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Die Stunde des Mittagessens kam heran. Obwohl Herr Minxit außer den uns schon bekannten Personen nur wenige Gäste geladen hatte, den Pfarrer nämlich, den Amtsschreiber und einen Kollegen aus der Nachbarschaft, so war seine Tafel doch mit einer Fülle von Enten und Hühnern besetzt, von denen die einen in majestätischer Unversehrtheit in ihrer Sauce ruhten, die anderen ihre ausgerenkten Glieder symmetrisch über die Ellipse ihrer Schüssel ausbreiteten. Dazu gab es einen Wein von einer bestimmten Lage in Trucy, deren Reben, trotz der über unsre Weinberge wie unsre Gesellschaft hingegangenen Gleichmacherei, ihren angestammten Adel bewahrt haben und sich eines wohlverdienten Rufes erfreuen. »Aber«, sagte mein Onkel zu Herrn Minxit beim Anblick dieses homerischen Überflusses, »das ist ja ein ganzer Hühnerhof; damit könnte man eine Schwadron Dragoner nach dem großen Manöver satt machen. Erwarten Sie etwa unsern Freund Arthus?«
»Dann hätte ich einen Bratspieß mehr beisetzen lassen«, antwortete Herr Minxit lachend. »Aber wenn wir mit alledem nicht fertig werden, finden sich schon Leute, die unsere Unzulänglichkeit in Vollendung umsetzen; und meine Offiziere, nämlich meine Musik, und die Kunden, die mir morgen ihre Gläser bringen, muß ich nicht auch an sie denken? Mein Grundsatz ist: Wer nur für sich allein Essen bereiten läßt, ist nicht würdig zu essen.«
»Das ist richtig«, entgegnete Benjamin. Und nach dieser philosophischen Bemerkung hieb er auf die Hühner des Herrn Minxit ein, als ob er ihr persönlicher Feind gewesen wäre.
Die Gäste gefielen einander; übrigens gefiel mein Onkel jedermann, und jedermann gefiel ihm. Sie genossen ungezwungen und recht geräuschvoll der überfließenden Gastfreundschaft des Herrn Minxit. »Pfeifer«, sagte dieser zu einem der Diener, die bei Tafel servierten, »laß Burgunder bringen und sage der Musik, sie soll anrücken mit Pauken und Trompeten; die Bezechten nicht ausgenommen.« Die Musik kam bald und stellte sich längs des Saales auf. Nachdem Herr Minxit einigen Flaschen Burgunder den Hals klar gemacht hatte, hob er feierlich sein volles Glas: »Meine Herren«, sagte er, »auf das Wohl des Herrn Benjamin Rathery, des ersten Arztes der Amtmannschaft; ich stelle ihn Ihnen als meinen Schwiegersohn vor und bitte Sie, ihn zu lieben, wie Sie mich lieben. – Vorwärts, Musik!«
Darauf erschütterte ein Höllenlärm von Pauken und Becken, Trompeten und Triangeln, Pfeifen und Klarinetten den Saal, und mein Onkel sah sich genötigt, für die Mitgäste um Gnade zu bitten.
Diese etwas verfrühte und förmliche Veröffentlichung ließ die Jungfer Minxit den Mund verziehen und ein langes Gesicht machen. Benjamin, der andre Dinge zu tun hatte, als Epiloge zu halten auf das, was um ihn vorging, merkte von nichts; aber dieses Zeichen von Widerwillen entging meiner Großmutter nicht. Ihre Eigenliebe war schwer verwundet; denn wenn Benjamin nicht für jedermann der hübscheste Bursch im Lande war, so war er es zum mindesten für seine Schwester. Sie dankte zwar Herrn Minxit für die Ehre, die er ihrem Bruder antue, fügte aber, indem sie auf jeder Silbe herumbiß, als ob sie die arme Arabella zwischen den Zähnen hätte, hinzu, der hauptsächliche, ja der einzige Grund, der Benjamin bestimmt habe, eine Verschwägerung mit Herrn Minxit anzustreben, sei die hohe Wertschätzung, dessen sich dieser in der ganzen Gegend erfreue.
