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4.

In dem längst nicht mehr geheizten, einsamen Hause in Nikolskoje zog wieder Leben ein; was jedoch einst dort gewesen, erwachte nicht wieder zum Leben. Die Mutter war nicht mehr, und wir standen fortan einander allein gegenüber. Doch nun hatten wir gar nicht mehr das Bedürfnis, allein für uns zu sein – es bedrückte uns vielmehr, wenn wir unter uns blieben. Der Winter brachte mir um so weniger Freuden, als ich leidend war und mich erst nach der Geburt meines zweiten Sohnes wieder erholte. Unsere Beziehungen behielten denselben freundschaftlich kühlen Charakter, den sie bereits während unseres Aufenthalts in der Stadt gehabt hatten; hier aber, auf dem Lande, erinnerte mich jede Diele, jede Wand, jeder Diwan an das, was er mir einstmals gewesen, und was ich verloren hatte. Es schwebte zwischen uns etwas wie eine nicht verziehene Beleidigung; es war, als wolle er mich für irgend etwas bestrafen, ohne mich doch merken zu lassen, daß er es tat. Ich wußte nicht, weswegen ich ihn hätte um Verzeihung und Gnade bitten sollen. Die Strafe, die er über mich verhängte, bestand auch nur darin, daß er mir nicht mehr sein ganzes Ich, seine ganze Seele hingab, wie in früherer Zeit; doch gab er auch sonst niemandem, was er mir entzog – es war, als wenn er das, was mir nicht mehr zuteil wurde, gar nicht mehr besäße. Zuweilen dachte ich, er stelle sich nur so an, um mich zu peinigen, in Wirklichkeit aber sei das alte Gefühl noch immer in ihm lebendig. Ich gab mir Mühe, es wieder zum Leben zu erwecken, doch er schien jedesmal einer offenen Erklärung auszuweichen, als vermute er Verstellung auf meiner Seite, als fürchte er sich lächerlich zu machen, wenn er sich allzu gefühlvoll gäbe. Sein Blick und der Ton seiner Stimme schienen zu sagen: »Ich weiß alles, weiß alles, rede nicht lange; alles, was du mir sagen könntest, ist mir längst bekannt. Ich weiß auch, daß du das eine sagen und doch das andere tun wirst.« Anfangs fühlte ich mich durch diese Furcht vor einer offenen Aussprache verletzt, dann aber gewöhnte ich mich an den Gedanken, daß bei ihm gar nicht Mangel an Offenheit vorlag, sondern daß er einfach kein Bedürfnis nach Offenheit hatte. Die Zunge hätte mir versagt, wenn ich ihm jetzt plötzlich hätte sagen sollen, daß ich ihn liebe, oder wenn ich ihn hätte bitten sollen, mit mir gemeinsam zu beten, oder sich mein Spiel anzuhören. Es hatten sich zwischen uns bereits gewisse Anstandsregeln ausgebildet. Wir lebten jedes für sich: er widmete sich seinen Beschäftigungen, die mich nicht interessierten, und an denen ich keinen Anteil nahm, während ich meine Zeit mit eitlem Tand vertrödelte, was ihn jetzt nicht mehr so betrübte und verletzte wie früher. Die Kinder waren noch zu klein, um ein Bindeglied zwischen uns zu bilden.

