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Der Advokat war zu Hause, und obwohl es nicht sein »Sprechtag« war, beeilte er sich doch, Nechludoff zu empfangen. Zuerst erzählte er ihm von dem Falle Mentschoff; er hatte die Akten studiert, und die Anklage war thatsächlich unhaltbar.

»Die Sache ist aber doch ziemlich verwickelt,« fügte er hinzu. »Aller Wahrscheinlichkeit nach hat der Schenkwirt selbst seine Scheune in Flammen gesteckt, um die Versicherungsprämie zu erheben. Es liegt auch nicht ein Schatten von materiellen Beweisen vor. Die Verurteilung ist nur durch den Uebereifer des Untersuchungsrichters und die Nachlässigkeit des Staatsanwalts erfolgt. Doch das Uebel ist einmal geschehen, und die Sache wird schwer rückgängig zu machen sein. Gleichviel! Wenn man nur durchsetzt, daß der Fall von neuem zur Verhandlung kommt und zwar hier am Orte, so werde ich ihn ganz sicher gewinnen, ich werde sogar ohne Honorar plaidieren. Auch mit dieser Fedossja Wergunoff, von der Sie mir erzählten, habe ich mich beschäftigt. Hier ist ihr Gnadengesuch; wenn Sie wegen der Maslow nach St. Petersburg gehen, können Sie es mitnehmen und es selbst zur Annahme empfehlen. Verlassen wir uns nämlich auf den Verwaltungsweg, so wird das Dokument in den Bureaus liegen bleiben, und wir haben nur unsere Zeit verloren. Thun Sie Ihr Möglichstes, da die Sache Ihnen so sehr am Herzen liegt, um bei Personen Zugang zu finden, die in der Begnadigungskommission Einfluß haben. So! kann ich Ihnen sonst noch mit etwas dienlich sein?«

»Ja! man hat mir erzählt...«

»Haha! wie ich sehe, sind Sie das Sprachrohr für die Beschwerden des Gefängnisses geworden,« sagte der Advokat mit derbem Lachen. »Aber ich sage Ihnen im voraus, nie werden Sie damit zu Ende kommen, es sind zu viel!«

»Nein! – aber das ist wirklich eine ganz ungeheuerliche Sache,« fuhr Nechludoff fort und wiederholte dem Advokaten eine Erzählung, die er vor zwei Tagen im Dorfe gehört.

Ein gebildeter Bauer hatte das Evangelium vorgelesen und es seinen Genossen erklärt. Der Pope hatte darin ein Vergehen gesehen und ihn angezeigt. Es war eine Untersuchung eingeleitet worden, und der Staatsanwalt hatte eine Anklage erhoben, die das Zuchtpolizeigericht bestätigt hatte.

»Ist das nicht fürchterlich?« fragte Nechludoff. »Ist das nicht ungeheuerlich?«

»Was setzt Sie dabei so sehr in Erstaunen?«

»Nun, alles! Oder vielmehr nein; ich verstehe das Verhalten des Popen und der Polizei, sie haben nur nach ihrer Vorschrift gehandelt. Doch dieser Staatsanwalt, der die Anklage erhoben hat, konnte doch andere Schlüsse ziehen; denn er ist doch schließlich ein gebildeter Mensch!«

»Ach, man sieht, Sie kennen das nicht! Man bildet sich gewöhnlich ein, die Prokuratoren, die Staatsanwälte und alle Beamte im allgemeinen seien geistig gebildete, liberalen Ansichten zugängliche Leute. Ja, das waren sie früher, doch jetzt haben sich die Dinge stark geändert. Die Richter sind jetzt nur noch Beamte, die einzig und allein die Sorge um ihre Beförderung kümmert. Sie erheben ein Gehalt und wünschen sich ein höheres, darauf beschränken sich ihre Grundsätze! Sonst sind sie bereit, einen jeden anzuklagen, vor Gericht zu stellen und zu verurteilen!«

»Aber es giebt doch schließlich Gesetze! Sie haben doch nicht das Recht, jemand zu verschicken, nur weil er mit seinen Freunden das Evangelium liest?«

»Sie haben nicht nur das Recht, ihn zu verschicken, sondern ihn sogar zur Zwangsarbeit zu verurteilen, wenn sie die Laune anwandelt, zu erklären, dieser Mann habe sich bei der Erklärung des Evangeliums von der vorgeschriebenen Auslegung entfernt und die Kirche dadurch öffentlich beleidigt. Auf Beleidigung des orthodoxen Glaubens steht – Zwangsarbeit!«

