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Edmund war nach einer unruhigen Nacht früh munter gewesen. Er ging, so bald es schicklich war, nach dem Hause des Probstes, um sich nach jenem Familienvermächtnisse seines Vorfahren zu erkundigen. Der Probst war abwesend und sollte erst, wie die Dienerschaft aussagte, am folgenden Abend von seiner Geschäftsreise zurückkehren. Ein alter Priester bestätigte ihm Das, was er gestern Abend erfahren hatte, konnte ihm aber die Kammer und den Schrein eben so wenig eröffnen, weil der Probst zu Beiden den Schlüssel in Verwahrung habe.
Ungemuth und von vielfachen Gedanken bestürmt, ging Edmund in sein Zimmer zurück. Er schloß sich ein, um ungestört und mit Sicherheit die Papiere lesen zu können, welche ihm der Graf jüngst anvertraut hatte.
Als er das Packet eröffnete, sah er, daß die Schriften von unterschiedlichen Händen waren. Die Blätter waren alle fast vierzig Jahre alt, und wie erstaunte der junge Mann, als er in den Briefen des Grafen die ungestümste, fast wahnsinnige Leidenschaft einer Liebe geschildert fand, die in ihrem wilden Kampf alle Vorurtheile durchbrechen und alle Verhältnisse zernichten wollte. Die Geliebte, deren Briefe eine milde und edle Gesinnung aussprachen, war nur eine Bürgerliche, die Tochter von Handwerkern, sie kämpfte gegen die Opfer und wollte sie nicht annehmen, die der Graf, um seinen Verwandten und Vorgesetzten, der Familie und seinem Vater zu trotzen, ihr bittend, beschwörend und drohend anbot. Alles stellte jene Zeit und Gesinnung dar, die sich damals durch Rousseau's Heloise, noch mehr aber durch Werther und dessen Nachahmungen in Deutschland verbreitet hatte. Der damals junge Graf und sein Freund, der Baron, gehörten zu den Enthusiasten, welche von jenen neuen Dichterwerken waren entzündet worden. War der Druck von manchen Verhältnissen, die Beschränkung der Gesinnung und der Schmerz ängstlicher und kleinlicher Vorurtheile auch schon längst gefühlt worden, so waren doch jetzt erst die Worte ausgesprochen worden, die wie Zauberformeln alle jene Ketten und Riegel zu lösen schienen. Viele junge Gemüther glaubten damals, daß ein kräftiger Wille allein hinreichend sei, um alles Das zu vernichten, was gegen den gesunden Menschenverstand anzurennen und die Blüthen und Früchte des Lebens zu vergiften schien.
Je weiter Edmund las, je mehr ward er gerührt. Er konnte sich einer Begeisterung für diesen Jüngling, der so die Qual und Seligkeit der Liebe erlebt hatte, nicht erwehren. Wie ein Gespenst rückte ihm das Leben alsdann näher, wenn er sich erinnerte, daß dieser Liebende derselbe förmliche Greis sei, der ihm seinen Abschied gegeben, dessen Haus er nächstens verlassen müsse. In der weiblichen Handschrift schienen ihm schon sonst gesehene Züge entgegen zu leuchten, doch konnte er sich nicht erinnern, wo ihm diese Buchstaben schon vorgekommen seyn sollten. Erhoben ihn die Briefe des Liebenden zu Entschluß und edlem Zorn, so erregten die Antworten der Jungfrau eine erhabene Wehmuth in seiner Seele. Die Briefe des Barons waren dagegen von einem edlen, höchst anmuthigen Leichtsinn gefärbt, er nahm alle Verhältnisse des Lebens mehr von der poetischen und humoristischen Seite. Er war der Vertraute der Liebenden und wollte das Mädchen ebenfalls bereden, sich entführen zu lassen.
