Ludwig Tieck
Der Mondsüchtige
Ludwig Tieck

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Der Oheim an den Neffen.

Warum, mein junger Freund, muß Dir Alles so entgegenhandeln? warum treten die Begebenheiten so gegen den Strich bei Dir ein? Weil Du Alles so phantastisch beginnst. Sieh, mein Freund, in dem Poetischen Deiner Natur, da sie doch einmal für eine solche gelten kann und soll, müßte etwas mehr Besonnenheit und in Deinem Sinnen weniger Träumerisches seyn. Doch, es ist wahr, Du bist ein Mondsüchtiger, wie wir Dich immer genannt haben, und einem solchen muß man Manches vergeben, was man einem Gesunderen höher in Rechnung stellen würde. Habe ich doch auch immer einen Ansatz zu dieser Krankheit gehabt.

Wenn Dir aber Deine halb unbekannte Geliebte verloren gehen sollte, so ist es nur Deine eigene Schuld. Doch ist es mit den Phantastischen vielleicht auf eine ähnliche Art, wie mit den Trunkenen beschaffen; diese beschädigen sich nicht leicht, auch wenn sie von ziemlichen Höhen herunterfallen; und den Hyperpoetischen arbeiten die Lenker des Zufalles, die kleinen unsichtbaren Feen, die sich der verirrten Kinder erbarmen, vielleicht auch so in die Hände, daß ihnen das Wild entgegenläuft, welches sie auf immer verscheucht zu haben wähnen.

An einem schönen Morgen also wirst Du plötzlich mit Deiner schönen Braut in meine Hütte eintreten, und ich werde von ihr einen Kuß empfangen, der mich in die schöne Zeit meiner Jugend zurückversetzt. Auf Abschlag bis dahin darfst Du mich schon einige Mal ärgern, und freilich ärgere ich mich über Deine Streiche, die ich wohl auch in Deinen Jahren nicht klüger ausgeführt hätte. Wäre meine jetzige höhere Weisheit nur nicht Unbehülflichkeit, so würde ich mit mir noch etwas mehr zufrieden seyn.

Was Du über die Stimmung der Zeit, die sich die Miene giebt, Göthe zu verkennen, sagst, ist eben eine Folge unserer Übersättigung, und daß, soviel ich habe sehen können, Enthusiasmus, Ehrfurcht und Demuth bei den jüngern Gemüthern verschwunden sind, seit sie sich einbildeten, sie dürften die Welt verbessern und regieren. Sie wollen Spartaner seyn, und die Künste verachten.

Wir haben so viel gestritten, erforscht, studirt und systematisirt, um die Poesie in die ihr gehörigen Classen zu bringen, und einen hauptsächlichen Unterschied hat man bisher immer aus der Acht gelassen. Wenn der Grieche schön »Poet« sagt, so spricht der Deutsche auch löblich, »Dichter.« Ja, dieser Begünstigte soll Alles, was den gewöhnlichen Menschen als Ahndung, Einfall, oder gehaltlose Laune vor der Seele flattert, dichten, verdichten. Jene Geburten der zartesten Geister, die das blöde Auge in der Natur, wenn diese im schaffenden Schlummer liegt und die süßen Träume geistig und durch Blumen und Blüthenbäume fliegend ausgießt, gar nicht, oder als matte und unbedeutende Gespenster sieht, soll der Poet verdichten, daß wir Alle das liebende Herz und den Phantasiereichthum unserer Mutter erkennen. Die Wolkendünste des Gemüthes, die den gewöhnlichen Menschen beängstigen und sein Leben verwirren, soll er in Lichtgestalt, in großartigen Schmerz, süße Wehmuth, sinnige Melancholie und schöpferische Laune verdichten und umwandeln. Glaubst Du, daß vielen Menschen diese wunderbare Gabe verliehen sei? denn es ist ja das Schaffen aus dem Nichts oder dem Chaos.

Diese wackern herrlichen Schöpfer werden nun immerdar mit jenen verwechselt, die ich, ohne alle Bitterkeit und Ironie, im Gegensatz die Dünner, Verdünner nennen möchte. Mit großer Geschicklichkeit, oft mit vielem Talent, wissen sie einen Gedanken, ein Gefühl, Bild, das ihnen beim Dichter auffällt, anmuthig zu verdünnen, und das, was sich körperlich und geistig figurirt hat, wieder allgemach in die Gegend des Dunstes und Nebels mit vielen Worten hineinzuspediren. Wenn der Dichter uns das Fernste und Unsichtbarste recht nahe vor die Augen rückt, so wissen diese Dünner das Nächste und Deutlichste so unkenntlich zu machen, daß man oft nicht ohne Erstaunen und einigen Schwindel ihren künstlichen Prozessen zusieht. Ganze Bibliotheken sind damals, den Goldschlägern mit ihrem Goldschaum nicht unähnlich, aus dem Werther herausgedünnt. Wie aber kein Mensch, selbst nicht der mächtigste Monarch, darauf verfallen wird, seine Gemälde mit Rahmen von massivem Golde zu umziehn, um seine Mundtasse einen ächt goldenen Reif zu legen, auf seinen in Marmor gebundenen Büchern, auch wenn es Prachtexemplare sind, gediegene goldene Lettern zum Titel einzuprägen, sondern wir uns alle hier der leichten Vergoldung oder selbst des Goldschaumes als des besser ziemenden Materials erfreuen: – so sind auch für tausend Gelegenheiten des Lebens und für die größere Zahl der Leser, Genießender und Gebildeter die Arbeiten dieser Dünner viel passender und bequemer, als die Werte der Dichter. Ich habe oft zu bemerken Gelegenheit gehabt, daß treffliche, zarte Menschen, die recht ein Studium des Lebens daraus gemacht hatten, sich an diesen goldschäumenden Dünnern zu entzücken und zu erbauen, ganz verdutzt und fast erstarrt dastanden, wenn sie einmal zufällig an einen Dichter geriethen.

Es giebt Provinzen, die sich in unserm Deutschland auszeichnen, daß sie recht fruchtbar in Hervorbringung dieser Dünner sind. Sie sind dem Vaterlande in vielen Rücksichten sehr nützlich.

Oft wirst Du sehn, daß das ächte Werk eines Dichters nicht viel Eingang findet und wenig beachtet wird, es ist zu gediegen und dadurch zu unbequem. Was geschieht? Eine Anzahl Dünner macht sich an das unbehülfliche Wesen, schlägt, preßt, klimpert, zieht, dehnt, faselt und prattert und schnattert so lange, bis die verständigen Fabrikanten daraus ein Dutzend begeisternder Lieblingswerke hervorgeschnitzelt haben, die in der Literatur eine neue Epoche zu begründen scheinen.

Mit diesen Dünnern hängen die Dehner zusammen, die auch ihre Verdienste haben können. Sie verhalten sich zu den Dünnern wie die Drahtzieher zu den Goldschlägern.

Freilich muß man die Verdichter nicht mit den Verdickern verwechseln, diesen Grobschmieden in der Poesie, wo der Hause oft genug das Platte, Gemeine mit dem Kräftigen, Großen verwechselt.

Ich habe Dir, mein Freund, nur eine Andeutung meiner Aesthetik geben wollen. Die Nutzanwendung überlasse ich Dir selbst. –

– – Neben jener Verstimmung in der Literatur, oder selbst Abspannung, bemerke ich aber auch eine Schule oder Sekte, die zusammenhängt, sich an Sprichwörtern und Handwerksgruß erkennt und absichtlich dies und jenes durchsetzen, Werke erheben und verwerfen will, wie es zu ihrem Zwecke dient. Ganz auf eine ähnliche Art, wie ehemals die Nicolaiten verfuhren, um ihrer Aufklärung Bahn zu machen. Daß es damals seine Wirkung that, und Philanthropen, Erzieher, Aufklärer mit allen ihren Thorheiten durchdrangen, kann uns belehren, daß es auch dieser neueren Sekte in gewissem Maaße gelingen wird, bis dann ein wieder einbrechender Herbst diese verwelkten Blätter vom Baume schüttelt.