»Ist es möglich?«

»Wie ich Ihnen sage. Ich sage den Richtern stets,« fuhr der Advokat fort, »ich könnte sie nie sehen, ohne eine tiefe Dankbarkeit für sie zu empfinden, denn wenn wir, ich und Sie und jeder andere, nicht im Gefängnis sitzen, so verdanken wir das nur ihrer Gefälligkeit.« »Aber wenn alles von der Laune des Staatsanwalts und anderer Personen abhängt, die dem Gesetze zu folgen oder nicht zu folgen brauchen, worin besteht dann die Autorität der Justiz?«

Der Advokat beantwortete diese Frage mit einem fröhlichen Lachen:

»Das sind Probleme, die Ihrer würdig sind! Doch das alles, werter Herr, gehört zur Philosophie! Wissen Sie, kommen Sie einmal Sonnabend abends zu uns! Sie werden bei uns Gelehrte, Schriftsteller, Künstler treffen. Dann können wir über diese allgemeinen Fragen in Ruhe sprechen. Kommen Sie bestimmt! Meine Frau wird entzückt sein, Sie wiederzusehen!«

»Gewiß, ich werde mein Möglichstes thun,« versetzte Nechludoff; er fühlte, daß er log und daß er sein Möglichstes thun würde, um nie zu den »Sonnabenden« des Advokaten zu kommen und sich nie in diesen Kreis von Gelehrten, Schriftstellern und Künstlern zu begeben.

Das Lachen Fanitzins, mit dem er seine Frage beantwortet, und der ironische Ton, in dem er die Worte »allgemeine Fragen« gesprochen, machten Nechludoff vollends begreiflich, wie sehr sich seine Art zu denken und zu fühlen von der des Advokaten und jedenfalls auch von der seiner Freunde unterschied. Trotz der in ihm vorgegangenen Veränderung hatte er das Gefühl, Tschembok bliebe ihm und würde ihm stets noch weniger fremd bleiben, als dieser Fajnitzin und alle »Intellektuellen« seiner Umgebung.


Als Nechludoff die Mauern des Gefängnisses bemerkte, schnürte sich ihm das Herz zusammen, und ängstlich fragte er sich, in welcher Verfassung er die Maslow finden würde; doch noch mehr ängstigte ihn das Geheimnis, das er in ihrer Seele vermutete, dieses Geheimnis, das das ganze Gefängnis zu erfüllen schien.

Er klingelte am Hauptthor, und als ein Aufseher ihm entgegenkam, bat er um die Erlaubnis, die Maslow sprechen zu dürfen. Der Aufseher, der ihn erkannt hatte, ließ ihn sofort eintreten und sagte ihm, die Maslow wäre zum Krankendienst versetzt worden. Nechludoff wandte sich der Krankenabteilung zu. Dort fand er einen guten, alten Aufseher, der ihn gleich eintreten ließ und ihn selbst nach der Kinderabteilung führte, der die Maslow zugeteilt war.

Ein junger Assistent, der einen starken Karbolgeruch ausströmte, kam Nechludoff im Korridor entgegen und fragte ihn in strengem Tone nach dem Zweck seines Besuches. Dieser junge Assistent war stets gefällig gegen die Kranken, was ihn fortwährend unangenehmen Erklärungen mit den Gefängnisbeamten und mit seinem Vorgesetzten, dem dirigierenden Arzt, aussetzte. Da er fürchtete, Nechludoff wolle ihn um irgend eine ungesetzliche Gefälligkeit bitten, und weil er vielleicht auch zeigen wollte, daß er bei niemandem eine Ausnahme machte, so zwang er sich, seine strengste Miene anzunehmen und erklärte:

»Hier sind keine Frauen; hier ist die Kinderabteilung.«

»Ich weiß, doch man hat mir gesagt, es wäre hier eine Gefangene kürzlich als Wärterin angestellt worden.«

»Wir haben allerdings zwei Wärterinnen. Welche wollen Sie sprechen?«

»Ich stehe in Beziehung zu einer derselben, einer gewissen Maslow,« sagte Nechludoff, »und sie möchte ich sprechen. Ich reise morgen nach St. Petersburg, wo ich mich mit der Annullierung ihres Urteils zu beschäftigen habe. Dann wäre ich auch glücklich, ihr dies übergeben zu können; es ist nur eine Photographie,« fügte er hinzu und zog ein weißes Kouvert aus der Tasche.

