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Achtes Kapitel

Wenn ihn das jetzt nicht gerettet hätte, so war das Schicksal bereits auf dem Wege, ihm zu Hilfe zu kommen. Zwischen den Büschen und durch den kleinen Obstgarten, in dem Roger in seinem vegetarischen Enthusiasmus die Obstbäume so eng gepflanzt hatte, daß sie nicht Raum genug hatten, zur Reife zu gelangen, kam Barbara auf das Rasenbeet zu. Sie hatte nach einem Tennisball gesucht, den sie unter den Fichten verloren hatte. Da hatte sie die beiden jenseits des Obstgartens stehen und miteinander reden sehen. Obwohl sie nur aus der Entfernung den Klang ihrer Stimmen und kein einzelnes Wort hören konnte, verstand sie sie trotzdem sehr gut, mit jenem Instinkt, von dem zwar in den wissenschaftlichen Lehrbüchern der Psychologie nichts steht und für dessen Behandlung es in ganz Harley Street keine Spezialisten gibt, und der dennoch für Frauen so absolut charakteristisch ist.

Ob die beiden nun über platonische Freundschaft, ob sie über die schwierigen Probleme des Bimetallismus reden möchten, Barbara wußte, und besser als sie selbst es wußten, im ersten Augenblick, in dem sie sie sah, daß sie von Liebe sprachen. Was dachte sie von Laetitia, als sie das merkte? Sie zog es vor, gar nichts von ihr zu denken, sie dachte an ihn, und ihr Urteil fiel weder vorteilhaft für ihn aus, noch war es gerecht. Aber an Verstand fehlte es ihr nicht. Er war eben treulos wie alle Männer, obschon sie schwer hätte sagen können, inwiefern er eigentlich treulos war. Genug, er hatte sich für sie interessiert und interessierte sich jetzt für eine andere. Das war das Unverzeihliche. Sie konnte auch nicht sagen, daß er ihr jetzt weniger gefiel als vorher. Wenn sie ganz aufrichtig gegen sich gewesen wäre, hätte sie sogar zugeben müssen, daß er ihr noch besser gefiel als zuvor. An sich selbst hatte sie weniger Gefallen als vorher.

Das ist das niederträchtige Gift der Eifersucht. Sie verringert unsere Meinung und Wertschätzung von uns selbst und gibt allen gemeinen und armseligen Gedanken Zutritt. Zuerst kommen sie noch mit einer gewissen herabgekommenen Eleganz, aber kaum haben sie in der Seele Platz gefunden, so folgen ihnen andere nach, die immer gemeiner und heruntergekommener aussehen.

Es war Barbaras erste Erfahrung dieser Art in dem langen Kampf des Lebens, ihre erste kleine Tragödie; zum erstenmal mußte sie sich zur Wehr setzen und erfahren, daß die Welt sich auch gegen sie wenden konnte, daß der Himmel und die Sonne und alles, was geschaffen schien, um ihre Lebensfreude zu erhöhen, sie höhnen und ihrer spotten konnten, und daß alles, was sie um sich sah, jede Farbe und Schönheit verloren hatte.

Es war ein tragischer Augenblick, viel schwerwiegender als er schien. In diesem Augenblick flüchtete ihre Mädchenjugend, vertrieben, aus dem Garten. Die erste glückliche Sicherheit der Jugend und des Lebens ging für immer verloren. Im Leben des Mädchens kommt ein Augenblick, den man damit bezeichnet, daß sie in die Gesellschaft und damit ins Leben »eingeführt« wird. Es ist eine irreführende Bezeichnung, denn sie nähert sich dem Leben nur. Sie befindet sich immer noch innerhalb der Schranken der Kinderwelt, in der sie aufwuchs. Daß sie das Haar aufsteckt und ein am Halse anständig ausgeschnittenes Kleid anzieht, das bereitet ihre Seele auf die Ereignisse vor und nicht mehr. Die erste Tanzerei bedeutet nichts. Der erste Schritt ins wirkliche Leben ist der, den Barbara jetzt aus den Büschen tat, als ihr Herz zum erstenmal sich härtete, um der Enttäuschung zu begegnen, als ihr Glaube an das Glück zum erstenmal vernichtet, die Worte auf ihrer Zunge bitter wurden und der heitere Ausdruck aus ihren Augen schwand.

Die beiden anderen verstummten, als sie herankam. Das genügte ihr. Auch die Art, wie Jimmy seinen Hut zog und lächelte, sagte genug. Und die Art, wie Laetitia die Erdkrumen von dem Unkraut schüttelte, das sie so eifrig aus der Erde zog.