Nicht bloß in Ansehung der Dichter, Schiller und anderer, höre ich die Behauptung, daß, wenn auch vielleicht eine Bemerkung, ein Tadel gerecht seyn dürfe, man die Gesinnung des Mannes doch höher, als alles Uebrige, schätzen müsse. Von der Gesinnung spricht man bei Historikern, Philosophen und andern Autoren bei jeder Gelegenheit. Dem Forscher, dem Darsteller, dem Patrioten und Politiker spricht man Fleiß, Talent, Kenntniß, Einsicht, Vaterlandsliebe ab, wenn er diese Gesinnung nicht hat, und erhebt, oft gegen die eigne Einsicht, Bücher, denen es an ächtem Gehalt gebricht, weil diese Gesinnung Alles ersetzt. – Von Philistern und Jesuiten ist in unsern Tagen soviel die Rede. Ist es jesuitisch, einen scheinbar guten Zweck auf allen Wegen, auch den nicht erlaubten, erlangen wollen, so handeln wohl manche, die sehr gegen die Jesuiten deklamiren, selbst jesuitisch.

Wohin gerathe ich, mondsüchtiger Freund? Meine alte Krankheit, die ich doch auch schon verwunden haben sollte, auf die Zeit zu schelten! –

Also dort, mitten im Fichtelgebirge, sitzest Du jetzt? – Es waren schöne Tage meiner Jugend, als ich mich da oben phantasirend und von der Natur berauscht in jenen Bergschluchten umtrieb. In jenem alten großen Gebäude, in welchem Du warest, habe ich auch einen Tag und eine Nacht gewohnt. Der Fabrikherr war ein fleißiger, reicher und sehr verständiger Mann. Damals waren die Schwestern noch zarte, liebliche Jungfrauen, die so eben die geheimnißvolle Kindheit überschritten hatten. Ich hatte die Maschinen, die Glashütte, in einiger Entfernung von dort die Alaungrube besucht, und saß am schönen Pfingsttage mit der Familie behaglich an der gut besetzten Mittagstafel. Das Gespräch ist den einsam liegenden Bewohnern der Gebirge eine Erquickung, von der die immerdar schwatzenden Städter keine Vorstellung haben. Zur wahren Erbauung, zum Feierlichen, Lieblichen erhebt sich der Diskurs in diesen Waldgebirgen, wo man den Heher im Baum vernimmt, die Holzaxt in der Ferne, das Säuseln der Tannen nahe und das Echo eines schreienden Vogels von der düstern Felsenwand in das Tischgespräch hinein.

Nach Mittag betrachteten wir wieder die wunderbare Gegend. Die hüpfenden und singenden Mädchen hoben sich gegen den düstern Tannengrund allerliebst ab. Daß man in der Jugend so manchen Tag so ganz zwecklos hinlebt, seine Bestimmung und alle Plane vergißt, gehört eben recht zum Glück der Jugend, denn nur dadurch genießt man vollständig die Gegenwart, die späterhin von Zweck, Erinnerung, Vorsatz und vernünftiger Absicht zu sehr verschaltet wird.

So kam der Abend heran. Gespenstergeschichten, die sich in den Gebirgen besser ausnehmen, wie in der Ebene, wurden vorgetragen. Die Mädchen lachten übermäßig, um ihrem Grauen entgegenzuarbeiten. Wir trennten uns endlich, um zu schlafen.

Ich ward, abgelegen von den übrigen Zimmern, auf einen langen Saal einquartirt, den Du auch wohl gesehen haben wirst, denn ich hoffe, Alles ist in diesem Gebäude noch in demselben Zustande. An den Wänden hingen alte Familienbilder, die Tapete hatte sich an einer Stelle losgeblattet. Ich, der ich damals ein leidenschaftlicher Nachtwandler war, nahm mir vor, mich nicht niederzulegen. Mit dem Bildniß der lieblichen Mädchen verbanden sich in der stillen Nacht Erinnerungen aus früheren Jahren, Alles, was Sehnsucht und Wehmuth je in mir gewirkt hatten, ward wieder in mir lebendig, schauerlich und wollüstig, ahndungsvoll und träumend. Ich hatte das eine große Fenster geöffnet und die frische Nachtluft, die in den Raum strich, bewegte die Tapete, die Gebilde wankten in ihren Rahmen, und es war, als wenn Geister durch das Gemach zogen. Immer lauter rauschte unter mir der Bach, der vom Wald verdeckt war. Mir gegenüber ein steiler Berg, bis in den Himmel ragend und dort den Horizont eng abschneidend, dunkelschwarz mit Tannen bedeckt. Von Zeit zu Zeit der schwirrende Flug eines großen Vogels über das Gebirge hinweg. Welche zarte Fibern erregen so süße unaussprechliche Harmonie in allen Fühlungen der Jugend. Mir war so wohl, so innigst beseligt, daß ich ohne Wehmuth und Schmerz meine Thränen fühlte. Da stieg, mir gegenüber, jenseit der schroffen Bergwand erst ein rother Feuerschimmer, dann ein Streifen und allgemach die ganze glühende Scheibe des Vollmondes herüber. Nun war die Gegend in ein Lichtmeer verwandelt, in welchem man tausend Seltsamkeiten sah und nichts unterschied. Wie Feentänze unter mir, die schwirrend in den Büschen flatterten und dem Elfenkönig grüßend entgegenhüpften. Die zartesten Liedchen summten Mücke und Grille, und wie auf den ausgespannten Saiten des Claviers liefen klingende Schauer über die räthselhafte Natur magisch verhallend hin.

Wen nie in stiller süßer Nacht
Die Einsamkeit geküßt,
Wer nie am Bergeshang gewacht,
Wenn Vollmond ihn begrüßt,
Der kennt auch nicht die Zaubermacht,
Die Busch und Stein entsprießt.
O lange, dunkle, stille Nacht,
Sei wieder mir begrüßt.

So schrieb ich einige Tage nachher, in Sehnsucht nach diesen berauschten Momenten. – Was fehlte nun noch, als daß ein Waldhorn vom andern Flügel des Gebäudes herüberklang. Ein junger Förster war es, der erst in der Nacht nach Hause gekommen war und eben so wenig als ich den Schlaf finden konnte. Er phantasirte einfache, aber liebliche Melodien, bis der Morgenstern funkelte. Mir war, als habe ich Zauberei, wundersame Begebenheit, Mährchen erlebt – und war es denn etwas Anderes, was sich in meinem Herzen abgelöset hatte? Diese Geistergeschichten waren zwar keine äußerlichen Begebenheiten, aber mein inneres Wesen war bis in seine Tiefen aufgeregt. Wie Leidenschaft, Liebe, Schmerz und Verzweiflung ebenfalls bis auf den Grund unserer Seele eindringen, ist ein ganz anderes Handthieren. Jene unsichtbaren Bergelfen und Waldfeen haben mit diesen gewaltigen Erschütterungen nichts zu thun; diese arbeiten nur in jenen Nächten in uns, wovon ich Dir eben eine habe beschreiben wollen. –

– Doch erzählen wollte ich Dir auch Etwas, und zwar etwas recht Wichtiges. Dazu findet sich vielleicht die Stunde nicht wieder. – Ich war auch damals nach der Schweiz hingerathen. In der Nähe des Genfersees begegnete mir Etwas, das man wohl wunderbar nennen darf. Ich verlange aber, daß Du Alles, was ich Dir jetzt mittheilen werde, als ein Geheimniß behandelst. Ich kenne Dich und vertraue Dir. – –

– Es war in Genf, wo ich mich schon einige Wochen aufgehalten hatte, daß ich, von einem Freunde eingeführt, eine Familie kennen lernte, in welcher ich bald eine Heimath meiner sehnlichsten Wünsche fand, wo mir bald die größten Freuden, wie die empfindlichsten Schmerzen zu Theil wurden. Eine Mutter mit drei Töchtern bewohnte eins der vielen Landhäuser, die so lieblich am See hinunterliegen und der schönsten Aussicht genießen. Der Vater war, wegen wichtiger Angelegenheit, um eine bedeutende Erbschaft zu heben, schon seit einem Jahre in Italien, und man fürchtete, weil die Sache sich immer mehr verwickelt hatte, daß seine Zurückkunft sich noch lange verzögern würde.