»Gut, ich werde sie rufen,« sagte der Assistent, bereits besänftigt, wandte sich dann zu einer alten Wärterin in weißer Schürze und sagte ihr, sie solle die Maslow kommen lassen.

»Wollen Sie sich nicht setzen? oder wollen Sie sich ins Sprechzimmer begeben?«

»Danke!« versetzte er, die Veränderung in dem Benehmen des Assistenten bemerkend, und fragte ihn, ob er mit der Arbeit der Maslow zufrieden wäre.

»Gewiß! sie arbeitet nicht allzu schlecht, besonders wenn man bedenkt, woher sie kommt,« versetzte der Assistenzarzt, »Aber da ist sie ja!«

Die Maslow war thatsächlich eben in Begleitung der alten Wärterin in den großen Korridor getreten. Auch sie trug eine weiße Schürze über ihrem gestreiften Leinenkleid und auf dem Kopfe ein Tuch, das ihre Haare bedeckte. Als sie Nechludoff bemerkte, blieb sie einen Augenblick zögernd stehen, errötete, zog die Stirn kraus, schlug die Augen zu Boden und trat schnell auf ihn zu. Zuerst wollte sie ihm nicht die Hand geben, reichte sie ihm aber schließlich doch und errötete noch stärker.

Nechludoff hatte sie seit dem Tage nicht wiedergesehen, da sie sich wegen ihrer Heftigkeit ihm gegenüber entschuldigt; er hoffte, sie in derselben Verfassung wiederzufinden. Doch sie war diesmal in ganz anderer Stimmung, nämlich zurückhaltend, ihm feindlich gesinnt. Er wiederholte ihr, was er eben dem Assistenten gesagt; er reise nach St. Petersburg, habe sie vor seiner Abreise noch einmal sehen wollen und ihr etwas mitgebracht.

»Da nehmen Sie,« fuhr er fort; »das habe ich in dem Hause meiner Tanten entdeckt; es ist eine alte Photographie. Vielleicht macht es Ihnen Vergnügen, sie sich wieder anzusehen. Da nehmen Sie sie!«

Sie zog ihre schwarzen Augenbrauen in die Höhe, und ihre etwas schielenden Augen hefteten sich überrascht auf Nechludoff, als wenn sie fragen wollte: »Warum giebt er mir das?« Dann nahm sie, ohne ein Wort zu sprechen, das Kouvert und verbarg es unter ihrer Schürze.

»Ich habe auch Ihre Tante im Dorfe gesehen,« fügte Nechludoff hinzu.

»So!« versetzte sie gleichgültig.

»Und wie fühlen Sie sich hier?«

»Sehr gut; ich habe mich nicht zu beklagen!«

»Die Arbeit ist nicht zu schwer?«

»Ach nein, nicht allzu sehr; ich bin noch nicht daran gewöhnt, das ist alles!«

»Es ist also noch immer besser, nicht wahr, als Ihr Leben da drüben?«

»Wie meinen Sie das, da drüben?« rief sie, und eine Blutwelle überströmte ihre Wangen.

»Ich meine da drüben im Gefängnis!« beeilte sich Nechludoff hinzuzufügen.

»Warum ist das besser?«

»Ich denke mir, die Leute sind hier besser. Da drüben sind es doch nicht dieselben Leute!«

»Auch da drüben giebt es viele brave Leute!« versetzte sie trocken.

»Uebrigens habe ich mich auch mit dem Falle der Mentschoffs beschäftigt! Ich habe die Hoffnung, man wird sie freilassen.«

»Das walte Gott! sie ist eine so merkwürdige alte Frau,« sagte sie und wiederholte ihre Erklärung der alten Gefangenen, während ein leises Lächeln über ihr Gesicht huschte.

»Ich hoffe auch, daß Ihre Sache bald in St. Petersburg untersucht und das Urteil kassiert werden wird!«

»Das ist mir jetzt gleichgültig, ob es kassiert wird oder nicht!«

»Warum sagen Sie ›jetzt‹?«

»Ach, ich meine nur so!« versetzte sie, und er glaubte, in ihren Augen eine Frage zu lesen.

Nechludoff bildete sich ein, sie wolle wissen, ob er noch in seinen Entschlüssen beharre oder ob er sich in den Korb gefunden, den sie ihm gegeben hatte.