In diesen wenigen Augenblicken, seitdem sie in das harte, blendende Licht dieser neuen Welt hinausgetreten war, hatte sich ihre Beobachtungsgabe erstaunlich geschärft. Sie war hart und bitter geworden. Nichts entging ihr, und alles, was sie sah, trug den Stempel der Unaufrichtigkeit und versteckter Bedeutung.

»Ich gehe nach Hockridge, Mutti«, sagte sie und war des festen Glaubens, daß ihr Ton nicht die geringste Bitterkeit verriet, daß ihre Stimme, obwohl alle Freude am Leben dahin war, noch genau so sanft und heiter klang, wie vorher.

Laetitia aber sah mit einer raschen Bewegung auf. Sie hatte den Ton gehört, und sie wußte, was er bedeutete. Ein rascher scharfer Schmerz drang ihr wie ein Stich ins Herz. In diesem Augenblick wußte sie, der Ton dieser wenigen Worte hatte es ihr gesagt, daß Barbaras erste Jugend vorbei war. Die kleine Gabel fiel aus ihrer Hand in das Blumenbeet. Sie hatte sich augenblicklich aufgerichtet und trat an Barbaras Seite, bereit, sie schützend in ihre Arme zu nehmen.

»Warum willst du dahin gehen, Liebling?« fragte sie.

»Oh, ich weiß nicht. Sie haben einen Wurf kleiner Ferkel auf dem Hof. Wilfrid hat mich gebeten, ich möchte kommen und sie mir ansehen.«

»Nun, du mußt doch nicht gerade jetzt gehen. Nicht gerade heute morgen. Willst du nicht lieber im Garten bei uns bleiben? Ich muß dieses Beet fertigmachen. Es ist seit Wochen nicht mehr gejätet worden.«

Barbara sah ihre Mutter an, als wäre sie das Kind, und lächelte mit einem Verständnis, als lägen Jahre von Welterfahrung hinter ihr.

»Jäte du nur dein Beet, Mutti«, sagte sie freundlich. Dann aber kamen die Worte, die sie nicht zurückhalten konnte. »Ich will euch nicht stören. Jäte du nur dein Beet fertig. Ich komme zur Zeit zu den Nüssen und Bananen zurück, ausgenommen, wenn sie mir dort etwas Ordentliches zum Mittagessen anbieten.«

Sie lachte. Es war ein sehr sonderbares kleines Lachen, das sie nicht beherrschen konnte. Dann ging sie. Laetitia sah ihr nach; sie hatte völlig vergessen, daß Jimmy auf der Welt war, und alle platonische Freundschaft schien ihr nichts mehr zu bedeuten. Als er sprach, machte seine Stimme nicht den geringsten Eindruck auf sie.

»Wer ist Wilfrid?« fragte er.

»Der Mann, von dem wir dachten, daß sie ihn heiraten würde«, sagte Laetitia. Sie sprach in der vergangenen Zeit, weil das alles in diesem Augenblick so fern schien.

 

Am folgenden Nachmittag sah Laetitia von ihrem Schlafzimmerfenster aus ein junges Frauenzimmer auf das Haus zukommen. An den beiden letzten Tagen hatte sie, fast ohne zu merken, daß es eine Neuerung war, jedesmal vor dem Tee ihre Haare gebürstet und die Hände gewaschen, während sie bisher der Ansicht gewesen war, daß sie unter ihren Gartenhandschuhen sauber genug blieben, um mit Roger den Tee zu nehmen. An den beiden letzten Tagen hatte sie jedesmal auf dem Toilettentisch die alte Parfümflasche geöffnet und ihr Kleid besprengt. Sie war eben damit beschäftigt, als das junge Frauenzimmer unten an die Eingangstür klopfte. Offenbar hatte Ellen sie eingelassen, denn sie sah sie nicht mehr, und fuhr mit all den kleinen Verrichtungen fort, die, wenn sie vollendet sind, einer Frau das Recht geben, sich und den anderen gegenüber festzustellen, daß sie fertig ist.

Ellen, die für den Fall ihre Instruktionen erhalten hatte, wies das junge Frauenzimmer durch den Garten. Sie klopfte an die Ateliertür; und ziemlich aufgeregt – man merkte es an seiner Kleidung wie an seinem Benehmen – öffnete Roger die Tür. In seiner Aufregung und vielleicht weil er sogleich einen guten Eindruck machen und eine angenehme Stimmung schaffen wollte, reichte er ihr die Hand.