Doch nun kam der Frühling. Katja und Sonja kamen für den Sommer aufs Land, und da unser Haus in Nikolskoje im Umbau begriffen war, siedelten wir nach Pokrowskoje über. Da lebte ich nun wieder in dem alten Pokrowsker Hause mit seiner Terrasse, mit dem Ausziehtisch und dem Klavier in dem hellen Saal, mit dem traulichen Zimmer, in dem ich einstmals gewohnt und meine längst vergessenen Mädchenträume gesponnen hatte. In diesem Zimmer standen zwei kleine Betten; auf dem einen, das einst mir gehört hatte, reckte sich nun des Abends mein lieber, pausbäckiger Kokoscha, während in dem zweiten, kleineren, Wanjas Gesichtchen aus den Kissen hervorschaute. Ich gab den beiden Bürschchen meinen Segen zur Nacht und blieb dann oft noch inmitten des kleinen Zimmers stehen. Aus allen Winkeln, von den Wänden, von den weißen Fenstervorhängen lösten sich gleichsam plötzlich alte, vergessene Jugendillusionen. Alte, bekannte Stimmen begannen kindliche Lieder zu singen. Wohin waren sie entschwunden, diese Illusionen, diese holden, süßen Lieder? Alles, was ich kaum zu hoffen gewagt, war in Erfüllung gegangen. Meine unklaren, wirren Träume waren zur Wirklichkeit geworden, diese Wirklichkeit aber hatte sich für mich in ein schweres, qualvolles, freudloses Leben verwandelt. Und doch ist alles ringsum sich selbst gleich geblieben: denselben Garten sehe ich durchs Fenster, denselben Rasenplatz, denselben Weg, dieselbe Bank dort am Rande der Schlucht, dieselben Nachtigallenlieder klingen aus den Gebüschen am Teiche, dieselben Fliedersträucher prangen in voller Blütenpracht, und derselbe Mond steht über dem Hause. Andrerseits aber hat sich alles auf so schreckliche, so unmögliche Weise gewandelt! So kalt mutet mich alles an, was mir doch so teuer und vertraut sein könnte! Ganz wie in früheren Tagen sitze ich mit Katja in leisem Geplauder im Gastzimmer – wir sprechen von ihm. Doch Katjas Gesicht ist gelb und runzelig geworden, ihre Augen strahlen nicht mehr in Freude und Hoffnung, sondern drücken teilnahmsvolle Trauer und Mitleid aus. Wir schwärmen nicht mehr von ihm, wie dereinst, wir kritisieren ihn; wir sind nicht mehr erstaunt darüber, weshalb und wofür uns soviel Glück zuteil geworden, und verspüren keine Neigung mehr, aller Welt zu verkünden, wie uns ums Herz ist; wie zwei Verschworene flüstern wir miteinander und legen uns gegenseitig wohl zum hundertstenmal die Frage vor, wie es nur möglich war, daß sich alles auf so traurige Weise verändert hat.

Und auch er ist noch immer derselbe, nur daß die Falte zwischen seinen Brauen tiefer geworden und das Haar an seinen Schläfen stärker gebleicht ist, während sein tiefer, forschender Blick sich vor mir stets wie mit einer Wolke verhüllt. Auch ich bin ganz dieselbe, die ich war, nur daß keine Liebe und keine Sehnsucht nach Liebe mehr in mir ist. Auch kein Arbeitsbedürfnis und keine Zufriedenheit mit mir selbst empfinde ich. Fern liegt meinem Empfinden das fromme Entzücken, das ich früher kannte, die frühere Liebe zu ihm, die frühere Lebensfülle. Ich würde jetzt nicht begreifen, was mir früher so klar und selbstverständlich erschien: daß das Glück darin bestehe, für andere zu leben. Warum für andere leben, wenn man nicht einmal Lust verspürt, für sich selbst zu leben?

Die Musik hatte ich seit meiner damaligen Abreise nach Petersburg vollkommen aufgegeben; jetzt aber weckten mein altes Piano, meine alten Noten in mir wieder die Lust am Musizieren.

Ich war eines Tages, da ich mich nicht ganz wohl fühlte, zu Hause geblieben, während Katja und Sonja mit ihm nach Nikolskoje gefahren waren, um sich den Neubau anzusehen. Der Teetisch war gedeckt; ich hatte mich hinunter begeben, um auf die andern zu warten, und setzte mich inzwischen ans Klavier. Ich schlug die Sonate Quasi una fantasia auf und begann sie zu spielen. Kein Mensch war zu sehen noch zu hören, die Fenster nach dem Garten waren geöffnet, und die bekannten, feierlich schwermütigen Töne klangen durch das Zimmer. Ich hatte den ersten Teil beendet und blickte ganz unbewußt, aus alter Gewohnheit, in die Ecke, in der er früher zu sitzen und mir zuzuhören pflegte. Aber er war nicht da; der Stuhl, der schon längst nicht mehr von der Stelle gerückt worden war, stand immer noch in seinem Winkel; durch das offene Fenster sah man den Fliederbusch, der sich von dem hellen Dämmerschein abhob, und die Abendkühle drang ins Zimmer. Ich stützte die Ellbogen auf das Klavier, bedeckte das Gesicht mit beiden Händen und versank in Nachdenken. Lange Zeit saß ich so da, dachte mit Schmerzen an das Vergangene, Unwiederbringliche, und grübelte zaghaft über das Neue. Doch war mir, als hätte ich nichts Neues mehr zu erwarten, als gäbe es für mich kein Wünschen und kein Hoffen mehr. »Bin ich wirklich schon mit dem Leben fertig?« dachte ich voll Entsetzen, hob den Kopf empor und begann dann, um zu vergessen, um nicht mehr denken zu müssen, noch einmal das Andante zu spielen. »Mein Gott!« dachte ich – »verzeih mir, wenn ich schuldig bin, oder gib mir zurück, was gut und schön war an meiner Seele, oder lehre mich, was ich tun, wie ich weiterleben soll!«

