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Eines Nachmittags, zur Zeit der Kornernte, gingen Katja, Sonja und ich in den Garten auf unsere Lieblingsbank im Schatten der Linde am Hohlwege, hinter dem sich eine Aussicht auf Wald und Felder öffnete.
Sergej Michailowitsch war schon zwei, drei Tage nicht bei uns gewesen, und heute erwarteten wir ihn um so sicherer, als wir durch unseren Verwalter wußten, daß er versprochen hatte, aufs Feld zu kommen. Gegen zwei Uhr sahen wir ihn auch wirklich zu den mit der Ernte beschäftigten Leuten hinausreiten. Katja befahl, Pfirsiche und Kirschen zu bringen, die er sehr gern aß, und indem sie mich lächelnd ansah, rückte sie sich auf der Bank zurecht und schlummerte ein. Ich brach einen Lindenzweig mit saftigen Blättern und saftigem Bast, der mir die Hand feucht machte. Damit fächelte ich Katja, indem ich zu lesen fortfuhr, mich darin aber immerwährend unterbrach und auf den Feldweg sah, auf dem er kommen mußte.
Sonja saß auf den Wurzeln einer alten Linde und baute eine Laube für ihre Puppen. Der Tag war heiß, die Luft regungslos, der Boden duftete stark, und die dunklen Wolken, in denen vom frühen Morgen an ein Gewitter braute, hatten sich eine Weile zusammengezogen. Ich war aufgeregt, wie immer vor dem Gewitter. Aber jetzt fingen die Wolken an, sich zu zerteilen und aufzulösen; die Sonne drang durch, der Himmel klärte sich; nur in weiter Ferne ließ sich dann und wann ein Donner hören, und aus den schweren Wolken, die noch am Horizont lagen und sich mit dem Staub des Feldes zu mischen schienen, fuhr dann und wann das blasse Zickzack eines Blitzes zur Erde nieder. Für heute war also das Gewitter, wenigstens an unserer Gegend, vorübergegangen.
Auf dem Weg, der hinter dem Garten hie und da sichtbar wurde, kamen unaufhörlich Wagen vorbei, die sich bald, hoch mit Garben beladen, langsam und knarrend vorüberschleppten, bald rasselnd wieder hinausfuhren, während der Bauer mit zitternden Beinen und flatterndem Hemde daraufstand. Der dicht aufwirbelnde Staub wurde nicht fortgetrieben und sank nicht zu Boden, sondern blieb hinter dem geflochtenen Zaun zwischen den durchsichtigen Laubkronen der Bäume förmlich stehen. Von der Scheune herüber klangen Stimmen und Räderknarren, die Garben, die langsam am Zaun vorübergefahren waren, flogen dort durch die Luft, und bald wuchsen vor meinen Augen große, spitzig zulaufende Korndiemen in die Höhe, auf denen sich die Gestalten der Bauern regten.
Auch auf dem staubigen Feld war buntes Treiben zu sehen, und Wagengerassel, Stimmen und Gesänge klangen von weitem herüber. Auf der einen Seite wurde der Acker leerer und leerer. Zwischen dem gemähten Korn zeigten sich grüne, mit Wermut bewachsene Raine und die hellen Gestalten der Binderinnen, die das Getreide zusammenbanden und die Garben aufstellten. Es war, als ob sich vor meinen Augen der Sommer in Herbst verwandelte. Staub und Hitze waren überall, nur nicht an unserem Lieblingsplätzchen im Garten. Von allen Seiten wogte in diesem Staub, dieser Hitze, in glühender Sonne, schwatzend und die Hände regend das Arbeitsvolk.
Aber Katja schlummerte währenddessen sanft atmend unter dem weißen Batisttuche auf unserer kühlen Bank; schwarzglänzende, saftige Kirschen standen auf dem Tisch; unsere Kleider waren frisch und rein; das Wasser im Krug spielte in Regenbogenfarben in der Sonne, und mir war so wohl!
Was tun? dachte ich. Wodurch habe ich es verdient, daß ich so glücklich bin? Und wie kann ich mein Geschick teilen, wie mich und all mein Glück anderen hingeben und wem?