»Kommen Sie herein,« sagte er aufgeregt, »kommen Sie herein! Schneider Hinds hat mir schon gesagt, daß Sie heute nachmittag kommen würden.«

Sie gingen ins Atelier, und die Tür schloß sich hinter ihnen. Ellen kehrte ins Haus zurück. All dies, so unbedeutend und gering es war, hatte Fräulein Limpnett von der Straße aus durch eine Lücke in der Lorbeerhecke beobachtet. Fräulein Limpnett war im Begriff, soweit das vollkommene Fehlen jeder Wölbung im Bau ihrer Füße es ihr gestattete, mit ihrem kleinen weißen Aberdeen-Terrier, der Ruff hieß, spazierenzugehen. Infolge dieser angeborenen Schwäche ihrer Füße hatte sie an der Lücke in der Lorbeerhecke einen Augenblick ausruhen müssen. Und infolge eines angeborenen Zugs von Neugier in ihrem Wesen hatte sie durch die Lücke geguckt und das junge Frauenzimmer bemerkt und auch gesehen, daß Roger sie mit freundlichem Händeschütteln empfing. Sie hatte auch die Tür sich schließen hören, mit einem Ton, der seit ihrer frühesten Kindheit stets ihre Phantasie und Gedanken darüber, was da wohl hinter der Tür vorgehen mochte, erregt hatte.

Dann setzte sie ihren Spaziergang fort und gab sich all diesen anregenden Vorstellungen hin, während sie Ruffs kleine Füße auf der Straße hinter sich her trotten hörte. Da sie jede Hoffnung zu heiraten für immer aufgegeben hatte, konnte sie sich wenigstens freuen, daß sie keinen Künstler geheiratet hatte. Sie empfand es als etwas völlig Ungehöriges, daß ein verheirateter Mann sich in seinem Atelier mit einem Frauenzimmer einschloß und das arbeiten nannte.

Gewiß, Laetitia war das gewöhnt; aber ob Laetitia es gewohnt war oder nicht, für eine verheiratete Frau war sie wirklich zu einfältig. Sie schien von der angeborenen Lasterhaftigkeit der Männer keine Ahnung zu haben.

Es war eine Gewohnheit Fräulein Limpnetts, daß ihre Gedanken, so wie ein Pferd aus dem Schritt in leichten Trab fällt, und aus dem leichten Trab in raschen Trab übergeht, auf einem gewissen Punkt angelangt stets in lautes Reden übergingen. In jeder heftigen Erregung, aber auch sonst, zum Beispiel, wenn sie abends zu Bett ging, sprach sie laut, in diesem Fall, um ihre Anschauungen jemandem mitzuteilen, der etwa unter dem Bett versteckt sein mochte.

Für diese Fälle hatte sie sich eine gewisse Formel zurechtgemacht, die sie unverbrüchlich wiederholte. Der Zeitpunkt dafür war der Augenblick, in dem sie sich auf ihr Bett setzte und die Strümpfe auszog.

»Nun, Gott sei Dank,« sagte sie in der festesten Stimme, die sie aufbieten konnte, »Gott sei Dank, ich gehöre nicht zu den Frauen, die sich vor Einbrechern fürchten!«

Dann erst, wenn sie das gesagt und eine Weile gelauscht hatte und kein Ton unter dem Bette hörbar wurde, dann erst hatte sie den Mut, ihr knochiges Bein auf den Fußboden zu setzen.

Auch an diesem Nachmittag, während sie mit Ruff die Straße entlang ging, gingen ihre Gedanken in ein Selbstgespräch über.

»Ganz bestimmt,« sagte sie zu sich selber, »ganz bestimmt kenne ich die Welt nicht besser als Laetitia. Es ist komisch; es liegt offenbar in meinem Wesen, denn ich bin ja doch keine verheiratete Frau. Zu denken, daß man verheiratet sein könnte ... mit einem Mann ...« Hier verloren sich ihre Gedanken aus dem Selbstgespräch in ein nebelhaftes Gebiet, das keine genaue Fassung in Worte zuließ. Sie verfolgte diese Gedanken oft in Traumreiche, bis die Empfindung beinahe unerträglich wurde und doch nicht genug Gestalt annahm, daß sie sich im Geist ein wirkliches Bild davon machen konnte. Dann pflegte sie mit einiger Willensanstrengung ihre Gedanken wieder zum Gewöhnlichen und Konkreten zurückzulenken. Dies tat sie auch heute nachmittag. Eine genauere und endgültige Untersuchung, was der Besuch dieses jungen Frauenzimmers bei Roger Campion zu bedeuten haben mochte, war im Augenblick interessanter und wichtiger als ein zweckloses Träumen über Dinge, die sich in ihrem Leben nun doch nicht mehr ereignen konnten.