Auf dem Rasen draußen und vor der Freitreppe ließ sich das Rollen eines Wagens vernehmen; auf der Terrasse ertönten leise, bekannte Schritte, dann war alles wieder still. Doch diese bekannten Schritte weckten in mir nicht mehr das alte Gefühl. Als ich zu Ende gespielt hatte, vernahm ich die Schritte hinter mir, und eine Hand legte sich auf meine Schulter.

»Wie hübsch, daß du diese Sonate gespielt hast!« sagte er.

Ich schwieg.

»Hast du noch nicht Tee getrunken?«

Ich schüttelte verneinend den Kopf, sah mich jedoch nicht nach ihm um, damit er die Spuren der Erregung nicht bemerkte, die noch auf meinem Gesichte zu sehen waren.

»Sie werden sogleich hier sein; das Pferd war unruhig geworden, und sie sind von der Landstraße ab zu Fuß hierher gegangen,« sagte er.

»Wir wollen auf sie warten,« sagte ich und ging auf die Terrasse hinaus in der Hoffnung, daß auch er mir dahin folgen werde; doch er fragte nach den Kindern und ging zu ihnen.

Wiederum hatte seine Gegenwart, seine schlichte, herzlich klingende Stimme meine Meinung, daß schon alles für mich verloren sei, erschüttert. »Was kann ich mir noch mehr wünschen?« dachte ich. »Er ist gut, ist zärtlich, ist ein guter Gatte und Vater – ich wüßte wirklich nicht, was mir noch fehlte!«

Ich ging auf den Balkon und setzte mich unter dem Leinwanddache der Terrasse auf dieselbe Bank, auf der ich damals, als wir uns erklärt hatten, gesessen hatte. Die Sonne war bereits untergegangen, die Dämmerung war heraufgezogen, und eine dunkle Frühlingswolke hing über Haus und Garten; nur weit hinten, zwischen den Bäumen, schimmerte der helle Streifen des erlöschenden Abendrots mit dem in vollem Glanze strahlenden Abendstern. Alles war ringsum in den leichten Schatten gehüllt, der von der Wolke niederfiel, alles erwartete den linden Frühlingsregen. Der Wind hatte sich gelegt – nicht ein Blatt, nicht ein Grashalm regte sich; Flieder und Faulbaum dufteten so stark, als wenn die ganze Luft in Blüten stände; in auf und nieder gehenden Wellen, bald stärker, bald schwächer werdend, fluteten die Blumendüfte über den Garten und die Terrasse hin, daß man sich versucht fühlte, die Augen zu schließen, um nichts zu sehen, nichts zu hören und nur einzig diese süßen Düfte auf sich wirken zu lassen. Die Georginen und Rosenbüsche, die noch nicht blühten, standen unbeweglich auf ihren frisch umgegrabenen schwarzen Rabatten, als wüchsen sie langsam an den weißen, abgeschälten Stäben in die Höhe; von der Schlucht her vernahm man das durchdringende Quaken der Frösche, die noch einmal vor dem Eintritt des Regens, der sie ins Wasser jagen würde, ihre volle Kehlkraft auszuprobieren schienen. Wie ein feines, ununterbrochenes Rauschen erklang's über ihrem Geschrei. Die Nachtigallen ließen sich bald da, bald dort in den Büschen vernehmen, und man hörte, wie sie ängstlich von einer Stelle zur andern flatterten. Wieder hatte sich auch in diesem Frühling eine Nachtigall im Gebüsch unter dem Fenster anzusiedeln gesucht, und als ich jetzt hinaustrat, hörte ich, wie sie nach der Allee zu davonflog und von dort einen lauten Triller hören ließ, um dann erwartungsvoll zu verstummen.