Die Sonne versank schon hinter den Wipfeln der Lindenallee, der Staub im Felde legte sich, die Ferne war in der Seitenbeleuchtung klarer und deutlicher zu sehen, und die Wetterwolken verschwanden vollständig. Im Hofe hinter den Bäumen waren drei neue Diemen zu sehen, von denen die Bauern eben herunterkletterten, und unter dem Geschrei der Fahrenden rasselten die Wagen, sichtlich zum letzten Mal, vorüber. Weiber mit Rechen auf der Schulter und Strohseilen am Gürtel zogen singend nach Haus. Aber Sergej Michailowitsch kam noch immer nicht, obwohl ich längst gesehen hatte, daß er die Höhe herabgeritten war.
Plötzlich zeigte sich seine Gestalt in der Allee von der Seite, wo ich ihn nicht erwartete (er war nicht durch den Hohlweg gekommen). Mit heiterem, leuchtendem Gesicht und entblößtem Haupt kam er raschen Schrittes auf mich zu. Als er bemerkte, daß Katja schlief, preßte er die Lippen zusammen, kniff die Augen zu und ging auf den Zehen. Ich bemerkte sogleich, daß er sich in jener eigentümlichen Stimmung grundloser Lustigkeit befand, die mir so besonders lieb an ihm war und die wir »wildes Entzücken« zu nennen pflegten. Er war dann wie ein Schulknabe, der dem Unterricht entronnen ist, und sein ganzes Wesen vom Kopf bis zu den Füßen atmete Fröhlichkeit, Glück und kindliche Ausgelassenheit.
»Guten Tag, junges Veilchen! Wie geht's? Gut?« sagte er leise, indem er herantrat und mir die Hand drückte. »Mir ausgezeichnet«, antwortete er auf meine Frage, »heute bin ich dreizehn Jahre alt, ich hätte Lust, Pferdchen zu spielen und auf Bäume zu klettern.«
»In wildem Entzücken also?« sagte ich, indem ich seine lachenden Augen ansah und fühlte, daß das »wilde Entzücken« auch auf mich überging.
»Ja!« antwortete er, mit einem Auge blinzelnd und ein Lächeln zu unterdrücken suchend. »Aber warum wird denn Katharina Karlowna auf die Nase geschlagen?« Da ich ihn ansah, während ich mit dem Zweige zu fächeln fortfuhr, hatte ich nicht bemerkt, daß ich das Tuch von Katjas Gesicht gestreift hatte und sie mit den Blättern berührte.
Ich lachte.
»Sie wird behaupten, daß sie gar nicht geschlafen habe«, sagte ich ganz leise, weniger um sie nicht zu wecken, als weil es mir angenehm war, leise mit ihm zu sprechen.
Er ahmte die Bewegungen meiner Lippen nach, als ob er ausdrücken wollte, daß ich zu leise spräche, um verstanden zu werden. Dann erblickte er den Teller mit den Kirschen, griff danach wie verstohlen, ging zu Sonja unter die Linden und setzte sich auf ihre Puppen. Sonja war böse, aber er versöhnte sich bald mit ihr, indem er ihr das Spiel vorschlug, daß sie um die Wette Kirschen essen wollten.
»Wünschen Sie, daß ich noch welche bringen lasse«, sagte ich, »oder wollen wir selbst welche holen?«
Er nahm den Teller, legte die Puppen darauf, und so gingen wir nach dem Gewächshaus; Sonja lief lachend hinter uns her und zog ihn am Rockschoße, damit er ihr die Puppen wiedergäbe. Er erfüllte ihr Verlangen und wandte sich zu mir.
»Nun, sind Sie etwa kein Veilchen?« sagte er noch immer leise, obwohl hier nicht zu fürchten war, daß er jemand weckte. »Als ich vorhin aus all dem Staub, der Hitze, der Arbeit in Ihre Nähe kam, umfing mich gleich ein Veilchenduft – und nicht der Duft der Treibhausveilchen, sondern jener ersten, dunklen, die im tauenden Schnee im Frühlingsgras sprießen.«
»Und wie steht es? Geht in der Wirtschaft alles gut?« fragte ich, um die süße Verwirrung zu verbergen, die seine Worte in mir hervorgerufen hatten.