»Warum Ihnen das gleich ist,« sagte er, »weiß ich nicht; doch was mich anbetrifft, so wird es an dem, was ich zu thun gedenke, nichts ändern. Was auch kommen mag, ich werde stets bereit sein, mein Versprechen zu halten!«

Sie richtete von neuem ihre schielenden schwarzen Augen auf ihn, und unwillkürlich zeichnete sich eine tiefe Freude darin ab, die aber nur ihre Augen ausdrückten, denn sie sagte:

»Sie verlieren Ihre Zeit, wenn Sie so zu mir sprechen!«

»Ich spreche so zu Ihnen, damit Sie wissen, woran Sie sind.«

»Was gesagt ist, ist gesagt; ich werde nichts mehr hinzufügen,« erklärte sie mit mühsamer Stimme.

In diesem Augenblick ließ sich im Nebenzimmer ein Geräusch vernehmen, dem ein Kinderschrei folgte.

»Man ruft mich,« sagte die Maslow und blickte sich unruhig um.

»Nun denn. Adieu!«

Sie that, als sähe sie nicht, daß er ihr die Hand reichte und entfloh, ohne sich umzuwenden, indem sie die tiefe Freude niederzuzwingen versuchte, die ihr Herz erfüllte.

»Was geht in ihr vor? Was denkt sie? Was fühlt sie? Will sie mich nur auf die Probe stellen? Oder kann sie mir wirklich nicht verzeihen? Kann sie mir nicht sagen, was sie denkt und fühlt, oder will sie es nicht? Ist sie mir günstiger oder ungünstiger gesinnt, als beim letzten Mal?« fragte sich Nechludoff und bemühte sich vergeblich, diese Fragen zu beantworten. Nur eins erschien ihm klar, daß eine große Veränderung in ihr vorging und daß er durch diese Veränderung ihr und dem, in dessen Namen er gehandelt, näher trat. Und der Gedanke an diese Annäherung erfüllte ihn mit zarter Wonne.


Inzwischen war die Maslow in den Saal, in dem sie arbeitete, zurückgekehrt, einen kleinen Saal mit acht Kinderbetten. Auf den Befehl der Nonne machte sie die Betten. Plötzlich trat sie, weil sie die Arme zu hoch erhoben und sich zu sehr nach hintenüber geneigt, fehl und wäre beinahe gefallen. Ein kleiner, in der Genesung begriffener Junge, der mit verbundenem Kopfe auf einem Bette saß, bemerkte ihre Bewegung und fing zu lachen an, worauf die Maslow, die sich nicht länger halten konnte, ebenfalls in ein so fröhliches, so ansteckendes Gelächter ausbrach, daß alle andern Kinder darin einstimmten. Die Nonne wurde ärgerlich und sagte zur Maslow:

»Was hast du zu lachen? Du glaubst dich wohl noch drüben, von wo du kamst? Geh' in die Küche und hole das Essen!«

Die Maslow hörte zu lachen auf und ging, wohin man sie schickte. Doch selbst die harten Worte der Nonne hatten die Freude nicht ersticken können. Mehrmals am Tage zog sie, wenn sie allein war, die Photographie, die ihr Nechludoff gebracht, aus dem Kouvert und warf schnell einen Blick darauf. Als sie endlich abends nach dem Appell in ihr kleines Zimmer gehen konnte, das sie mit einer andern Gefangenen teilte, nahm sie die Photographie vor und betrachtete sie längere Zeit, indem sie bei den geringsten Einzelheiten der Gesichter, der Anzüge, der Balkonstufen verweilte. Sie fand an dieser vergilbten und verblaßten Photographie ein außerordentliches Gefallen; besonders gern aber betrachtete sie ihr eigenes Gesicht, das Bild ihres frischen, jungen Gesichts von damals mit den über die Stirn flatternden Lockenhaaren. Sie war in diese Betrachtung so tief versunken, daß sie nicht einmal bemerkte, wie ihre Genossin ins Zimmer trat.

»Was betrachtest du denn da? Hat »Er« dir das gegeben?« fragte das dicke Mädchen, das eben eingetreten war und sich ein bißchen über ihre Schulter lehnte. »Das sieht ja wie ein Bild aus!«

»Erkennt man mich wirklich noch?« fragte die Maslow mit freudigem Lächeln.

»Und das, das ist »Er«? Das ist wohl seine Mutter?«

»Nein, seine Tante! Aber man erkennt mich wirklich noch!«

»Du hast dich allerdings sehr verändert und hast nicht mehr dasselbe Gesicht. Man sieht, es sind seitdem viele Jahre vergangen!«

»Nicht die Jahre, sondern etwas anderes hat mich verändert,« versetzte die Maslow, und ihre freudige Erregung verschwand plötzlich ganz und gar; ihr Gesicht verdüsterte sich, und eine Runzel erschien auf ihrer Stirn.