»Nicht daß ich glaube, daß er es je tun würde,« fuhr sie in ihren Betrachtungen fort, »aber ich wünschte wirklich, daß er mich einmal auffordern würde, ihm zu sitzen, nur um zu sehen, wie er sich anstellt, wenn er ein Porträt malt. Manche Künstler natürlich ...« Hier verloren sich ihre Gedanken vollkommen in das Gebiet der Vermutungen, die im wesentlichen auf Erinnerungen aus »Trilby« gegründet waren, das sie vor dreißig Jahren heimlich gelesen hatte. Obwohl es nur Vermutungen waren, kamen sie im Augenblick mit einer Beschleunigung, die über den raschen Trab ihrer Selbstgespräche noch weit hinausging. Ihre Gedanken gingen im Galopp mit ihr durch. Es waren blitzartige Empfindungen, für die sie keine Worte hatte und die alle auf jenem heimlich gelesenen Roman beruhten und auf der entsetzlichen Meinung, die sie sich seither über Künstler im allgemeinen gebildet hatte.

Es gab für sie nur eine Art, diese Empfindungen in Worte zu fassen, so daß sie sich im intimen Gespräch mit einer Freundin verwenden und verwerten ließen, nämlich durch vorsichtigen Gebrauch sächlicher Fürworte. Wenn sie bei einem Roman oder bei einem Gemälde von »es« oder »das« sprach, dann wollte sie damit all jene moralischen Grundsätze auf einmal andeuten, die, allgemein angewendet, die Welt im Verlauf einer einzigen Generation entvölkern müßten.

Oft hatte sie zu Laetitia gesagt:

»Wie dankbar müssen Sie dafür sein, meine Liebe, daß in seinen Bildern nichts von dem ist, was sich in den Bildern so vieler anderer Künstler findet! Ich glaube, in Paris, im Salon – so nennt man das doch, nicht wahr? – ist jedes zweite Bild von dieser Art. Denken Sie nur, meine Liebe, dort geben sie tatsächlich jedes Jahr ein Buch heraus, so wie hier ein illustrierter Katalog von der Akademieausstellung herauskommt, den sie ›La Nue‹ nennen! Aber die Franzosen müssen auch ein schreckliches Volk sein! Ich wundere mich nicht, daß die ganze Nation im Niedergang ist. Sie scheinen nur an diese Dinge zu denken und an nichts sonst. Ich muß schon sagen, wenn ich schon einen Künstler geheiratet hätte« – es war nicht gerade das Geschickteste, was sie der Frau eines Malers sagen konnte –, »dann hätte ich doch lieber einen Musiker gehabt. Sie haben doch wenigstens bei ihrer Arbeit damit nichts zu tun.« Da sie keine aufregendere Musik kannte als den »Waldteufel-Walzer«, würde wohl auch Debussys »L'Isle Joyeuse« sie nicht bewogen haben, ihre Meinung in diesem Punkt zu ändern; oder sie würde auch die Musiker abgetan haben, wie sie damals zu Laetitia hinzugefügt hatte: »Man kann natürlich auch nicht wissen, was für einen Lebenswandel sie führen.«

In jedem Fall war sie sehr zufrieden, daß Roger nicht zu jenen Künstlern gehörte, die Freude daran hatten, »alles« zu malen. Wenn sie anfangs gewisse Bedenken gefühlt hatte, in sein Atelier zu kommen und seine Bilder zu sehen, so waren sie durch eine ununterbrochene Reihe von Landschaften und Tierbildern längst zerstreut. Selbst in seinen Plakatentwürfen hatte er sich streng auf bekleidete Figuren beschränkt. Aber die Erinnerungen an den Roman »Trilby« – sie war glücklich, sagen zu können, daß sie ihn das eine Mal gelesen hatte und nie wieder – machten ihr noch jetzt, nach dreißig Jahren, alles, was Künstler und ihre Ateliers betraf, verdächtig. Im Geist wiederholte sie einige der Vorkommnisse aus »Trilby« auf ihrem Nachmittagsspaziergang mit Ruff, der ohne eine Ahnung von den moralischen Selbstgesprächen seiner Herrin auf der Straße hinter ihr her trottete und unerschüttert alles tat, was Hunde eben tun, und sich nicht im geringsten darum kümmerte, welche strengen Moralgebote Fräulein Limpnett innerlich aufstellte und wie ihre Erregung ihren Geist vor sich hinblies, wie welke Blätter im Herbststurm fortgewirbelt werden.

Wenn sie am Nachmittag auf ihrem Spaziergang nach dem Fuß der Hügel noch nicht zu endgültigen Schlüssen über Rogers sittliches Verhalten gelangte, zwei Stunden später auf dem Rückweg stand ihre Meinung fest.