»Ausgezeichnet! Diese Leute sind immer ausgezeichnet. Je mehr man sie kennenlernt, um so lieber hat man sie.«
»Ja«, erwiderte ich. »Heute, ehe Sie kamen, sah ich vom Garten aus den Arbeitern zu und fühlte mich beschämt, daß sie sich abmühen, während ich es so gut habe und . . .«
»Kokettieren Sie damit nicht, liebe Freundin«, unterbrach er mich und nahm plötzlich einen ernsten Ton an, sah mir dabei aber freundlich in die Augen, »das ist etwas Heiliges . . . Gott behüte Sie davor, sich damit schmücken zu wollen!«
»Ich sage das ja nur Ihnen!«
»Nun ja, das weiß ich! Wo sind die Kirschen?«
Das Gewächshaus war verschlossen und keiner der Gärtner zu sehen. (Er hatte sie alle mit aufs Feld geschickt.) Sonja lief den Schlüssel holen; aber er wollte nicht darauf warten, kletterte an dem Mauerwerk hinauf, hob das Netz ab und sprang hinein.
»Wollen Sie welche haben? Geben Sie mir den Teller!« hörte ich seine Stimme von innen.
»Nein, ich will selbst pflücken; ich werde den Schlüssel holen«, sagte ich, »Sonja findet ihn nicht.«
Aber in demselben Augenblick überkam mich das Verlangen zu verfolgen, was er tun, wie er aussehen und sich bewegen würde, während er unbeobachtet zu sein glaubte. Vielleicht trieb mich auch einfach der Wunsch, ihn nicht einen Augenblick aus den Augen zu verlieren. Auf den Zehen lief ich durch das Unkraut auf die andere Seite um das Gewächshaus herum, wo es niedriger war, und stieg auf eine leere Tonne, so daß die Mauer mir nur noch bis an die Brust reichte, bog mich hinunter und übersah das Innere des ganzen Hauses mit seinen alten, knorrigen Bäumen und breiten Blättern, zwischen denen die schweren, schwarzen, saftigen Kirschen niederhingen, und nachdem ich den Kopf unter das Netz geschoben hatte, entdeckte ich Sergej Michailowitsch unter den Ästen eines alten Kirschbaumes. Er glaubte wahrscheinlich, daß ich fortgegangen wäre und daß ihn niemand sähe, hatte den Hut abgenommen, die Augen geschlossen, saß auf dem Stumpfe eines alten Obstbaumes und drehte ein Stück Kirschharz eifrig zu einem Ball zusammen. Plötzlich zuckte er mit den Achseln, schlug die Augen auf und sagte lächelnd ein Wort vor sich hin.
Dieses Wort und dieses Lächeln waren mir so ungewohnt an ihm, daß ich mich schämte, ihn zu belauschen. Mir war, als hätte er »Mascha« geflüstert. »Es kann nicht sein!« sagte ich zu mir selbst; aber in demselben Augenblick wiederholte er noch leiser und zärtlicher: »Liebe Mascha!« Ich hörte diese Worte ganz genau; mein Herz fing heftig an zu klopfen, und die Freude, die mich durchbebte, hatte etwas von der Aufregung eines verbotenen Gefühls. Ich mußte mich an der Mauer halten, um nicht zu fallen und mich nicht zu verraten. Aber er hatte meine Bewegung gehört, sah erschrocken umher, schlug plötzlich die Augen nieder, errötete tief, wie ein Kind, wollte etwas sagen, konnte nicht und erglühte mehr und mehr. Aber dann sah er mich lächelnd an, und ich lächelte ebenfalls; sein Gesicht leuchtete vor Freude. Das war nicht mehr der alte, mich liebkosende oder belehrende Onkel, das war ein mir gleichstehender Mensch, der mich liebte und mich fürchtete und den ich liebte und fürchtete. Wir sagten nichts – wir sahen uns nur an; aber plötzlich wurde er ernst, das Lächeln und der Glanz der Augen verschwanden, er wandte sich wieder väterlich kühl zu mir, als hätten wir etwas Böses getan und als wäre er wieder zu sich gekommen und gäbe mir den Rat, mich zu besinnen.
»Steigen Sie da herunter – Sie können sich weh tun!« sagte er. »Und streichen Sie das Haar zurück! Wie sehen Sie aus!«
Warum verstellt er sich – warum will er mir weh tun? dachte ich betrübt, und in demselben Augenblick kam das unüberwindliche Verlangen über mich, ihn noch einmal in Verlegenheit zu bringen und meine Macht über ihn zu prüfen.
