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Elftes Kapitel

Bayerische Räterepublik

Der Schuß Arcos alarmiert die Republik, die erregten Volksmassen fordern Rache für Eisner, der Zentralrat der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte übernimmt die Regierungsgewalt, er proklamiert den Generalstreik, er verhängt den Belagerungszustand über Bayern, er beruft den Rätekongreß ein, die Arbeiterschaft, von der sozialen Tatenlosigkeit der Republik enttäuscht, fordert, daß der politischen endlich die soziale Revolution folge, was in Rußland gelungen ist, muß auch hier gelingen, der Parlamentarismus habe versagt, der Gedanke der Räterepublik gewinnt die Massen.

 

Bis jetzt war die kommunistische Partei ohnmächtig, ihr Einfluß gering, jetzt werden ihre Parolen populär. Die kommunistische Zentrale in Berlin schickt Leviné nach München. Leviné kämpft schon als Student in der russischen Revolution 1905, er wird verhaftet, in der Schlüsselburg eingekerkert, nach Sibirien verbannt, arbeitet dort in einem Bleibergwerk, flüchtet über Asien nach Europa und studiert in Deutschland Nationalökonomie. 1918 wendet er sich der Spartakusgruppe zu. Der hagere Mann, aus dessen eingefallenem Gesicht die gebogene fleischige Nase groß vorspringt, ist kein Redner, der sofort das Gehör der Massen hat, jedesmal muß er es erst erkämpfen, mit sparsamen Gesten und eindringlicher Dialektik erzwingen. In wenigen Wochen reorganisiert er die Partei und bestimmt entscheidend ihre politische Haltung.

 

Ich sollte in jenen Tagen an einer Konferenz der Unabhängigen in Berlin teilnehmen, ich versäume, durch Arbeit im Zentralrat aufgehalten, den Zug, am nächsten Morgen fliege ich nach Berlin.

Ein Kampfflieger, geschmückt mit dem Eisernen Kreuz erster Klasse und dem goldenen Fliegerabzeichen, ist mein Pilot. Bei südlich blauem Himmel starten wir. Ich sitze hinter dem Piloten in einem kleinen offenen Raum, durch das viereckige Loch im Boden warf man im Krieg Bomben auf Häuser und Menschen, jetzt dient es mir als Fenster zur entschwindenden Erde. Es ist mein erster Flug. Die schwarzen Wälder, die grünen Wiesen, die braunen Berge und Schluchten werden flache, farbig abgezirkelte Quadrate aus einer Spielzeugschachtel, im Warenhaus gekauft, von Knabenhänden zusammengestellt. Wolkengebirge türmen sich, die Erde überflutet eine weiße weiche Nebeldecke, die mich anzieht mit unheimlicher Lockung, der Wünsch, zu fallen, zu versinken, verwirrt meine Sinne.

Der Himmel klärt sich auf, die Sonne steht im Zenit, ich sehe nach der Uhr, wir sind Stunden geflogen, wir müßten in Leipzig sein, dort will der Flieger Benzin tanken.

Ich schreibe auf einen Zettel: »Wann sind wir in Leipzig?« und reiche dem Piloten das Papier.

Der zuckt die Schultern, er hat die Richtung verloren. Plötzlich sinkt das Flugzeug im Gleitflug zu Boden, ehe ich mich noch anschnallen kann, saust der Apparat senkrecht herunter und bohrt sich mit der Spitze in den Acker. Ich fliege mit dem Kopf gegen die Bordwand und bleibe betäubt liegen. Als ich wieder zu mir komme, sehe ich Menschen, nicht in Leipzig sind wir gelandet, sondern in Niederbayern, in Vilshofen.

Die Bauern helfen uns, das Flugzeug ist nur leicht beschädigt.

»Können wir weiter nach Berlin fliegen?« frage ich den Piloten.

»Nein.«

»Was sollen wir tun?«

»Ich getraue mich, nach München zurückzufahren, aber für Sie übernehme ich nicht die Verantwortung.«

»Ich fahre auf eigene Verantwortung mit.«

Wir landen abends auf dem Flugplatz Schleißheim. Am nächsten Morgen fliege ich zu früher Stunde mit anderem Flugzeug und anderem Piloten. Der Himmel bewölkt sich, Strichregen näßt unsere Gesichter, Stunden um Stunden fliegen wir, ohne daß Leipzig zu sehen ist, ich denke an den Sturz von gestern und schnalle mich fest. Minuten später senkt sich das Flugzeug zur Erde. Wir landen in einem aufgeweichten Lehmacker, sausen etliche Meter vorwärts, an einer Böschung überschlägt sich der Apparat, ich hänge im Gurt, das Flugzeug über mir, der Pilot ist herausgeklettert, aus Mund und Nase strömt Blut.

»Nichts Schlimmes«, ruft er und zieht mich unter dem Flugzeug hervor.

Wir sehen in der Nähe ein Dorf, von allen Seiten laufen Bauern herbei, sie kümmern sich nicht um uns, in ihren Händen tragen sie Flaschen, Kochtöpfe, Eimer, große und kleine Gefäße, um das Benzin, das aus dem Tank fließt, aufzufangen, denn Benzin ist in dieser Zeit kostbarer als Gold, kostbarer als Menschen.

Der Pilot und ich stolpern in unseren schweren Fliegeranzügen zum Dorf, wir finden ein Gasthaus, legen uns auf die Bänke und schlafen, vom Schreck erschöpft, sofort ein. Ich muß Stunden geschlafen haben, als ich aufwache, dämmert der Abend. Ich sehe wie durch einen Nebel Bauern um den Wirtshaustisch sitzen, ich stehe auf, an der Tür erblicke ich einen Gendarmen.

»Nix, Franzos«, ruft er und bedeutet mir, daß ich das Zimmer nicht verlassen darf.

»Ich bin kein Franzose.«

Aus der Tasche ziehe ich meinen Ausweis und reiche ihn dem Gendarmen. Seine Augen weiten sich, er macht mir ein Zeichen, ich folge ihm auf den Korridor.

»So, der Herr Toller sans. Des dürfen wir fei nöt den Bauern sagn. Die moana, Sie san a Franzos, wenn die wüßten, daß Sie einer von die Roten san, die täten Eahna auf der Stell totschlagen. Hier in Wertheim sans alle schwarz.« –

Ich fahre mit der Kleinbahn nach Ingolstadt.

»Fährt heute noch ein Zug nach München?« frage ich den Bahnvorsteher.

»Des scho.«

»Ich fahre mit.«

»Des nöt.«

»Warum?«

»Nur der Landtagszug fährt, und der hält nicht.«

»Der Zug muß halten.«

»Und wenns der König von Bayern san, der Zug hält nöt.«

»Der König von Bayern bin ich nicht.«

Ich zeige ihm meinen Ausweis.

»Dös geht mi an Dreck o.«

»So«, sage ich, stecke meine Hände in die Tasche, packe das Taschentuch, als ob ich eine Waffe umkralle, und sehe ihn scharf an.

»Sie werden den Zug zum Halten bringen.«

Er läßt die hochgezogenen Schultern fallen, die Achselblätter rollen aufgeregt, dann zieht er den Bauch ein, wirft die Brust vor, legt die Hände an seine Mütze und brummt:

»Zu Befehl, Herr Toller.«

Zehn Minuten später steige ich in den Zug nach München, die Konferenz in Berlin habe ich versäumt, wäre ich in Berlin gelandet, hätte ich dort bleiben müssen, zwei Tage später herrscht Krieg zwischen Berlin und München.

 

Noch ehe der Landtag sein Werk beginnen kann, schickt die Augsburger Arbeiterschaft, müde der revolutionären Resolutionen, Delegierte zum Ministerium nach München, sie sollen die Proklamation der Räterepublik fordern. Die Regierung verhaftet diese Männer nicht als Hochverräter, sondern empfängt sie, die sozialdemokratischen Minister verlieren den Kopf, sie fürchten um Führung, Amt, Parteimitglieder und sind bereit, die Forderung zu erfüllen. Einer ist zufällig abwesend, der Ministerpräsident Hoffmann, er will anfangs zurücktreten, eine Sorge drückt ihn, er schreibt eine Postkarte an den Vorsitzenden des Zentralrats, ob die Räterepublik den alten Ministern Pensionen zahlen werde.

 

Die Kommunisten tun nicht mit, sie mißtrauen den Rechtssozialisten, die trieben, wie schon so oft in der deutschen Revolution, ein dunkles und für die Arbeiterschaft gefährliches Spiel, die Arbeiterschaft sei nicht reif, die Räterepublik werde ohne Unterstützung Norddeutschlands sich nicht halten können. Das aber hätten sie vor Wochen sagen müssen, wo sie die Räterepublik in Parlamenten, Kongressen, Zeitungen, Versammlungen als nächstes politisches Kampfziel forderten, und jeden, der die Möglichkeit naher Verwirklichung bezweifelte, Konterrevolutionär und Kleinbürger schalten. Man darf nicht Parolen verkünden, an die man nicht glaubt. Die Scheu vor der Wahrheit führt zum Selbstbetrug. Man darf nicht der Wirklichkeit, die anders sich zeigt, als man sie wünschte, ausweichen und sich entschuldigen, so war es nicht gemeint.

Die Unabhängigen zögern. Hat eine revolutionäre Partei das Recht, die Massen im Stich zu lassen? Revolutionäre Führer dürfen nicht blindlings Massenstimmungen folgen, auf die Gefahr, verkannt zu werden, müssen sie sinnlosen Aktionen wehren. Aber sind es nur Stimmungen? Sind nicht schon Tatsachen geschaffen, die unser Tun beeinflussen müssen?

Die Parteibürokratien beraten, das Volk handelt. In jener Stunde ist in Würzburg, Augsburg, Fürth, Aschaffenburg, Lindau, Hof die Räterepublik ausgerufen. Wir hätten das Volk früher über die wahren Machtverhältnisse in Deutschland aufklären müssen, daß wir es nicht taten, war unsere Schuld.

 

In der Nacht vom 6. zum 7. April 1919 versammelt sich der Zentralrat, versammeln sich die Delegierten der Sozialistischen Parteien, der Gewerkschaften, des Bauernbundes im Wittelsbacher Palais. Wo früher Zofen und betreßte Lakaien herumwedelten, stapfen jetzt die groben Stiefel von Arbeitern, Bauern und Soldaten, an den seidenen Vorhängen der Fenster des Schlafzimmers der Königin von Bayern lehnen Wachen, Kuriere, übernächtigte Sekretärinnen.