Das junge Frauenzimmer trat eben aus dem Gartentor, als Fräulein Limpnett sich dem Hause näherte. Sie beschleunigte ihre Schritte, so schnell die mangelnde Wölbung ihrer Füße dies gestattete, um die andere besser in Augenschein nehmen zu können.

Auch sie hatte das Mädchen schon in der Dorfstraße von Sterrenden gesehen, und die Keckheit ihres Blicks sowie das Herausfordernde in ihrem Gang war ihr aufgefallen, obwohl Fräulein Limpnett dies nie so ausgedrückt haben würde. Das Mädchen gehörte zu der Gattung Frauenzimmer, die andere Frauen – selbst Fräulein Limpnett – nicht lieben, weil sie instinktiv fühlen, daß sie ihrem Verhalten gegenüber dem anderen Geschlecht nicht trauen und ihre Mannsleute nicht ruhig mit ihnen allein lassen können. An den Huthaken in der Vorhalle von Fräulein Limpnetts Haus hing stets auch ein Männerhut. Es war ihre einzige Beziehung zum männlichen Geschlecht, und sie unterhielt sie zur Abschreckung eventueller Einbrecher, so wie ein Bauer in seinem Feld eine Vogelscheuche aufstellt. Aber sie würde dieses junge Frauenzimmer selbst mit diesem Hut nicht allein gelassen haben.

Nachdem Fräulein Limpnett nunmehr bei dieser zweiten Begegnung herausbekommen hatte, wer die andere war, wuchs ihr Verdacht, und wie bei Barbara trat auch bei ihr jener sechste Sinn, den die Frauen haben, in Tätigkeit und bestätigte und vertiefte diesen Verdacht mehr und mehr. Aus der Art, wie das Frauenzimmer die Gartentür hinter sich schloß, wie sie auf die Straße hinaushüpfte, wie sie ihren ganzen Körper beim Gehen hin und her warf, erriet Fräulein Limpnett mit jenem sechsten Sinn, daß sie sich in einem Erregungszustand befinden mußte, der ja bei einem jungen Frauenzimmer, das soeben längere Zeit ununterbrochen in der Gesellschaft eines Mannes verbracht hatte, nur zu begreiflich war. Und wenn dieser Mann noch obendrein ein Künstler war, dann machte sich bei Fräulein Limpnett der Einfluß des heimlich gelesenen Romans geltend und stimmte sie nicht zur Milde.

Vielleicht hätte sie trotzdem all das übersehen oder es in ruhigeren Augenblicken in einem nachsichtigeren Licht betrachten können, zum Beispiel wenn sie abends bei der Lampe einen Abschnitt aus ihrer Bibel las, ehe sie zu Bett ging, während Ruff schlafend auf den Kissen zu ihren Füßen lag – wäre nicht ein junger Ackerknecht in diesem Augenblick auf der Straße dahergekommen.

Selbst aus dieser Entfernung konnte Fräulein Limpnett sehen, daß seine Augen auf das junge Frauenzimmer gerichtet waren, während sie einander näher kamen. Sie hatte weder besonders gute noch scharfe Augen, aber dieser Fall und diese Gelegenheit würden sie auch von ihrem Astigmatismus geheilt haben. Sie sah alles und fand die Richtigkeit ihres Urteils bestätigt. Ihre Augen hatten sie nicht betrogen. Der junge Mensch drehte sich um, als er an dem Mädchen vorüberkam. Er sah sich nach ihr um. Ein hinreichend deutlicher Beweis dafür, daß sie, erregt wie sie war, ihn dazu ermutigt hatte. Dies war schlimm genug, aber es war nicht alles. Sie drehte sich gleichfalls um und sah ihm nach. Es war nicht ein bloßer rascher Blick der Neugier, der bereits tadelnswert genug gewesen wäre. Es war jener länger währende Blick, der eine Aufforderung enthielt. Die Schritte des jungen Mannes verlangsamten sich. Es kam ein Augenblick elektrischer Spannung, in dem Fräulein Limpnett bereits dachte, daß er wirklich umkehren und eine Bekanntschaft mit ihr anknüpfen würde – hier im hellen Tageslicht und während Personen, wie sie selbst, sich in Sehweite auf der Straße befanden!

In der Aufregung dieses Augenblicks hustete Fräulein Limpnett instinktiv, um sich und ihnen eine so unpassende Schaustellung zu ersparen. Das junge Frauenzimmer sah sie und drehte sich rasch um. Der junge Mann, der, wie Männer überhaupt – was Fräulein Limpnett ja längst wußte und beobachtet hatte –, kein Schamgefühl besaß, blieb stehen und sah ihr nach, und gab seine Absichten erst dann auf, als sie völlig aussichtslos schienen.