»Nein, ich will Kirschen pflücken«, sagte ich, griff mit beiden Händen nach dem nächsten Ast, schwang mich auf die Mauer und sprang, ehe er noch Zeit hatte, mich zu unterstützen, in das Gewächshaus hinunter.
»Was machen Sie für Torheiten!« rief er aus, indem er abermals errötete und unter dem Schein des Ärgers seine Verwirrung zu verbergen suchte. »Sie hätten sich sehr weh tun können. Und wie wollen Sie wieder herauskommen?«
Er war noch verlegener als vorher; aber jetzt war mir diese Verlegenheit nicht angenehm, sondern peinlich. Sie steckte mich an. Ich fühlte, daß ich errötete, wandte mich von ihm ab, war nicht imstande, ihm etwas zu sagen, und fing an, Kirschen zu pflücken, die ich nirgends hinzulegen wußte. Ich machte mir Vorwürfe, bereute mein Benehmen, fürchtete den Eindruck, den ich auf ihn gemacht haben könnte, und mir war zumute, als ob ich mich in seinen Augen auf immer vernichtet hätte. Wir schwiegen beide, und es war ein peinlicher Zustand, bis Sonja mit dem Schlüssel herbeikam und uns befreite; und auch dann sprachen wir noch nicht miteinander, sondern wandten uns Sonja zu.
Erst als wir zu Katja zurückkehrten, die uns versicherte, daß sie nicht geschlafen, sondern alles gehört habe, wurde ich ruhiger. Er versuchte wieder, seinen wohlwollend väterlichen Ton anzuschlagen, aber dieser Ton wollte ihm nicht mehr gelingen und täuschte mich nicht mehr, denn ich erinnerte mich lebhaft eines Gespräches, das einige Tage vorher zwischen uns stattgefunden hatte. Katja war damals der Ansicht, daß es dem Manne leichter wäre zu lieben und seine Liebe auszusprechen als dem Weibe.
»Der Mann kann sagen, daß er liebt, die Frau aber nicht«, bemerkte sie.
»Nein, ich glaube, auch der Mann kann und darf nicht sagen, daß er liebt«, antwortete er.
»Warum denn nicht?« fragte ich.
»Weil es immer eine Unwahrheit sein wird. Was ist das für eine wichtige Entdeckung, daß ein Mensch liebt! Als ob, wenn er dies Geständnis gemacht hat, plötzlich wie mit einem Knall etwas dastände! Klapp: er liebt! Als ob in dem Augenblick, in dem er dieses Wort gesagt hat, etwas Außergewöhnliches geschehen müßte! Wunder und Zeichen – oder aus allen Kanonen gefeuert werden müßte. Ich glaube«, fügte er hinzu, »daß Menschen, die feierlich beteuern ›Ich liebe Sie!‹ entweder sich selbst oder – was noch schlimmer ist – andere betrügen.«
»Wie aber erfährt eine Frau, daß sie geliebt wird, wenn der Mann es ihr nicht sagt?« fragte Katja.
»Das weiß ich nicht«, antwortete er, »jeder Mensch hat seine eigene Ausdrucksweise. Und wenn das Gefühl da ist, wird es sich kundzugeben verstehen. Wenn ich Romane lese, muß ich mir immer vorstellen, was für ein verlegenes Gesicht der Leutnant Strelski oder Alfred machen muß, wenn er sagt: ›Ich liebe dich, Eleonore!‹ – und nun denkt, es müsse etwas Außerordentliches geschehen, während bei ihm wie bei ihr alles beim alten bleibt: dieselben Augen, dieselbe Nase und alles dasselbe.«
Schon damals fühlte ich aus diesem Scherz etwas Ernstes heraus, das sich auf mich bezog. Aber Katja duldete nicht, daß mit den Romanhelden so geringschätzig umgegangen wurde.
»Ewig Paradoxa!« rief sie aus. »Sagen Sie aufrichtig: haben Sie niemals einer Frau gestanden, daß Sie sie lieben?«
»Niemals habe ich so etwas gesagt und bin auch niemals auf die Knie gefallen und werde das auch künftig nicht tun!« gab er lachend zur Antwort.