Die älteste der Töchter, Rosa, war schön und groß. Sie war blond, von heitrer Laune und spottete und lachte viel. Am meisten ließ sie ihren Witz über jene sich ergießen, die ihr mit Zärtlichkeit näher traten und eine wahre oder galant erheuchelte Leidenschaft für sie bekannten. Sie war viel freundlicher mit jenen Männern, die kalt und gleichgültig waren, von ihren Geschäften, der Jagd oder Politik eifrig sprachen und den Damen nur die herkömmliche Aufmerksamkeit erwiesen, oder sie selbst ganz vernachlässigten.

Die zweite Tochter, Jenny, war schlank und brünett. Sie war ernst und zurückgezogen und beschäftigte sich viel mit Büchern, von denen Rosa nur selten Notiz nahm. Sie war sehr freundlich mit mir, weil ich unermüdet ihre literarische Neugier befriedigte, ich auch angefangen hatte, Deutsch mit ihr und meine Lieblingsschriftsteller zu lesen.

Die jüngste, Lidie, war die weichste und sanfteste. Ihre blendende Schönheit erhielt dadurch etwas Zauberhaftes, daß sie nicht zu wissen schien, wie reizend sie war. Unbefangen wie ein Kind, kam sie Jedem freundlich und vertraulich entgegen, ging in alle Gespräche und Spiele ein und war bald thöricht wie ein Knabe, bald muthwillig wie ein kleines Mädchen, und dann wieder gesetzt und nachdenklich, fast melancholisch.

Man sprach abwechselnd deutsch und französisch, doch waren die Dichter, die man kannte, nur die der Franzosen.

Da ich in kurzer Zeit das Vertrauen der Familie gewonnen hatte und sie täglich sah, so empfand ich eine brüderliche Zärtlichkeit für die drei schönen Kinder, und mir schien anfangs, daß sie mir alle gleich lieb seien. Eine geistige Polygamie ist sehr gut möglich, so lange Egoismus und Leidenschaft schweigen, das junge Herz ist in solcher Lage auf das anmuthigste gerührt und in Bewegung gesetzt, denn die mannichfaltigen geliebten Wesen erwecken durch ihre verschiedene Sinnesweise zarte, bis dahin unbekannte Stimmungen des Gemüths.

So schwamm ich, beglückt, auf einem anmuthigen Strom schöner Gefühle und lebte in einem Zustande sanfter Behaglichkeit, wie ich ihn vormals noch nie gekannt hatte. Das Leben war ein süßer Traum geworden, und ich hatte keinen andern Wunsch, als nur morgen da fortzufahren, wo ich heut geendigt hatte. Mit der brünetten Jenny war ich durch Göthe's Werke unvermerkt doch am meisten in Verbindung und in die vertrauteste Nähe gerathen. Sie staunte meinen Dichter an, ohne ihm eigentlich näher zu kommen; auf meine Autorität zwang sie sich, Alles schön zu finden, und ich fühlte doch, daß so vieles, was mich in meinem Liebling mit Entzücken durchdrang, ihr Herz nicht berührte.

Sonderbar ist es, wie Gewohnheit zur Natur werden kann. Nahm sie ihren Racine in die Hand und las mir bewegt und in Thränen eine der berühmten Scenen vor, so verstand ich zwar die feine Sprache und die rhetorische Kraft des Tragikers, aber ich konnte den Dichter in ihm noch weniger finden, als Jenny die Poesie in Göthe. Wir stritten, erhitzten uns, und trotz so vieler mißlungenen Versuche gab ich es doch nicht auf, meine eigensinnige Freundin zu belehren, die, vielleicht weil sie Göthe nicht verstand, nur ein desto größeres Interesse an ihm nahm, weil sie ihn wie ein Naturwunder, wie eine unbegreifliche Seltsamkeit anstaunen konnte.

Die junge Lidie sah unsere Bemühungen mit Verwunderung an. Sie schüttelte lächelnd ihr Lockenköpfchen, daß man ein Spiel so ernsthaft nehmen könne. Nicht so gleichgültig war Rosa, die, wenn sie oft lachend durch das Zimmer tanzte, wohl zu Zeiten stehen blieb, zuhörte, nachdachte, und dann einen Streit mit mir oder auch mit der Schwester begann, der manchmal so heftig geführt wurde, daß er zuweilen unfreundlich, einmal sogar mit Bitterkeit endete.

»Was soll es, sagte sie in dieser Stunde, daß Sie uns, und meine Schwester vorzüglich, mit Gedichten und einer Art von Empfindung bekannt machen wollen, die uns hier zu Lande fremd ist, die uns vielleicht unglücklich machen könnte? Was wir Poesie nennen, ist ebenso artig, glatt, anmuthig und das Leben erheiternd, wie unsere Möbeln, Gemälde, Blumen, Stickereien, Kleider und Putz. Wenn wir »Gedicht« sagen, so wissen wir, daß es eben Etwas ist, das eine ganz andere Empfindung hervorbringen soll, als jene ewigen Alpen dort, als dieser See anregt, als Sturm und Ungewitter in mir erweckt. Wäre es nicht lächerlich, für den Schrank dort, so schön und geschmackvoll er auch ist, zu schwärmen? aus ihm das Glück meines Lebens machen zu wollen? Abgeschmackt wäre dies; aber mehr als das, verderblich ist es, was Sie unternehmen, Gefühle zu entzünden, die, wie sie anfangs reizend locken mögen, doch Glück und Leben untergraben, uns mit der Natur, die erst angebetet wird, entzweien und unvermerkt das Leben selbst, unter dem Vorwand, es zu erhöhen, in Verzweiflung, Wahnsinn und Gespenst verwandeln. Ich werde meine Mutter und den Oheim aus Rolle bereden, daß es Jenny geradezu verboten wird, diese Sachen zu lesen, bei denen sie wenigstens die Zeit verdirbt.«

Jenny wollte widersprechen. Sie meinte, Rosa fable aus einem Traum heraus, kein Buch in der Welt, am wenigsten diese kalten deutschen Erzählungen und Gedichte könnten Phantasie und Herz bestechen; sie deuteten, indem man ihr Ungeheures anstaune, das sich nicht messen und mit nichts vergleichen ließe, auf das Geregelte und Klassische hin, das man durch die Bekanntschaft mit diesen Ungeheuern nur um so lieber gewinne und so die alte Ueberzeugung verstärke.