»Wenn ich nur nicht gehustet hätte,« sagte Fräulein Limpnett zu sich selbst, als sie nach Hause ging, »wenn ich nicht gehustet hätte, hätten sie ganz bestimmt miteinander gesprochen. Natürlich war es ganz recht, daß ich hustete. Denn das hinderte sie. Aber ich wünschte doch, ich hätte nicht so strenge moralische Grundsätze, denn ich verliere sehr viel dadurch. Nun, Gott sei Dank, daß es so ist!«

Fräulein Limpnett wußte, daß sie unfehlbar in den Himmel kommen mußte, aber sie fand den Weg, den sie bis dahin zurückzulegen hatte, manchmal recht lang und langweilig.

Man kann sich die Nacht vorstellen, die Fräulein Limpnett nach alledem verbrachte. Ich müßte die Gesetze des Anstands verletzen, wenn ich Einzelheiten schildern würde. Es genügt, zu sagen, daß sie, ehe sie zu Bett ging, den Männerhut von seinem Haken nahm und in der dunkeln Empfindung, daß er so aussah, als ob er längere Zeit nicht getragen worden wäre, ihn sorgfältig abbürstete, bevor sie ihn wieder an seine Stelle hing. Unter vielen anderen kleinen Dingen, die sie vornahm und die an sich unschuldig genug waren, aber zeigten, welchen Lauf ihre Gedanken nahmen, war dies noch nicht das bedeutsamste. Wie beschäftigt ihr Geist war, wird vielleicht am besten durch die Tatsache beleuchtet, daß sie zum erstenmal im Leben die Strümpfe auszog, ohne eine hörbare Bemerkung über ihre Furchtlosigkeit vor Einbrechern zu machen.

Sie hatte Einbrecher völlig vergessen. Sie hatte all die namenlosen Dinge vergessen, die alleinstehenden Damen begegnen und geschehen können. Ihr Geist war ganz und gar von der Aufregung und Bestürzung darüber erfüllt, was sich heute nachmittag alles in Rogers Atelier zugetragen haben mußte. Sie versuchte wohl in der Bibel zu lesen. Sie öffnete sie aufs Geratewohl, und es schien wie ein Wink des Schicksals, daß die Seite, die sie aufschlug, nicht weit von der Geschichte von David und Batseba entfernt war. Sie blätterte auch zurück und las diese Geschichte, und sie hatte nicht das Gefühl, daß sie die Grundsätze ihrer allnächtlichen Andachtsübung verletzt hätte. So saß sie eine Weile da, das Buch der Bücher auf dem Tisch unter der Lampe, in Aufregung und Betrübnis, während auf dem Fußboden neben ihr Ruff, der das Tagewerk eines normalen Hundes hinter sich hatte, friedlich auf seinem Kissen schlief.

Schon früh am nächsten Morgen eilte sie zu Laetitia. Laetitia war in einem Maße beschäftigt, wie sie es seit Jahren nicht gewesen war. In der dunklen Absicht, den Schaden, den sie angerichtet hatte, wieder gutzumachen, hatte sie den in diesem Hause unerhörten und erstaunlichen Plan gefaßt, eine kleine Abendgesellschaft zu geben. Sie hatte Wilfrid und Jimmy eingeladen; in der unklaren Vorstellung, daß sie es damit Barbara erleichterte, sich darüber klar zu werden, was sie eigentlich wollte, und eine Wahl zu treffen. Andererseits konnte der Anblick eines Nebenbuhlers Jimmy zur Erkenntnis bringen, daß eine platonische Freundschaft für eine um eine gute Anzahl Jahre ältere verheiratete Frau bei weitem nicht so befriedigend und erfreulich wie Liebe zwischen zwei jungen Geschöpfen war. Vielleicht waren diese Berechnungen nicht ganz unrichtig. Frauen pflegen die Lebensprobleme mit einer mathematischen Kenntnis zu lösen, die dadurch nichts an Präzision verliert, daß sie die Ziffern an den Fingern abzählen.