Die Volksbeauftragten werden gewählt, es zeigt sich auch hier das Unwissen, das Ziellose, die Verschwommenheit der deutschen Revolution. Sylvio Gsell, der Physiokrat, der Theoretiker des Freigeldes und der Freiwirtschaft, wird Finanzminister. Zum Präsidenten des Zentralwirtschaftsamts bestimmt man den Marxisten Dr. Neurath. Wie sollen diese beiden Männer miteinander arbeiten? Mir werden nacheinander drei Volkskommissariate angeboten, ich lehne alle drei ab. Zum Leiter des Volkskommissariats für Auswärtige Angelegenheiten beruft man Dr. Lipp, dessen Fähigkeiten niemand kennt. Er hat kein Gesicht, nur einen Vollbart, trägt keinen Anzug, nur einen Gehrock, diese beiden Requisiten scheinen die Gründe seiner Eignung zu sein. Ein Arbeiter, bei dem ich mich nach Dr. Lipp erkundige, sagte, er kenne den Papst persönlich. Andere Männer werden mit Ämtern betraut, die zwar nicht den Papst persönlich kennen, aber doch den Dorfpfarrer.

 

Als ich das Wittelsbacher Palais, verlasse, dämmert der Morgen. Die Revolution hat gesiegt. Hat die Revolution gesiegt? Diese Räterepublik ist ein tollkühner Handstreich verzweifelter Arbeitermassen, die verlorene deutsche Revolution zu retten.

Was wird sie schaffen, wie wird sie enden?

Vor der kleinen Pension, in der ich wohne, wartet einer unserer Sektionsführer.

»Jetzt haben wir die Macht.«

»Haben wir sie?« sage ich. Der Genosse stutzt, sieht mich nachdenklich an, ich verabschiede mich rasch.

 

Der erste Tag der Räterepublik, Nationalfeiertag. Auf den Straßen festlich gekleidete Arbeiter, scheu und ängstlich drängen sich die Bürger und sprechen über die Geschehnisse der letzten Nacht, Lastwagen mit Soldaten durchfahren die Stadt, auf dem Wittelsbacher Palais weht die rote Fahne.

Die Arbeit beginnt. Ein Erlaß verkündet die Sozialisierung der Presse, ein anderer die Bewaffnung der Arbeiter und die Schaffung der roten Armee, ein dritter die Beschlagnahme von Wohnungen zur Linderung der Wohnungsnot, ein vierter regelt die Lebensmittelversorgung.

Die Münchener Garnison entsendet Vertreter zum Zentralrat, sie werde die Räterepublik zu verteidigen wissen. Die Soldaten des ersten Leibregiments geben ihrer Kaserne den Namen Karl-Liebknecht-Kaserne. Auch die alten königlichen Staatsanwälte und Richter wollen nicht zurückstehen, sie stünden »auf dem Boden der Räterepublik«, sie seien bereit, in den neu geschaffenen Revolutionsgerichten die Feinde der Revolution anzuklagen und zu richten. Die Kirchenglocken läuten, die Kirchenglocke von Starnberg schweigt, der alte königliche Bezirksamtmann selbst gibt den Befehl, den Widerstand zu brechen.

Nur die Kommunisten bekämpfen die Räterepublik, sie rufen die Arbeiter zu Demonstrationen auf, sie schicken Redner in die Kasernen, diese Räterepublik verdiene es nicht, daß die Soldaten sie verteidigen.

 

Inzwischen haben sich Ministerpräsident Hoffmann und die anderen Minister, die aus München geflohen sind, besonnen, die vom Landtag gebildete Regierung verlegt ihren Sitz nach Bamberg, zu ihrem Schutz beruft sie das in Ohrdruf gebildete Freikorps Epp, sie verhaftet die Träger der Räterepublik in den fränkischen Städten und beherrscht Nordbayern. Nach Bamberg ist auch der räterepublikanische Ernährungskommissar, der Bauernbündler Wutzlhofer, gefahren, eben hat er sich noch von mir seine Ernennung bestätigen lassen, jetzt amtiert er im Kabinett der Gegenregierung Hoffmann.

In München ist der Vorsitzende des Zentralrats zurückgetreten, ich werde zu seinem Nachfolger bestimmt.

In den Vorzimmern des Zentralrats drängen sich die Menschen, jeder glaubt, die Räterepublik sei geschaffen, um seine privaten Wünsche zu erfüllen. Eine Frau möchte sofort getraut werden, bisher hatte sie Schwierigkeiten, es fehlten notwendige Papiere, die Räterepublik soll ihr Lebensglück retten. Ein Mann will, daß man seinen Hauswirt zwinge, ihm die Miete zu erlassen. Eine Partei revolutionärer Bürger hat sich gebildet, sie fordert die Verhaftung aller persönlichen Feinde, früherer Kegelbrüder und Vereinskollegen.

Verkannte Lebensreformer bieten ihre Programme zur Sanierung der Menschheit an, ihr seit Jahrzehnten befehdetes Lebenswerk bürge dafür, daß jetzt endlich die Erde in ein Paradies verwandelt werde. Sie wollen die Welt aus einem Punkt kurieren, läßt man die Prämisse gelten, ist ihre Logik unangreifbar. Die einen sehen die Wurzel des Übels im Genuß gekochter Speisen, die anderen in der Goldwährung, die dritten im Tragen unporöser Unterwäsche, die vierten in der Maschinenarbeit, die fünften im Fehlen einer gesetzlich vorgeschriebenen Einheitssprache und Einheitskurzschrift, die sechsten machen Warenhäuser und sexuelle Aufklärung verantwortlich. Sie erinnern alle an jenen schwäbischen Schuster, der in einer umfangreichen Broschüre zwingend bewies, daß die Menschheit nur darum moralisch krank sei, weil sie ihre elementaren Bedürfnisse in geschlossenen Räumen verrichte und künstliches Papier benütze. Wenn sie, dozierte er, diese Minuten in Wäldern verbrächten und mit natürlichem Moos sich behülfen, würden auch ihre seelischen Giftstoffe im Kosmos verdunsten, körperlich und seelisch gereinigt, als gute Menschen, kehrten sie zur Arbeit zurück, ihr soziales Gefühl wäre gekräftigt, der Egoismus verschwände, die wahre Menschenliebe erwachte, und das Reich Gottes auf Erden, das lang verheißene, bräche an.

Der Kommissar für Auswärtige Angelegenheiten, Dr. Lipp, waltet seines Amtes, er sendet staatsmännische Depeschen in die Welt, er kennt wirklich den Papst persönlich, denn er telegraphiert an den Nuntius:

»Ich mache es mir zur heiligen Pflicht, die Sicherheit Ihrer verehrlichen Person und des gesamten Instituts der Nuntiatur in München zu garantieren. Glauben Sie an meine Ergebenheit.«

An den bayerischen Gesandten in Berlin telegraphiert er:

»Da das opus primum sed non ultimum des Herrn Preuß über die deutsche Verfassung für Bayern niemals bindendes Gesetz werden kann, weil ich die durch bayerisches Blut bei Wörth und Sedan erworbenen Reservatrechte Bayerns nicht preisgeben darf, ersuche ich Sie, unverzüglich dem Grafen Brockdorff-Rantzau Ihr Abschiedsgesuch einzureichen.«

Unsere Kontrollbeamten im Telegraphenamt lesen kopfschüttelnd die Depeschen, endlich wird es ihnen zu bunt, sie bringen mir die Depesche an den Papst und fragen, ob der Zentralrat die Beförderung zulasse. Ich lese:

»Proletariat Oberbayerns glücklich vereint. Sozialisten plus Unabhängige plus Kommunisten fest als Hammer zusammengeschlossen, mit Bauernbund einig. Liberales Bürgertum als Preußens Agent völlig entwaffnet. Bamberg Sitz des Flüchtlings Hoffmann, welcher aus meinem Ministerium den Abtrittsschlüssel mitgenommen hat. Die preußische Politik, deren Handlanger Hoffmann ist, geht dahin, uns vom Norden, Berlin, Leipzig, Nürnberg abzuschneiden, auch von Frankfurt und vom Essener Kohlengebiet, und uns gleichzeitig bei der Entente als Bluthunde und Plünderer zu verdächtigen. Dabei triefen die haarigen Gorillahände Gustav Noskes von Blut. Wir erhalten Kohle, und wir erhalten Lebensmittel in reichlichem Maße aus der Schweiz, von Italien. Wir wollen den Frieden für immer. Immanuel Kant ›Vom ewigen Frieden‹ 1795, ›Thesen 2-5‹. Preußen will den Waffenstillstand zur Vorbereitung des Rachekrieges.«

Zweifellos, Lipp ist wahnsinnig geworden. Wir beschließen, ihn sofort in eine Heilanstalt zu überführen. Um Aufsehen in der Öffentlichkeit zu vermeiden, muß er freiwillig seinen Rücktritt erklären.

Im Ministerium des Auswärtigen sind die Zimmer der Sekretärinnen mit roten Nelken geschmückt, Herr Lipp hat sie den Damen als Morgengruß gebracht, dann ist er fortgegangen, niemand weiß wohin, wahrscheinlich entwirft er neue Depeschen. Endlich erreichen wir ihn, er kommt ahnungslos in mein Zimmer im Wittelsbacher Palais. Ich soll ihn zum Rücktritt bewegen.

»Haben Sie schon das Badezimmer des letzten Königs von Bayern gesehen?« fragt er mich. »Welche Schande. Ich sehe da ein winziges Paddelruder, wundere mich, frage den Lakaien und muß hören, daß Ludwig von Wittelsbach, anstatt zu regieren, stundenlang warme Bäder nahm und zu seinem Vergnügen in der Badewanne paddelte.«

Ich kenne das Badezimmer des alten Königs, ich habe über aktuellere Fragen mit Herrn Lipp zu sprechen.

»Haben Sie diese Telegramme aufgegeben?«

Sorgfältig liest Lipp die Telegramme. »Ich habe sie sogar mit eigener Hand geschrieben.«

»Sie werden zurücktreten, der Text Ihrer Erklärung ist vorbereitet, seien Sie so freundlich, Ihre Unterschrift darunterzusetzen.«

Lipp erhebt sich, zupft an seinem grauen Gehrock, zieht ein Kämmchen aus der Tasche, frisiert mit eleganter Geste seinen Henri-Quatre-Bart, steckt sein Kämmchen wieder in die Tasche, ergreift die Feder, stützt sich einen Moment auf den Schreibtisch und sagt mit trauriger Stimme:

»Was tue ich nicht für die Revolution.«

Er unterschreibt das Dokument und geht.

Nachmittags sitzt er wieder im Ministerium, beschenkt die Sekretärinnen und redigiert Telegramme. Samariter entführen ihn von seiner Arbeitsstätte.