»Du willst also«, schrieb der junge Graf, «nichts von mir, nichts von meinen Vorschlägen wissen? Kenne ich Dein Herz noch, Jakoba, seh' ich noch Deine treuglänzenden Augen? Du zertrittst mein Herz und wähnst Deine Pflicht zu erfüllen; Du vernichtest das Leben und die Liebe und gehst an einem schimmernden Traum verloren. Sind denn alle diese Pflichten, Herkommen, Gesetze und Einrichtungen, wenn sie unser nächstes, ja unser einziges Glück zerstören, etwas anders als leere Wortgebilde, den Wolken ähnlich, die ein frischer Wind über die Ebene dahinweht, und die, wie sehr sie in Figur wechseln und wandeln, wie dräuende Gestalten sie auch annehmen, doch nur wesenlos sind? Alles, was auf Erden groß und mächtig ist, was das Gemüth mit Staunen erfüllt, was das Nichtige und Niedrige der armen Natur aufwiegt, ist aus der Liebe und Begeisterung hervorgegangen. Traurig genug, daß Schicksal und Krankheit, Tod und Mißverständniß nur zu oft den Götterfunken der Liebe verlöschen und nicht zur alles belebenden Flamme erwachen lassen. Soll unser Eigensinn noch schlimmer wirken und Das morden, was im klarsten Erkennen die Seele unserer Seele ist? Nein, Geliebte, Du wirst meine Worte, meinen Geist, mein Herz vernehmen. Alles, was unserer Verbindung entgegensteht, ist ein Nichts, ein Tod, oder soll es ein Wesentliches seyn, so kann es nur Deine Untreue heißen, die vom ersten Begegnen unserer Geister in Dir schlief, und nur diesen Vorwand benutzt, um sich gegen die ewige Liebe aufzulehnen. Und wenn es so ist, wenn in Dir keine Wahrheit ist, in Dir, die Du mir der ungefälschte Spiegel aller Treue warst, – wohin hat sich meine Seele dann verirrt? Dann ist Alles Wahnsinn und Raserei in mir, was ich für das Rechte hielt, dann zertrete, vernichte ich auch den Glauben an meine Seele, an Erde, Himmel und Gott. Dann, Du trügerisches Bild, mir herabgesendet, um mich zu verderben, verwundere Dich nicht, wenn Du von meiner Verzweiflung und meinem Tode hörst. Habe ich doch in Deiner herben Verweigerung schon aufgehört zu seyn. Ward mir dies Dasein gegeben, ohne daß mich Wer fragte, ob ich es annehmen wollte, so kann ich es auch von mir werfen, ohne daß Wer ein Recht hat, mich deshalb zur Rechenschaft zu ziehen.« – –
Wunderbar erschütterten diese Blätter den jungen Mann, vorzüglich die Briefe des Mädchens, die so sanft und milde geschrieben waren, die das lauterste Herz und die klarste Einsicht bezeugten. Sie tröstete so freundlich und liebevoll, ihr Zurückziehen, ihr Versagen, Alles, was sie zugab und widerlegte, war so ganz in der Bewegung des schönsten Herzens geschrieben, daß Edmund immerdar mit Thränen an Elisabeth denken und sich fragen mußte, ob ihre Seele in so reiner Schönheit glänze, ob ihr Gemüth auch wohl in dieser Krystallhelle leuchte.