Die vegetarianischen Grundsätze des Hauses machten die Bewirtung von Gästen, ausgenommen beim Tee, zu einer schwierigen Sache. Schon seit vielen Jahren hatten sie niemand zu einer anderen Mahlzeit eingeladen, als um halb fünf Uhr nachmittags, denn zum Tee war Roger jeder Mensch willkommen, den er allenfalls auch malen konnte. Die Teestunde war in seinem Hause einfach eine Falle für Modelle. Im Fenster stand ein bestimmter Stuhl, zu dem jeder Besucher unfehlbar geführt wurde, unter dem Vorwand, daß es der bequemste Stuhl im Zimmer sei. In einem anderen Stuhl, der mit dem Rücken gegen das Licht stand, saß Roger und beobachtete die Gäste, und er wurde lebhaft und gesprächig oder verstimmt und einsilbig, je nachdem sie einen günstigen oder ungünstigen Eindruck auf ihn machten.

Alle anderen Mahlzeiten wurden von Roger und der Familie in strenger Abgeschlossenheit eingenommen, die ihnen etwas von der Feierlichkeit der Mysterien eines Opferritus gaben. Kein Besucher wurde je zu diesen Mahlzeiten zugelassen, niemand durfte einen Blick ins Speisezimmer tun. Sonderbar, wenn das gemästete Kalb geschlachtet und verzehrt wird, hört man Gelächter und fröhliche Geselligkeit, das Essen der Nußfleischkoteletts scheint eine traurige und klägliche Angelegenheit.

Wenn seine intimsten Freunde unerwartet und ungelegen zu dieser Stunde ins Haus kamen, dann eilte Roger in die Halle hinaus und begrüßte sie, nahm aber zugleich eine Miene an, die jeden Schritt nach dem Speisezimmer unmöglich machte und die nur die Dickfelligsten mißverstehen konnten. Alle Leute in Sterrenden wußten, daß er Vegetarianer war, aber noch keiner hatte die Geheimnisse seiner Speiseordnung ergründet. Wenn er bei solch einer Gelegenheit in die Halle hinauskam, um das Heiligtum, in dem der Ritus sich vollzog, zu verteidigen, dann sah er nicht wie ein Mann aus, der sich nach einem guten Essen den Mund ableckt, sondern wie einer, der einen leeren Magen hat und dem kaum Kraft genug bleibt, eine würdige Haltung zu bewahren. In diesem Hause eine Gesellschaft zum Abendessen einzuladen war ein Beginnen, das ebenso neuartig wie überraschend und schwer durchzuführen war. Es mußten Sachen bei Herrn Wrench bestellt werden, die noch niemals bei ihm bestellt worden waren. Laetitia konnte zwei gesunden kräftigen jungen Männern nicht vegetarische Speisen vorsetzen, und andererseits wußte sie, daß Roger es als Spott zum Schaden empfunden hätte, wenn man jemand aus seinem Haus zum Schlächter in der oberen Straße hätte gehen sehen.

Fräulein Limpnett kam daher an diesem Morgen zu Laetitia wie der Engel des Herrn zu Sarah. Wenn ihre Füße auch nicht gerade beflügelt waren, so boten ihre Schuhe mit elastischen Einsätzen doch immerhin eine gewisse Gewähr dafür, daß sie bis zum Fleischer gelangen würde. Laetitia reichte ihr beide Hände hin, abgesehen von dem Kuß auf beide Wangen, ohne den Fräulein Limpnett stillschweigend gefühlt hätte, daß sie nicht willkommen sei.

»Ich gebe eine kleine Abendgesellschaft,« begann Laetitia sogleich, viel zu sehr von ihrem Vorhaben erfüllt, um an die Schwierigkeit zu denken, die darin lag, daß sie ja Fräulein Limpnett erklären mußte, daß sie selbst sich nicht unter den eingeladenen Gästen befand, »und – oh, Sie könnten mir den größten Gefallen tun!«

Mit einer Zurückhaltung, die aus dem Bewußtsein entsprang, daß sie ja ein gutes Werk zu tun gekommen war und eine Mission zu erfüllen hatte, fragte Fräulein Limpnett, was sie tun sollte.

»Gehen Sie zum Fleischer und kaufen Sie für mich ein Lendenstück vom Rind, acht bis zehn Pfund schwer, und seien Sie so lieb und gut und bringen Sie es mir. Sagen Sie aber nicht, daß es für uns ist.«

Fräulein Limpnett lebte zwar nicht von Obst und Gemüse, nichtsdestoweniger war sie ein Mensch von den strengsten Grundsätzen. Und zwar lebte sie nach ihren eigenen Prinzipien und erkannte die der anderen nur an, wenn diese sich einmal nicht an sie zu halten schienen.