»Weil Du, rief Rosa erbittert, weder das Eine noch das Andere verstehst, sprichst Du so billig und abgemessen. Demjenigen, der nicht fühlt und faßt, steht natürlich Alles auf einer Linie.«

Rosa nahm das Buch, es waren die Leiden Werther's, mit großer Heftigkeit vom Tisch ihrer Schwester, und schloß es in ihren Schrank. »Wenn ich Sie nicht hassen soll, wendete sie sich dann an mich, so lesen Sie nicht so ganz unpassende Sachen mit meiner Schwester.« Sie warf mir einen zornigen Blick zu, Jenny war ganz verstimmt und die unschuldige Lidie weinte über unsern Hader. Höchst mißmuthig ging ich nach meinem Hause, das ich, aus Zuneigung zu dieser Familie, in ihrer Nähe gemiethet hatte.

Recht böse, wie ich glaubte, auf die unbescheidene Rosa, fuhr mir der Gedanke durch den Sinn, Genf zu verlassen und nach Deutschland zurückzukehren.

Unmuthig wandelte ich am Abend den See entlang. Die hohen Alpen waren in Rosenlicht getaucht, die Fluth glänzte, eine balsamische Luft strich mit kühlendem Fittig über die dämmernde Gegend, als der Mond heraufstieg und ihn tausend goldne Sterne in den hüpfenden Wogen begrüßten. Wenn nur Rosa, die Widerspenstige, nicht zu der freundlichen Familie gehörte, wenn sie doch entfernt, verheirathet wäre! sagte ich zu mir selbst; sie stört das Leben der zarteren Schwestern. Wenn die verständige Jenny, so setzte ich meinen Monolog fort, ihren Sinn zum großen Deutschen erheben könnte, so würde sie vielleicht das Glück meines Lebens auf immer begründen. – Ich stand still, um diesem Gefühl weiter nachzugehn, und erschrak plötzlich vor der Leere in meinem Innern. – Gedanke, Empfindung, Alles brach schnell ab auf diesem Wege, wie mit Felsen verriegelt. – Und Lidie – sie war so schön, so fromm, so kindlich rein, – sie war vielleicht, was mein Gemüth gesucht hatte. – Alle Aussicht war mir unersprießlich, was Hoffnung und Wunsch schien, zerrann in einen Nebel, in ein Nichts. – Doch, warum bin ich denn in jenem Hause so glücklich?

Die Scheibe des Mondes stand jetzt mitten über dem See. Ein goldnes Netz lag wundersam auf dem glänzenden Kelche, in dem das blinkende Gewässer schäumte, es klang aus dem Berge und eine Nachtigall warf ihre träumende süße Klage in die flüsternden Wogen und mein zitterndes Herz. Ja, Rosa nur, so sagte ich mir plötzlich, sie ist es, die mich magnetisch nach jenem Orte zieht, die mich zauberisch bannt, daß der Fuß nur zögernd die theure Schwelle wieder verläßt, ihre leuchtenden Blicke sind es, auf die ich warte, denen mein Herz, wie die Blume der Sonne, entgegenschmachtet, um die Knospe aufzuthun und sich im seligen Dasein zu empfinden. –

Ich begriff nicht, wie ich über mich selbst bis dahin hatte so blind seyn können. Und doch, – wie feindlich stand mir nun diese Rosa gegenüber! Sie haßte mich vielleicht, mein Streben war ihr zuwider, so viel war wenigstens deutlich, sie verfolgte den Liebling meiner Seele, und mit ihm alles Schöne, Alles, was mir lieb und theuer war.

So mit mir kämpfend, unglücklich und glückselig, auf Rosa scheltend und sie vergötternd, wandelte ich die ganze Nacht wie ein Mondsüchtiger den duftenden Stauden am See, den Hütten und Landhäusern vorüber.

So früh es schicklich war, besuchte ich die Familie. Rosa war nicht sichtbar, Lidie entschuldigte sie. Nun ich meiner Leidenschaft bewußt war, war auch jenes brüderliche Gefühl, als wenn ich ein Sohn des Hauses sei, verschwunden. Rosa kam endlich, als ich schon lange mit der Mutter gesprochen hatte, und behandelte mich kalt und gleichgültig.

Ich begriff nicht, wodurch mein bisheriges Glück so plötzlich verschwunden sei, oder was ich verschuldet hatte. Jenny und Lidie erschienen mir in einem andern Lichte als bisher, sie standen wie in trüber Dämmerung, in einem kalten Schatten, der sie mir unbedeutend machte, und Rosa, in deren Nähe mein Herz bebte, die alle Sehnsucht und Gefühle weckte, welche noch gestern geschlummert hatten, stieß mich zurück, und gab mir Schmerzen, so durchbohrend und tödtlich, wie sie mein Dichter mich hatte ahnden lassen. Mein Gemüth war zerrissen, und weder Göthe noch die Natur konnten mich trösten.

Die Verwirrung und der Unfriede meines Innern sollten noch quälender werden. Es kam Nachricht vom Vater, der in einigen Monaten zurückkehren wollte. Drei Befreundete, mit denen er lange in Neapel gelebt hatte, brachten Briefe. Wir hatten oft aus Genf, Rolle, oder andern Städten in der Nachbarschaft Verwandte und Bekannte gesehen, die, wenn sie auch nicht immer von der besten Gesellschaft waren, doch durch Gutmüthigkeit Wohlwollen erregten, und durch ihre beschränkte Weise höchstens Langeweile erzeugen konnten. Alle, vorzüglich der Oheim in Rolle, hatten mich in ihren Schutz genommen, und ich hatte ihn mit seinen Nichten und seiner Schwester selbst einmal in seinem Hause in Rolle besucht. Diese drei angekommenen Fremden aber betrugen sich gleich bei ihrem Eintritt so, als wenn ihnen Haus und Garten, die Mutter wie die Töchter eigenthümlich zugehörten. Der älteste, ein Offizier, war von der schlechtesten Erziehung und von rohen Sitten. Er trank viel und ließ sich gleich beim ersten Besuche von seiner Leidenschaft so überwältigen, daß er von seinen Leuten fortgeführt werden mußte. Am folgenden Tage war er so wenig beschämt, daß er vielmehr mit den Mädchen darüber, wie über eine heldenmüthige That, eitel und frohlockend redete, und versicherte, sie würden ihn noch oft in diesem Zustande sehn, in welchem ihn Kenner eigentlich am liebenswürdigsten fänden. Die schwache Mutter war so erschrocken und verletzt, daß sie diesem Frechen gern ihre Thür auf immer verschlossen hätte, wenn sie es hätte wagen dürfen, ihren despotischen Gemahl in seinem Freunde so zu beleidigen.

Der zweite Gesellschafter war ein alter, reicher Marchese, der in dem Briefe des Vaters vor allen übrigen am dringendsten empfohlen war, so daß die Ahndung der weltklugen Mutter in diesem schon einen künftigen Schwiegersohn sah. Der Alte schien auch mit seinen kleinen funkelnden Augen die Mädchen der Reihe nach zu prüfen, um zu erforschen, welche ihm als Gemahlin am besten gezieme. Der jüngste der Genossen war ein schon überreifer Stutzer, der zugleich das Metier eines Spielers trieb, weshalb sich auch bald andere Wüstlinge an ihn schlossen, in deren Gesellschaft er seine Leidenschaft befriedigte.

So war unser stilles Häuschen plötzlich die Scene des Lärmens, Tobens und schlechter Gesellschaft geworden. Diese übersendeten Freunde ließen mich argwöhnen, der Vater der Mädchen sei ein roher, vielleicht nichtsnutziger Mensch, und gern wäre ich geschieden, wenn mich Rosa's Blicke nicht, so kalt sie auch den meinigen begegneten, festgehalten hätten. Ich glich dem Schmetterling, der sich am Licht verbrannt hat, aber doch noch fliegt, nicht leben und sterben kann und immer um die verderbliche Flamme schwärmt.