Der Finanzkommissar Gsell versucht, das kapitalistische Problem vom Geldproblem aus zu lösen. Durch die Schaffung eines gleitenden Geldwertes will er den Zins und damit die Ausbeutung beseitigen. Er telegraphiert an das Reichsbankdirektorium in Berlin:

»Die Übertragung des diplomatischen Bruchs auf das Geldwesen würde den Wiederanschluß in beklagenswerter Weise erschweren. Ich will mit durchgreifenden Mitteln die Währung sanieren. Verlasse die Wege der systemlosen Bargeldwirtschaft, gehe zur absoluten Währung über und bitte um Bekanntgabe Ihrer Stellungnahme.«

 

Den Präsidenten des Zentralwirtschaftsamtes interessieren die politischen Machtverhältnisse nicht, er weiß nicht einmal, daß in Bamberg sich eine Gegenregierung gebildet hat, er sieht weder die Konflikte im Zentralrat noch im Lande, den Kommunisten will er einen Landkreis in Bayern überlassen, dort sollen sie versuchen, mit seiner finanziellen Hilfe den Kommunismus zu verwirklichen, er telegraphiert an alle, ihn zu unterstützen, er läßt sogar Walther Rathenau nach München kommen, der nach einstündiger Unterredung wieder abreist, er ist drauf und dran, die Vollsozialisierung durchzuführen.

 

Die Rechtssozialisten treiben ein doppeltes Spiel, ihre Münchener Vertrauensleute paktieren mit der Gegenregierung in Bamberg.

 

Am 9. April abends stürmt in mein Zimmer einer unserer Sektionsführer.

»Die Kommunistische Partei hat in den Betrieben eigene revolutionäre Obleute bestimmt und sie zu einer Versammlung im Mattäserkeller einberufen. Ihr sollt heute nacht gestürzt werden.«

Ich schüttle ungläubig den Kopf. Hat die Kommunistische Partei nicht vor wenigen Tagen die Schaffung der Räterepublik abgelehnt, hat sie nicht, und mit Recht, ihren frühen Zusammenbruch, die unglückseligen Folgen für die Arbeiterschaft prophezeit, welche neuen politischen Ereignisse bestimmen sie, die Macht zu erobern? Die Lage ist die gleiche wie vor einigen Tagen, eher aussichtsloser. Nur wollte damals die Kommunistische Partei nicht als Minderheit in einer Regierung vertreten sein, sie forderte, obgleich sie die Arbeiterschaft nicht führte, die Führung der Regierung, das Diktat ihres politischen Willens, diesen Machtanspruch hoffte sie jetzt durchzusetzen.

 

Wie ich in den Mattäserkeller eintrete, spricht Leviné. Die Räterepublik sei eine Scheinräterepublik, die Regierung sei unfähig, man müsse sie stürzen, anstelle des Zentralrats einen neuen Rat wählen, der die Macht übernehmen werde.

Die Versammlung stimmt Leviné zu.

Ich melde mich zum Wort, der Vorsitzende will es mir nicht geben, ich wende mich an die Versammlung, sie fordert, daß man mich sprechen lasse. Der Zentralrat, der abgesetzt werden soll, wurde vom Kongreß der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte Bayerns gewählt, die Delegierten des Landes sind darin vertreten, die Regierung stützt sich auf den Bauernbund, auf weite Kreise der Bauernschaft.

»Wenn ihr heute eure politische Haltung revidiert habt«, rufe ich den Kommunisten zu, »und glaubt, daß nur die unfähige Regierung an der Verfahrenheit schuld sei, liegt es an euch, durch eure Mitarbeit die Revolution zu retten. Wenn ihr uns stürzt, eine neue Regierung bildet, und die Bauern nicht mittun, was wollt ihr beginnen, wie wollt ihr München ernähren?«

»Wir werden es wie in Rußland halten«, antwortet Leviné, »wir werden den Klassenkampf aufs Dorf tragen, wir werden durch Strafexpeditionen die Bauern zwingen, Korn und Milch zu liefern.«

»Diese Strafexpeditionen erzielten nicht einmal in Rußland Erfolge, in Bayern würde solches Beginnen zu völligem Fiasko führen. In Bayern könnt ihr euch nicht auf die Dorfarmut stützen, selbst die niederbayerischen Gütler sind keine russischen Muschiks, der bayerische ist nicht der russische Bauer, er ist bewaffnet, er wird sich wehren, wollt ihr auf die Dörfer ziehen und um jeden Liter Milch eine Schlacht liefern?«

Die Versammlung stimmt mir zu.

Wieder spricht ein Kommunist, wieder lassen sich die Obleute umstimmen. Der Sekretär der Kommunistischen Partei soll ins Wittelsbacher Palais gehen, er soll die Regierung verständigen – daß sie gestürzt sei.

Die Versammlung wählt eine neue Regierung, ich kenne, außer den kommunistischen Führern, keins der neuen Mitglieder. Einige werden darum berufen, weil sie das sozialdemokratische Parteibuch haben, denn jetzt ist rühmenswerte Tugend, was bei uns Verbrechen war, die Mitarbeit von Sozialdemokraten. Ob diese Männer fähig oder unfähig sind, ob sie Einfluß in ihrer Partei haben, ist gleichgültig.

Die Versammlung beschließt, in Permanenz zu tagen, sie billigt ein Manifest, das die Arbeiterschaft Münchens zum Generalstreik aufruft und die Entwaffnung der Münchener Regimenter und der Münchener Polizei fordert.

Die neuernannte Regierung verläßt den Saal. Ich muß bleiben, ich bin verhaftet.

Kuriere kommen und gehen, Komitees organisieren sich, Vollmachten werden geschrieben und gestempelt, den Stempel des neuen Rats hatte man vorsorglich schon mitgebracht.

An den Tischen sitzen die Menschen, schläfrige Kellner bringen Bier und Wurst. Leiser werden die Stimmen, müder die Gesten, die Luft hängt schwer und rauchig über den Köpfen.

Um zwei Uhr nachts tost von draußen Lärm, alle Türen knallen auf, Soldaten der republikanischen Schutztruppe stürmen mit erhobenen Revolvern in den Saal. Der Führer der Truppe bahnt sich durch die Menge einen Weg und springt auf mich zu, ich weiche zurück, er schreit mich an: »Wir kommen dich befreien!«

Die Menge weiß nicht, ob der Überfall ihr gilt oder mir. Da dreht sich der Truppenführer mit schußbereiten Revolvern zur Menge:

»Hände hoch! Verlaßt sofort den Saal! Nach dreimaligem Trommelwirbel wird geschossen!«

Schon dröhnt der erste dumpfe Trommelwirbel, die Menge ist von Soldaten zerniert, hundert Gewehrläufe richten sich drohend auf den Saal, einige Arbeiter eilen zu den Fenstern, öffnen sie und springen hinaus, die meisten aber bleiben.

»Schießt, wenn ihr die Courage habt!«

Ich packe den Führer.

»Sind Sie wahnsinnig? Widerrufen Sie sofort den Befehl!«

»Nein.«

»Dann werde ich es tun.«

Zitternd vor Wut hält mir der Soldat den Revolver vor die Nase, schon spreche ich zur Versammlung:

»Niemand wird auf euch schießen.«

Die Soldaten ziehen ab, ich begleite sie zur Stadtkommandantur.

»Die Truppen wissen«, sagt mir der Stadtkommandant, »daß man sie entwaffnen will, alle Kasernen sind alarmiert, die Soldaten haben sich verschanzt, beim ersten Versuch der Arbeiter, die Kasernen zu erstürmen, wird scharf geschossen, München wird heute das furchtbarste Blutbad erleben.«

Als ich die Stadtkommandantur verlasse, ist es sechs Uhr, ich sehe die ersten Trambahnen, die Straßenbahner sind der Streikparole nicht gefolgt.

Ich fahre zu Maffei und Krupp und spreche in Betriebsversammlungen, die Arbeiter lehnen den Marsch auf die Kasernen ab. Auch die anderen Fabriken folgen nicht der kommunistischen Parole.

Die neue Regierung löst sich auf, einige Stunden später erinnert sich niemand mehr an sie, nicht einmal die Kommunistische Partei.

In München bekämpfen sich die Revolutionäre, in Nordbayern sammelt sich der Gegner. Der Rechtssozialist Schneppenhorst, der vor einer Woche noch seinen Kopf für die Verteidigung der Räterepublik verpfändete, formiert Truppen gegen uns.

Die inneren Kämpfe in München müssen beendet werden. Der Zentralrat fordert die Kommunisten noch einmal auf, jetzt, da die Räterepublik bedroht ist, die Revolution zu verteidigen. Die Kommunistische Partei entsendet Delegierte in den Zentralrat – zu spät.

 

Die Räterepublik läßt sich nicht halten, die Unzulänglichkeit der Führer, der Widerstand der Kommunistischen Partei, der Abfall der Rechtssozialisten, die Desorganisation der Verwaltung, die zunehmende Knappheit an Lebensmitteln, die Verwirrung bei den Soldaten, alle diese Umstände müssen den Sturz herbeiführen und der sich organisierenden Konterrevolution Kraft und Elan geben.

In meiner politischen Unerfahrenheit wage ich nicht, der Arbeiterschaft die Situation schonungslos darzustellen.

Nichts belastet den politisch Handelnden schuldvoller als Verschweigen, er muß die Wahrheit sagen, sei sie noch so drückend, nur die Wahrheit steigert die Kraft, den Willen, die Vernunft.

Diese Räterepublik war ein Fehler, Fehler muß man eingestehen und ausmerzen. Schon verhandeln Soldatenräte und Rechtssozialisten auf eigene Faust mit der Gegenregierung, wir dürfen keine Zeit verlieren, die Konterrevolution bedroht uns in den eigenen Reihen.

 

Am Sonnabend, am 12. April, klingelt das Telephon.

»Ist Toller am Telephon?« fragt eine Stimme.

»Ja. Wer spricht?«

»Das ist gleichgültig, ich will Sie warnen, ein Putsch gegen die Räterepublik bereitet sich vor.«

Knacken im Telephon. Auf meine Rufe antwortet niemand. Unsere Lage ist zu bedrohlich, als daß ich diese telephonische Warnung überhören dürfte. Ich alarmiere nachts die Belegschaften der großen Fabriken.

Aus einem vagen Gefühl gehe ich nicht nach Haus, sondern schlafe in der Wohnung eines Freundes.

Morgens weckt mich seine Stimme, er steht am Telephon, er gibt mir ein Zeichen, er wiederholt die Worte, die ihm ein Bekannter, der Rechtsanwalt Kaufmann, sagt:

»Putsch gegen die Räterepublik geglückt ... Truppen der Regierung Hoffmann haben den Bahnhof eingenommen ... alle Mitglieder des Zentralrats sind verhaftet ... Mühsam ... Hagemeister ... Wadler ... nur Toller und Leviné werden noch gesucht, wir sind ihnen schon auf der Spur.«

Mein Freund hängt den Hörer ein.