Benjamin glaubte, seine Schwester habe eine Dummheit gesagt, und beeilte sich fortzufahren: »Und auch die Anmut und Reize jeder Art, mit denen Jungfer Arabella so verschwenderisch ausgestattet ist und die dem glücklichen Sterblichen, der ihr Gatte sein wird, Tage von Gold und Seide durchwirkt versprechen.« Dann, um die Gewissensbisse über dieses traurige Kompliment, das einzige, das er bis jetzt für die Jungfer Minxit aufgebracht und das zu machen ihn erst seine Schwester genötigt hatte, zu ersticken, machte er sich daran, mit wütendem Heißhunger einen Hühnerschenkel zu verschlingen, und leerte in einem Zuge ein großes Glas Burgunder.
Da drei Ärzte beisammen waren, mußte das Gespräch auf die Medizin kommen, und es kam darauf.
»Sie sagten eben, Herr Minxit«, begann Fata, »daß Ihr Schwiegersohn der erste Arzt der Amtmannschaft sei. Ich bestreite das nicht für mich – obgleich man gewisse Kuren gemacht hat –; aber was halten Sie von Doktor Arnold in Clamecy?«
»Fragen Sie das Benjamin«, sagte Herr Minxit, »er kennt ihn besser als ich.«
»Oh, Herr Minxit«, antwortete mein Onkel, »ein Konkurrent!«
»Was tut das? Hast du es nötig, deine Konkurrenten schlechtzumachen? Sage, was du von ihm hältst, schon Fata zu Gefallen.«
»Da Ihr es wollt: ich meine, daß der Doktor Arnold eine prächtige Perücke hat.«
»Und warum«, fragte Fata, »soll ein Arzt mit Perücke nicht soviel taugen wie ein Arzt mit Zopf?«
»Die Frage ist um so heikler, als Sie selbst eine Perücke tragen, Herr Fata; aber ich will versuchen, mich zu erklären, ohne jemandes Eigenliebe zu verletzen, wer es auch immer sei.
Da ist zum Beispiel ein Arzt, der den Kopf voll von Kenntnissen hat, der alle medizinischen Abhandlungen in sich hineingeladen hat, der weiß, von welchen griechischen Worten die Namen der fünf- oder sechshundert Krankheiten kommen, mit denen unsre arme Menschlichkeit behaftet ist. Gut! Wenn er nun einen beschränkten Verstand hat, möchte ich ihm nicht meinen kleinen Finger zum Heilen anvertrauen, ich würde einem intelligenten Schwindler den Vorzug geben; denn die Wissenschaft jenes andern taugt soviel wie eine Laterne, in der kein Licht brennt. Man hat gesagt: der Grund und Boden ist soviel wert, wie der Mann wert ist; man hätte dasselbe Recht zu sagen: die Wissenschaft ist soviel wert, wie der Mann wert ist; und das gilt besonders von der Medizin, die eine Wissenschaft der Mutmaßung ist. Da heißt es, die Ursachen aus zweideutigen und unsicheren Wirkungen zu erraten. Dieser Puls, der unter dem Finger eines Dummkopfs stumm bleibt, spricht zu dem Mann von Geist in den wunderbarsten Aufschlüssen. Glaubt nur, zwei Dinge vor allen sind unerläßlich, um in der Medizin Erfolg zu haben, und diese beiden Dinge lassen sich nicht erlernen: Scharfsinn und Verstand.«
»Du vergißt«, sagte Herr Minxit lachend, »Pauken und Trompeten.«
»Halt«, rief Benjamin, »bei Euern Pauken und Trompeten kommt mir ein vortrefflicher Gedanke: Hätten Sie nicht in Ihrem Musikkorps eine Stelle frei?«
»Für wen denn?« fragte Herr Minxit.
»Für einen alten Sergeanten meiner Bekanntschaft und einen Pudel«, antwortete Benjamin.