Vergeblich hatte ich meine Unruhe zu bekämpfen gesucht – voll Erwartung, voll schmerzlichen Bangens saß ich da. Er kam wieder von oben herab und setzte sich neben mich.

»Es scheint, Katja und Sonja werden naß werden,« sagte er.

»Ja,« versetzte ich, und dann schwiegen wir beide eine ganze Weile.

Die Wolke senkte sich in der unbewegten Luft tiefer und tiefer; ringsum ward es immer stiller, immer duftiger und regungsloser, bis plötzlich ein Tropfen niederfiel und von der Leinwandmarkise absprang, während ein zweiter auf dem Kies des Gartenweges aufspritzte; jetzt klatschte es auf die Lattichblätter nieder, und im nächsten Augenblick kam in großen Tropfen ein erfrischender, starker Regenschauer herab. Die Nachtigallen und die Frösche waren ganz verstummt, nur das sanfte Rauschen klang noch, wenn auch durch das Trommeln des Regens übertönt, leise durch die Luft, und irgendein Vogel, der sich in das trockene Blattwerk nahe der Terrasse geflüchtet haben mußte, ließ in einförmigem Rhythmus immer wieder seine zwei Noten hören.

Er erhob sich und wollte gehen.

»Wohin willst du?« fragte ich, ihn zurückhaltend. »Es ist hier so schön.«

»Ich will den beiden Regenschirme und Galoschen schicken,« antwortete er.

»Es wird wohl nicht nötig sein – der Regen wird gleich aufhören.«

Er stimmte mir bei, und wir blieben zusammen am Geländer der Terrasse stehen. Ich stützte die Hand auf die glatte, nasse Brüstung und neigte den Kopf vor. Der frische Regen tropfte mir da und dort auf Haar und Nacken nieder. Die Wolke, die den Regen auf uns niedersandte, wurde heller und durchsichtiger; statt des gleichmäßigen Rauschens des Regens vernahm man nur noch das Fallen der einzelnen Tropfen, die von oben und von den Blättern fielen. Wieder begannen die Frösche ihr Konzert, wieder flatterten die Nachtigallen auf und ließen sich bald da, bald dort aus den nassen Büschen vernehmen.

»Wie schön!« sprach er, während er sich an die nasse Brüstung lehnte und mit der Hand über mein feuchtes Haar hinstrich.

Diese einfache Liebkosung wirkte auf mich wie ein Vorwurf – ich war den Tränen nahe.

»Was braucht nun der Mensch noch mehr?« sagte er. »Ich bin in dieser Stunde so zufrieden, daß mir nichts fehlt, ich bin vollkommen glücklich!«

»Es gab eine Zeit, da du von deinem Glück anders dachtest und sprachst,« dachte ich im stillen. »Wie groß es auch war – du meintest doch, es müsse noch immer größer und größer werden. Und jetzt bist du ruhig und zufrieden, während meine Seele voll ist von unausgesprochener Reue, unausgeweinten Tränen.«

»Auch mir ist wohl zumute,« sagte ich, »obschon gerade das mich trübe stimmt, daß es rings um mich herum gar so schön ist. In mir ist alles so zusammenhangslos, so leer, es verlangt mich nach irgend etwas – und hier ist's so schön, so ruhig. Empfindest du nicht auch so eine Art Weh, das sich deinem Entzücken über die Schönheit der Natur beigesellt – als sehntest du dich nach etwas Vergangenem?«

Er nahm die Hand von meinem Kopfe und schwieg ein Weilchen.