Da schrillt die Türklingel.

Mein Freund erschrickt und sieht mich an.

Sie haben mich gefunden, denke ich und suche einen Weg zu entkommen.

»Zur Flucht ist es zu spät«, sagt mein Freund.

Wieder schrillt die Klingel.

»Hinter dem Bücherschrank ist eine kleine Kammer, laß uns rasch den Schrank fortrücken.«

Wir tun's, ich verberge mich in der Kammer, mein Freund rückt den Schrank vor die Tür.

Nach einer Weile befreit er mich aus meinem Versteck. »Du hast Glück«, sagt er, »zwar ist ein Leutnant da, aber der kommt gerade aus der Türkei und will nichts mehr von der Monarchie wissen, seit Wilhelm nach Holland geflohen ist. Außerdem sucht er keine Sozialisten, sondern eine Frau, und die linke und die rechte Politik sind ihm gleich verhaßt. Wenigstens bringt er Neuigkeiten.«

Die Regierung Hoffmann, erzählt der Offizier, habe mit Hilfe einiger Münchener Sozialdemokraten die republikanische Schutztruppe gewonnen, jedem Mann seien 300 Mark versprochen, die Soldaten hätten nachts den Bahnhof und die Regierungsgebäude besetzt, sie beherrschten die Stadt, die Räterepublik habe ein unrühmliches Ende gefunden. –

Aber die Arbeiter, zu schwach, die Revolution aufzubauen, wollen den Weißen nicht kampflos die Stadt lassen, sie versammeln sich auf der Theresienwiese, die revolutionären Truppen schließen sich ihnen an, die Kämpfe beginnen.

Vor unserem Haus patrouillieren Regierungssoldaten, ich bitte den Offizier, mir seine Uniform zu leihen.

»Mit Vergnügen«, antwortet er, »ich schenke sie Ihnen mit sämtlichen Orden und Ehrenzeichen. Ich verlange nur einen Gegendienst. Wenn Sie die Macht wiedergewinnen, schenken Sie mir ein Flugzeug, ich will zu den Eskimos fliegen und eine Eskimofrau heiraten und das verdammte Europa vergessen.«

»Ein bißchen lang, der Weg.«

»Es lohnt sich«, sagt er, »die europäischen Frauen sind verhinderte Rekruten, ich will eine Frau heiraten und keinen künftigen Unteroffizier.«

 

Ich ziehe mir die Leutnantsuniform an und gehe auf die Straße.

Ich treffe weiße Soldaten, sie grüßen den Leutnant. Ein Arbeiter, das Gewehr geschultert, begegnet mir. »Wo wird gekämpft, Genosse?«

Der Arbeiter stutzt, sieht mich an, sieht meine Leutnantsuniform, sein Gesicht verzerrt sich:

»Mei Ruah!«

»Wo wird gekämpft, Genosse?«

Der Arbeiter packt das Gewehr, legt an und läßt es wieder sinken:

»Mach, daß du weiterkommst!«

Ich habe vergessen, daß ich Leutnantsuniform trage, ich laufe rasch weiter.

Inzwischen haben die Arbeiter und Soldaten den Bahnhof im Sturm genommen, die weißen Truppen sind auf bereitstehenden Zügen davongedampft.

Nur im Luitpoldgymnasium hält sich noch eine Kompanie der republikanischen Schutztruppen, die zur Regierung Hoffmann übergegangen war, mit den Kameraden stürme ich das Haus, die Truppen ergeben sich.

In den Stunden, in denen ich an den Kämpfen teilnahm, versammelten sich die Betriebsräte, sie glaubten, alle Mitglieder des alten Zentralrats seien verhaftet, und wählten einen neuen Zentralrat, die Kommunisten beherrschen ihn.

Ich gehe zur Stadtkommandantur, wo der neue Rat tagt. Bevor ich etwas sagen kann, werde ich verhaftet. »Jetzt haben wir den König von Südbayern«, ruft Levien. Mögen die Arbeitermassen einig sein, die Parteiführer bekämpfen sich weiter. Man glaubt, daß ich als Vorsitzender des alten Zentralrats dem neuen gefährlich werden könne, erst nach wortreichem Hin und Her werde ich entlassen.

Abends, in meiner Pension, kreischt das dicke Hausmädchen auf, sie hält mich für ein Gespenst, sie befühlt meinen Arm, sie überzeugt sich, daß er aus Fleisch und Blut ist.

»Wir hielten Sie für tot. Mittags wurde unten vorm Haus ein Auto angehalten, in dem ein junger Mann saß. ›Das ist Toller‹, schrien etliche, sie stürzten sich auf ihn, verprügelten ihn und schleppten den Bewußtlosen fort. Bis vor ein paar Stunden waren weiße Soldaten hier in der Pension. Als die Roten siegten, sind sie auf und davon, mit Ihren Krawatten, nicht eine haben sie dagelassen.«

Die »Scheinräterepublik«, wie die Kommunisten sie nannten, ist zugrunde gegangen, die »wahre« Räterepublik beginnt ihr Werk.

Kaum eine Woche ist vergangen, seit die Kommunistische Partei erklärt hat, diese Räterepublik könne nicht lebensfähig sein, die inneren und äußeren Bedingungen fehlten, die Arbeiterschaft sei nicht reif, die Lage im übrigen Deutschland denkbar ungünstig, die Übernahme der Regierung nur ein Dienst für die Reaktion. Der Sieg der Arbeiter wirft alle Bedenken der Kommunisten über den Haufen, der bewaffnete Kampf habe die Einheit des Proletariats geschaffen, im Gegensatz zur Scheinräterepublik sei diese Räterepublik das Werk der Massen, die Kommunistische Partei als revolutionäre Kampfpartei gehöre in diesem Augenblick an die Spitze der Kämpfe, vielleicht lasse sich die Räterepublik so lange halten, bis die kommunistische Revolution auch in Österreich gesiegt habe und sich ein revolutionärer Block Österreich-Ungarn-Bayern bilden könne.

Kommissionen werden gewählt, sie sollen die rote Armee neu organisieren, die Gegenrevolution bekämpfen, das Finanz- und Wirtschaftswesen aufbauen, die Lebensmittelversorgung regeln. Die Polizei wird aufgelöst, die Rote Garde übernimmt den Sicherheitsdienst der Stadt. Der Oberbefehl über die Rote Garde wird dem Kommunisten Eglhofer übertragen. Eglhofer war einer der Führer der Kieler Matrosenrevolte im Herbst 1918, man ließ die Matrosen antreten, jeder zehnte, auch Eglhofer, wurde zum Tode verurteilt, später wurde er zu lebenslänglichem Zuchthaus begnadigt, die Novemberrevolution hatte ihn befreit. Organisatorische Fähigkeiten fehlten ihm, so war er auf einen Stab von Mitarbeitern angewiesen, die er wahllos heranzog.

Die erste populäre Handlung der Regierung ist die Beschlagnahme der gehamsterten Lebensmittel, es bleibt bei der Beschlagnahme. Die bürgerlichen Zeitungen dürfen nicht mehr erscheinen, zum Regierungsorgan wird das Mitteilungsblatt des Vollzugsrats der Betriebs- und Soldatenräte bestimmt.

Die Betriebe arbeiten nicht, der Generalstreik mit unbestimmter Dauer ist verkündet.

In Bamberg hat die Regierung Hoffmann das bayerische Volk zu den Waffen gerufen und von der Reichsregierung in Weimar militärische Hilfe erbeten. Zwei Armeekorps rücken in Nordbayern ein. Die Berliner Zeitungen bringen Schreckensnachrichten über München, der Bahnhof, so heißt es, sei in Trümmer geschossen, in der Ludwigstraße würden die Bürger zusammengetrieben und bildeten lebendige Ziele für die Schießübungen der Roten Garde, Gustav Landauer, der der Räteregierung gar nicht mehr angehört, habe den Kommunismus der Frauen eingeführt.

In München ist es ruhig. Das Revolutionstribunal schreckt mehr durch seine Ankündigung als durch Taten, niemand wird zum Tode verurteilt, niemand erschossen, niemand beraubt oder mißhandelt.

 

Am 15. April abends spricht Leviné in einer Versammlung der Betriebsräte. Mitten in seine Rede tönen Sturmglocken, niemand weiß, wer den Befehl gegeben hat, keiner kennt die Ursachen, Gerüchte schwirren, in der Stadt sei von Bürgern ein Putsch angezettelt.

 

Sturmglocken. Nicht das dumpfe Dröhnen der großen Glocken, an die der Klöppel mit gedämpfter Wucht schlägt. Hundert Armesünderglöckchen wimmern in klagender Eintönigkeit, gehetzt, kraftlos. Aber diese wimmernde Eintönigkeit, unheimlich und drohend, zerrt an den Nerven, erregt das Blut, jagt das Herz.

Vor dem Hofbräuhaus entsichern die Wachen ihre Gewehre.

»Wo wird geläutet?« frage ich.

»Auf den Türmen der Frauenkirche.«

 

Vor einem Jahr, als man mich beim Streik verhaftete, weigerte ich mich, die Uniform auszuziehen und Waffen zu tragen. Ich haßte die Gewalt und hatte mir geschworen, Gewalt eher zu leiden als zu tun. Durfte ich jetzt, da die Revolution angegriffen war, diesen Schwur brechen? Ich mußte es tun. Die Arbeiter hatten mir Vertrauen geschenkt, hatten mir Führung und Verantwortung übertragen. Täuschte ich nicht ihr Vertrauen, wenn ich mich jetzt weigerte, sie zu verteidigen, oder gar sie aufrief, der Gewalt zu entsagen? Ich hätte die Möglichkeit blutiger Folgen vorher bedenken müssen und kein Amt annehmen dürfen.

Wer heute auf der Ebene der Politik, im Miteinander ökonomischer und menschlicher Interessen, kämpfen will, muß klar wissen, daß Gesetz und Folgen seines Kampfes von anderen Mächten bestimmt werden als seinen guten Absichten, daß ihm oft Art der Wehr und Gegenwehr aufgezwungen werden, die er als tragisch empfinden muß, an denen er, im tiefen Sinn des Wortes, verbluten kann.

 

»Ihr seid sicher, daß die Weißen Sturm geläutet haben?«

»Ja, sie haben schon den Bahnhof besetzt.«

»Wer kommt freiwillig mit?«

Sieben Arbeiter springen vor.

Wir gehen durch eine schmale stille Gasse, als wir uns der Theatinerstraße nähern, knattern Maschinengewehre vom Marienplatz.

»Hinlegen!«

Wir kriechen vorwärts. Durch die Theatinerstraße jagt ein Auto.