»Und auf welchem Instrument wissen sich deine beiden Schützlinge zu verlautbaren?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Benjamin; »auf welchem Sie wollen, vermutlich.«
»Wir können immer deinen alten Sergeanten meine vier Pferde striegeln lassen, bis mein Kapellmeister ihn in irgendeinem Instrument auf dem laufenden hat; oder er mag meine Drogen stoßen.«
»Wenn sie so wollen«, sagte mein Onkel, »so können wir ihn noch vorteilhafter verwenden. Er hat ein Gesicht, verbrutzelt wie ein Huhn, das vom Bratspieß kommt; man möchte meinen, er hätte sein ganzes Leben nichts anderes getan als den Äquator hin und her passiert; man könnte ihn für den Tropenmann in Person halten; dabei ist er trocken wie ein alter ausgebrannter Knochen. Wir werden also sagen, es wäre dies ein Subjekt, dem wir das Schmalz ausgezogen hätten, um unsre Pomaden daraus zu bereiten; das wird sich besser vertreiben als Bärenfett. Oder wir geben ihn für einen alten Nubier von hundertvierzig Jahren aus, der seine Tage bis zu diesem außerordentlichen Alter durch ein Lebenselixier verlängert hat, dessen Geheimnis er uns gegen eine lebenslängliche Pension abgetreten haben muß. Dieses kostbare Elixier nun verkaufen wir für die Kleinigkeit von fünfzehn Sous die Flasche. Das lohnt nicht die Mühe, sich darum zu drücken.«
»Donnerwetter!« sagte Herr Minxit, »ich sehe, du verstehst dich auf die Medizin mit großem Orchester; schicke mir deinen Mann, wann du willst; ich nehme ihn in meinen Dienst, sei es als Nubier, sei es als ausgebratenen Alten.«
In diesem Augenblick trat ein Bedienter ganz aufgeregt in den Saal und sagte zu meinem Onkel, es seien einige zwanzig Weiber unten, die seinem Esel den Schwanz auszupften, und als er sie habe mit Peitschenhieben auseinanderjagen wollen, hätten sie ihn beinahe in Stücke gerissen mit ihren scharfen Nägeln.
»Ich sehe, was das ist«, sagte mein Onkel und lachte hellauf; »sie reißen dem Esel der Muttergottes die Haare aus, um Reliquien daraus zu machen.«
Herr Minxit wollte die Angelegenheit erklärt haben.
»Meine Herren«, rief er, als mein Onkel seinen Bericht beendet hatte, »wir sind gottlos, wenn wir Benjamin nicht anbeten. Pfarrer, Sie müssen aus ihm einen Heiligen machen!«
»Ich protestiere«, sagte Benjamin; »ich will nicht ins Paradies eingehen, denn ich würde keinen von euch dort treffen.«
»Ja, lachen Sie nur, meine Herren«, sagte meine Großmutter, die gleichwohl selber hatte lachen müssen, »da gibt's für mich nichts zu lachen; das ist immer das Ende von Benjamins schlechten Späßen: Herr Durand wird uns seinen Esel bezahlen lassen, wenn wir ihn nicht wieder so abgeben, wie er ihn uns anvertraut hat.«
»In jedem Fall«, sagte mein Onkel, »kann er uns immer nur den Schwanz bezahlen lassen. Der Mann, der mir den Wedel abgeschnitten hätte – und mein Wedel ist sicherlich, ohne ihm zu schmeicheln, soviel wert wie der von Herrn Durands Esel –, wäre der vor Gericht ebenso schuldig, als wenn er mich ganz umgebracht hätte?«
»Sicher nicht«, sagte Herr Minxit, »und wenn ich dir meine Meinung darüber sagen soll, so würde ich dich um deswillen nicht einen Pfifferling weniger einschätzen.«
Unterdessen füllte sich der Hof mit Weibern, die eine respektvolle Haltung zur Schau trugen, wie man sie um eine zu enge Kapelle herum sieht, während das Hochamt gehalten wird, und viele lagen auf den Knien.
»Ihr müßt uns diese Leute vom Hals schaffen«, sagte Minxit zu Benjamin.
»Nichts leichter als das«, antwortete dieser. Er ging hierauf ans Fenster und sagte zu den guten Leuten, sie hätten alle Zeit, die Heilige Jungfrau zu sehen, da sie zwei Tage bei Herrn Minxit Rast zu machen beabsichtige und am kommenden Sonntag nicht verfehlen werde, der großen Messe beizuwohnen. Auf diese Versicherung zog sich das Volk befriedigt zurück.