»Ja, früher hatte auch ich dieses Gefühl, namentlich im Frühling,« sagte er, sich gleichsam besinnend. »Auch ich habe so manche Nacht in Sehnen und Hoffen verbracht, und wie schön waren diese Nächte! ... Aber damals lag noch alles im Schoße der Zukunft, und jetzt liegt alles hinter mir; jetzt bin ich mit dem zufrieden, was ist, und befinde mich wohl dabei,« schloß er so zuversichtlich, so gelassen, daß ich, so schmerzlich mich seine Worte auch berührten, sie doch für vollkommen aufrichtig halten mußte.

»Und du wünschst dir gar nichts weiter?« fragte ich.

»Nichts Unmögliches wenigstens,« antwortete er, meine Empfindungen erratend. »Dein Haar ist ganz naß,« fügte er hinzu, während er mir wie einem Kinde mit der streichelnden Hand über das Haar fuhr – »es scheint, du beneidest das Laub und das Gras, weil der Regen sie erquickt; du möchtest Gras und Laub und Regen zugleich sein. Ich dagegen begnüge mich damit, mich ihrer zu freuen, wie überhaupt alles dessen, was schön und jung und glücklich ist auf dieser Welt.«

»Und du sehnst dich nach dem, was vergangen ist, nicht zurück?« fuhr ich fort zu fragen, während ich fühlte, daß mir immer schwerer und schwerer ums Herz ward.

Er versank in Nachdenken: ich sah, daß er gewillt war, mir vollkommen aufrichtig zu antworten.

»Nein,« antwortete er kurz auf meine Frage.

»Das ist nicht wahr, das ist nicht wahr!« rief ich laut, während ich mich nach ihm umwandte und ihm in die Augen sah. »Du sehnst dich wirklich nicht nach der Vergangenheit zurück?«

»Nein!« wiederholte er. »Ich gedenke wohl mit Dankbarkeit dessen, was gewesen ist, aber ich sehne mich nicht danach zurück.«

»Du wünschst also nicht, daß es wiederkehren möchte?« sagte ich.

Er wandte sich ab und blickte in den Garten hinein.

»Ich wünsche es so wenig, wie ich wünschen kann, daß mir Flügel wachsen möchten,« sagte er. »Es ist eben unmöglich, daß es wiederkehrt.«

»Und du hast an der Vergangenheit nichts auszusetzen, du machst dir selbst oder mir keine Vorwürfe?«

»Nicht im geringsten! Alles war vortrefflich so, wie es gewesen.«

»Höre einmal!« sagte ich, seine Hand berührend, damit er sich nach mir umwende. »Höre – warum hast du mir nie gesagt, daß du willst, ich möchte so leben, wie du es wünschst? Warum hast du mir eine Freiheit gewährt, von der ich doch keinen Gebrauch zu machen wußte, warum hast du aufgehört, mich zu führen und zu belehren? Wenn du nur gewollt, wenn du mich anders geleitet hättest, dann wäre nichts, gar nichts geschehen!« sagte ich in einem Tone, aus dem immer lauter und deutlicher kalter Verdruß und Vorwurf statt der einstigen Liebe klang.

»Was wäre nicht geschehen?« fragte er verwundert, während er sich nach mir umwandte. »Es ist doch auch so nichts geschehen! Alles ist gut, sehr gut!« fügte er lächelnd hinzu.

»Versteht er mich denn wirklich nicht – oder will er mich vielleicht gar nicht verstehen?« dachte ich, und die Tränen traten mir in die Augen.

»Es wäre nicht geschehen, daß ich, obschon ich dir gegenüber ohne jede Schuld bin, gleichwohl von dir mit Gleichgültigkeit, ja mit Verachtung gestraft werde!« brach es plötzlich aus mir hervor. »Es wäre nicht geschehen, daß ohne jedes Verfehlen von meiner Seite du mir plötzlich alles nahmst, was mir teuer war.«

»Was sagst du da, meine Liebe!« sprach er, als hätte er den Sinn meiner Worte nicht erfaßt.