»Halt!« rufe ich und schieße in die Luft.

Springend stoppt das Auto. Ein beleibter Herr entsteigt ihm, die Hände voller Zigarettenschachteln.

»Nicht schießen!« schreit er. »Ich habe österreichische Zigaretten.«

Die Gesichter meiner Kameraden strahlen, zehn Hände strecken sich nach den Zigaretten.

»Wer sind Sie?«

»Entschuldigen Sie nur, ich bin der österreichische Konsul.«

»Sie kommen vom Marienplatz?«

»Ja.«

»Wer hat geschossen?«

»Ich weiß nicht.«

»Sind Sie weißen Truppen begegnet?«

»Ich habe nichts gesehen. Bitte, nehmen Sie doch die Zigaretten, es sind echte österreichische.«

»Sie sollen uns sagen, was Sie wissen.«

»Ich weiß gar nichts. Ich habe nur Angst. Wollen Sie nicht doch die Zigaretten nehmen?«

»Hurra«, schreien meine Leute, »Österreicher!«

»Bundesgenossen«, sagt der Konsul.

»Gutes Kraut«, sagen meine Leute.

»Darf ich jetzt nach Hause fahren?«

»Jetzt schon!« ruft einer und steckt sich eine Memphis an.

 

Wie Indianer pirschen wir zur Frauenkirche, finster drücken die Zwiebeltürme auf das Kirchenschiff. Wir klopfen am Haus des Küsters. Eine Frau öffnet das Fenster, schreit: »Ach Jessas!« und schlägt den Laden zu. Wir trommeln gegen die Tür.

Die Haustür wird geöffnet, im Hemde die Küstersfrau steht zitternd vor uns.

»Wo ist der Küster?«

Hinter dem Rücken der Frau duckt sich ein altes Männchen, mit einem Hemd bekleidet.

»Erbarmens Eahna und erschießens ihm nicht, er hat eh den Ischias!«

»Niemand will Ihren Mann erschießen, auf wessen Befehl haben Sie Sturm geläutet?«

»Ich hab net gläut.«

»Aber hier wurde doch eben Sturm geläutet?«

»Na, na, ich schwörs, erschießens mi bloß net!«

Ich beruhige den alten Mann.

»Können Sie mir sagen, welche Kirche geläutet hat?«

»Na, net wer ichs sagen können. Ich kenn alle Glocken von Müncha ausanand, besser wie meine eignen Kinder. Wenn Westwind is, nacha tönt die Glocke von St. Peter, als wia wenn a Madl lacht, und von der Ludwigskirchen, als wia wenn a Jungfrau 's erste Kind kriegt. Und wenn sich der Wind draht, nacha ...«

»So sagen Sie uns doch endlich, welche Kirche jetzt Sturm läutet.«

»Jetza, i moin halt, die Paulskirchen. Aber bei dem Wind, in dera Nacht, könnt i net drauf schwörn.«

»Gehen Sie jetzt schlafen und erkälten Sie sich nicht.«

»Wo er eh scho den Ischias hat«, kreischt die Frau und schlägt die Haustür zu.

 

Wir ziehen weiter. Der Marienplatz ist menschenleer. Durch die Kaufingerstraße marschieren wir zum Bahnhof. Als letzter stampft ein hinkender Invalide, in der einen Hand den Krückstock, in der andern das Gewehr, mit seinem Stock hämmert er den Takt unseres Marsches.

Im Hauptbahnhof lagern die Unsern.

»Wo sind die Weißen?«

»Sie haben die Paulskirche besetzt.«

An einem Pfeiler steht ein verlassenes Maschinengewehr, wir nehmen es und schleichen zur Paulskirche. Fünfzig Schritt vor der Kirche stellen wir das Maschinengewehr auf. Vor Aufregung schießt der Mann am Maschinengewehr auf den Turm, schwer rollt das Echo zurück.

»Habts es gehört?« sagt der Schütze. »Dös hat gesessen.«

Ringsum die Fenster öffnen sich. Eine Stimme brummt in tiefem Baß:

»Des is ja noch schöner, jetzt schiassens gar mitten in da Nacht.«

 

Im Sturmschritt laufen wir zur Kirche, die der Feind besetzt hält. Der Feind meldet sich nicht. Friedlich schweigt die Glocke.

Wieder klingeln wir den Küster heraus.

»Wer hat Ihnen den Befehl zum Sturmläuten gegeben?« »Des wenn i wüßt!«

Ein Arbeiter packt den Küster.

»Du Hund! Du hast's mit die Weißen!«

»Was, mit die Weißen? Woher soll i jeden damischen Spartakisten kenna? Die Sektion Sendling hat den Befehl zum Läuten gegeben.«

 

Im Sektionslokal der Kommunistischen Partei Sendung sagt man uns, der Befehl sei von der Stadtkommandantur gekommen, die Weißen marschierten gegen München, die Arbeiter zögen ihnen entgegen.

Auf der Straße halten wir ein Lastauto an. In einem Gasthaus an der Nymphenburger Straße machen wir halt.

»Wo sind die Weißen?«

Niemand weiß es.

In der Schenke sitzen drei Soldaten vom Schweren Reiterregiment, trinken ihre Maß und schimpfen auf das schlechte Bier. Die Pferde sind an den Bäumen festgebunden. Ein Soldat gibt mir sein Pferd, die beiden andern begleiten mich.

Wir reiten in der mondhellen gestirnten Aprilnacht durch das friedliche Land, hören wir Stimmen, reiten wir ins Dunkel des schützenden Waldes, wird auf Leviné oder Toller geschimpft, sind wir beruhigt, es sind Freunde.

 

Wir nähern uns dem Bahnwärterhaus vor Allach, ein Mann läuft eilends ins Haus, wir springen vom Pferd und ihm nach, der Mann steht am Telephon, den Hörer in der Hand. »Mit wem telephonieren Sie?«

Keine Antwort. Ich nehme den Hörer.

»Eine Patrouille?« fragt eine Stimme am andern Ende des Drahts.

»Ein Regiment«, antworte ich.

»Ein Regiment?«

»Eine Division.«

Pause.

»Wer ist da?« fragt die Stimme. »Ich bin's.«

Drüben wird der Hörer eingehängt.

»Sie haben mit den Weißen telephoniert«, schreie ich den Bahnwärter an. Der schweigt.

Wir haben keine Zeit, wir müssen weiter. Bevor wir losreiten, zerschneiden wir die Telephondrähte.

 

Bei Karlsfeld erreichen wir Münchener Arbeiter und Soldaten, die spontan, ohne militärische Leitung, die weißen Truppen, die München vom Norden überfallen wollten, zur Umkehr gezwungen und vor sich hergetrieben haben. Nun, da sie den Angriff abgewehrt und die Fühlung mit den weißen Truppen verloren haben, zerfällt die einheitliche Wucht der vorstürmenden Massen, es bilden sich ratlose Gruppen.

 

Wir reiten auf der Chaussee in der Richtung Dachau weiter. Plötzlich pfeifen Kugeln, mein Pferd scheut.

»Zurück!« rufe ich.

Wie ich mich umwende, sehe ich das Pferd des einen Kavalleristen sich aufbäumen, der Reiter, getroffen, stürzt zu Boden. Wir haben den Toten erst am nächsten Morgen bergen können. In seiner Tasche finden wir einen Brief:

»Liebe Mutter, wie geht es Dir? Mir geht es gut, ich sitze hier im Gasthaus und warte auf die Weißen. Sie greifen München an. Ich weiß nicht, was die nächsten Stunden bringen werden. Ich sage mir, lieber ein Tod in Ehren.«

 

Im Karlsfelder Gasthaus sind die Vertrauensleute der Münchener Arbeiter versammelt.

»Der Toller soll die Führung übernehmen!« ruft einer.

»Von einem Geschütz?« antworte ich. Ich denke daran, daß ich im Krieg Artillerieunteroffizier war. »Na, vom Heer«, ruft ein alter weißhaariger Krupparbeiter.

Ich sträube mich und versuche zu erklären, daß ein Heerführer andere Fähigkeiten braucht.

»Oana muaß sein Kohlrabi herhalten, sonst gibts an Saustall, und wennst nix vastehst, wirst es lerna, die Hauptsach is, dich kennen wir.«

Ich weiß nichts zu erwidern, welche Gründe konnten auch dieses törichte, rührende Vertrauen von Männern, die eben eine aktive, militärisch geführte Truppe besiegt hatten, erschüttern?

So werde ich Heerführer.

In den Reihen der Arbeiter finde ich einige junge Offiziere, die in der alten kaiserlichen Armee gedient haben. Ein »Generalstab« wird gebildet, die Arbeiter werden in Bataillone gegliedert, Stellungen vor Dachau bezogen, der Feind hält Dachau besetzt.

»Ein Generalstab braucht Karten«, sagt der Chef der Infanterie, ein neunzehnjähriger Student.

»Recht hat er«, sagt ein Bierbrauer, der im Krieg Gefreiter war.

 

In den frühen Morgenstunden fahre ich mit dem Chef der Infanterie zum Kriegsministerium nach München. Auch die reaktionären Offiziere im Kriegsministerium wußten, daß ein Generalstab Karten braucht, sie haben vorsorglich die Geländekarten von Dachau beiseite geschafft.

 

Wir fahren nach Karlsfeld zurück. Aus München sind Verstärkungen eingetroffen, fünfhundert Arbeiter aus der Fabrik von Maffei, bewaffnet und militärisch gegliedert.

Vom Kriegskommissar Eglhofer wird mir ein Befehl überbracht.

»Dachau ist sofort mit Artillerie zu bombardieren und zu stürmen.«

Ich zögere, diesen Befehl zu befolgen. Die Dachauer Bauern stehen auf unserer Seite, wir müssen unnütze Zerstörung vermeiden, unsere Kräfte organisieren.

Wir stellen den Weißen bis zum Nachmittag dieses Ultimatum:

Zurückführung der weißen Truppen bis hinter die Donaulinie, Freilassung der am 13. April entführten Mitglieder der Zentralrats, Aufhebung der Hungerblockade gegen München.

Denn seit dem zweiten Tag der Räterepublik ist München durch die Bamberger Regierung blockiert. Als die Engländer im Krieg über das deutsche Volk die Hungerblockade verhängten, war man empört, jetzt versucht die Bamberger Regierung, das eigene Volk auszuhungern.