»Das sind freilich Beichtkinder«, sagte der Pfarrer, »die mir nicht viel Ehre machen; ich muß am Sonntag in meiner Predigt ein Wörtchen mit ihnen reden. Wie kann man so beschränkt sein, den kotigen Schwanz eines Esels für einen heiligen Gegenstand zu halten!«
»Aber, Pfarrer«, antwortete Benjamin, »Sie, der Sie bei Tische so Philosoph sind, haben Sie nicht in Ihrer Kirche zwei oder drei Knochen, so weiß wie Papier, die unter Glas gehalten werden und die Sie die Überreste des heiligen Moritz nennen?«
»Das sind recht ausgemergelte Reliquien«, fuhr Herr Minxit fort; »es ist mehr als fünfzig Jahre her, daß sie kein Wunder getan haben. Der Herr Pfarrer täte gut daran, sich ihrer zu entledigen und sie zu verkaufen, um Beinschwarz daraus zu brennen. Ich würde sie selbst nehmen, um Album graecum daraus zu machen, wenn er sie mir billig ließe.«
»Was ist das, Album graecum?« fragte meine Großmutter naiv.
»Madame«, erklärte Herr Minxit, indem er sich verneigte, »das ist Griechisch-Weiß; ich bedaure, Ihnen nicht mehr sagen zu können.«
»Was mich betrifft«, sagte der Amtsschreiber, ein kleiner Alter in weißer Perücke, dessen Auge voll von Leben und Spottlust war, »ich mache dem Pfarrer den bevorzugten Platz, den er den Schienbeinknochen des heiligen Moritz in seiner Kirche gegeben hat, nicht zum Vorwurf. Der heilige Moritz, das steht außer Zweifel, hatte Schienbeinknochen zu seinen Lebzeiten. Warum sollen sie nicht ebensogut hier sein wie anderswo? Ich wundere mich sogar, daß die Kirche nicht die Reitstiefel unseres Schutzpatrons besitzt. Aber ich möchte, der Herr Pfarrer wäre seinerseits toleranter und machte seinen Pfarrkindern den Glauben nicht zum Vorwurf, den sie dem Ewigen Juden entgegenbringen. Nicht genug zu glauben ist ebenso ein Zeichen von Unwissenheit, als zuviel zu glauben.«
»Wie«, versetzte darauf lebhaft der Pfarrer, »Sie, Herr Amtsschreiber, Sie glaubten an den Ewigen Juden?«
»Warum sollte ich nicht ebensogut an ihn glauben wie an den heiligen Moritz?«
»Und Sie, Herr Doktor«, wandte sich der Pfarrer an Fata, »glauben Sie an den Ewigen Juden?«
»Hm, hm!« machte dieser, während er eine große Prise Tabak in die Nase zog.
»Und Sie, verehrter Herr Minxit?«
»Ich«, unterbrach ihn Herr Minxit, »ich denke wie mein Amtsbruder, außer daß ich mir statt einer Prise Tabak ein Glas Wein zu Gemüte führe.«
»Sie aber wenigstens, Herr Rathery, der Sie für einen Philosophen gelten, Sie tun doch, hoffe ich, dem Ewigen Juden nicht die Ehre an, an seine ewigen Wanderungen zu glauben?«
»Warum nicht?« sagte mein Onkel, »Sie glauben doch auch an Jesus Christus!«
»Oh, das ist etwas anderes!« antwortete der Pfarrer. »Ich glaube an Jesum Christum, weil weder seine Existenz noch seine Göttlichkeit in Zweifel gezogen werden kann; weil die Evangelisten, die seine Geschichte geschrieben haben, glaubwürdige Männer sind; weil sie sich nicht täuschen konnten; weil sie kein Interesse hatten, ihre Nächsten zu täuschen, und weil, selbst wenn sie es gewollt hätten, der Betrug sich nicht hätte ausführen lassen.