»Nein, laß mich ausreden ... Du hast mir dein Vertrauen, deine Liebe, ja selbst deine Achtung entzogen; denn ich kann es nicht glauben, daß du mich jetzt, nach allem, was geschehen ist, noch liebst. Ich will es ein für allemal aussprechen, was mich schon lange quält,« fuhr ich hastig fort, damit er mich nicht wieder unterbräche. »Bin ich vielleicht schuld daran, daß ich das Leben nicht kannte, daß du es mich allein entdecken ließest? .. Bin ich schuld daran, daß du mich jetzt, nachdem ich selbst erkannt habe, was nottut, nachdem ich nun wohl bald ein Jahr lang mich vergeblich bemühe, den Weg zu dir zurückzufinden – daß du mich da zurückweisest, als begriffest du nicht, was ich will, und zwar auf eine Art, daß auf dich nicht der geringste Vorwurf fällt, während ich als die Schuldige dastehe und mich unglücklich fühle? Ja du willst mich sogar von neuem hinausstoßen in dieses Leben, das mir wie dir nur Unglück zu bringen vermag ...«

»Woraus schließest du das?« fragte er in aufrichtigem Schreck und Erstaunen.

»Hast du es nicht gestern erst gesagt, und behauptest du es nicht immer und immer wieder, daß ich mich hier nicht heimisch fühlen würde, und daß wir für den Winter wieder nach Petersburg ziehen müßten, das mir so verhaßt ist?« fuhr ich fort. »Statt mich zu stützen, gehst du jeder offenen Erklärung, jeder aufrichtigen, herzlichen Aussprache mit mir aus dem Wege. Und wenn ich dann vollends sinke, wirst du mir Vorwürfe machen und dich freuen über meinen Fall.«

»Halt ein, halt ein!« sprach er streng und kalt. »Das ist häßlich, was du eben sagtest, und es zeigt nur, daß du gegen mich aufgebracht bist, daß du mich ...«

»Daß ich dich nicht liebe? ... Immer sag' es, sag' es!« versetzte ich, seinen Gedanken vervollständigend, und brach in Tränen aus. Ich setzte mich auf die Bank und vergrub mein Gesicht in das Taschentuch.

»So also hat er mich aufgefaßt!« dachte ich, während ich das Schluchzen in meiner Kehle zu unterdrücken suchte. »Es ist aus, ist aus mit unserer einstigen Liebe!« erklang eine Stimme in meinem Herzen. Er näherte sich mir nicht, suchte mich nicht zu trösten. Er war beleidigt durch meine Worte. Seine Stimme klang ruhig und hart.

»Ich wüßte nicht, was du mir vorwerfen könntest,« begann er – »außer vielleicht, daß ich dich nicht mehr so liebte wie früher ...«

»Liebte!« wiederholte ich, immer noch das Tuch vor das Gesicht haltend und es mit meinen reichlich fließenden, bitteren Tränen netzend.

»Doch daran ist die Zeit schuld – und allerdings auch wir selbst. Jedes Lebensalter hat seine besondere Art von Liebe.« Er schwieg einen Augenblick. »Wenn du schon Offenheit verlangst, will ich dir auch die ganze Wahrheit sagen. Wie ich in jenem Jahre, da ich dich kennen lernte, meine Nächte schlaflos, nur in Gedanken an dich, verbrachte, und das Gebäude meiner Liebe, die mir im Herzen wuchs und wuchs, selbst immer höher emportürmte, so habe ich in Petersburg und im Auslande schreckliche Nächte ohne Schlaf zugebracht und das Gebäude dieser Liebe, die mir zur Pein geworden, wieder abgetragen und zerstört. Nicht die Liebe selbst habe ich zerstört, wohl aber das, was für mich an ihr so qualvoll war. Ich fand meine Ruhe wieder, und auch die Liebe war mir geblieben, wenn sie auch von anderer Art war.«

»Du nennst eben Liebe, was doch in Wirklichkeit auch nichts weiter als Qual ist!« versetzte ich. »Warum hast du mir diesen Verkehr in der Welt gestattet, wenn er dir doch so verderblich schien, wenn er mich deine Liebe kosten sollte?«

»Nicht die Welt ist schuld, meine Liebe,« sagte er.

»Warum hast du von deiner Gewalt über mich nicht Gebrauch gemacht?« fuhr ich fort. »Warum hast du mich nicht in Ketten gelegt, nicht getötet? Dann wäre mir wohler gewesen als jetzt, da ich alles verloren habe, was mein Glück ausmachte.«

Ich brach von neuem in Schluchzen aus und verhüllte mein Gesicht.