Die Weißen schicken als Parlamentäre einen Oberleutnant und einen Soldatenrat. Wir verhandeln nur mit dem Soldatenrat. »Kamerad, du kämpfst gegen Kameraden, du gehorchst denen, die dich bedrückt haben, unter denen du gelitten, gegen die du dich im November aufgelehnt hast.«

»Und ihr?« antwortet er. »Was habt ihr aus München gemacht? Ihr mordet und plündert.«

»Wer sagt das?«

»Unsere Zeitungen schreiben so.«

»Willst du dich überzeugen? Du darfst nach München fahren, niemand wird dir etwas tun, du kannst dich umschauen und sehen, daß du belogen wirst.«

Der Offizier, wütend und ungeduldig, fährt den Soldatenrat an:

»Keine Antwort! Kein Wort weiter!«

»Ach, ihr seid schon wieder so weit!«

Der Offizier steht auf, drängt hinaus, der Soldatenrat flüstert mir zu:

»Wir schießen nicht auf euch.«

Von zweien unserer Leute begleitet, fahren die Parlamentäre nach Dachau zurück. Nach zwei Stunden hören wir, daß die Bamberger Regierung unsere Bedingungen angenommen habe, nur in einem Punkt gäbe sie nicht nach, die weißen Truppen würden sich bis Pfaffenhofen zurückziehen, die Regierung wolle den Stützpunkt diesseits der Donau nicht aufgeben.

 

Nachmittags um vier Uhr krachen Geschütze. Haben die Weißen die Vereinbarung gebrochen?

Unsere eigenen Geschütze hatten geschossen, auf Befehl eines unbekannten Soldatenrats.

Einer unserer Parlamentäre kommt von Dachau zurück, der Kommandant habe ihm gedroht, die beiden anderen Parlamentäre an die Wand zu stellen, sie verdienten kein anderes Schicksal, da die rote Armee durch den Bruch des Waffenstillstands ehrlos gehandelt hätte.

Ich trage als Führer der Truppen die Verantwortung für das Leben unserer Leute. Ich entschließe mich, im Auto nach Dachau zu fahren und selbst den Vorfall zu klären.

 

Das Auto erreicht unsere vorderste Linie, ich sehe keine Soldaten. Wir fahren weiter, erreichen die Barrikaden, die die Weißen auf der Chaussee nach Dachau errichtet haben. Sie sind zerstört. Plötzlich wird das Auto von Maschinengewehr- und Infanteriefeuer bestrichen.

»Weiterfahren!« rufe ich dem Chauffeur zu.

Ich sehe unsere Truppen in Schützenlinien vormarschieren.

»Wer hat den Befehl gegeben?« frage ich einen Zugführer.

»Ein Kurier.«

Auf den Gedanken, daß der Vormarsch das Werk eines Provokateurs war, komme ich nicht, erst später erfahre ich, daß der Soldatenrat Wimmer, der bei der Einnahme Münchens mit den weißen Truppen einzog, eigenmächtig, um Verwirrung zu schaffen, Kanonade und Angriff befahl.

Was soll ich tun? Mitten im Gefecht den Rückzugsbefehl geben ist nicht möglich, jetzt heißt es, die vormarschierenden Truppen unterstützen.

Ich fahre nach Karlsfeld zurück, schicke Reserven den Kämpfenden nach und schließe mich einem Trupp an. Das Feuer von drüben verstärkt sich.

Meine Gruppe zaudert. Sie verlangt Artillerie zur Unterstützung. Ich weigere mich, den Befehl zu erteilen, springe mit ein paar Freiwilligen vor, die andern folgen, wir erreichen unsere Infanterie, wir stürmen Dachau.

 

Als das Gefecht einsetzt, stürzen sich die Arbeiter und Arbeiterinnen der Dachauer Munitionsfabrik auf die weißen Soldaten, am entschlossensten sind die Frauen. Sie entwaffnen die Truppen, treiben sie vor sich her und prügeln sie aus dem Dorf hinaus. Der Kommandant der Weißen rettet sich auf einer Lokomotive. Unsere Parlamentäre, deren Erschießung schon befohlen war, retten sich im Durcheinander der Flucht.

Fünf weiße Offiziere und sechsunddreißig Soldaten werden gefangen. Unsere Truppen besetzen die Stadt.

Ich, der »Sieger von Dachau«? Die Arbeiter und Soldaten der Räterepublik haben den Sieg erfochten, nicht ihre Führer. Ohne Unterschied der Partei eilten sie herbei, die Revolution zu schützen, auch sozialdemokratische, auch parteilose Arbeiter, sie warteten auf keine Parole, die einheitliche Front der Werktätigen formierte sich in der Tat.

 

Die Weißen ziehen sich bis nach Pfaffenhofen zurück. Eglhofer sendet einen Kurier, die gefangenen Offiziere sollten sofort vor Standgerichte gestellt und erschossen werden. Ich zerreiße den Befehl, Großmut gegenüber dem besiegten Gegner ist die Tugend der Revolution, glaube ich.

Die gefangenen Soldaten dürfen frei umhergehen, sie werden verpflegt wie unsere Truppen, es sind irregeleitete Brüder, sie werden die Gerechtigkeit unserer Sache erkennen, sie werden sich überzeugen, daß sie belogen wurden, sie dürfen frei sich entscheiden, ob sie bei uns bleiben oder in die Heimat zurückkehren wollen.

Mögen die Gesetze des Bürgerkriegs noch so brutal sein, ich weiß, die Konterrevolution hat in Berlin rote Gefangene ohne Schonung gemordet, wir kämpfen für eine gerechtere Welt, wir fordern Menschlichkeit, wir müssen menschlich sein.

Die gefangenen Soldaten, die in die Heimat zurückkehrten, kämpften einige Tage später wieder gegen uns.

 

Wir beziehen in Dachau Quartiere. Im Stab arbeiten frühere Offiziere der kaiserlichen Armee.

Autorität und blinder Gehorsam regierten das kaiserliche Heer, auf Freiwilligkeit und Einsicht soll die rote Armee sich gründen, wir dürfen den alten verhaßten Militarismus nicht übernehmen, der rote Soldat darf keine Maschine sein, er hat erkannt, daß er für seine Sache ficht, sein revolutionärer Wille wird die notwendige Ordnung schaffen.

Ach, der deutsche Arbeiter war zu lange an Gehorsam gewöhnt, er will gehorchen, Brutalität hält er für Stärke, autoritäre Herrengeste für Führertum, Ausschaltung eigener Verantwortlichkeit für Disziplin, vermißt er die gewohnten Ideale, glaubt er, das Chaos breche an.

Soldaten, die vier Jahre lang für die Sache der Monarchie sich blind geopfert, die den Schrecken des Krieges, Hunger und Not ertragen haben, werden, da sie für ihre eigene Sache kämpfen, nach wenigen Tagen unzufrieden, weil die rote Front nicht so gut organisiert ist wie die kaiserliche Kaserne.

Etwa zweitausend Mann haben Dachau gestürmt, nach drei Tagen sind tausend nach München zurückgekehrt. Wir sind gezwungen, die eigenmächtigen Urlauber aufzuhalten, wir müssen Regeln der alten militärischen Disziplin einführen, um die Truppenkadres nicht zu schwächen, wir müssen den Schankwirten verbieten, den Soldaten Alkohol zu verkaufen.

Der Instinkt für Freiheit und Freiwilligkeit ist verschüttet und gebrochen. Jahre wären nötig, um die Laster des Militarismus zu überwinden. Der alte Staat war stark durch das Untertanentum seiner Bürger, gezüchtet in Schulen, Kasernen, Vereinen, Zeitungen, die neue Gesellschaft kann nur durch freie Menschen aufgebaut werden, Untertanengesinnung untergräbt sie.

 

Durch den Krieg sind die Menschen verwahrlost, alle, Bürger und Arbeiter, besonders die Jungen.

Eines Abends wird die Tür meines Zimmers aufgerissen, Soldaten tragen auf einer Bahre ein junges Mädchen herein. In kurzen Stößen jappt der Atem, im verstörten Gesicht flackern weit aufgerissene, feuchtglänzende Augen, Bluse und Rock sind zerknüllt und zerfetzt.

Ein Soldat meldet:

»Aus der Fürsorge.«

»Aus der Fürsorge?«

»Ja, wir haben sie im Massenquartier gefunden.«

»In diesem Zustand?«

»Mehr als zwanzig Rotgardisten sind drübergegangen.«

»Tragt sie ins Lazarett, ich komme mit.«

Unterwegs lasse ich mir erzählen. Erst war's einer, der empfahl sie dem nächsten, da wartete der dritte, die andern folgten im sich entfesselnden abgründigen Rausch.

Das Schicksal dieses verwahrlosten Kindes ergreift mich. Hier sehe ich den Krieg, nackt und brutal, ein Stahlbad hat ihn Wilhelm II. genannt, die deutschen Professoren sagen von ihm, er wecke die moralischen und sittlichen Kräfte des Volkes, bitte, meine Herren, überzeugen Sie sich, aber sagen Sie nicht, die Geschichte beweise die Verworfenheit der Roten. Ihre Helden, wenn sie ehrlich sind, könnten Ihnen von tausend gleichen Episoden des »großen« Krieges berichten.

Auf dem Weg zum Lazarett begegnet mir ein Soldat mit einem zweiten Mädchen, das man gleichfalls in dem Massenquartier aufgetrieben hat. Ich will auch dieses Mädchen zum Arzt führen. Da es auf einer Bank sich ausruhen möchte, lasse ich einen Posten zurück. Als ich vom Lazarett zurückkomme, ist der Posten mit dem Mädchen verschwunden.

 

Die militärische Niederlage hat die Bamberger Regierung moralisch geschwächt. Wir dürfen den weißen Truppen keine Zeit lassen sich zu sammeln, wir sind stark genug, sie über die Donau zurückzudrängen. Die Lebensmittelversorgung in München stockt, wir können mit unserm Vormarsch die Hollerdau, ein landwirtschaftlich wichtiges Gebiet, besetzen, dessen Bauern uns freundlich gesinnt sind.

Der Vormarsch wird vom Münchener Generalstab verboten. Die Kommandanten der Dachauer Front sind Unabhängige, die Kommunisten trauen ihnen nicht.

Die weißen Truppen besetzen Augsburg, unsere Truppen sollen die Stadt zurückerobern. Den wichtigen Frontabschnitt bei Dachau zu räumen, halte ich für wahnwitzig, ich versuche, im Münchener Kriegsministerium den Generalstab davon zu überzeugen, Levien, der politische Kommissar, legt mir einen Plan vor, der mich an die Depeschen des Herrn Lipp erinnert. Die roten Truppen werden nach München zurückgenommen, ein Kordon von etwa hundertfünfzig Mann wird die Stadt ringsum bewachen, diese Wachen sind untereinander und mit dem Kriegsministerium telephonisch verbunden. Wenn eine Wache den Feind sichtet, unterrichtet sie das Kriegsministerium, das Kriegsministerium alarmiert die Arbeiter, vor den Toren Münchens wird die Entscheidungsschlacht ausgetragen.