Es war nicht möglich, sich in dem Hause noch behaglich zu fühlen, um so weniger, da mein eifersüchtiges Auge bald entdeckte, daß der alte Marchese schon, ohne sich zu erklären, Rosa zu seiner Gebieterin erwählt hatte, denn er gab ihr sichtlich vor ihren Schwestern den Vorzug. Sie selbst war sehr freundlich gegen ihn und schien seine Gesellschaft eher aufzusuchen als zu vermeiden. Gern hätte ich mich überredet, Rosa sei meiner Liebe völlig unwerth, sie sei nur ein geringes Wesen, und verdiene kaum Achtung: so oft ich mich mit diesen Sophistereien beruhigen wollte, oder ihr Bild in meiner Seele herabzuwürdigen suchte, so durfte sie nur durch das Zimmer schweben, um mit einem Blicke alle Anklagen niederzuschlagen.

Aber ich fühlte mich elend und fing an, mich selbst als einen Elenden zu schelten, daß ich nicht den Muth hatte, eine Gegend zu verlassen, die mir nur Qualen schuf. Als wieder eine Woche so hingegangen war, fand ich mich am Abend zu einer Versammlung ein, in welcher die drei Hausfreunde nicht fehlten. Rosa war munter, ohne ausgelassen zu seyn, Jenny ernst, wie immer, und Lidie sprach mit mir, gegen ihre Gewohnheit, viel Freundliches. Es schien fast, als habe sich ein zärtliches Gefühl ihres jungen Herzens bemeistert, so strahlend waren ihre hellen Augen, so freundlich ihr fein lächelnder Mund, und sie war mir noch nie so schön vorgekommen. Es wurde Musik gemacht, einigen alten Damen zu gefallen, und es war, nach langer Zeit, wieder einmal eine feinere Unterhaltung, ein stilleres Wesen im Gesellschaftssaal. Die Mutter schien Rosa, wenn sie mit dem Marchese sprach, aus der Ferne genau zu beobachten. Rosa, so heiter sie sprach, war doch nicht ganz unbefangen und trieb am meisten zur Musik, um im Gesang und Spiel ihre Verlegenheit zu verbergen. Sie gab auf mich und Lidie Acht und ließ uns nicht aus den Augen, selbst nicht, als sie mit Leidenschaft sang.

Man trennte sich und als ich spät in meinem einsamen Zimmer mein Schicksal noch überdachte, war ich höchst überrascht, daß mir auf einem sonderbaren Wege ein Billet in die Hände fiel, welches mir viel zu denken gab. Bei der Eil, in der Jeder seinen Hut nahm, hatte ich einen unrechten gefaßt und fand im Innern, zwischen der Seide ein Blatt: – »Du sagst, ich liebe Dich nicht? Was verlangst Du? Welches Opfer? Ich bin ja zu Allem bereit. Triff mich am Freitag an jener Stelle, dort beim kleinen Brunnen, wo ich Dir zuerst meine Liebe gestand, aber nicht früher, als zwischen zehn und eilf Uhr, dann schleiche ich mich aus dem Hause, um mit Dir zu verabreden, was wir thun wollen. – Ewig die Deine.«

Ich kann nicht beschreiben, in welchen Zustand mich dieses unselige Blatt versetzte. An wen war es gerichtet? Von wem? So viel ich mit der Familie gelebt hatte, so konnte ich mich doch jetzt nicht erinnern, ob ich jemals die Schrift der Mädchen gesehn hatte. Wie kam nur eine von ihnen dazu, wie konnte sie so tief sinken, an den Trunkenbold, oder den elenden Spieler so zu schreiben, mit Worten, die schon ein längeres vertrautes Verhältniß entdeckten? Stellte ich mir die ernste Jenny, oder die kindliche Lidie vor, die mir eben erst so freundlich begegnet war, so konnte ich unmöglich glauben, daß an einen von diesen Verächtlichen das unglückselige Blatt gerichtet sei: die größere Wahrscheinlichkeit war also für meine geliebte Rosa, die die klügste, die schalkhafteste, die am geeignetsten war, sich zu verstellen und eine Intrigue anzuspinnen. Aber so erniedrigt! Ich meinte dann wieder, sie würde anders geschrieben, sich anders ausgedrückt haben.

Einmal wollte der Gedanke tröstend auftauchen, eine der fremden Damen sei die Verfasserin des unglückseligen Billets. Doch mußte ich diesen Einfall sogleich wieder als wahnsinnig abweisen, wenn ich an das hohe Alter, das abgemessene Betragen und die Prüderie jener Verehrungswürdigen dachte.

Sollte ich die Herren selbst nach der Reihe besuchen? Ich hörte, sie waren verreist; und an welchem Kennzeichen sollte ich den Schuldigen herausfinden? Ich konnte auch leicht die mir unbekannte Schreiberin compromittiren.

An die Mutter mich wenden? – Ich wußte nicht, welch Unheil ich anrichten möchte. Dann fiel mir wieder ein, die gesetzte Jenny zu meiner Vertrauten zu machen. Bedachte ich aber ihre Schweigsamkeit und Ruhe, so durfte ich mir keine Hülfe von ihr versprechen. Und wenn sie nun die Verfasserin jener Epistel war?

Ich wartete dann wieder, daß der elende Verführer den verhaßten Hut gegen den meinigen austauschen solle. Diesen Bösewicht wollte ich dann fordern und so die verletzte Ehre der Familie rächen. – Ich war wie wahnsinnig und lief geängstigt durch alle Zimmer, so daß mein Diener um meine Gesundheit besorgt wurde.

Das Beste schien mir endlich, die paar Tage verstreichen zu lassen, dann selbst um die bestimmte Stunde mich an den bezeichneten Platz zu begeben. Ich schrieb Briefe, schloß mit meinem Banquier meine Rechnung, machte nothwendige Besuche und ließ meine Sachen packen, damit ich, wenn Rosa sich in der Nacht dort einfinde, sogleich abreisen könne.

In der Zwischenzeit war ich wie ein Trunkener. Ich fühlte, daß meine Spannkraft sogleich nach der Entdeckung nachlassen und mein ganzes Wesen schwach und ohnmächtig zusammensinken würde. Jetzt lebte und handelte ich wie im Taumel. Das so oft besuchte Haus vermied ich.

Der bestimmte Tag kam. Die Sonne neigte sich zum Untergang. Mit stumpfem Auge sah ich das Schauspiel, welches mir die Natur aufführen wollte. Mir ward erst wohl, als die Dämmerung alle Formen auslöschte, oder in das Unbedeutende hinein zeichnete. Der aufgehende Mond weckte mich aus meinem Stumpfsinn. Dies schien mir der Abschiedsgruß meines Freundes aus dieser paradiesischen Gegend. Ueberhaupt glaubte ich, so jung ich war, mein Leben sei jetzt schon beschlossen, und der Tod wäre mir in dieser Stimmung erwünscht gewesen.

Ich verbarg mich im dicken Gebüsch und hatte den kleinen Brunnen im Auge. Das wohlbekannte Haus schimmerte mir nicht fern herüber. Ich glaubte manchmal, eine Gestalt sich von dorther bewegen zu sehn, doch täuschte mich der räthselhafte Mondschimmer.

Endlich, und meine Betäubung hatte die Annäherung nicht bemerkt, eine weiße Gestalt stand am Brunnen, – ich rauschte aus meinem Busch hervor, – war ihr nahe und erkannte sie, – es war wirklich Rosa. – Ein Zittern ergriff mich, und ich stürzte bewußtlos zu ihren Füßen nieder. –

Als ich wieder zu mir kam, fand ich sie sorgend um mich beschäftigt. Sie kniete neben mir und rieb mir die Schläfe, indem mein Kopf in ihrem Schooße ruhte.