Wenn die von ihnen verzeichneten Begebenheiten erfunden wären, wenn das Evangelium, wie der Telemach, nur eine Art von philosophisch-religiösem Roman wäre, so würde beim Erscheinen dieses verhängnisvollen Buches, das Verwirrung und Zwietracht über die ganze Oberfläche der Erde verbreiten sollte; das den Gatten von der Gattin, die Kinder von ihren Eltern trennte; das die Armut wieder zu Ehren brachte; das den Sklaven und den Herrn gleich machte; das gegen alle geltenden Vorstellungen verstieß; das alles ehrte, was bis dahin verachtet war, und alles, was verehrt war, ins höllische Feuer warf; das die alte Religion der Heiden niederriß und auf ihren Trümmern an Stelle der Altäre den Galgen eines armen Zimmermannssohnes aufrichtete...«
»Herr Pfarrer«, sagte Herr Minxit, »Ihre Periode ist zu lang; Sie sollten sie mit einem Glas Wein verschneiden.«
Der Pfarrer trank also ein Glas Wein und fuhr fort: »Bei Erscheinen dieses Buches, sage ich, hätten die Heiden einen gewaltigen Schrei der Entrüstung ausgestoßen, und die Juden, die es des größten Verbrechens anklagte, das ein Volk begehen kann, nämlich eines Gottesmordes, hätten es mit ihrem ewigen Einspruch verfolgt.«
»Aber«, sagte mein Onkel, »der Ewige Jude hat eine Autorität für sich, die nicht weniger Gewicht hat als das Evangelium, das ist die Reimchronik der Bürger von Brüssel in Brabant, die ihm unter den Toren ihrer Stadt begegneten und ihn mit einem Krug frischen Biers regalierten.
Die Evangelisten sind glaubwürdige Männer, zugegeben. Aber, wirklich, abgesehen von ihrer Begeisterung, was waren diese Evangelisten? Geringe Leute, Leute, die nicht Haus und Herd hatten, die keine Steuern zahlten und die heute der Staatsanwalt wegen Landstreicherei verfolgen würde. Die Bürger von Brüssel dagegen waren eingesessene Leute, Männer, die ihren Giebel nach der Straße hatten; mehrere, ich bin dessen sicher, waren Syndikusse und Kirchenvorsteher. Wenn die Evangelisten und Bürger von Brüssel einen Streit vor Gericht haben könnten, bin ich gewiß, daß der Richter den Bürgern von Brüssel den Eid zuerkennen würde.
Die Bürger von Brüssel konnten sich nicht täuschen; denn am Ende ist ein Bürger kein Lebkuchenmann, kein Flederwisch; und es ist nicht schwerer, einen Greis von vor siebzehnhundert Jahren von einem heutigen zu unterscheiden als diesen von einem fünfjährigen Kind.
Die Bürger von Brüssel hatten keinerlei Interesse, ihre Mitbürger zu täuschen; es ging sie wenig an, ob es einen Menschen gäbe, der ewig wandert, oder ob es keinen solchen Menschen gäbe; und welche Ehre konnte es ihnen einbringen, mit dem Superlativ der Vagabunden an demselben Biertisch gesessen zu haben? mit einer Art von Gezeichnetem, hundertmal verächtlicher als ein Galeerensträfling, vor dem ich wenigstens nicht meinen Hut ziehen würde, frisches Bier getrunken zu haben? Ja, wenn man es recht nimmt, so haben sie mit der Veröffentlichung ihrer Reimchronik mehr gegen ihr Interesse als für dasselbe gehandelt; denn dieses Stück Reimerei ist nicht derart, um eine hohe Meinung von ihren poetischen Gaben aufkommen zu lassen. Und der Schneider Millot-Rataut, dessen große Christlitanei ich so manches Mal in der Umarmung eines Stückes Briekäse überraschte, ist ein Virgil im Vergleich mit ihnen.
Die Bürger von Brüssel hätten ihre Mitbürger nicht täuschen können, selbst wenn sie gewollt hätten. Wenn die in ihrer Reimchronik besungenen Taten erfunden wären, so hätten bei Erscheinen dieser Schrift die Einwohner von Brüssel Einspruch erhoben; die Polizei hätte in ihren Registern nachgeschlagen, ob ein Herr Isaak Laquedem an dem und dem Tage durch Brüssel gekommen sei, und sie hätte Einspruch erhoben. Die Schuhmacher, deren ehrbare Zunft durch das brutale Verfahren des Ewigen Juden, der selbst den Pechdraht zog, auf immer entehrt war, hätten nicht verfehlt, Einspruch zu erheben; mit einem Wort, es hätte ein Einspruchskonzert gegeben, um die Türme der Hauptstadt von Brabant zusammenstürzen zu lassen.
