühung, die erfolgreich sein soll, muß die zeugende Kraft der Liebe stehen.

(Tagebücher)

*

Uns allen fehlt ein passender Hintergrund für unser Leben. Es sollte wenigstens, wie das Leben der Anachoreten, für den Beschauer so eindrucksvoll sein, wie ein Gegenstand in der Wüste, eine zerbrochene Säule oder ein zerfallener Erdwall, gegen den grenzenlosen Horizont gesehen. Charakter gewährt diesen Vorzug unter allen Umständen schon an sich; scharf umrissen steht er da, ohne Zusammenhang mit Dingen und Menschen der greifbar nahen Alltäglichkeit.

(Eine Woche)

*

In der Poesie gelingt nichts von ungefähr; kein Kniff geht durch. Das beste, das einer schreiben kann, ist das beste, das er ist. Jeder Satz ist das Ergebnis einer reiflichen Überprüfung. Wir lesen den Charakter des Autors von der ersten bis zur letzten Seite; der läßt sich nicht korrigieren. Wir lesen ihn wie die Hauptzüge einer Handschrift, ohne auf die Schnörkel zu achten. Ganz ebenso steht's mit unserem übrigen Tun. Durch alle unsere Handlungen läuft der Charakter schnurgerade, gleichsam mit dem Lineal gezogen, hindurch, mögen die Krümmungen rund herum noch so zahlreich sein. Unser ganzes Leben wird nach der geringsten Leistung von Tüchtigkeit eingeschätzt; sie ist der Reinertrag. Wie wir essen, trinken, schlafen, wie wir jetzt in diesen indifferenten Tagen, wo uns kein Auge beobachtet und kein Vorfall in Erregung bringt, unsere losen Stunden hinbringen, das entscheidet, was wir in kommenden Zeiten gelten und taugen werden.

(Tagebücher)

*

Manche Köpfe denken und urteilen so wenig logisch wie die Natur. Sie sind nicht imstande Gründe anzuführen oder Vermutungen aufzustellen, sie enthüllen einfach die feierliche, unwiderlegliche Tatsache. In geschichtlichen Fragen tun sich die Gräber auf um ihretwillen. Sie gebieten über eine stumme Tatsachenlogik, die den forschenden Verstand und die natürliche Vernunft gleicherweise überzeugt. Jede bedeutungvolle Frage, jede befriedigende Antwort ist immer so beschaffen.

(Eine Woche)

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Die Bestimmung unserer Seele läßt sich nicht mit dem Verstand ergründen, denn in den Methoden des Verstandes hat das Ekstatische keinen Raum. Die gescheitesten Erwägungen und Beweise sind nur ein Spiel, das ich mit mir selber spiele. Ich kann mich nicht selbst einfangen und überzeugen; Gott muß überzeugen. Ein arithmetisches Problem läßt sich ausrechnen, ein moralisches nicht. Die Tugend läßt sich ebensowenig berechnen wie abschätzen. Und eben die Tugend ist die Bestimmung des Menschen; die Tugend, das Mensch-Sein; Dinge, die durchaus ins moralische Gebiet gehören und die nur das Leben der Seele uns erschließt. Der Verstand müßte dieses Ding fesseln und beschneiden, bevor er sich darauf anwenden ließe. Wie kann einer, der noch nicht begriffen hat, wohin seine Bestimmung lautet, diese lange Reise Schritt vor Schritt durchführen? Wie kann einer, dessen Paß nicht bis zur Endstation giltig ist, hoffen, diese schwierige Reise ohne Unterbrechung durchzuführen? – Auf der einen Seite des Menschen liegt das Reale, auf der anderen das Ideale. Jenes ist das Gebiet des Verstandes, der auch ein göttliches Licht sein kann, wenn er eben auf dieses gerichtet ist; aber in das Ideale kann er nicht hineinreichen, ohne zu erblinden. Der Mond wurde erschaffen, um bei Nacht zu regieren, aber die Sonne regiert bei Tag. Der Verstand ist nichts als eine bleiche Wolke, wie der Mond, wenn ein Strahl göttlichen Lichtes einfällt, um die Seele zu erleuchten.