In diesem Augenblick kamen Katja und Sonja, ganz durchnäßt, doch munter lachend und plaudernd, auf die Terrasse; als sie uns jedoch sahen, verstummten sie und entfernten sich sogleich wieder.

Wir schwiegen eine ganze Weile, nachdem sie gegangen waren; ich weinte mich aus, und es ward mir leichter ums Herz. Ich sah ihn an. Er saß, den Kopf auf die Hand gestützt, da und wollte mir offenbar, als Antwort auf meinen Blick, irgend etwas sagen, doch seufzte er nur schwer auf und stützte dann wieder den Kopf auf den Ellbogen.

Ich trat auf ihn zu und zog seine Hand fort. Sein Blick wandte sich mir mit tief nachdenklichem Ausdruck zu.

»Ja,« sagte er, seine Gedanken gleichsam weiterspinnend. »Wir alle – und namentlich die Frauen – müssen die Torheiten, die sich uns als ›das Leben‹ darstellen, selbst durchkosten, ehe wir uns wieder zum eigentlichen Leben zurückfinden. Mit dem Glauben an das, was andere erfahren haben, ist es da nicht getan. Du hattest von diesen lockenden, reizvollen Torheiten noch nicht allzu viel gekostet, und es machte mir anfangs Vergnügen, dich mitten in diesem Strudel zu sehen; dann sagte ich mir, ich besäße gar nicht das Recht, dich in dieser Hinsicht zu beschränken, und so ließ ich dich alles selbst ausprobieren, zumal für mich die Zeit längst vorüber war, an diesen Dingen Gefallen zu finden.«

»Und wenn du mich wirklich liebtest – warum rissest du mich nicht heraus aus dieser eitlen, törichten Welt?« sagte ich.

»Weil du mir beim besten Willen doch nicht geglaubt hättest; du mußtest alles selbst erproben ... und du hast es erprobt.«

»Du hast eben immer zu viel gegrübelt und zu wenig geliebt,« sagte ich.

Wir schwiegen wieder beide eine ganze Weile.

»Was du soeben sagtest, ist zwar hart, doch ist es die Wahrheit,« sagte er dann plötzlich, während er sich erhob und auf der Terrasse hin und her zu gehen begann. »Ja, es ist die Wahrheit. Ich war schuld,« fügte er hinzu, während er vor mir stehen blieb. »Ich hätte dich entweder gar nicht oder auf eine schlichtere Art lieben sollen, ja!«

»Vergessen wir alles ...« sprach ich schüchtern.

»Nein, was dahin ist, kehrt nicht mehr wieder, nie bringst du es wieder zurück!«

Seine Stimme wurde weich, als er dies sagte.

»Es ist schon alles zurückgekehrt ...« sagte ich und legte meine Hand auf seine Schulter.

Er ergriff meine Hand und drückte sie.

»Ich blieb nicht bei der Wahrheit,« sprach er, »als ich sagte, ich wünschte nicht, daß das Vergangene wiederkehren möchte; ich wünsche es doch, und ich weine um diese entschwundene Liebe, die nicht mehr ist und nicht wieder sein wird. Wen die Schuld trifft, weiß ich nicht. Wohl ist die Liebe geblieben, doch ist sie nicht dieselbe; die Stätte, an der sie wohnte, ist noch da, aber sie selbst ist erschlafft, ist saft- und kraftlos geworden, muß sich mit Erinnerungen, mit dankbarem Gedenken begnügen; indes ...«

»Sprich nicht so!« unterbrach ich ihn. »Laß lieber alles so sein, wie es früher war ... es ist doch noch möglich, nicht wahr?« fragte ich und sah ihm in die Augen. Doch seine Augen waren klar und ruhig und blickten nicht so wie einst, so tief und forschend, in die meinen. Schon in dem Augenblick, da ich diese Worte sprach, fühlte ich, daß das, was ich ersehnte, und um was ich ihn bat, unmöglich sei. Er lächelte ruhig und mild, und es schien mir etwas Greisenhaftes in seinem Lächeln zu liegen.

»Wie jung du noch bist,« sagte er – »und wie alt ich bin! Nein, was du wünschst und ersehnst, findest du in mir nicht mehr ... Warum soll ich mich selbst belügen?« fügte er, immer mit dem gleichen Lächeln, hinzu.