Er braucht mir gar nicht zu sagen, daß er mich liebt, dachte ich jetzt, indem ich mich dieses Gespräches erinnerte; er liebt mich, ich weiß es, und alle seine Versuche, gleichgültig zu scheinen, werden mir diesen Glauben nicht nehmen!
Er sprach den ganzen Abend wenig mit mir, aber in jedem seiner Worte zu Katja, zu Sonja, in jeder Bewegung, jedem Blick sah ich seine Liebe und zweifelte nicht an ihr. Aber ich empfand ein Gemisch von Ärger und Bedauern.
Warum hält er es noch für nötig, geheim zu tun und Kälte zu heucheln, wenn alles so klar ist, so leicht und einfach sein könnte, wenn es so möglich wäre, unaussprechlich glücklich zu sein? fragte ich immer wieder. Aber es peinigte mich wie ein Verbrechen, daß ich zu ihm ins Gewächshaus hinuntergesprungen war.
Nach dem Tee ging ich ans Klavier. Er folgte mir.
»Spielen Sie etwas – ich habe Sie lange nicht gehört«, sagte er, als er mich im Saale einholte.
»Das wollte ich auch – Sergej Michailowitsch!« sagte ich und sah ihm plötzlich gerade in die Augen. »Sie sind mir doch nicht böse?«
»Warum sollte ich?« fragte er. Es war mir immer, als müßte er aufgehört haben, mich zu achten, als müßte er mir böse sein.
»Weil ich am Nachmittag ungehorsam war«, meinte ich errötend.
Er verstand mich, schüttelte lächelnd den Kopf, und sein Blick schien zu sagen, daß er eigentlich schelten müsse, aber nicht die Kraft dazu in sich fühle.
»Es schadet also nichts – wir sind wieder Freunde?« fragte ich und setzte mich ans Klavier.
»Versteht sich!« sagte er.
In dem großen, hohen Saal brannten nur die beiden Kerzen auf dem Klavier; der übrige Raum lag im Halbdunkel. Durch die geöffneten Fenster schien die helle Sommernacht herein; alles war still, nur Katjas ungleichmäßige Schritte ließen sich aus dem dunklen Salon hören, und sein Pferd, das vor dem Fenster angebunden war, schnaubte und schlug mit den Hufen in die Kletten.
Er saß hinter mir, so daß ich ihn nicht sehen konnte, aber überall, im Halbdunkel des Zimmers, in den Tönen, in mir selbst empfand ich seine Gegenwart; jeden seiner Blicke, jede seiner Bewegungen fühlte ich, ohne sie zu sehen, in der Tiefe meines Herzens.
Ich spielte die Fantasie-Sonate von Mozart, die er mir mitgebracht und die ich bei ihm und für ihn gelernt hatte. Ich dachte nicht an das, was ich spielte, muß aber meine Sache wohl gut gemacht haben, denn er schien damit zufrieden zu sein. Ich teilte den Genuß, den er dabei hatte, und ohne ihn zu sehen, fühlte ich, daß sein Blick auf mir ruhte. Endlich sah ich mich nach ihm um, fuhr aber unwillkürlich und halb bewußtlos fort, die Finger zu bewegen. Sein Kopf zeichnete sich auf dem hellen Hintergrunde des Nachthimmels ab; er hatte die Wange auf die Hand gestützt und sah mich mit glänzenden Augen unverwandt an. Ich lächelte, als ich seinem Blick begegnete, und hörte auf zu spielen; auch er lächelte, deutete aber vorwurfsvoll mit einer Kopfbewegung auf die Noten, damit ich weiterspiele.
Als ich mein Spiel unterbrach, stieg eben der Mond herauf, und es wurde heller in dem Saal, den jetzt außer dem schwachen Licht der Kerzen auch noch der silberne Schein erleuchtete, der durch die Fenster auf den Fußboden fiel. Katja kam herbei und sagte, es habe weder Sinn noch Verstand, so an der schönsten Stelle abzubrechen, und überdies hätte ich schlecht gespielt. Er dagegen versicherte, ich hätte nie so gut gespielt wie heut, und fing an, in den Zimmern hin und her zu gehen, aus dem Saale in den dunklen Salon und wieder zurück in den Saal, wobei er sich jedesmal lächelnd nach mir umsah. Auch ich lächelte, ich hätte sogar ohne jede Veranlassung lachen mögen, so freute ich mich über irgend etwas, das heute, soeben geschehen sein mußte. Als er wieder einmal in der Salontür verschwand, umarmte ich Katja, die neben mir am Klavier stand, und küßte sie auf den vollen Hals unter dem Kinn. Als er aber zurückkehrte, machte ich ein ernstes Gesicht, obwohl ich das Lachen kaum zu unterdrücken vermochte.