»Es ist mir immer noch lieber, wenn ein Heide seine Götzenbilder anbetet,« pflegte sie zu sagen, und sie sagte es oft und gerne, weil sie jedesmal beim Aussprechen dieser lapidaren Worte ein Gefühl ihrer eigenen Großzügigkeit hatte, »es ist mir immer noch lieber, wenn ein Heide seine Götzenbilder weiter anbetet, als wenn er sie aufgeben und gar nichts mehr anbeten würde.« Als sie daher hörte, daß Laetitia zu einem Abendessen einlud, bei dem gegen alle Regeln des Hauses Fleisch gegessen werden sollte und zu dem sie selbst, soweit sie sehen konnte, nicht eingeladen war, da fühlte sie, daß hier Grundsätze verletzt wurden, die zu beobachten immer noch richtiger gewesen wäre.

»Weiß Herr Campion davon?« fragte sie.

»Noch nicht«, sagte Laetitia. »Ich muß jetzt hineingehen und es ihm sagen. Er arbeitet an einem Bild, das er gestern nachmittag angefangen hat.«

Fräulein Limpnett hatte die Ereignisse des gestrigen Nachmittags nicht vergessen. Sie waren nur im Augenblick durch die plötzliche und überraschende Neuheit dieses Abendessens in den Hintergrund gedrängt worden. Jetzt kamen sie ihr wieder ins Bewußtsein, mit all den Erinnerungen der vergangenen Nacht, der Geschichte von David und Batseba und all den Gesichten, die ihren Augen den Schlaf ferngehalten hatten, bis die Kirchturmuhr neunundzwanzig schlug, wie es in Sterrenden öfters geschah, da der nächste Uhrmacher sieben volle Meilen entfernt wohnte.

»Haben Sie gesehen, was er malt?« fragte sie vorsichtig.

Laetitia schüttelte den Kopf. Es war am Abend vorher zu spät geworden, als daß sie es hätte sehen können. Roger habe ihr nicht gesagt, was er mache, und heute vormittag habe sie viel zuviel zu tun und könnte an nichts anderes denken als an ihre Abendgesellschaft, da sie am Nachmittag selber ihm für ihr Porträt sitzen müßte. Sie schüttelte also den Kopf, was nicht nur zu sagen schien, daß sie nicht wüßte, woran er malte, sondern beinahe den Anschein erweckte, als ob ihr nichts daran gelegen wäre.

Fräulein Limpnett erkannte, daß Laetitia gerade in dem Geisteszustand war, in dem sie eine Aufklärung nötig hatte. Sie ging schrittweise vor, denn sie wußte aus Erfahrung, daß es eine heikle Sache war, einem Mann über seine Frau oder einer Frau über ihren Mann die Augen zu öffnen.

»Er malt ein junges Frauenzimmer«, sagte sie; und das hieß die Sache sehr fein anfangen, denn einerseits war das etwas, was jeder Künstler tun mochte, ohne daß man ihn darum verdächtigen konnte, während andererseits der Ausdruck »junges Frauenzimmer« doch selbst einer allzu vertrauensseligen Gattin sonderbar klingen mußte. Laetitia sah auf.

»Ein junges Frauenzimmer?« wiederholte sie.

Nun hätte Fräulein Limpnett ihr sogleich jeden Zweifel benehmen können, wenn sie in ihren Mitteilungen einfach fortgefahren wäre. Aber sie nickte nur schweigend mit dem Kopf, denn sie wußte wohl, daß nichts so geeignet ist, den Seelenfrieden eines Menschen, der an einem Abgrund schlummert, aufzustöbern.

Sie hörte indessen mit Betrübnis, daß Laetitia das junge Frauenzimmer gesehen hatte; denn diese erinnerte sich jetzt, daß sie sie ja am Nachmittag vorher vom Fenster aus gesehen hatte, als die andere ins Haus getreten war.

»Nun, ich hoffe, sie ist ein gutes Modell«, sagte Laetitia mit der Einfalt, die Fräulein Limpnett so oft mitleidig stimmte. »Es ist so schwer, hier eines zu finden. Wenn er nur ein gutes Modell hat, dann wird er heute abend in glänzender Laune sein. Dann macht er sich sogar aus dem Rinderbraten nichts.«

Der Augenblick, deutlicher zu sprechen, war offenbar gekommen. Fräulein Limpnett liebte halbe Freundschaften nicht. Sie war Laetitia sehr wohl gesinnt, und bei der Meinung, die sie von den Männern hatte, gab es nicht einen, dem zuliebe sie sich davon hätte abhalten lassen, sich als Freund in der Not zu zeigen. Und ihrer Meinung nach war Laetitia tiefer in Not, als sie es ahnte.

»Wenn Sie das Frauenzimmer gesehen haben,« sagte sie, »dann können Sie ja wohl selbst beurteilen, was für eine Art Frauenzimmer es ist.«


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