Ich faßte ihre Hände und raffte mich auf. Sie erhob sich ebenfalls und ich sah sie starr an. »Wie kommen Sie, lieber Licht, hieher, sagte sie freundlich; ich erwartete jemand ganz anders. Und was ist Ihnen zugestoßen? Was fehlt Ihnen?«

»Sie können noch fragen? stammelte ich mit gebrochener Stimme, und ein kalter Schweiß rann in großen Tropfen von meiner Stirne; Sie fragen und sehn, wie Sie mich zertrümmern? Jetzt erst muß ich es Ihnen in kalten Worten sagen, daß das Herz, welches Sie gebrochen haben, Sie unaussprechlich liebte. Nehmen Sie denn hier das unglückselige Blatt, das mir, dem es nicht bestimmt war, ohne mein Zuthun in die Hände gerieth, seyn Sie glücklich mit Jenem, wer es auch seyn mag, empfangen Sie mit diesem Todesblatt meinen Abschied, denn Sie sehen mich niemals wieder.«

Ueberrascht, ja erschüttert nahm sie das Papier aus meiner Hand. »Sie lieben mich? rief sie dann aus: wie kann das seyn? Dies Geständniß ist mir so neu – und darum also –«

»Ja, rief ich im höchsten Schmerz, darum, weil ich unwidersprechlich überzeugt wurde, daß Sie sich einem ganz Unwürdigen geopfert haben, warf mich der Schreck leblos zu Ihren Füßen nieder. Wenn ich doch nicht wieder erwacht wäre! Möchten Sie mich verschmähen und einen andern lieben, – aber – o Himmel! es ist zu gräßlich, daß ich Sie nicht mehr achten kann.«

»Setzen Sie sich zu mir, sagte Rosa fast erheitert, auf diese Bank: ein seltsames Verhängniß bringt uns hier in der Nacht zusammen und zwingt uns, einander zu vertrauen. Wie ich über das Geständniß Ihrer Liebe denk, erfahren Sie wohl morgen oder nächstens, das Nöthigste ist jetzt, Ihnen zu sagen, daß dieses fatale Blatt nicht von mir herrührt.«

»Nicht?« rief ich in höchster Freude.

»Nein, fuhr sie fort, es ist von dem armen unklugen Kinde, der unglücklichen Lidie. Jener Raufer und Trunkenbold, den ich eben so wie Sie verachte, machte sich vom ersten Tage, an welchem er über unsere Schwelle schritt, an das unerfahrne Wesen. Man kann es oft bemerken, daß so junge Mädchen aus Eitelkeit dem ersten Liebhaber, der sich erklärt, mehr als billig entgegen kommen. Ist es ein älterer Mann, so wirkt auf diese Unerfahrnen seine Bewerbung fast mehr, als die eines Jünglings. Ich behielt meine kindische Schwester im Auge und sah, wie selbst die Härte, ja Brutalität des Unwürdigen ihr imponirten und sie seine Aufdringlichkeit halb aus Furcht, halb aus Wohlgefallen erduldete. So war er vertraut mit ihr geworden, drückte ihr die Hände, umarmte sie, wenn er sich unbemerkt glaubte, und ich war überzeugt, daß seine Frechheit immer weiter gehn und die Kindische, die keine Erziehung gehabt hatte, Alles von ihm erdulden würde. An jenem letzten Abend merkte ich, daß Etwas verabredet werden sollte, mein Auge war aber so scharf, daß Lidie es nicht wagte, vertraulich mit dem Offizier zu sprechen. Sie war schon schlau genug geworden, daß sie meinte, sie könne mich durch ein langes, freundliches Gespräch mit Ihnen hintergehn. Nach der Musik machte sie sich, weil ich sie immer von ihrem Geliebten trennte, im Vorsaal mit den Hüten etwas zu thun; doch fiel ich nicht darauf, daß sie eine Bestellung dort anbringe. Ich entdeckte aber, indem ich in sie drang, Briefe von jenem Manne, der weder Vermögen besitzt, noch in der Gesellschaft eine würdige Stelle einnimmt, und es gelang mir, ihr Herz zu rühren, indem ich ihr die Gefahren vorstellte, denen sie sich aussetze. Erschüttert beichtete sie mir Alles und versprach, den Frechen niemals wiederzusehn. Ich kam hieher, dem unedeln Manne Alles zu sagen, was mir der Unwille eingeben konnte, und ihm seinen Abschied zu geben, und finde Sie hier. Ich muß nun, was ich mündlich sagen wollte, und was auch klüger ist, durch einen scharfen Brief abzumachen suchen.«

Während Rosa sprach und erzählte, hatte ich eine ihrer Hände gefaßt, die ich mit Rührung drückte. Sie erwiederte den Druck, stand dann auf und sagte, fast schelmisch lächelnd: »Sie sind also auch so verwegen, mich zu lieben?«

»Unaussprechlich, erwiederte ich, denn für dieses Gefühl hat auch der Dichter keine Worte. Aber Sie – ist es denn, wie ich vermuthe, daß Sie jenem Marchese bestimmt sind?«

»Man spricht und denkt vielerlei, antwortete sie; begleiten Sie mich jetzt nach Hause, aber nur bis zu jenem Baum, damit Keiner mich dort mit Ihnen sieht, wie doch zufällig geschehen könnte.«

Wir gingen eine Weile schweigend. »Sie wissen doch, sagte sie endlich, daß Huß, der wegen der Lehren des Wiklef verbrannt wurde, anfangs heftig gegen den Wiklef kämpfte?«

»Ja, erwiederte ich; aber was wollen Sie damit sagen?«

»Nun, antwortete sie, morgen oder übermorgen die Erklärung. – Aber, Freund, Sie führen Ihren Namen mit Unrecht: Sie heißen Licht und wandeln immerdar im Finstern.«

»Wieder ein Räthsel?« fragte ich.

»Ungläubiger! Blinder! Verstockter! sagte sie, fällt hier im Walde in Ohnmacht, und weiß nicht, daß ich ihn längst liebe?«

»Rosa!« rief ich aus, erschreckt vor Wonne. Sie litt die Umarmung und den Kuß und sagte dann heiter: »Nun schlafe aber auch recht wohl.« – Sie ging schnell fort und winkte noch einmal zurück.

Wie breitete ich die Arme überselig gegen den Glanz aus und ergab ich mich inniger wie je diesen Gefühlen der Mondsucht.


Als ich wieder das Haus besuchte, war die kleine Lidie zerknirscht, und wagte kaum, sich zu zeigen. Wie die unerfahrene Jugend in den seltsamen Lagen des Lebens dreister ist, als die Menschen, die die Welt mehr kennen, so ist sie eben so, wenn sie gedemüthigt wird, weit mehr niedergeschlagen und zerschmettert, als jene.

Jenny, die bemerkte, daß ich mich mit Rosa mehr verstand, zog sich ganz von mir zurück und zeigte sich fast immer, als wenn sie mich dadurch kränken wollte, mit irgend einem französischen Autor in der Hand.

Es fügte sich erst nach einigen Tagen, daß ich mit meiner geliebten Rosa in der Einsamkeit vertraut sprechen konnte. Sie war eben so heiter als gewöhnlich und lachte über meine Befangenheit. Sie freute sich darüber, daß ich mich so glücklich fühlte, spottete aber über meine Entzückung, die sich nur als Rührung ausdrücken konnte. Es ward mir schwer, im Gespräch die Thränen zurückzuhalten, und Alles, auch das Unbedeutendste, was sie mir sagte, rührte mich unbeschreiblich. Wir gingen in den Garten und setzten uns in die Laube. Die Familie war auf einen Besuch, und wir konnten darauf rechnen, lange ungestört zu seyn.