»Was ist nur heute mit ihr vorgegangen?« fragte Katja.
Er antwortete nicht. Er lächelte mir nur zu – denn er wußte, was mit mir vorgegangen war.
»Sehen Sie, welch eine Nacht!« rief er gleich darauf aus dem Salon, indem er vor der offenen Balkontür stehenblieb, die nach dem Garten hinausging.
Wir folgten ihm, und wirklich, es war eine Nacht, wie ich keine je wiedergesehen habe. Der volle Mond stand hinter uns über dem Haus, so daß er nicht zu sehen war und der Schatten des Daches, der Säulen und der Markise auf der Terrasse schräg über den sandbestreuten Weg und den Rasenplatz fiel. Alles übrige war hell und vom Silber des Taus und des Mondlichts übergossen. Der breite Weg zwischen den Blumenbeeten, auf den von der einen Seite der Schatten der hohen Georginen und ihrer Stäbe fiel, verlor sich, ganz in Licht und Kühle gehüllt und von Kieselsteinen funkelnd, in der nebligen Ferne. Hinter den Bäumen war das helle Glasdach des Treibhauses zu sehen, und aus dem Hohlweg stieg weißer wallender Nebel auf. Die bereits entlaubten Fliederbüsche waren bis auf die kleinsten Zweige von Licht umflossen. Die vom Tau benetzten Blumen konnte man alle deutlich erkennen, während in den Alleen Licht und Schatten so eigentümlich verschwammen, daß sie nicht mehr Bäume und Wege, sondern hohe, durchsichtige, schwankende, zitternde Wölbungen zu sein schienen. Rechts, im Schatten des Hauses, war alles schwarz und unheimlich. Aber um so heller hob sich aus dieser Finsternis der phantastische, leuchtende Wipfel der Silberpappel, die wie mit ausgebreiteten Flügeln bereit schien, fortzuschweben in die schimmernde, tiefblaue Weite.
»Wollen wir nicht spazierengehen?« fragte ich.
Katja stimmte zu, bemerkte aber, ich sollte Überschuhe anziehen.
»Das ist nicht nötig, Katja«, sagte ich, »Sergej Michailowitsch wird mir den Arm geben.« Als ob meine Füße dadurch vor Nässe geschützt werden könnten! Damals aber verstanden wir alle, was ich meinte, und fanden es in der Ordnung.
Er pflegte mir niemals den Arm zu geben; jetzt aber nahm ich ihn ohne weiteres, und er schien sich nicht darüber zu wundern. Wir gingen alle zusammen die Terrasse hinunter; die ganze Welt sah fremdartig aus – dieser Himmel, dieser Garten, diese Luft waren mir unbekannt.
Wenn ich die Allee, in der wir gingen, hinuntersah, war mir, als ob wir nicht weiterkönnten, als ob dicht vor uns jede Möglichkeit der freien Bewegung aufhörte und alles auf immer in unantastbare Schönheit wie eingeschmiedet wäre. Aber wir bewegten uns, und die Zauberwand der Schönheit tat sich auf, ließ uns ein, und nun war es wieder unser Garten mit seinen Blumen, seinen Wegen, seinen trockenen Blättern; und wir gingen auf diesen Wegen, traten auf die Lichtkreise und Schatten, und wirkliches trockenes Laub raschelte unter unseren Füßen, und ein frischer Zweig berührte meine Wange. Und er war es, der in gleichmäßigen, langsamen Schritten an meiner Seite wandelte und behutsam meinen Arm führte, und Katja war es, die mit knarrenden Schuhen neben uns ging. Und der Mond stand am Himmel und sah durch regungslose Zweige auf uns nieder. Aber mit jedem Schritt hinter uns und vor uns schloß sich wieder die Zauberwand, und ich glaubte nicht mehr daran, daß man noch weitergehen könnte. Ich glaubte nicht mehr an alles das, was war.
»Ach, ein Frosch!« rief Katja.