»Nein, mein Geliebter«, schrieb sie nach manchen andern Worten, – »nein, nicht Dein Geist sprach Deine Drohung aus, nur jener lockende Dämon der Unwahrheit, des Trotzes und der Schadenfreude, der auch zu Zeiten die edelsten Seelen verdunkelt, nur dieser konnte Dir jene Worte in den Mund legen. In ihnen leugnest Du die Liebe, an die ich ewig glauben muß, trotz allen Schicksalen und meiner Entsagung zum Trotz. Könntest Du so endigen, ja dann müßte ich mir in der Zerrüttung meines Schmerzes gestehen, daß meine Liebe ein Irrthum gewesen sei, und daß Derjenige, den ich mit voller Seele zu lieben glaubte, nur ein Scheinbild meiner eignen Phantasie gewesen sei. Wie kann ich Dich lieben, wenn ich Dich nicht verehre? Wie ich Dir entgegen kam, war meine Seele noch nicht von dem schönen Kindheitstraum aus ihren Ahndungen erwacht. Ich wußte nicht, was es war, als ich Dich liebte, aber ich fühlte, daß ich zum Leben, zum Empfinden durch den Sonnenschein Deines herzdurchdringenden Blickes gereift wurde. Mich umgab die Geisterwelt mit allen ihren Kräften; das Unsichtbare, was ich bis dahin nie erschaut hatte, enthüllte sich mir in tausend schönen Bildern. Im zweiten Wesen, in Dir, hatte ich mich erst gefunden, und zugleich Himmel und Gott. Dieser Augenblick war die Ewigkeit selbst; die Zeit und alles Zeitliche war zerstört. Ja, mein Geliebter, es giebt ein Leben, das über alle irdischen Bedingungen erhaben ist. Die wahre Liebe führt uns in dieses Elysium ein, in dem wir dann die beseligten Bewohner sind. Aber hüten wir uns, durch die trübenden Leidenschaften diese Seligkeit nicht zu verscherzen. Ich habe es wohl gefühlt, daß das Ueberspringen, der Uebertrotz des Eigenwillens diesen Himmel selbst in Hölle verwandeln könnte. Soll sich denn immerdar das Irdische mit dem Unsterblichen vermählen? Wir haben jetzt die Zeit erlebt, wo man Alles, was dem geraden Sinn zu widersprechen scheint, Vorurtheil nennt. Ist denn Liebe nicht, und der Glaube, welcher eins mit ihr ist, das unbegreiflichste Vorurtheil? Wer Alles stürzen will, wie Ihr Begeisterten denn alle dieses wollt, was nicht mit der Vernünftigkeit aufgeht und von selbst zu begreifen ist, der müßte dann seine Vernichtung mit der Liebe zuerst beginnen. Hätte ich die Welt ins Auge gefaßt, wäre ich in Deiner und meiner Unschuld nicht so unaussprechlich glücklich gewesen, so hätte ich mich wohl früher von Dir zurückziehen sollen. Aber Zeit, Raum, Abstand, die Welt war mir verschwunden, und mir fiel nicht ein, daß Du anders fühlen, andere, ganz irdische Absichten haben könntest. Seitdem Du diese mit Deiner Liebe vermischt hast, bin ich vor Deiner Leidenschaft oft mit Erschrecken zurückgewichen. Ist denn Dein Stand, die Liebe und das Glück Deiner Eltern, das Wohlwollen Deiner Familie, die Zukunft Deiner Kinder, Dein Verhältniß zu Deinem Könige und dem Vaterlande, Dein Verwachsen- und Verbundensein mit den alten großen Familien, ist alles dieses nicht auch ein Edles und Heiliges? Entkleiden wir es von diesem, so kann alles freilich unserm aufgeregten Eigenwillen als Fratze erscheinen. Dann ist aber auch das ganze Leben nichts Besseres, denn alles Große und Schöne ruht auf einem geistigen Fundament, das nur dem Auge der Seele in Liebe und Begeisterung sichtbar werden kann. Versündigen wir uns nicht an uns selbst, daß wir vom Schicksal etwas mit Gewalt erringen wollen, was nicht mehr die Liebe ist. Ich weiß, Du würdest erwachen, und eben, weil Du edel bist, in innerster Seele Dich unglücklich und gelähmt fühlen. Mein Herz würde das Deinige auch in der künstlichsten Verhüllung fühlen und verstehen; um den Andern nicht Unglück argwöhnen zu lassen, würden wir immerdar Einer den Andern und unsere eignen unbedeutenden Worte, ja Gedanken, argwöhnisch bewachen. O, mein Freund, es giebt gewiß tausend Arten von geistigem Unglück, die drückender als Armuth und Elend sind. Bis zur Vernichtung alles Lebens und aller Wahrheit kann