Rosa sagte nach einiger Zeit: »Ich hoffe, Lidie ist auf immer vor den Nachstellungen jenes rohen Menschen gesichert. Sie sieht ihr Unrecht ein und hat mir feierlich, unter Thränen, versprochen, mir Alles mitzutheilen, wenn sich etwas ereignen möchte. Der widerwärtige Offizier scheint von jeder Unternehmung durch meinen heftigen Brief abgeschreckt zu seyn, weil er die Ankunft meines heftigen Vaters fürchtet, der nicht mehr so lange ausbleiben wird.«

Die letzten Worte erschreckten mich. »O Rosa, Geliebteste, rief ich aus: was können wir von Deinem Vater hoffen?«

»Wenig oder gar nichts, antwortete sie, er ist der heftigste aller Menschen, und was er sich einmal vorgesetzt hat, davon kann ihn keine Macht auf Erden zurückbringen.«

»Und er würde unsere Liebe nicht billigen?« fragte ich furchtsam.

»Liebster, antwortete sie munter, er hat jenen alten Marchese herübergeschickt, mit der Vollmacht, unter uns Schwestern die auszusuchen, die ihm zur Gattin am meisten zusagen möchte. So sehr ich mich zurückgehalten, so sehr ich die Spröde und Eigensinnige gespielt habe, so hat dem alten Menschen mein munteres Wesen doch mehr als das meiner Schwestern zugesagt, und ich bin die Auserwählte. Ich habe auch schon bemerkt, daß der Kavalier, welcher in allen Dingen sehr nach der Ordnung verfährt, meinem Vater die Wahl und seinen Entschluß mitgetheilt hat. Ach! lieber Mann, das Leben ist ein buntes, lustiges, widerwärtiges Wesen: und wenn es Euch Männer schon oft so sehr drückt, daß Ihr über die Wunden schreit, so drückt es uns Mädchen und Weiber lieber gleich zu Tode.«

»O Rosa, sagte ich, wie ist mir dies Alles doch so neu, daß ich Dir angehöre, und Du meine Liebe erkennst, daß Du mein Wesen verstehst, daß Du die Meinige seyn willst.«

Sie entzog sich meinen Umarmungen nicht und sagte nur: »Doch, Lieber, in welcher weiten Ferne liegt das noch Alles! Bist Du Der, für den ich Dich halte, so findest Du vielleicht Mittel und Wege, auszugleichen und Das, was unmöglich scheint, auszurichten. So viel habe ich wohl gemerkt, daß der Prozeß, weshalb mein Vater nach Italien ging, die Wendung nicht genommen hat, welche er hoffte; bist Du also nicht reicher als der Marchese, so wird mein Vater Dir immer feindlich bleiben, abgesehn davon, daß er jener alten Figur schon sein Wort gegeben hat.«

Wir träumten und schwärmten, und nach vielen heitern und ernsten Gesprächen fragte ich endlich: »Nun, liebstes Kind, was meintest Du neulich mit Deinem Wiklef und Huß?«

Sie lachte heftig und sagte nach einer Pause: »Verzeih, daß ich Dich vielleicht verletze. Aber schon am ersten Tage kam es mir possirlich vor, daß Du meine Schwester Jenny zur Proselytin machen und ihr die Schönheiten der deutschen Literatur klar machen wolltest. So gut und lieb das Kind ist, so hat sie doch niemals große Lust an Büchern gehabt. Wir konnten auch dem Geßner, ob er gleich unser Landsmann ist und die Franzosen ihn sogar übersetzt haben, niemals Geschmack abgewinnen; noch weniger Euerem Hagedorn, Ramler, oder gar Klopstock. Wir hatten hier unter uns ausgemacht, daß die Deutschen, die zwar in ihrem Friedrich einen großen Feldherrn und König besaßen, sich doch keiner Dichtung rühmen könnten. Nun kamst Du, feiner, gutgekleideter, sprachseliger Schwärmer, hier an mit Deinen deutschen Büchern. Ich sprach, ich zankte, ich kämpfte für meine Franzosen, bei denen mir, trotz ihrer gebildeten Sprache, immer die Zeit herzlich lang geworden war. Eure Lektüre fing an, und ich hörte aus der Ferne zu, oft nur im Durchlaufen, einzelne Verse, Worte, Stellen. Was ich hörte, war so, wie ich noch nie etwas ähnliches vernommen hatte. Und Dein Feuereifer! –«

»Fahre fort«, sagte ich, mich in ihren schönen Augen spiegelnd.

»Ja wohl, sagte sie erröthend, war es wunderbar, daß Huß anfangs die Schriften des Wiklef nicht lesen wollte, daß er sich mit dem größten Abscheu von ihnen abwendete, und nachher seine Bewunderung derselben und seinen Feuereifer nicht anders sättigen und kühlen konnte, als daß er sich für dieselben Lehren auf dem Holzstoß verbrennen ließ, die er erst verflucht hatte. Man hüte sich vor dem Haß ebenso sehr, wie vor der heftigen Liebe, denn wie oft ist er nur eine verhüllte Liebe, die sich selbst noch nicht kennt. In der Nacht stahl ich meiner Schwester die Bücher, die sie las, ohne sie zu verstehen, und – –«

»Was ist Dir?« fragte ich besorgt, denn ich sah, wie das heitere Wesen plötzlich so heftig weinte, als wenn es sich in Thränen auflösen wollte.

»Laß mich, Ferdinand, sagte sie, denn mir ist so wohl, so unbeschreiblich wohl. Ich hatte nicht gewußt, es nicht für möglich gehalten, daß so Etwas in dieser Sprache, mit diesen Gefühlen sich für Poesie ausgeben dürfe, als Dein geliebter Göthe mit den wundersamsten Lauten in die Seele flößte, die unter der Last dieser Wonne, in diesem höchsten Leben oder Sterben sich vor Freude, Sehnsucht und Wehmuth auflösen wollte. Hat die Welt schon je dergleichen gehabt, wie diese Lieder? Hatte die Natur mich oft gerührt, die Sonne, die Alpen, das Flüstern der Büsche im Abendroth, wenn die hohen Gebirge glühten und ihr Funkeln herüberblickte, – dämmernd, ungewiß, wie Morgennebel waren wohl Ahndungen ähnlicher Art in mir aufgestiegen, wie ich nun hier in Form, Gestalt, im allersüßesten Laut vernahm, und mir wiederholte, und immer von neuem wiederholte, bis ich alle diese Lieder auswendig wußte. Und dann dieser Götz, diese Masse, diese Fluth von Gestalten und Empfindungen, so unendlich verschieden, so viel und vielerlei, und in dieser erhabenen Wehmuth festgehalten: dieser Werther, ein einziges Werk, eine Offenbarung, als wenn das reinste Herz der Liebe und Gebirge und Wald ein und dasselbe wären. – Verzeih mir, ich muß lachen, male ich mir wieder das Bild aus, wie trocken meine Jenny vor diesen Blättern saß; sie hätten eben so gut chinesische Zeichen enthalten können. Und Du daneben! So begeistert, so gutmüthig erklärend, so unermüdet, den Sinn, der sich ja niemals in Worte fassen läßt, ihr mitzutheilen und ihr todtes Innere aufzuschließen. – Ohne daß ich es wußte und bemerkte, glitt meine unsterbliche Liebe von dem einzigen Dichter auf seinen Erklärer hinüber. Es giebt nichts Schöneres, nichts Rührenderes, als ein edles Gemüth, das in jugendlicher Begeisterung keine höhere Aufgabe kennt, als Das, was sein berauschtes Herz ganz anfüllt, Andern, die es zu lieben wähnt, mitzutheilen, und sie derselben Seligkeit theilhaftig zu machen, in welcher es selber schwebt.