»Was für anderes? Dein Leben ist doch nicht so hart gewesen!«

»Nein, sehr hart nicht,« entgegnete die Maslow, den Kopf abwendend. »Aber trotzdem ist das Zuchthaus noch besser.«

»Du brauchtest ja nur fortzugehen!«

»Ich wollte es mehr als einmal; doch ich konnte es nie! Wozu davon sprechen?« rief die Maslow, erhob sich schnell, versteckte die Photographie in einer Schublade und verließ das Zimmer, indem sie mühsam Thränen des Zornes zurückdrängte.

Als sie die Photographie betrachtete, hatte sie wieder so zu werden geglaubt, wie sie einst gewesen; sie dachte an all das Glück, das sie genossen, und an das, das sie noch hätte genießen können! Und nun erinnerten sie die Worte ihrer Gefährtin an das, was sie jetzt war! Wieder sah sie den ganzen Abscheu dieses Lebens vor sich, vor dem sie stets, ohne es sich selbst gestehen zu wollen, eine unklare Furcht empfunden hatte!

Ganz besonders trat ihr die Erinnerung an eine Nacht lebhaft vors Auge. Es war eine Nacht im Karneval. Die Maslow, die ein tief ausgeschnittenes und ganz mit Weinflecken beschmutztes rotes Seidenkleid und ein rotes Band in den aufgelösten Haaren trug, hatte sich abgespannt, betäubt, halb betrunken, um zwei Uhr morgens, nachdem sie einen Besucher hinausgeleitet, bevor sie wieder zu tanzen anfing, einen Augenblick neben die Klavierspielerin, ein mageres, knochiges, ganz mit Pickeln übersäetes Geschöpf, gesetzt. Sie hatte plötzlich eine Zentnerlast auf dem Herzen gefühlt, hatte der Klavierspielerin gestanden, das Leben, das sie führe, bedrücke sie, und sie hätte nicht mehr die Kraft, es noch länger zu ertragen. Die Klavierspielerin hatte erwidert, auch sie wäre des Lebens, das sie führe, überdrüssig; und als Klara auf sie zugekommen war und ihre Klagen mit denen der beiden andern Weiber vereinigt hatte, beschlossen alle drei, auf und davon zu gehen und ihren Lebenswandel so bald wie möglich zu ändern. Die Maslow verzichtete auf den Tanz, wollte den Salon verlassen und auf ihr Zimmer hinaufgehen, als sich im Korridor wieder die weinseligen Stimmen einiger Männer hören ließen. Der Violinist hatte ein Ritornell begonnen, die Klavierspielerin hatte ihn schnell begleitet; ein kleiner betrunkener Mann in schwarzem Frack hatte die Maslow um die Taille gefaßt; ein dicker Mann im Vollbart hatte Klara gepackt, und man hatte sich noch lange Zeit gedreht, getanzt, getrunken und geschrieen! So war ein Jahr nach dem andern vergangen! Wie sollte sie da ihren Lebenswandel ändern?!

Und an alledem war »Er«, Nechludoff, schuld! Stärker als je zuvor fühlte sie den Haß gegen ihn erwachen. Sie hätte ihn beschimpfen, ihn schlagen mögen. Sie bedauerte, daß sie sich an diesem Tage die Gelegenheit hatte entgehen lassen, ihm von neuem zu zeigen, daß sie ihn genau kannte, daß sie ihm nicht nachgeben und ihm nicht gestatten würde, sie zum zweitenmale zu mißbrauchen!

Ihre Leidenschaft war so heftig, sie fühlte einen so wilden Schmerz und Zorn, daß sie den Wunsch verspürte, Branntwein zu trinken, um sich zu beruhigen und zu vergessen. Trotz des Schwures, den sie sich geleistet, keinen mehr zu trinken, hätte sie sicher welchen getrunken, wenn sie ihn sich nur hätte verschaffen können. Doch der Branntwein stand unter der Obhut des Oberkrankenwärters, und vor diesem hatte die Maslow Furcht, weil sie wußte, daß er ihr nachstellte.

So blieb sie denn im Korridor auf einer Bank sitzen; dann kehrte sie wieder in ihr Zimmer zurück und weinte, ohne auf die Worte ihrer Gefährtin zu antworten, noch lange Zeit über ihr verpfuschtes Leben.


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