(Tagebücher)

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Auf welche Kosten wird jedes wertvolle Werk vollbracht – auf Kosten eines Lebens! Während man eine Sache sorgfältig durchführt – wozu taugt man mittlerweile?

(Tagebücher)

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Wenn der Himmel für uns verdunkelt ist und nichts Hohes und Heroisches erscheinen will, wenn Unzulänglichkeiten und Fehlgriffe aller Art unser Gemüt niederdrücken, dann sind wir geneigt, uns den Daumen zu lutschen und unser Schicksal zu verfluchen, als sei bei trübem Wetter nichts anzufangen. Wenn man den oberen Weg nicht reisen kann, so gehe man eben den unteren; man wird finden, daß sie gleicherweise zum Himmel führen. Man sollte das Triviale nicht immer abschütteln, sondern ohne Zögern willkommen heißen und zärtlich behandeln. Begieße die Winde, bis sie blüht; in guter Pflege wird sie Früchte tragen. Es gibt zwei Wege zum Sieg: mutig kämpfen oder weichen. Wieviel Qual uns das letztere erspart, haben wir noch nicht erfahren.

(Tagebücher)

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Ich weiß nicht, woran ich den wachen Zustand vom Traume unterscheiden sollte. Leben wir nicht immer das Leben, das wir zu leben uns einbilden? Furcht erzeugt Gefahr, und Mut verscheucht sie.

(Tagebücher)

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Die Träume sind der Prüfstein unsers Charakters. Im Traume sehen wir uns nackt; wir sehen unsern wahren Charakter in Wirksamkeit, und zwar so deutlich, wie wir in wachem Zustand niemals die anderen Leute sehen. Wenn unsere Tugend wirklich unerschütterlich und gebieterisch ist, so zwingt sie sogar unsere wüstesten und unsere verschwommensten Träume zur Hochachtung vor ihrer immer-wachen Allgewalt; wir sagen ja auch gewohnheitmäßig: wir hätten uns so etwas nicht träumen lassen. Unser wahrstes Leben ist dann, wenn wir in Träumen wachen.

(Eine Woche)

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Das Unbewußte im Menschen ist das Bewußtsein Gottes.

(Eine Woche)

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Ich ertappe mich dabei, am abstraktesten dann zu philosophieren, wenn nachts oder morgens das Bewußtsein gerade zurückkehrt. Die richtigsten Beobachtungen und feinsten Unterscheidungen mache ich, solange der Wille noch völlig schläft und der Geist wie eine Maschine ohne Reibung arbeitet. Ich bin mir bewußt, während des Schlafs die Grenzen des Individuums überschritten zu haben; ich mache Beobachtungen, ich führe Gespräche, die ich im wachen Zustande nicht zurückrufen und nicht würdigen kann. Es ist so, als tauchte das Individuum im Schlafe in den unendlichen Geist hinein und käme erst im Augenblicke des Erwachens an die Grenzen dieses letzteren zurück. Es gibt einen Augenblick in der Dämmerung, wann die nächtliche Finsternis entflieht und bevor die Ausstrahlungen des Tages aufzusteigen beginnen, wo wir die Dinge wahrer sehen, als zu irgend einer anderen Zeit. Das Frühlicht ist zuverlässiger, weil unsere Sinne reiner sind und die Atmosphäre weniger dick ist; am Nachmittag erscheint alles gleichsam in Spiegelung.

(Tagebücher)

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Nichts war mir jemals so fremd und so erschreckend wie meine eigenen Gedanken.

(Tagebücher)

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Es ist immer nur ein kleiner Schritt zur Geistesruhe.

(Tagebücher)

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Eine Handlung, die der vollen Persönlichkeit entspringt, verhält sich zu einer Handlung aus Pflicht, wie das französische Verbum »être« zu »devoir«. Pflicht ist dasjenige, welches »devrait être«. Pflicht gehört in das Gebiet des Verstandes, aber der Genius kennt keine Pflichttreue. Ein ganzer Mann hat beides: Genius und Talent; das eine ist sein Kopf, das andere sein Fuß. Zufolge des einen ist er, zufolge des anderen lebt er.