diese feinaushöhlende Seelenkrankheit mit ihrem langsamen Gifte verzehrend wüthen. Und – wenn wir uns nun in spätern Jahren so als ausgehöhlte leere Schatten, als fratzenhafte Erinnerungs- und Spottbilder unserer frühen schönen Seelenzustände gegenüber ständen! O Du Geliebter meiner Seele, könnte ohne gewaltsame Zerrüttung Deines Lebens unsere Ehe seyn, so würden wir in unsern Kindern ein neues Glück aufblühen sehen; wir dürften es wagen, uns der Welt und ihren Verhältnissen anzuvertrauen. Wir könnten hoffen, auch die Ehe als ein heiliges Verhältnis zu leben, und als Eltern im Wechsel der Zustände, in Alter und Krankheit immer noch das Unsterbliche zu suchen und zu finden. Aber, wie das Schicksals das wir anbeten und nicht verhöhnen sollen, uns gestellt hat, müssen wir der höchsten Liebe, der Wahrheit und Tugend ein Opfer bringen. Und, mein Albert, ist denn der Schmerz, den es uns kostet, ein Unglück? Er ist ja der reine Schmerz der Liebe. Wo ich bin, was ich erlebe, immer wirst Du mir, auch durch weite Räume von mir getrennt, das Edelste, Höchste und Glückseligste seyn, immer, wenn ich es auch nicht wollte, wird meine Seele in der Peinigen wohnen, und Dein Geist ist vereint mit dem meinigen. Warum wollen wir die Süßigkeit des geheimnißvollen Räthsels durch eine scheinbare Auflösung trüben? Glaubst Du nicht, daß wir tausend Freuden und Erhebungen einbüßen müßten, auch wenn ohne Sturm Dein Wunsch in Erfüllung gehen könnte?« – –
Noch Vieles sagte sie ihm, um seine Heftigkeit zu mildern, die aber mit jedem Briefe sich leidenschaftlicher zeigte. In den härtesten Ausdrücken warf er ihr Lieblosigkeit vor und wollte sie bald durch Drohung und Verzweiflung, bald durch Bitten und Versprechen zu dem Schritte verleiten und zwingen, den seine Leidenschaft für den nothwendigsten hielt. Endlich meldete er ihr, daß er nun etwas thun würde und müsse, was sein Verhältniß zu seinem Stande und dem Könige, zu seinen Eltern und Verwandten auf immer und ohne Rückkehr zerreißen würde, – da war sie plötzlich verschwunden. Man forschte ihr nach, vorzüglich der Baron, aber keine Spur war zu entdecken. Die wilde Leidenschaft warf den jungen Grafen auf das Krankenbett, auf welchem er ein lebensgefährliches hitziges Fieber überstehen mußte. Nach einem halben Jahre wollte der Baron erforscht haben, daß sie sich irgendwo in einer kleinen Stadt an einen Handwerker oder Krämer verheirathet habe. Da der Graf zur Reise zu schwach war, begab sich der Baron an verschiedene Orte, die man ihm angab, aber nirgend ward er ihrer ansichtig. Jugend und Gesundheit machten ihr Recht auf den Grafen wieder geltend, und er gab nun endlich dem Wunsche seines Vaters nach, sich mit einer Gräfin aus einem alten Hause zu verbinden. –
So hat denn dieser Greis, sagte Edmund zu sich selbst, alle Leidenschaften, welche er jetzt so bitter tadelt, selber erlebt. Was ist unser irdisches Leben? Wie Sonnenschein und Regen, wie Aprilwetter in gebirgiger Landschaft wechseln diese Zustände, diese Empfindungen, weite reiche Aussichten, glänzend blendende Lichter, dann Alles wieder von Finsterniß verdeckt, im Dunkel verschlungen, aufblitzt dann wieder plötzlich ein grünes Thal, eine Gruppe von schönen Bäumen, sieh, da reißt sich die Kuppe des Gebirges aus dem Nebel los, und es glänzt die Felsenkrone. – Und dennoch sind es diese Zustände und unsere Erinnerung an sie, die unser wahrstes Leben sind: Traum im Traum. Nur nicht, was die Altklugen die Wirklichkeit nennen. Daß wir den Schmerz überleben, ist ja nur ein neuer Schmerz. Alles wandelt und Nichts besteht, und im Wandeln ist es nur unser; wir sind nur, weil wir uns immerdar verändern, und können es nicht fassen, wie ein Dasein ohne Wechsel ein Dasein heißen könnte.
Er verlor sich in diesen Vorstellungen, und das Räthsel des Lebens hatte noch nie so wunderbar, als wenn es sich im vielfachen Geheimnisse lösen wollte, so seltsam vor seinen geistigen Blicken gelegen.