Ausgeheckt ist dieser Plan von einem früheren Pionier namens Hofer. Nach dem Zusammenbruch wird bekannt, daß er als Spitzel im Dienst der weißen Generale arbeitete. Wir wundern uns nicht, daß dieser Mann dem Generalstab angehört, wie leicht ist es, mit den höchsten militärischen Ämtern betraut zu werden. Ein junger Kaufmann wollte nach Brasilien auswandern, er besucht im Kriegsministerium einen Bekannten, der fragt ihn, ob er im Krieg war, der Kaufmann sagt, er war Verpflegungsoffizier, eine halbe Stunde später ist ihm die Leitung der Artillerie übertragen. Die Nächte sind kalt, unsere Truppen nur dürftig bekleidet, wir brauchen tausend Mäntel, sie sind nicht zu beschaffen. Ich spreche im Vollzugsrat über die militärische Desorganisation in München, über die kindischen Pläne des Herrn Hofer, gerate mit Leviné in Konflikt und wende mich an die Betriebsräte.

Dazu hatte ich kein Recht, aber wichtiger als der »Dienstweg« war mir die Verteidigung der Revolution.

 

Am 16. April hatte Gustav Landauer an den Aktionsausschuß geschrieben:

»Ich habe mich um der Sache der Befreiung und des schönen Menschenlebens der Räterepublik weiter zur Verfügung gestellt ... Sie haben meine Dienste bisher nicht in Anspruch genommen. Inzwischen habe ich Sie am Werke gesehen, habe Ihre Aufklärung, Ihre Art, den Kampf zu führen, kennengelernt. Ich habe gesehen, wie im Gegensatz zu dem, was Sie ›Scheinräterepublik‹ nennen, Ihre Wirklichkeit aussieht. Ich verstehe unter dem Kampf, der Zustände schaffen will, die jedem Menschen gestatten, an den Gütern der Erde und der Kultur teilzunehmen, etwas anderes als Sie. Der Sozialismus, der sich verwirklicht, macht sofort alle schöpferischen Kräfte lebendig: in Ihrem Werk aber sehe ich, daß Sie auf wirtschaftlichem und geistigem Gebiete, ich beklage, es sehen zu müssen, sich nicht darauf verstehen. Es liegt mir fern, das schwere Werk der Verteidigung, das Sie führen, im geringsten zu stören. Aber ich beklage aufs schmerzlichste, daß es nur noch zum geringen Teil mein Werk, das Werk der Wärme und des Aufschwungs, der Kultur und der Wiedergeburt ist, das jetzt verbreitet wird.«

 

Die Folgen des zehntägigen Generalstreiks zeigen sich. Kohle fehlt, Geld fehlt, die Lebensmittel werden knapp. Bisher lieferten die Bauern täglich 150 000 Liter Milch nach München, jetzt nur noch 17 000 Liter. Ein Edikt der Regierung verbietet das Verarbeiten der Milch zu Butter und Käse und bezeichnet es als konterrevolutionäre Handlung.

Wie immer in der deutschen Revolution bleiben die großzügigen sozialistischen Wirtschaftspläne Papier. Die Unzufriedenheit der Arbeiter wächst, sie haben gehofft, die Revolution werde ihnen rasche Hilfe bringen, daß sie politische Machtträger wurden, genügt nicht, sie wollen die Besserung des Alltags verspüren.

Die Widersprüche innerhalb der Regierung bleiben nicht verborgen.

Der Finanzkommissar Männer, Finanzkommissar, weil er Bankbeamter mit roter Gesinnung war, weigert sich, die Anordnungen des politischen Kommissars, den man ihm beigegeben hat, durchzuführen. In den Kommissionen sitzen manche Männer von zweifelhaften Kenntnissen und zweifelhaftem Charakter. Polizeipräsidenten, Kommissare, Beamte wechseln, weil sie sich unfähig zeigen. Im Beginn jeder Revolution drängen sich unlautere Menschen in verantwortliche Stellen, erst wenn die Revolution sich festigt, findet sie die Kraft, sie auszumerzen.

Gerade der erfahrene Arbeiter scheute die Übernahme verantwortlicher Posten, vielleicht hatte er darum kein Vertrauen zu sich, weil die schwächlichen Führer solange kein Vertrauen zu ihm hatten. Immer war er bereit, Führung und Amt dem ersten Besten, dem ersten Schlechtesten zu übertragen, er hatte Mut, für die Revolution zu sterben, die Barrikade revolutionären Lebens fand ihn kleinmütig und furchtsam.

 

Entscheidenden politischen Einfluß gewinnen einige Russen, einzig darum, weil ihr Paß sie als Sowjetbürger ausweist. Das große Werk der russischen Revolution verleiht jedem dieser Männer magischen Glanz, erfahrene deutsche Kommunisten starren wie geblendet auf sie. Weil Lenin Russe ist, trauen sie ihnen dessen Fähigkeiten zu. Das Wort »In Rußland haben wir es anders gemacht« wirft jeden Beschluß um.

Den gleichen verhängnisvollen Einfluß haben einige Frauen, die ein paar Wochen in Sowjetrußland zu Besuch waren, sie stützen sich auf ihre touristischen Erfahrungen und glauben, weil sie die revolutionäre Wirklichkeit flüchtig sahen, nun damit die Eignung zu strategischen Leiterinnen aller künftigen Revolutionen erworben zu haben. Und Männer, die seit Jahren in der sozialistischen Bewegung arbeiten, beugen sich, ohne zu zögern, mit befremdlicher Freude, ihren Phrasen, ihren Allerweltsrezepten.

München ist von konterrevolutionären Truppen zerniert. Wir stützen uns längst nicht mehr auf Oberbayern, die bayerischen, württembergischen und preußischen Regimenter marschieren von allen Seiten gegen München. Vereinzelte Vorstöße der roten Armee können ihren Vormarsch nicht aufhalten.

Der Bamberger Regierung wird es anfangs nicht leicht, bayerische Freiwillige zum Marsch gegen München zu gewinnen. Die Arbeiter weigern sich, auf die Soldaten ist kein Verlaß, selbst die Bauern schließen sich nur spärlich den Freikorps an. Da setzt die Propaganda ein, Schauergeschichten über die Pläne der Münchener Regierung werden verbreitet, den Bauern wollte sie Haus und Vieh rauben, den Bürgern die Sparpfennige wegnehmen, die Familie zerstören, die Priester ermorden, die Klöster plündern. Die Wirkung solcher Propaganda steigert man durch das Versprechen hoher Kampfzulagen.

Die Regierung muß Hilfe vom Reich erbitten, als erste kommen die Württemberger, sie nehmen Lindau und Augsburg und stoßen vom Westen her gegen München vor. Bald sind die Generäle die politischen Herren, die Bamberger Regierung wird ihr Werkzeug.

 

Etwa hunderttausend Soldaten sind gegen München aufgeboten, wir verfügen über wenige tausend. Das ist die Frage: Sollen wir die militärische Entscheidung herbeiführen oder dem Kampf ausweichen? Sollen wir zwei Schritte zurückgehen, um später, gesammelter und reifer, einen Schritt vorwärts gehen zu können? Wir haben kein Recht, die Arbeiterschaft zu einem Kampf aufzurufen, der zur sicheren Niederlage, zu sinnlosem Blutvergießen führt. Solange der Gegner nicht weiß, wie schwach wir sind, solange wir noch einen Schein von Macht besitzen, müssen wir für die Arbeiterschaft retten, was zu retten ist.

Auch die Kommunisten wissen, daß unsere Lage unhaltbar ist, aber sie dringen auf militärische Entscheidung, jede Verhandlung mit der Bamberger Regierung sei Verrat, sie erhoffen von der Niederlage mächtige revolutionäre Antriebe, sie glauben, durch die Niederlage werde das Proletariat reifer und aktiver. Aber das Volk hatte allzu viele Niederlagen ertragen. Leiden, Elend und Unterdrückung wirken nur so lange als revolutionäre Antriebe, wie sie im Menschen die Überzeugung wecken, daß seine Lage nicht notwendig sei und daß er sie zu ändern vermöge. Werden sie zur Gewohnheit oder scheinen sie übermächtige, unüberwindliche Gewalten, wird der Mensch Spielball jedes Scharlatans, der ihm verheißt, das himmlische Reich auf Erden herbeizuzaubern, Söldner und Landsknecht jedes Freibeuters, der ihm das Brot für den nächsten Tag bezahlt.

Ich trete von meinem Amt als Truppenkommandant zurück, ich kann es nicht mehr verantworten, mit dem Vollzugsrat und dem Generalstab, deren Politik ich verwerfe, zusammenzuarbeiten. Die Betriebsräte erfahren nichts über die wahren Vorgänge, es ist gefährlich, länger zu schweigen.

 

In der Versammlung der Betriebsräte am 26. April steigern sich die Gegensätze zum offenen Konflikt, nach einem Mißtrauensvotum treten Aktionsausschuß und kommunistischer Vollzugsrat zurück, die Betriebsräte bilden aus ihren Reihen eine neue Regierung, aber die Kommunisten fordern die Arbeiter auf, den Anordnungen dieser neuen Regierung nicht zu folgen, die kommunistischen Wachen im Wittelsbacher Palais weigern sich, sie zu schützen.

So amtieren zwei Regierungen in München. Der Kampf der Revolutionäre untereinander wird wütender von Stunde zu Stunde.

 

Die Verhandlungen mit der Regierung in Bamberg führen zu keinem Ergebnis, die mächtigen Generäle wollen keine Verständigung.

Sie hassen Bayern, hier allein war die Republik mächtig, hier allein verteidigte das Volk die Novemberrevolution. Indem man die Räterepublik niederschlug, wollte man die Republik treffen.

 

Menschenleer sind die Straßen der Stadt am 30. April. Noch verkriechen sich die Bürger in ihren Häusern, noch marschieren kleine Abteilungen von Rotgardisten und bewaffneten Arbeitern durch die Stadt, noch wehen auf dem Wittelsbacher Palais und auf dem Kriegsministerium rote Fahnen, noch läuten wimmernd die Sturmglocken und verscheuchen verängstigte Frauen von Gassen und Märkten. Nur die Kinder freuen sich an den umherjagenden Militärautos, sie ahmen die Großen nach, sie spielen rote Armee, sie besiegen den Feind, sie erobern Städte und machen Gefangene, sie rufen »Hoch die Roten!« und »Nieder die Weißen!«, sie verhaften Konterrevolutionäre und sperren sie triumphierend in Schuppen und Keller. Furchtbar sind diese kindlichen Spiele anzuschauen, furchtbarer ist die Wirklichkeit.