Ferner hat in Anschauung der Glaubwürdigkeit die Reimchronik vom Ewigen Juden beträchtliche Vorzüge gegenüber dem Evangelium; sie ist keineswegs wie ein Meteorstein vom Himmel gefallen, sie hat ein bestimmtes Datum. Das erste Exemplar wurde in der Königlichen Bibliothek niedergelegt, recht- und ordnungsmäßig mit dem Namen des Druckers und der Angabe seines Wohnorts versehen. Das Evangelium dagegen hat kein Datum. Der Brüsseler Reimchronik ist das Porträt des Ewigen Juden beigefügt: im Dreispitz, polnisch verschnürtem Rock, hohen Stiefeln und mit einem mächtig langen Wanderstab, wogegen keine Denkmünze das Bildnis Jesu Christi bis auf uns gebracht hat. Die Reimchronik vom Ewigen Juden ist in dem Jahrhundert der Aufklärung und Forschung geschrieben, das eher geneigt ist, seine Glaubensgebiete zu beschneiden, als ihnen noch etwas zuzufügen; das Evangelium dagegen ist plötzlich in Erscheinung getreten wie eine Fackel, man weiß nicht, von wem entzündet, inmitten der Finsternis eines dem gröblichsten Aberglauben hingegebenen Zeitalters, bei einem in tiefster Unwissenheit versunkenen Volke, dessen Geschichte nur eine lange Folge von Taten des Aberglaubens und der Barbarei ist.«
»Erlauben Sie, Herr Benjamin«, bemerkte der Notar, »Sie haben gesagt, daß die Bürger von Brüssel sich nicht über die Identität des Ewigen Juden täuschen konnten; und doch haben die Einwohner von Moulot Sie heute morgen für den Ewigen Juden gehalten; Sie haben sogar, in dieser Eigenschaft, in Gegenwart des ganzen Volkes von Moulot ein authentisches Wunder getan. Ihre Beweisführung hinkt also auf der einen Seite, und Ihre Regeln für die historische Gewißheit sind keineswegs unfehlbar.«
»Dieser Einwand ist gewichtig«, sagte Benjamin und kratzte sich hinterm Ohr; »ich gebe zu, daß ich ihn nicht entkräften kann; aber er findet ebensowohl auf den Jesus Christus des Herrn Pfarrers wie auf meinen Ewigen Juden Anwendung.«
»Was heißt das?« unterbrach meine Großmutter, die immer auf die Sache losging, »ich hoffe, daß du an Jesus Christus glaubst, Benjamin!«
»Ohne Zweifel, liebe Schwester, glaube ich an Jesus Christus. Ich glaube um so fester daran, als ohne den Glauben an seine Göttlichkeit man auch nicht an das Dasein Gottes glauben kann, da die einzigen Beweise, die es für das Dasein Gottes gibt, die Wunder Jesu Christi sind. Aber, potz Wetter! das hindert mich nicht, an den Ewigen Juden zu glauben; oder, um es deutlicher zu sagen, soll ich euch erklären, was für mich der Ewige Jude ist?
Der Ewige Jude ist das Abbild des jüdischen Volkes, von irgendeinem unbekannten Dichter aus dem Volke auf die Wände einer Hütte gezeichnet. Diese Symbolik ist so schlagend, daß man ein Kind sein müßte, um sie zu verkennen.
Der Ewige Jude hat kein Dach, keinen Herd, keinen Wohnsitz vor dem Gesetz und der Politik: das jüdische Volk hat kein Vaterland.
Der Ewige Jude muß wandern ohne Rast, ohne Ruh, ohne Atem schöpfen zu dürfen; – was für ihn in seinen hohen Reiterstiefeln sehr ermüdend sein muß. Er hat schon siebenmal den Weg rund um die Welt gemacht.
Das jüdische Volk ist nirgends als solches fest eingesessen; es wohnt überall und nirgendwo; es kommt und geht unaufhörlich wie die Wellen des Ozeans, und so hat es selbst, wie ein Schaum, der auf der Oberfläche der Nationen schwimmt, wie ein vom Strom der Zivilisation fortgetragener Strohhalm, schon viele Male die Reise um die Welt gemacht.
Der Ewige Jude hat beständig seine fünf Sous in der Tasche. Das jüdische Volk, obwohl unaufhörlich mißhandelt und an Hab und Gut geschädigt, kam immer wieder, wie ein Kork aus der Tiefe des Wassers an die Oberfläche, zu Wohlstand. Sein Reichtum wächst aus sich selbst heraus.
Der Ewige Jude kann nie mehr als fünf Sous auf einmal ausgeben. Das jüdische Volk, immer genötigt, seinen Reichtum geheimzuhalten, wurde knauserig und sparsam: es verschwendet nicht.