»Sich so unterzuordnen, ohne Altklugheit und Kritik nur den Ausdeuter des Propheten und der Offenbarung zu machen, nie mäkelnd, nie kalt, nie darauf denkend, im Bewundern des Vergötterten einen Theil der Bewunderung auf sich selbst hernieder zu ziehn – diese kindliche Inspiration, oder wie soll ich es nennen? gewann Dir mein ganzes Herz.

»Oft waren Deklamatoren, Improvisatoren und kritische Bewunderer in unserm Hause gewesen. Wenn ein solcher aufgeblasener Begeisterter Verse von Racine oder Corneille hergepoltert und geprustet hatte, so lag immer in dieser Schaustellung die Andeutung, daß die Dichter nun erst durch diese Anstrengung, Herablassung und mächtige Erläuterung dieses tiefsinnigen Bewunderers geadelt würden. Wenn ein Italiener mit den aufgehobenen Fingerspitzen über den Kopf, als wenn er eine Prise Spaniol schüttelte und verarbeitete, ein Sonett seines Petrarka herschluchzte und donnerte, so hatte ich immer ein Mitleid mit diesem Sänger der Liebe, dessen künstliche Anstrengung durch diese wunderliche Begeisterung lächerlich gemacht wurde.

»O Du Deutscher! Soll ich mehr Dein gutes Gemüth, Deine Unbefangenheit oder Pedanterie bewundern? Du hörtest, Du sahest mich nicht, Du nahmst Alles, auch das Tollste, was ich sagte, für baaren Ernst, und straftest mich, wenn Du keine Worte mehr finden konntest, mit Blicken, die Verachtung meines geringen Wesens hinreichend ausdrückten. Ich gewann Dich mit jedem Tage lieber, Dein Göthe ward mir immer leuchtender und in seinem unendlichen Geheimniß immer verständlicher; aber ich hütete mich wohl. Dich davon und von meiner Umwandlung etwas merken zu lassen. Du hättest glauben können, so sprach mein Eigensinn, daß meine Bewunderung Deines Dichters Dein Herz bestürmen solle. Ich war zu stolz, und wendete Alles an, mich nicht zu verrathen. Warst Du doch so ganz eins mit Deinem Dichter, daß es Dir wohlthun mußte, wenn ich ihn lobte und pries, da ich sah, wie viel Dir daran lag, Jenny, die keines Glaubens fähig ist, zu bekehren.«


So, mein geliebter Neffe, waren wir eins geworden. Es thut mir unendlich wohl und schmerzt mich zugleich, alle diese Erinnerungen zurückzurufen. Alle jene seligen Tage treten mir nahe und grüßen mich wehmüthig.

Ach! ich hatt' es doch einmal,
Was so köstlich ist;
Daß man doch zu seiner Qual
Nimmer es vergißt!

Nach vielen Reden, Plänen, Zweifeln beschloß ich endlich, mich an den Oheim in Rolle zu wenden, der gut und weich war, und mit seinem heftigen Bruder nichts weniger als einverstanden, daß Rosa an den alten abgelebten Marchese verschleudert werden sollte.

Rosa ging zum Besuch zu ihm, unter dem Vorwand, eine Cur zu brauchen. Unter seinem Schutze wurde sie mir vermählt, und die Ehe wurde geheim gehalten, selbst die Mutter wußte nichts davon.

O, ihr paradiesischen Tage und Wochen! – Neffe, die ganze Erzählung dieser Geschichte hat mich unendlich bewegt. –


Ich will fortfahren und beschließen und doch gehört Muth dazu, ein eiserner, um mein Herz zu bezwingen, das noch jetzt, so alt ich bin, in Wehmuth zerfließen möchte.


Ich mag nicht weitläufig mein Unglück beschreiben, lieber Neffe. Seltsam genug, daß ich mich zu dieser Erzählung habe hinreißen lassen.

Die Vorwände, die den Aufenthalt Rosa's in Rolle verzögerten, waren endlich vom gutmüthigen Oheim erschöpft worden. Sie mußte zurückkehren und ich begleitete sie.

Der herrliche See, die Aussicht von Nyon im schönsten, klarsten Wetter, Alles erschien mir trübe, grau und farblos. Je näher wir der Heimath kamen, je schwerer wurde mein Herz.

Welch Gefühl der Mutter gegenüber! Aber wie ward mein Sinn verwirrt, als am folgenden Tage Lidie verschwunden war. Sie war mit jenem Freibeuter entflohn, der doch Mittel gefunden hatte, sie wiederzusehen und ihre Leidenschaft von neuem zu entzünden. Ich erschien mir, mit meinem drückenden Geheimniß, nicht besser, als jener verwilderte Mensch, den ich immer so tief verachtet hatte.

Der Vater kam zurück. Ein heftiger Charakter, der über Alles zürnte, und sich selbst von Kleinigkeiten bis zur Wuth entflammen ließ. Ihm, der nie die Vernunft hörte, sollten wir uns entdecken. Was konnte es mir helfen, daß ich unabhängig lebte, Vermögen besaß und der Sprößling einer alten, nicht unbekannten Familie war? Auf den milden Oheim hatte alles dies gewirkt, als er unsere Liebe und Leidenschaft sah; der Unbändige nahm auf nichts Rücksicht. Er tobte und wüthete, und sein gewöhnlicher unvernünftiger Zorn war noch heftiger, da er jenen Prozeß verloren und dadurch viele Einbußen erlitten hatte.

Rosa ward eingesperrt, mir der Zutritt verweigert, auf einen schmerzlichen Brief von mir ward keine Rücksicht genommen. Ich suchte in Rolle Trost und Hülfe, und wollte die Gerichte zu Hülfe rufen, oder meine Gattin durch List oder Gewalt aus dem Hause des Vaters entführen. Wir sprachen, beredeten viel, entwarfen viele Pläne und hörten den Rath manches Rechtsgelehrten.

Wir hatten uns vorbereitete. Der Oheim begleitete mich. Als wir ankamen, war das Haus verschlossen. Haus und Gut war eilig und unter dem Preise verkauft worden, die Familie war abgereist, keiner der Nachbarn wußte, wohin.

Mein Schmerz warf mich auf das Krankenlager. Wochen, Monde vergingen. Der Alte pflegte mich, als wenn ich sein Sohn gewesen wäre. Als ich meine Besinnung wiedererlangt hatte, war ich so schwach, daß mir Alles, was mir begegnet war, nur wie ein Traum erschien. In diesem Schattenleben durfte es der liebe Pfleger wagen, mir den Inhalt eines Briefes mitzutheilen, den er seitdem heimlich von der Mutter erhalten hatte. Sie wagte es nicht, den Zorn ihres Gatten fürchtend, den Ort, wo sie lebten, zu nennen – aber Rosa war in Gram und Verzweiflung gestorben und der alte Marchese hatte sich mit Jenny vermählt; Lidie und ihr Entführer waren zum väterlichen Hause zurückgekehrt und hatten Vergebung gefunden.

Ich hätte sterben mögen. Aber jene Dumpfheit aller Lebensgeister rettete mich.

Der Mensch übersteht Vieles. So groß mein Schmerz war, so denke ich doch gern an jene Wochen, die als die schönsten meines Lebens leuchteten.



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