Die Rote Garde hat in den letzten Tagen planlos Menschen verhaftet, wir müssen sie befreien, ich telephoniere an die Gefängnisse, die Verzweiflungstaten der Pariser Kommune dürfen sich nicht wiederholen.

Die Parlamentäre, die der Aktionsausschuß zu der Regierung Hoffmann entsandt hat, kehren zurück, die Generäle fordern die bedingungslose Übergabe der Stadt und die Auslieferung aller Führer, sie wissen, daß die Betriebsräte diese Bedingungen nicht annehmen können.

Das gegenseitige Mißtrauen in den Reihen der Revolutionäre ist so groß, daß manche nicht mehr wagen, in ihren Wohnungen zu schlafen, einer sieht im andern den Feind, einer fürchtet, vom andern verhaftet zu werden.

 

Eine Genossin bringt mir einen Paß, ich solle fliehen. Ich zerreiße den Paß.

Bis zuletzt habe ich gehofft, das schreckliche Blutbad werde vermieden, jetzt geht es nicht mehr um Verteidigung oder Rückzug, die Regierung zwingt uns den Kampf auf. Wir sind gescheitert, alle. Alle begingen Fehler, alle trifft Schuld, alle waren unzulänglich. Die Kommunisten ebenso wie die Unabhängigen. Unser Einsatz war vergebens, das Opfer nutzlos, die Arbeiter vertrauten uns, wie können wir uns jetzt vor ihnen verantworten?

In meiner Verzweiflung gehe ich ins Kriegsministerium, man wird mir erlauben, als Soldat nach Dachau zurückzukehren.

Übernächtigt, mit eingefallenem Gesicht und brennenden schlaflosen Augen sitzt Eglhofer im Arbeitszimmer des Kriegsministers. Soldaten kommen und gehen. Immer neue Hiobsposten.

»Augsburg ist von den Weißen genommen.«

»Die roten Truppenverbände lösen sich auf.«

»Überall bilden sich Bürgerwehren.«

»In den Dörfern werden die Rotgardisten von Bauern entwaffnet, verprügelt, erschossen.«

Wortlos nimmt Eglhofer die Berichte entgegen, wortlos gibt er mir den Passierschein.

Ich verlasse das Kriegsministerium und gehe von der Schönfeld- zur Ludwigstraße.

»Toller, Toller!«

Ich drehe mich um und sehe Eglhofer am Fenster. Er winkt mir, ich gehe zurück in sein Zimmer.

»Du kommst nicht mehr durch nach Dachau, die Truppen sind schon auf dem Rückzug. Bei Karlsfeld stehen die Weißen. Sämtliche Außenstellungen der roten Armee sind zusammengebrochen. Gerade ist die telephonische Meldung gekommen.«

Wie wir uns stumm ansehen, stürzt ein Soldat ins Zimmer:

»Die Weißen haben den Münchener Bahnhof erobert.«

Schreit's, läuft ins Nebenzimmer, schreit es wieder, läuft auf den Gang und brüllt die Worte durch die Korridore. Und ehe wir's fassen können, ist das Kriegsministerium leer. Nur Eglhofers Adjutant, ein kaum zwanzigjähriger Matrose, ist ins Zimmer getreten und stellt sich neben Eglhofer. Der setzt seine Mütze auf, steckt einen Revolver in die Tasche, packt zwei Handgranaten, die vor ihm auf dem Schreibtisch liegen.

»Was willst du tun?« frage ich.

»Hierbleiben.«

Der junge Matrose sagt mit leiser schüchterner Stimme: »Ich bleibe auch hier, Rudolf.«

Das Telephon klingelt.

»Die Meldung war falsch«, sagt Eglhofer, »die Weißen sind noch nicht in München.«

Eglhofers Gegner nannten ihn einen Bluthund, in Wahrheit war er ein sensibler Mensch, den erst das Erlebnis der Kieler Matrosenrevolte hart und mitleidlos gemacht hat.

 

Abends versammeln sich die Betriebsräte zum letzten Mal, ohnmächtig sehen sie dem Ende entgegen, ihre Macht ist dahin, die Arbeiterschaft zerfallen, die rote Armee in Auflösung. Sie fordern das Proletariat Münchens auf, die Waffen niederzulegen, schweigend den Einmarsch der Weißen hinzunehmen – die Revolution ist besiegt.

Da stürzt ein Mann aufs Podium, ruft, daß im Luitpoldgymnasium neun Gefangene erschossen sind, Bürger der Stadt München. Entsetzen packt die Versammlung. Diese Arbeiter, die wissen, daß sie vielleicht morgen schon an die Wand gestellt werden, erheben sich schweigend von ihren Sitzen, wann je haben die Weißen ähnlich auf die Kunde von der Erschießung gefangener Arbeiter geantwortet?

Welche Folgen mag diese Verzweiflungstat haben, Hunderte von Menschen auf unserer Seite werden dafür büßen.

 

Ich laufe ins Luitpoldgymnasium, die Besatzung hat es schon verlassen. Ein paar junge Burschen finde ich und zwei frühere russische Gefangene, die zur roten Armee übergetreten sind. Ich rate jenen, sich davonzumachen, diesen, sich der Uniform zu entledigen und sich zu verbergen. Den Russen halfen keine Alltagskleider, einen Tag später waren sie vogelfrei, Freiwild jedes toll gewordenen Spießers. Ein Münchener alldeutscher Verleger rühmte sich später in einer christlichen Zeitung, daß sie ihm, vor einer Kiesgrube aufgestellt, als lebendige Schießscheiben gedient hätten. Allein in einem Vorort Münchens wurden mehr als zwanzig Russen getötet. So still und tapfer sie als Soldaten der Revolution gelebt hatten, so still und tapfer standen sie vor den Gewehrläufen des Exekutionspelotons.

Hinter einer verschlossenen Türe höre ich Schreie.

»Da sind noch Gefangene«, sagt einer.

»Wo ist der Schlüssel zur Tür?«

Niemand weiß es.

Wir rütteln am Schloß, die Tür gibt nicht nach, wir schlagen sie ein.

Das Schreien und Weinen wird greller und trostloser, plötzlich verstummt es. Die Tür bricht auf, drinnen in den Winkeln hocken und knien sechs Menschen in Todesangst.

Da wir ihnen sagen, daß wir nicht gekommen sind, sie zu erschießen, sondern sie zu befreien, wollen sie es nicht glauben.

Wen hat man da gefangengesetzt? Keine Führer der Konterrevolution, kleine armselige Menschen, ein alter Dienstmann ist darunter, der, weil es regnete, ein Plakat der Roten Garde von der Litfaßsäule riß, um es über seinen Karren zu decken, ein Hotelwirt, den ein entlassener Kellner denunziert hat, ein unzufriedener Arbeiter.

 

Ein Soldat führt mich zu dem Schuppen, in dem die Erschossenen liegen, nicht Geiseln, wie später die Zeitungen lügen, acht waren Mitglieder der völkischen Thule-Gesellschaft, man hatte bei ihnen gefälschte Stempel der Räteregierung gefunden und faksimilierte Unterschriften ihrer Führer. Als die Kunde kam, daß die weißen Truppen jeden gefangenen Rotarmisten, ja selbst Sanitätsmannschaften gnadenlos töten, hatte der Kommandant des Luitpoldgymnasiums ohne Wissen eines verantwortlichen Führers den Befehl zu ihrer Erschießung erteilt. Eine Frau ist unter den Toten, ein jüdischer Maler. Ich zünde ein Streichholz an und sehe im trüben flackernden Licht die unheimlichen Gestalten.

Der Soldat erzählt mir, wie sie gestorben sind, aufrecht und ohne Furcht, einer hat sich eine Zigarette angesteckt und ist mit der Zigarette im Mund an die Mauer gegangen.

Mit der gleichen Tapferkeit werden morgen die Unsern sterben.

Wie ich vor den Toten stehe, denke ich an den Krieg, an den Hexenkessel im Priesterwald, an die zahllos Hingemordeten Europas.

Wann werden die Menschen aufhören, einander zu jagen, zu quälen, zu martern, zu morden?

 

Aus einem andern Schuppen blinkt ein Lichtschein, zwischen Proviantsäcken und Kisten sitzt unser Dachauer Zahlmeister hinter seinen Büchern.

»Ich bringe die Bücher in Ordnung«, sagt er, »die Weißen sollen uns nicht vorwerfen, daß wir Revolutionäre die Bücher unordentlich führen, ein Posten von fünfzig Pfennigen stimmt nicht, ich muß den Fehler finden, stör mich nicht.«

Er rechnet weiter.

Hier sitzt der deutsche Revolutionär, gutmütig und ahnungslos, addiert Zahlen und kontrolliert Vorräte, damit alles seine Ordnung habe, wenn er erschossen wird.

»Wenn dich die Weißen hier finden, wirst du an die Wand gestellt.«

»Übernimmst du die Verantwortung, wenn ich gehe?«

»Ja.«

Traurig sieht er die nicht abgeschlossenen Konten, an der Tür wendet er sich noch einmal um, hastet zum Tisch, zieht mit einem Lineal einen Strich unter die Abrechnung, schreibt: »Ein Posten von fünfzig Pfennigen ist nicht zu ermitteln«, dann geht er. Ich muß noch in dieser Nacht dafür sorgen, daß die Leichen aus dem Luitpoldgymnasium geschafft werden, ihr Anblick wird Racheorgien der Weißen entfesseln, ich gehe zur chirurgischen Klinik, spreche mit dem Assistenten des Professor Sauerbruch und flehe ihn an, die Leichen sofort abholen zu lassen. Er hat es nicht getan.

Am nächsten Tag, nach dem Sieg der Weißen, erzählen Plakate und Zeitungen, man habe die Leichen verstümmelt aufgefunden, die abgeschnittenen Geschlechtsteile in Kehrichtfässern entdeckt. Als zwei Tage später die Wahrheit verkündet wurde, in den Fässern hätten Fleischteile geschlachteter Schweine gelegen, niemand sei verstümmelt worden, hatte die erbärmliche Lüge ihre Wirkung getan. Hunderte armer unschuldiger Menschen büßten sie mit unmenschlichen Leiden und grausamem Tod.

 

In der Morgendämmerung des 1. Mai gehe ich durch die stillen Straßen und weiß nicht wohin. Ich begegne Soldaten, die mir vom Zusammenbruch der Front erzählen. Einer zeigt mir die »Rote Fahne«.

»Die Kommunisten rufen zur Verteidigung Münchens auf«, sagt er, »warum organisieren sie nicht die Verteidigung?«

 

Ich erinnere mich an meine Freundin aus der Universitätszeit, sie wohnt in Schwabing, dort werde ich wohl ein paar Stunden schlafen können.

Ich lege mich in Sachen aufs Bett. Müde denke ich: ›Heute ist der 1. Mai...‹


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