Ich stand schweigend neben ihm, und auch auf meine Seele legte sich eine milde Ruhe.

»Geben wir uns keine Mühe, das Leben zu wiederholen,« fuhr er fort – »belügen wir uns selbst nicht! Danken wir vielmehr Gott, daß die alte Unruhe und Aufregung von uns genommen ist. Wir haben keine Ursache, irgend etwas zu suchen und uns um irgend etwas aufzuregen. Wir haben unser Teil schon gefunden, haben schon Glückes genug genossen. Jetzt heißt es für uns beiseite treten und diesen da die Bahn freigeben!« sagte er, nach der Amme weisend, die soeben mit Wanja herankam und an der Terrassentür stehen blieb. »So ist's, meine Liebe,« schloß er, meinen Kopf an sich ziehend und ihn küssend. Nicht der Liebhaber war es, der mich küßte, sondern der gute alte Freund.

Vom Garten her strömte immer kräftiger und würziger die duftige Frische der Nacht herüber, immer feierlicher wurde die Stille, immer seltener klangen die Laute, die sie unterbrachen, und am Himmel blinkten immer neue und neue Sterne. Ich sah ihn an, und es wurde mir plötzlich so leicht ums Herz, als hätte man mir jenen kranken moralischen Nerv durchschnitten, der mir soviel Leiden bereitet hatte. Ich begriff plötzlich klar und deutlich, daß das Gefühl jener jungen Tage für immer dahin war, gleich jenen Tagen selbst, und daß es nicht nur unmöglich war, dieses Gefühl jetzt wieder zu erwecken, sondern daß auch jeder Versuch, es zu tun, nur Schmerz und Aufregung verursachen konnte. Und war sie denn auch wirklich so schön gewesen, diese Zeit, die mir so glücklich erschienen? Ach, wie weit, wie weit lag sie doch eigentlich schon zurück! ...

»Aber es ist nun Zeit, den Tee einzunehmen!« sagte er. Und wir gingen beide zusammen in das Empfangszimmer. In der Tür begegneten wir wiederum der Amme mit dem kleinen Wanja. Ich nahm das Kind in die Arme, hüllte seine entblößten rosigen Beinchen ein, drückte es an mich und küßte es, sein Mündchen kaum mit den Lippen berührend. Der Kleine bewegte wie im Schlafe das Händchen mit den ausgespreizten, runzeligen Fingern und öffnete die trüben Äuglein, als wenn er etwas suchte, oder sich an etwas erinnerte; plötzlich blieben dann diese Äuglein auf mir haften, ein Funke von Bewußtsein blitzte darin auf, und ein Lächeln spielte um die vollen, zarten Lippen. »Du bist mein, mein, mein!« dachte ich, während ich ihn in vollem Glücksempfinden an die Brust drückte, fast befürchtend, daß ich ihm wehtat. Und ich begann seine kalten Füßchen, seinen kleinen Körper, seine Ärmchen und sein mit dem ersten Flaum bedecktes Köpfchen zu küssen. Mein Mann trat auf mich zu; ich verhüllte rasch das Gesichtchen des Kindes und deckte es dann wieder auf.

»Iwan Sergjeitsch!« sagte mein Mann, den Kleinen mit dem Finger unter das Kinn fassend. Doch ich verhüllte rasch wieder meinen kleinen Iwan Sergjeitsch. Niemand außer mir sollte ihn lange ansehen dürfen. Ich blickte meinen Mann an, seine Augen lachten, als er in die meinen schaute, und zum erstenmal seit langer Zeit war mir leicht und froh zumute, als ich ihn so ansah.

Mit diesem Tage endete mein Roman mit meinem Manne, und das alte Gefühl wurde für mich zu einer teuren Erinnerung – ich wußte, daß es nie wiederkehren würde; das neue Gefühl – ein Gefühl der Liebe zu meinen Kindern und dem Vater meiner Kinder – wurde für mich zur Grundlage eines andern, auf ganz neue Art glücklichen Lebens, das ich bis zu diesem Augenblick noch nicht zu Ende gelebt habe.


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