Die Strafe des Ewigen Juden ist ewig. Das jüdische Volk kann sich ebensowenig wieder zur Einheit einer Nation vereinigen wie die Asche einer blitzgetroffenen Eiche zu einem Baum. Bis ans Ende aller Tage bleibt es zerstreut über die Oberfläche der Erde.
Ernsthaft gesprochen ist der Glaube an den Ewigen Juden ohne Zweifel ein Aberglaube; aber ich kann wie im Evangelium sagen: wer frei von Aberglauben ist, schleudre auf die Einwohner von Moulot den ersten Spott! Tatsache ist, daß wir alle abergläubisch sind, die einen mehr, die andern weniger; und derjenige, der ein Gewächs hinterm Ohr hat, dick wie eine Kartoffel, macht sich über den lustig, der eine Warze am Kinn hat.
Es gibt keine zwei Christen, die dasselbe glauben, die dasselbe zugeben und dasselbe verwerfen. Der eine macht mager am Freitag und geht nicht in die Kirche; der andere geht in die Kirche und setzt freitags den Fleischtopf aufs Feuer; jene Dame schert sich um den Freitag so wenig wie um den Sonntag und würde sich doch für eine Verdammte halten, wenn sie nicht in der Kirche getraut wäre. Sei die Religion ein Tier mit sieben Hörnern: der, der nur an sechs Hörner glaubt, spottet über den, der an das siebente glaubt; wer ihr nur fünf Hörner zubilligt, spottet über den, der sechs anerkennt. Kommt der Deist und spottet über alle die, die glauben, daß die Religion überhaupt Hörner habe; zuletzt spaziert der Atheist herein und spottet über alle andern, und doch glaubt er an Cagliostro und läßt sich die Karten legen. Schließlich gibt es nur einen Menschen, der nicht abergläubisch ist; das ist der, der nichts glaubt, es sei ihm denn bewiesen.«
Es war Nacht und mehr als Nacht, als meine Großmutter erklärte, sie wolle nach Hause.
»Ich lasse Benjamin nur unter einer Bedingung fort«, sagte Herr Minxit, »wenn er mir nämlich verspricht, Sonntag an einer großen Jagdpartie teilzunehmen, die ich ihm zu Ehren ansetze: er muß doch mit seinen Wäldern und seinen inbefindlichen Hasen Bekanntschaft machen.«
»Aber«, sagte mein Onkel, »ich kenne ja nicht einmal das Abc der Jägerei. Ich würde recht wohl einen Hasenpfeffer oder eine Keule von einem Kaninchenfrikassee unterscheiden, aber Millot-Rataut soll mir seine große Christlitanei singen, wenn ich imstande bin, einen laufenden Hasen von einem laufenden Karnickel zu unterscheiden.«
»Um so schlimmer für dich, mein Freund; aber das ist ein Grund mehr für mich, daß du kommst: man muß von allem etwas wissen.«
»Sie werden sehen, Herr Minxit, ich werde ein Unglück anrichten; ich werde eines Ihrer musikalischen Instrumente umbringen.«
»Potz Wetter! das laß dir nicht einfallen; ich müßte ihn teurer bezahlen, als er seiner untröstlichen Familie wert ist. Aber um jeden Unfall zu vermeiden, wirst du mit deinem Degen jagen.«
»Gut denn: ich bin dabei«, sagte mein Onkel.
Und darauf verabschiedete er sich samt seiner teueren Schwester von Herrn Minxit.
»Weiß Sie«, sagte Benjamin unterwegs zu meiner Großmutter, »daß ich lieber Herrn Minxit heiraten möchte als seine Tochter?«
»Man muß nur wollen, was man kann, und alles, was man kann, muß man auch wollen«, antwortete meine Großmutter trocken.
»Aber...«
»Aber ... gib acht auf den Esel, und stoße ihn nicht wie heute morgen mit deinem Degen; das ist alles, was ich verlange.«
»Sie schmollt mit mir, meine Schwester? Ich möchte wohl wissen, warum.«
»Nun denn, ich will es dir sagen: weil du zuviel getrunken, zuviel geredet und kein Wort mit Arabella gesprochen hast. Jetzt laß mich in Ruhe!«