(Tagebücher)

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Schon allein der Pulsschlag des Genius wirkt zerstörend. Seiner Atmosphäre kann sich der Körper niemals völlig anpassen; er unterliegt in den meisten Fällen und geht dem sicheren Verderben entgegen.

(Tagebücher)

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Törichte Leute haben die Gewohnheit, so zu sprechen, als ob es auch Nicht-Kranke gäbe. Aber der Unterschied zwischen den Menschen, was die Gesundheit betrifft, ist wirklich nicht groß genug, um besondere Betonung zu rechtfertigen. Manche gelten für krank, andere wieder nicht; aber es geschieht oft genug, daß der Gesunde von dem Kranken versorgt wird.

(Eine Woche)

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Der Mensch mag schlafen oder wachen, laufen oder schlendern, ein Mikroskop und ein Teleskop benützen oder sein unbewaffnetes Auge, nie entdeckt er etwas anderes, nie erhascht er, nie überholt er etwas anderes als sich selbst. Was er sage oder tue, er gibt immer nur Auskunft über sich selbst. Er ist im Paradies der Liebe, weil er liebt; im Himmel, weil er glücklich ist; in der Hölle, weil er leidet. Sein Zustand ist's, der sein Milieu bestimmt.

(Briefe)

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Mein Heim ist das ganze Stück Natur, das mein Herz umschließen kann. Wenn meine warmen Empfindungen nur meinem Hause gehören, so ist nur das mein Heim. Wenn ich aber mit der Natur ihre Gluten und Fröste, ihre Töne und ihr Schweigen in mir fühle, wenn ich die Ruhe und Gelassenheit, die auf den Feldern um mich liegt, teile, dann sind sie mein Haus genau so, als wenn der Kessel summte, die Reiser knisterten und an der Wand die Uhr ticktackte.

(Tagebücher)

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In der psychischen Welt gibt es Phänomene ganz analog denen, welche der Zoologe Generationswechsel nennt, wobei es mehrerer einander ungleicher Generationen bedarf, um das vollkommene Tier hervorzubringen. Das Leben mancher Menschen ist nur ein Streben, ein Sehnen nach einem höheren Zustand und wird völlig mißverstanden, solange es nicht zu allen seinen Metamorphosen in Beziehung gesetzt und durch alle hindurch verfolgt wurde. Wir können uns über den geistigen und sittlichen Zustand eines Menschen nicht aussprechen, bevor wir nicht voraussehen, welche Metamorphose sich für ihn vorbereitet.

(Tagebücher)

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Es will mir zuweilen scheinen, daß ich mein bischen Erfolg, alles das, was mir Lob von den Menschen einbringt, meinen Lastern verdanke. Ich bin vielleicht halsstarriger als andere, ich opfere, um meine Zwecke zu erreichen, ungeheuer viel, gelegentlich sogar das Glück der anderen. Es scheint fast, als könne nichts gutes Zustandekommen ohne ein Gran Lasterhaftigkeit als Hilfe.

(Tagebücher)

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Was mich in meinen Schriften am meisten beleidigt, ist das moralische Element darin. Der Reuige spricht nie ein tapferes Wort; er sollte an seinen guten Vorsätzen lieber im stillen knabbern. Streng genommen ist das Moralische nichts gesundes. Die unverdienten Freuden, die ungerufenen, die mehr Lust erregen als Dankbarkeit, die sind's, die singen.

(Tagebücher)

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Man kann nicht rasch genug seine Irrtümer und Fehler vergessen. Lange bei ihnen verweilen, heißt ihre Schuld vergrößern. Reue und Kummer lassen sich nur durch etwas besseres verdrängen, durch etwas, das so frei und ursprünglich ist, als wären sie nie gewesen. Ein großes Herz rechnet seine Vergehungen nicht sich selber zu, sondern geht gänzlich auf in dem Vorgefühl seiner Tüchtigkeit und Würde in kommenden Tagen.

(Tagebücher)

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Unsere Fehler liegen immer in der Richtung unserer Vorzüge und sind bestenfalls nur glaubhafte Kopien der letzteren. Eine Unwahrheit erreicht nie die Würde einer vollkommen lügenhaften Gesinnung; sie ist nur eine niedrigere Art Wahrheit. Wäre sie Lüge durch und durch, sie liefe Gefahr, Wahrheit zu werden.