Wer sagt das und warum? dachte ich, aber dann fiel mir ein, daß es Katja war und daß sie sich vor Fröschen fürchtete. Ich sah vor meine Füße nieder; ein Fröschlein sprang auf und blieb dann regungslos liegen, so daß sein kleiner Schatten auf dem hellen Lehmboden des Weges zu sehen war.
»Sie fürchten sich nicht?« fragte er.
Ich sah zu ihm auf. Wo wir standen, war eine Lücke in der Lindenreihe, und ich sah deutlich sein schönes, glückliches Gesicht. »Sie fürchten sich nicht?« hatte er gesagt, ich aber hörte deutlich die Worte: »Ich liebe dich! Geliebtes Mädchen!« Und: »Ich liebe dich! Ich liebe dich!« wiederholte sein Blick, seine Hand – und Licht, Schatten, Luft, alles wiederholte und bestätigte diese Worte.
Wir gingen durch den ganzen Garten; Katja begleitete uns mit ihren kleinen Schritten und atmete schwer. Endlich sagte sie, es wäre Zeit, ins Haus zurückzukehren. Ich hatte Mitleid mit der Armen. – Warum fühlt sie nicht dasselbe wie du? dachte ich. Warum sind in dieser Nacht nicht alle Menschen jung und glücklich wie ich und er?
Wir gingen ins Haus zurück, aber obwohl schon die Hähne krähten, alles im Hof schlief und sein Pferd immer ungeduldiger schnaubte und stampfte, ritt er noch nicht fort. Auch Katja mahnte uns nicht, daß es spät sei, und so saßen wir, ohne es zu wissen, bis drei Uhr morgens beisammen und sprachen von den gleichgültigsten Dingen; die Hähne krähten schon zum drittenmal, und der Tag begann zu grauen, als er endlich aufbrach. Er nahm Abschied wie gewöhnlich, sagte nichts Besonderes, aber ich wußte jetzt, daß er mein war und daß ich ihn nicht wieder verlieren würde.
Und dann gestand ich mir, daß ich ihn liebte, und sobald ich das getan hatte, ging ich zu Katja und erzählte ihr alles. Sie war erfreut und gerührt – aber sie konnte schlafen, die Arme! In dieser Nacht! Ich dagegen ging noch lange, lange auf der Terrasse und im Garten umher, dachte zurück an jedes seiner Worte, an jede seiner Bewegungen und wanderte wieder durch die Alleen, durch die ich mit ihm gegangen war. Die ganze Nacht blieb ich wach, zum erstenmal im Leben sah ich den Sonnenaufgang und das Morgengrauen. Und nie wieder habe ich weder eine solche Nacht noch einen solchen Morgen gesehen.
Warum aber sagt er nicht einfach, daß er mich liebt? fragte ich mich selbst. Warum sucht er nach Hindernissen und nennt sich alt, während alles so einfach und schön ist? Warum verliert er die goldene Zeit, die vielleicht so nie wiederkommt? Ob er mit Worten sagt: »Ich liebe dich!« oder nur meine Hand faßt, errötet, die Augen niederschlägt – ich würde ihn verstehen und ihm alles sagen. Nein, sagen nicht! Ihn umarmen, mich an ihn schmiegen und weinen. Aber wie, wenn ich mich irrte? Wenn er mich nicht liebte? fiel mir plötzlich ein.
Ich erschrak vor meinem Gefühl. Gott weiß, wohin es mich führen und sein und mein Empfinden verwirren könnte! Und dann fiel mir wieder ein, wie ich ins Gewächshaus hinuntergesprungen war, und mir wurde schwer, sehr schwer zumute, Tränen stürzten mir aus den Augen, und ich fing an zu beten.
Und dann kam mir plötzlich ein seltsamer Einfall, der mich beruhigte und mit Hoffnung erfüllte. Ich nahm mir vor, von heute an zu fasten, um mich zum Abendmahl vorzubereiten, das ich an meinem Geburtstag nehmen wollte, und an diesem Tage wollte ich seine Braut werden.
Warum, wie das geschehen könnte – ich wußte es nicht, aber ich glaubte und wußte von diesem Augenblick an, daß es so sein würde.
Es war inzwischen Tag geworden; die Hofleute fingen an, sich zu regen, und ich ging in mein Zimmer hinauf.