(Eine Woche)

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Es ist ganz wertlos, sich wegen der eigenen Fehler immer zu beunruhigen. Das Gewissen kann und darf die Gesamtheit unseres Lebens nicht für sich allein in Anspruch nehmen, nicht mehr als der Kopf oder das Herz. Es ist Krankheiten unterworfen, genau so wie jeder andere Teil. Ich habe Leute gesehen, deren Gewissen, offenbar weil es bereits zu viel Nachgiebigkeit erfahren hatte, so reizbar geworden war wie ein verzogenes Kind, und keine Ruhe mehr halten wollte. Sie wußten nie, wann sie ihr wiedergekäutes Futter endlich schlucken sollten – und ihr Leben gab selbstverständlich keine Milch.

(Eine Woche)

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Wann wird die Welt einsehen lernen, daß eine Million Menschen nichts bedeutet im Vergleich zu einem Manne?

(Briefe)

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Die meisten Leute, mit denen ich rede, – es sind darunter Männer und Frauen von Eigenart, sogar von Genie – besitzen vom Weltall ein fertig zugeschnittenes und wohlgetrocknetes Schema; es ist wirklich sehr trocken für den Hörer, trocken genug zum Einheizen, außerdem wurzeldürr und stockfaul. Nach den ersten Worten richten sie es auf zwischen sich und mir; einen alten klapprigen Rahmen mit abgeschlagenen Ecken. Sie gehen nicht aus ohne ihr Bett. Manche Dinge und Beziehungen, die mir ganz nebensächlich und unwesentlich erscheinen, gelten ihnen als unumstößlich für alle Ewigkeit festgesetzt, zum Beispiel Vater, Sohn und Heiliger Geist und dergleichen mehr. Für sie ist das so viel wie die ewigen Berge. Ich fürchte, Christus selbst hatte so ein Schema: seine Anpassung an die Tradition, die seine Lehre etwas verdirbt. Er hatte nicht alles Formelwesen verdaut und manche seiner Aussprüche sind nichts als leere Schulweisheiten. Gott in seiner Vollkommenheit hat sich niemals in einem einzigen solchen Gebote geoffenbart, wie Ihr, seine Propheten, sie aufstellt.

(Eine Woche)

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Sonderbar, wirklich sonderbar ist die unaufhörliche Anforderung, die das Christentum an uns stellt, alles vom moralischen Gesichtspunkt aus zu beurteilen. Man mag ein noch so kleiner Wurm sein, schon gellt einem der Ruf ins Ohr: Bereue, bereue. Die Welt des Christen will es nicht gelten lassen, daß man eine Wahrheit richtig erfassen könne, ohne gleichzeitig auszurufen: Herr, sei mir armem Sünder gnädig!

(Tagebücher)

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Es ist ermutigend zu wissen, daß, obwohl jedes Körnchen Wahrheit aus unseren Kirchen sorgfältig weggefegt worden ist, der Staub der Wahrheit dennoch an ihren Wänden hängen blieb, so daß sie plötzlich wie eine Pulvermühle explodieren würden, wenn jemand mit einem Licht hineinträte.

(Tagebücher)

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Der weiseste Konservatismus ist der der Inder. »Unvordenkliche Sitte ist transzendentales Gesetz,« sagt Manu. Das will heißen: sie war das Gesetz der Götter, ehe die Menschen sie in Anwendung brachten. Dieser Konservatismus ist erhaben, so weit wie die Welt, so unverbraucht wie die Zeit, und erhält, in echt asiatischer Scheu vor Veränderung, das Universum in dem Zustand, in welchem es ihrem Geist erschienen war. Die indischen Philosophen legen besonderen Nachdruck auf die Unverbrüchlichkeit und Unabänderlichkeit der Gesetze, auf die Bedeutung der geistigen und körperlichen Anlage, auf die drei »Gun« oder Eigenschaften und auf die äußeren Umstände, das ist Geburt und Verwandtschaft.

Das Christentum hingegen ist auf das Menschliche und Praktische gerichtet; es ist radikal in weiterem Sinn. Der Brahmane hatte sich's nie einfallen lassen, außer ein Kind Gottes auch noch ein Bruder der Menschen zu sein. Christus aber ist der Fürst der Reformatoren und der Radikalen. Viele Aussprüche, die im Neuen Testamente stehen, kommen den Protestanten ganz von selbst auf die Lippen; es liefert die für's praktische Leben bestverwertbaren Bibelstellen. Kein unschuldvolles Träumen ist darin zu finden, kein weises Schauen, es steht durchgehends auf dem Boden nüchterner Verständigkeit. Es sinnt nicht, es bereut. Es liegt keine Poesie darin, nichts was sozusagen nur im Lichte der Schönheit gesehen wäre, es beschäftigt sich nur mit moralischen Wahrheiten. Es hat ein Gewissen, das alle Sterblichen schuldig spricht.

(Eine Woche)

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Nirgendwo, nicht im Osten und nicht im Westen, leben die Menschen das Leben der Natur, um welches sich die Rebe schlingt und das die Ulme freundlich beschattet. Nicht Vergeistigung allein tut not, sondern auch Einwurzelung in die irdische Scholle. Die Winde müßten des Menschen Atem sein, die Jahreszeiten seine Stimmungen, und seine Heiterkeit müßte die Natur selbst beeinflussen. Hier oder nirgends ist unser Himmel.

Wir können uns nichts köstlicheres ausdenken als das, was wir wirklich erlebt haben. »Die Erinnerung an die Jugend ist ein Seufzer.« In den Jahren der Reife quält uns die Sehnsucht, die Träume unserer Kindheit mitzuteilen, aber sie sind halbvergessen, bevor wir sie aussprechen lernen. Wir müssen ebenso Erdgeborene wie Himmelssöhne sein, Griech. Wort fehlt, wie es in alter Zeit von den Titanen hieß; und in noch besserem Sinne als sie.

Wir brauchen um keinen höheren Himmel zu beten, als der ist, den die reine Sinnenwelt, ein rein sinnliches Leben gewährt. Unsere Sinne von heute sind das bloße Rudiment von dem, was sie zu werden bestimmt sind. Vergleichsweise sind wir taub und stumm und blind, ohne Geruch und Geschmack und Gefühl. Jede Generation macht die Entdeckung, daß ihre göttlichen Kräfte vergeudet, ihre Sinne, alle ihre Fähigkeiten mißbraucht und verdorben wurden. Die Ohren wurden nicht zu dem gemeinen Gebrauch, an den man meistens denkt, erschaffen, sondern um göttliche Musik zu hören; die Augen nicht für die unwürdigen Zwecke, in denen sie abgenützt werden, sondern um eine Schönheit zu sehen, die noch verborgen ist. Sollten wir Gott nicht sehen können? Sollen wir uns mit einem Amüsement abfinden lassen, als wäre das Leben eine bloße Allegorie? Ist die Natur für den, der richtig zu lesen versteht, nicht in Wirklichkeit das, als dessen bloßes Symbol sie gewöhnlich gilt? Was heißt also erziehen anderes, als diese göttlichen Keime, die Sinne genannt werden, entwickeln?

Freilich, es ist leichter, noch eine neue Welt zu entdecken, wie Columbus tat, als hinter eine einzige Hülle dieser Welt zu dringen, die uns so wohlbekannt erscheint. Aber ein Augenblick gesunden und natürlichen Empfindens genügt, um uns zu lehren, daß es eine Natur hinter der gewohnten gibt, auf welche wir bis jetzt nur ein unbestimmtes Vorkaufsrecht besitzen. Wir leben auf dem äußeren Saum dieses Gebietes. Treibholz und schwimmendes Astwerk und die Röte des Abendhimmels ist alles, was wir davon kennen. Laßt uns ein bißchen Geduld haben, meine Freunde, und keine Ausschußware hier kaufen; laßt uns vielmehr darauf bauen, daß fruchtbareres Land in kurzem zum Verkauf gelangen wird. Das Erdreich, auf dem wir stehen, ist mager; ich fühle, daß meine Wurzeln in fetteres hineinreichen, als dieses ist. Ein Büschel Veilchen in einer Glasvase habe ich gesehen, locker mit Stroh gebunden, und das gemahnte mich an mich selbst.

(Eine Woche)

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